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German Pages 318
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 207
Medienöffentliche Vorverurteilung – strafjustizielle Folgerungen für das Erwachsenen- und für das Jugendstrafverfahren? Eine rechtsdogmatische Analyse auf der Grundlage einer empirischen Erhebung (Experteninterviews)
Von
Christian Altermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN ALTERMANN
Medienöffentliche Vorverurteilung – strafjustizielle Folgerungen für das Erwachsenen- und für das Jugendstrafverfahren?
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (y) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 207
Medienöffentliche Vorverurteilung – strafjustizielle Folgerungen für das Erwachsenen- und für das Jugendstrafverfahren? Eine rechtsdogmatische Analyse auf der Grundlage einer empirischen Erhebung (Experteninterviews)
Von
Christian Altermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Eisenberg, Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-13031-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand ihrer Fertigstellung im Juli 2008, einzelne Judikate konnten noch bis zur Drucklegung im März 2009 berücksichtigt werden. Die mündliche Prüfung erfolgte am 20. Oktober 2008. Ein aktuelles Verfahren aus der Karlsruher Justiz war Anlass und Ausgangspunkt dieser Arbeit. Sie entstand während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Herrn Prof. Dr. Ulrich Eisenberg, der mich von Anfang an in dem gewählten Promotionsthema bestärkt und immer unterstützt hat. Ihm gilt mein ganz besonderer herzlicher Dank. Herrn Prof. Dr. Klaus Hoffmann-Holland danke ich für die schnelle und engagierte Erstellung des Zweitgutachtens sowie wertvolle ergänzende Anregungen. Danken möchte ich auch Herrn RiBGH Prof. Dr. Günther M. Sander, der mir als Ansprechpartner zur Verfügung stand, sowie ihm und seinen damaligen Kollegen am Landgericht Berlin für die Bereitschaft zu einem Experteninterview. Ohne ihren Einsatz hätte die Untersuchung nicht in der beabsichtigten Form durchgeführt werden können. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Prof. Dr. Andreas Hoyer bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe sehr verbunden. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Werner Haeseler und Herrn Dr. Kolja Altermann, die ihre freie Zeit für das mühevolle Korrekturlesen des Manuskripts geopfert haben, sowie Herrn Dr. Frank König für seine Hilfestellungen bei technischen Detailfragen. Von ganzem Herzen danke ich ferner meiner Frau, Vera Franziska Altermann, für die Liebe und Kraft, die sie mir in dieser Zeit gegeben hat, und dafür, dass sie in allen Lebenslagen fest an meiner Seite steht. Ganz besonders bedanken möchte ich mich schließlich bei meinen Eltern, Charlotte und Werner Haeseler, deren bedingungsloser Unterstützung und Fürsorge ich mir auch während meiner Promotion stets gewiss sein durfte. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im März 2009
Christian Altermann
Inhaltsübersicht Erster Teil Einleitung
25
Erstes Kapitel
A. B. C. D.
Ein einführender Fall
25
Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste öffentliche Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen auf die Entscheidung in erster Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen auf die berufungsgerichtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 26 28 29
Zweites Kapitel Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung A. Wirkmächtigkeit von Berichterstattung im Allgemeinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wirkmächtigkeit vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen
32 33 35
Drittes Kapitel Fragestellung und Gang der Untersuchung
45
Zweiter Teil Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
48
Erstes Kapitel Bisherige Definitionsversuche A. Die Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz (1984). . . . . . . . . . . . . . . B. Der auf den Schutz der Verfahrensrollen der Beteiligten bezogene Ansatz von Hassemer (1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Ausführungen Roxins (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 48 50 53 54
10
Inhaltsübersicht Zweites Kapitel Neudefinition in Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung
A. Begriffsinhalte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Definition von Schulz (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 54 57 58
Drittes Kapitel Schlussbetrachtung zum Zweiten Teil
59
Dritter Teil Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung (Experteninterviews)
60
Erstes Kapitel Allgemeine Vorbemerkungen
60
Zweites Kapitel Der Begriff des „Experten“ A. Verwendete Expertenbegriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der hier zugrunde gelegte Expertenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 62 66 69
Drittes Kapitel
A. B. C. D.
Das Experten-Interview
69
Das Interview als Erhebungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifizierung der geführten Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviewbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 74 86 94
Viertes Kapitel Schlussbetrachtung zum Dritten Teil
100
Vierter Teil Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
101
Inhaltsübersicht
11
Erstes Kapitel Mögliche Reaktionsebenen und -arten
101
A. Betrachtung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Zweites Kapitel Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung
109
A. Kritische Erörterung von Gegenargumenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Normative Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 C. Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Angeklagte . . . . . . . . . . . . . . 197 Drittes Kapitel
A. B. C. D. E.
Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
233
§ 153b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §§ 153, 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis zum Erwachsenenstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Beschuldigte . . . . . . . . . . . . .
234 243 246 246 246
Viertes Kapitel Schlussbetrachtung zum Vierten Teil
279
Fünfter Teil Zusammenfassung und Ausblick
280
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 A. Interviewleitfäden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 B. Interviewberichtsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 A. Literaturverzeichnis zum dogmatischen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Literaturverzeichnis zum empirischen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung
25
Erstes Kapitel Ein einführender Fall A. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Erste öffentliche Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Reaktionen auf die Entscheidung in erster Instanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erstinstanzliche Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Reaktionen auf die berufungsgerichtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entscheidung in der Berufungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 25 26 28 28 29 29 29 31
Zweites Kapitel Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung A. Wirkmächtigkeit von Berichterstattung im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wirkmächtigkeit vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wirkungssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auswirkungen auf die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf die Ermittlungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf bestimmte Verfahrensbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . a) Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zeugen und Sachverständige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Opfer und Nebenkläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswirkungen auf den Beschuldigten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auswirkungen auf die Strafrechtspflege als Institution . . . . . . . . . . . 6. Auswirkungen auf die Medien selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. „Verstärkerkreislauf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wahl der Untersuchungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 35 35 35 36 37 37 38 39 40 42 42 43 43
Drittes Kapitel Fragestellung und Gang der Untersuchung
45
14
Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
48
Erstes Kapitel Bisherige Definitionsversuche A. Die Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz (1984) . . . . . . . . . . . . . . . I. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stellungnahme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der auf den Schutz der Verfahrensrollen der Beteiligten bezogene Ansatz von Hassemer (1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stellungnahme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Ausführungen Roxins (1991). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Keine eigene Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischenergebnis 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 48 48 49 50 50 50 52 53 53 53 54 54
Zweites Kapitel Neudefinition in Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung A. Begriffsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffsbestandteil „Vorverurteilung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffsbestandteil „öffentlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Definition von Schulz (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 54 55 56 57 58
Drittes Kapitel Schlussbetrachtung zum Zweiten Teil
59
Dritter Teil Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung (Experteninterviews)
60
Erstes Kapitel Allgemeine Vorbemerkungen
60
Inhaltsverzeichnis
15
Zweites Kapitel Der Begriff des „Experten“ A. Verwendete Expertenbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Alltagsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wissenschaftliche Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsinhalte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relativität des Expertenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der hier zugrunde gelegte Expertenbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Herleitung eines spezifischen Expertenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendung der Begriffsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auswahl der Interviewpartner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 62 62 63 63 64 65 66 66 67 68 69
Drittes Kapitel Das Experten-Interview A. Das Interview als Erhebungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Methodenkanon empirischer Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überblick zu den qualitativen Erhebungsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Angewandte Erhebungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Klassifizierung der geführten Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sinn und Zweck der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gegenstand der Interviews (Erkenntnisinteresse). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art der Interviewpartner und deren Anzahl je Interview . . . . . . . . . . . . . IV. Technik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grad der Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Teil-standardisierte Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Funktionen des Leitfadens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konstruktion und Struktur des Leitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Leitfadeninhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Leitfaden für Erwachsenenrichter. . . . . . . . . . . . . . . . (b) Leitfaden für Jugendrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Prinzip der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Modifizierung des Leitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anwendung des Leitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Form der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 69 70 72 73 74 74 74 75 75 75 76 77 78 79 79 80 80 82 82 83 83 84 85
16
Inhaltsverzeichnis
C. Auswertung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Informationssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Informationsauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick zu den qualitativen Auswertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . 2. Angewandte Auswertungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gütekriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Repräsentativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Interviewbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anzahl der geführten Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inhaltliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontaktaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erstkontaktierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweitkontaktierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aspekte der Erhebungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung der spezifischen Interviewsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86 86 87 88 88 90 92 94 94 95 95 95 96 98 99
Viertes Kapitel Schlussbetrachtung zum Dritten Teil
100
Vierter Teil Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
101
Erstes Kapitel Mögliche Reaktionsebenen und -arten
101
A. Betrachtung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 C. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Zweites Kapitel Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung A. Kritische Erörterung von Gegenargumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aspekt eines (zu) hohen gerichtlichen Feststellungsaufwandes. . . . . . . . II. Einwände im Zusammenhang mit dem Verhalten des Beschuldigten . . 1. Instrumentalisierung der Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schweigen und wahrheitswidriges Leugnen des Beschuldigten . . . . 3. Straftat als alleiniger Impulsgeber der Berichterstattung. . . . . . . . . . .
109 109 109 111 111 112 112
Inhaltsverzeichnis Bedenken hinsichtlich des (sich verändernden) Verhältnisses zwischen Justiz und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG im Allgemeinen . 2. Die Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtlicher Stellenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Presse-Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sorgfaltspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Veränderungen des Medienwesens und ihre Auswirkungen . . . . . . . IV. Aspekte der Ungleichbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Berücksichtigung bei Freispruch des Beschuldigten . . . . . . . . 2. Widersprüche bei der Häufigkeit der Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . 3. (Keine) Berücksichtigung erst nachträglich eintretender Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Beschränkter Kreis der Begünstigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Aspekt fehlender Verantwortlichkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Einwand mangelnder Bestimmbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Fehlen einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Normative Grundlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. § 46 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführende Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt: § 46 Abs. 1 S. 1 StGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwägung gemäß § 46 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Rechtsgrundlage in § 46 Abs. 1 S. 1 und 2 StGB. . . . . . . . . . 3. Katalogisierter Umstand i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB? . . . . . . . . . . a) „Persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse“ (Grp. 5 Alt. 2) . b) „Verschuldete Auswirkungen der Tat“ (Grp. 4 Alt. 2) . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nicht katalogisierter Umstand i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 51 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. § 60 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ratio legis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatvergeltende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anwendung der strafzweckbezogenen Überlegungen . . . . . . . . . . 2. Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Folgen der Tat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III.
113 113 115 115 116 118 120 122 122 123 124 124 125 127 128 128 128 128 129 129 130 132 134 135 136 137 139 139 140 142 143 143 145 146 146 147 147 147
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Inhaltsverzeichnis
IV.
aa) Begrenzung auf Negativ-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbare und mittelbare Tatfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „die den Täter getroffen haben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff des „Täters“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Persönliche Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tatfolgen auf Seiten des Täters wiegen „schwer“ . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einzelnes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Tatfolgen wiegen „so schwer“, dass eine Strafverhängung „offensichtlich verfehlt“ wäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfehltsein von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Offensichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) In dubio pro reo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschränkung des § 60 S. 2 StGB (Ein-Jahres-Grenze) . . . . . . . . aa) Anwendungsausschluss bei „Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strafe „verwirkt“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) „für die Tat“ verwirkte Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Obligatorischer Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Absehen von „Strafe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Alles oder nichts“-Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdehnende Interpretation des § 60 StGB anhand von § 46 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis zum Erwachsenenstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Straftatbezogene Gesichtspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Deliktskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verdachtsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Stand des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Medienbezogene Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dauer und Intensität der Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . (1) Art und Verbreitungsgrad des Mediums . . . . . . . . . . . . . . (2) Inhalt der Veröffentlichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Dauer der Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art der Informationserlangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 148 150 150 151 152 152 153 156 156 158 158 159 159 160 162 163 164 164 164 164 166 167 167 167 167 168 170 170 171 171 172 174 175 175 175 176 177 177
Inhaltsverzeichnis c) Beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aspekte der gesellschaftlichen Stellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Individuelle Verteidigungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Psychische und physische Belastungen sowie Stigmatisierungseffekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungshäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Krasses Missverhältnis zwischen verwirklichter Schuld und Ausmaß vorverurteilender Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Krasses Missverhältnis zwischen Tatvorwurf und Ermittlungsergebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schwerwiegende Eingriffe in den sozialen Nahbereich des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Wiederholungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Straftaten im Zusammenhang mit dem Beruf . . . . . . . . . cc) Exemplarische Anwendung auf eingangs geschilderten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensrechtliche Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatsacheninstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafmilderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Absehen von Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Revisionsinstanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafmilderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Absehen von Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Registerrechtliche Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auskunftserteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erteilung eines sog. Führungszeugnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erteilung sog. unbeschränkter Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für den Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorhalt und Verwertung gemäß § 51 Abs. 1 BZRG . . . . . . . bb) Offenbarungspflicht gemäß § 53 Abs. 1 BZRG. . . . . . . . . . . cc) Stigmatisierende Wirkung des Bundeszentralregisters . . . . . V. Ergebnis zum Erwachsenenstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Angeklagte . . . . . . . . . . . . . . I. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit des § 60 StGB im Jugendstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . a) § 2 Abs. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestehen einer Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sog. unbewusste Regelungslücke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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184 185 185 186 186 186 187 187 187 188 189 189 191 192 192 193 193 194 195 195 196 196 197 197 198 198 198 199 200 203
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Inhaltsverzeichnis
II. III.
2. Erforderliche Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adressat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Folgen der Tat“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „die den Täter getroffen haben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Tatfolgen auf Seiten des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden wiegen „schwer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Tatfolgen wiegen „so schwer“, dass eine Strafverhängung „offensichtlich verfehlt“ wäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Beschränkung des § 60 S. 2 StGB (Ein-Jahres-Grenze) . . . . ff) Zwischenergebnis 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Obligatorischer Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Absehen von „Strafe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Absehen von Erziehungsmaßregeln“? . . . . . . . . . . . . . . . (a) Erste Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zweite Ansicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Absehen von Zuchtmitteln“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) „Alles oder nichts“-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB bzw. § 18 Abs. 2 JGG u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdehnende Interpretation des § 60 StGB anhand des Erziehungsgedankens des JGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemkonstellation und -lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwischenergebnis zum Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Straftatbezogene Gesichtspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Medienbezogene Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aspekte der gesellschaftlichen Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Individuelle Verteidigungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Psychische und physische Belastungen sowie Stigmatisierungseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungshäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensrechtliche Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 204 204 204 205 206 207 208 209 209 209 209 210 210 211 212 213 214 214 215 215 215 216 217 217 218 218 218 219 221 221 222 222 223 224 225 225
Inhaltsverzeichnis
IV.
a) Tatsacheninstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Revisionsinstanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Registerrechtliche Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auskunftserteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorhalt und Verwertung sowie Offenbarungspflicht gemäß §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 BZRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stigmatisierende Wirkung des Bundeszentralregisters . . . . . Ergebnis zum Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 226 228 229 229 230 231 231 231 233
Drittes Kapitel Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung A. § 153b StPO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Voraussetzungen und Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 60 StGB als Norm i. S. d. § 153b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Allgemeine Beschränkungen in der Anwendung und Anwendungshäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besondere Voraussetzungen und Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absehen von Klage nach § 153b Abs. 1 StPO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einstellung des Verfahrens gemäß § 153b Abs. 2 StPO. . . . . . . . . . . 3. Anwendungsverhältnis nach dem Stand des Verfahrens . . . . . . . . . . . III. Rechtsbehelfe des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kein Registereintrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis zum Erwachsenenstrafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . B. §§ 153, 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kein Registereintrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konkurrenzverhältnis: § 153b StPO und §§ 153 bzw. 153a StPO . . . . C. Weitere Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ergebnis zum Erwachsenenstrafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Beschuldigte. . . . . . . . . . . . . I. §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Medienöffentliche Vorverurteilung als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG? . . . . . . . . . . . a) Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendung des ermittelten Begriffsinhalts auf Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233 234 235 235 236 237 238 238 239 241 241 243 243 243 244 245 245 246 246 246 248 248 249 253 254
22
Inhaltsverzeichnis
II.
III.
2. Erzieherische Maßnahme „bereits durchgeführt oder eingeleitet“ . . 3. § 45 Abs. 2 S. 1 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfordernis eines Anfangsverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) (Weitere) Voraussetzungen und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Norm-immanente Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Registerrechtliche Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Inhalt und Zweck des Erziehungsregisters . . . . . . . . . . . . (2) Auskunftserteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konsequenzen für den Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vorhalt, Verwertung und Offenbarungspflicht gemäß § 63 Abs. 4 i. V. m. § 51 Abs. 1 BZRG, § 64 Abs. 1 BZRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stigmatisierende Wirkung des Erziehungsregisters und Schlechterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsbehelfe des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verhältnis zu § 45 Abs. 1 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfordernis eines hinreichenden Tatverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . b) (Weitere) Voraussetzungen und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Norm-immanente Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Registerrechtliche Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsbehelfe des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verhältnis zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit des § 153b StPO im Jugendstrafverfahren?. . . . . . . . 2. Voraussetzungen und Beschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnisbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO im Verhältnis zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fallgruppe 1: Bereits erzielte erzieherische Wirkung . . . . . . bb) Fallgruppe 2: Schon erfolgte ahndende Einwirkung . . . . . . . cc) Klarstellender Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO im Verhältnis zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fallgruppe 1: Bereits erzielte erzieherische Wirkung . . . . . . bb) Fallgruppe 2: Schon erfolgte ahndende Einwirkung . . . . . . . cc) Klarstellender Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anwendungshäufigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis zum Jugendstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
254 256 256 256 258 258 258 259 259 260
260 261 262 263 263 263 264 266 266 267 267 268 268 268 269 270 272 272 273 273 274 274 274 275 275 276 276 276
Inhaltsverzeichnis IV.
V. VI.
§ 2 Abs. 2 JGG, §§ 153, 153a StPO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zu §§ 45, 47 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zu § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis zum Jugendstrafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 277 277 278 278 279
Viertes Kapitel Schlussbetrachtung zum Vierten Teil
279
Fünfter Teil Zusammenfassung und Ausblick
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Interviewleitfäden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Interviewleitfaden Erwachsenenrichter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Interviewleitfaden Jugendrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Interviewberichtsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
280
284 284 284 287 290
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 A. Literaturverzeichnis zum dogmatischen Teil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Literaturverzeichnis zum empirischen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Erster Teil
Einleitung Erstes Kapitel
Ein einführender Fall A. Sachverhalt1 Der Angeklagte befuhr am 14. Juli 2003 als Fahrer eines Pkw mit einer Geschwindigkeit von etwa 220 km/h die linke Fahrspur der mit drei Fahrspuren und einer Standspur versehenen Autobahn Karlsruhe Richtung Frankfurt am Main in nördlicher Richtung. Er war am Morgen zum Betriebsgelände eines großen Autokonzerns in Sindelfingen gefahren, wo er als Versuchsingenieur und Testfahrer tätig war, und nun auf dem Weg zur Teststrecke in Papenburg (Niedersachsen), die er am späten Vormittag erreichen wollte. Ebenfalls auf der linken Fahrspur fuhr infolge eines Überholmanövers ein weiterer Pkw. In diesem Fahrzeug befanden sich die 21-jährige Fahrerin J. und – auf dem Rücksitz angeschnallt – ihre zwei Jahre alte Tochter R. Der Angeklagte, der nach diversen anderen auch das Fahrzeug der J. überholen wollte, näherte sich von hinten dem Pkw und verzögerte dabei seine Geschwindigkeit, kurz auch mit einem Bremsmanöver, auf ca. 185 km/h. Der Pkw mit J. und R. fuhr zu diesem Zeitpunkt mit etwa 140 km/h. Der Abstand zwischen den Fahrzeugen hatte sich auf ca. 15 Meter verringert und reduzierte sich geschwindigkeitsbedingt laufend weiter. Ein Aufprall drohte bei gleich bleibenden Geschwindigkeiten nach etwa 1,5 Sekunden. Das Fahrmanöver des Angeklagten hatte zur Folge, dass J. ihren Pkw ruckartig nach rechts lenkte, in Bestürzung und Schrecken wegen des sich ihr mit erheblicher Differenzgeschwindigkeit nähernden Fahrzeuges des Angeklagten und des geringen restlichen Abstandes zwischen den beiden Fahrzeugen. Dieses geschwindigkeitsunangepasste Fahrmanöver und die sich da1
Die nachfolgende Schilderung ist ein gekürzter und hierbei nur geringfügig modifizierter Auszug aus den Sachverhaltsfeststellungen des AG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2004 – 2 Ls 40 Js 26274/03, S. 4 f. (1. Instanz; unveröffentlicht) bzw. LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03, S. 5 ff. (Berufungsinstanz; in Teilen veröffentlicht in NZV 2005, 274 ff.; sog. Raser-Urteil).
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1. Teil: Einleitung
raus ergebende – jedenfalls subjektiv empfundene – Instabilität des Fahrzeugs veranlasste J. zu einer unmittelbaren, unkontrollierten, direkten Gegenlenkung nach links. Dies führte wiederum dazu, dass das Fahrzeug außer Kontrolle geriet und nach rechts über die mittlere, rechte und Standspur in das angrenzende Waldgelände schleuderte, wo es gegen einen Baum prallte. Durch den Aufprall wurden J. und ihre Tochter R. so schwer verletzt, dass beide noch am Unfallort starben. Während des vorausgegangenen Schlenkers des Pkw der J. nach rechts und vor der Gegenbewegung nach links überholte der Angeklagte mit seinem Fahrzeug stark beschleunigend und den linken, 75 cm breiten Seitenstreifen zum Mittelstreifen hin ausnutzend mit sehr geringem Seitenabstand den Pkw der J. und fuhr davon.
B. Erste öffentliche Reaktionen Die ersten öffentlichen Reaktionen fielen angesichts der besonderen Umstände des Falles – Tod einer jungen Mutter und ihres Kindes in einem Kleinwagen, vermeintlich verursacht durch einen sog. Raser, der sich zudem allem Anscheine nach unerlaubt vom Unfallort entfernt hatte („Unfallflucht“, § 142 StGB) – erwartungsgemäß heftig aus. Um es vorweg zu nehmen: „Die Jagd nach dem Raser füllte in den folgenden Wochen das Sommerloch.“2 Nicht nur entbrannte eine (neuerliche) Debatte um ein generelles Tempolimit von 130 km/h oder aber „freie Fahrt“ auf bundesdeutschen Autobahnen, sondern es wurden unter Rückgriff auf die Nichteinhaltung und Unterschreitung des gebotenen Sicherheitsabstandes auch eine Vielzahl unsachlicher Stellungnahmen abgegeben, die dem unfallverursachenden Fahrer bis hin zu vorsätzlichem Handeln vieles unterstellten. Die Medien, die von Anfang an sehr ausführlich über den (Un-)Fall und die hiermit in Zusammenhang stehenden weiteren Geschehnisse berichteten, boten hierfür insgesamt die erforderliche Plattform. Hiervon nicht gänzlich unbeeindruckt wurde eine insgesamt 34 Mann3 starke Sonderkommission der Polizei gebildet, die weit über 600 Autos, die auf Grund von Zeugenaussagen in Betracht kamen, überprüfte;4 dann wur2 Stuttgarter Zeitung vom 05. Februar 2004, www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/ detail.php/600908 (abgerufen am 07.06.2005, 11:35). 3 Zwecks besserer Lesbarkeit des Textes wird hier wie im Folgenden auf das jeweilige Hinzufügen der weiblichen Form verzichtet; sie ist gleichwohl stets mit umfasst. 4 Siehe dazu LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03, S. 35 ff. (nicht veröffentlicht in NZV 2005, 274 ff.).
1. Kap.: Ein einführender Fall
27
den Gerüchte laut, der Fahrer eines Dienstwagens eines bekannten Automobilkonzerns habe den Unfall verursacht; nach einigen Wochen konnte der Öffentlichkeit schließlich ein Verdächtiger präsentiert werden.5 Erste Bilder des Beschuldigten gelangten nun in die Medien. Aus Gründen einer vereinfachten Darstellung für den Leser oder anderweitigen Rezipienten der Berichterstattung wurden sehr schnell möglichst kurze und griffige Titulierungen gebildet. „Turbo-Rolf“6, „Autobahn-Drängler“, „Autobahn-Raser“ oder „Raser von Bruchsal“ waren hierbei noch eher gemäßigte Bezeichnungen für den Beschuldigten, „Todesdrängler“ oder „Vollgaskiller“ dürfen demgegenüber als stark (ab-)wertende und fast schon bösartige Ausprägungen in der Boulevardpresse gelten. Sie zeigen zusammen genommen die ganze Bandbreite journalistischer „Kreativität“ im Bemühen darum, möglichst eingängige und schlagwortartige Bezeichnungen zu verwenden. In der Folgezeit setzte eine beispiellose Berichterstattung auch über die weiteren polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und schließlich die Vorbereitung des eigentlichen Strafprozesses ein.7 Ein Fall, der die Nation bewegt hat wie kaum ein zweites Verfahren in den letzten Jahren,8 hatte somit seinen Anfang gefunden. Der zugrunde liegende Sachverhalt ging dann schließlich als „Autobahnraser-Fall“ bzw. „Raser-Prozess“ in die deutsche (Strafrechts-)Geschichte ein (dazu sogleich).
5
Siehe insg. Der Tagesspiegel vom 10. Februar 2004, S. 3. Dieser Spitzname entstammte Nachforschungen von Medienvertretern im Bekanntenkreis des Beschuldigten; vgl. zur im Grunde unverfänglichen Herkunft dieses Namens AG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2004 – 2 Ls 40 Js 26274/03, S. 9 und LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03, S. 10, 64 (nicht veröffentlicht in NZV 2005, 274 ff.). 7 „Für die einen ist er ein rücksichtsloser Todesdrängler, für die anderen Opfer einer heuchlerischen Medienhetze.“ (Stuttgarter Zeitung vom 05. Februar 2004, www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/600908; abgerufen am 07.06.2005, 11:35). – Ein späterer Prozesszuschauer äußerte sich demgegenüber bezüglich der verunglückten Fahrerin dahingehend: „Wer langsam fährt, gehört nicht auf die Überholspur.“ (Der Tagesspiegel vom 10. Februar 2004, S. 3). 8 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 30. Juni 2004, www.stuttgarter-zeitung.de/stz/ page/detail.php/757411 (zuletzt abgerufen am 02.07.2007, 09:35); Süddeutsche Zeitung vom 30. Juli 2004, www.sueddeutsche.de/panorama/artikel/255/36219/(zuletzt abgerufen am 02.07.2007, 09:11); Brandenstein/Kury, in: NZV 2005, S. 225. 6
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1. Teil: Einleitung
C. Reaktionen auf die Entscheidung in erster Instanz I. Erstinstanzliche Entscheidung Das AG Karlsruhe9 verurteilte den Angeklagten in erster Instanz gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 3 Nr. 2, § 222, § 52 StGB wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten,10 deren Vollstreckung nach Auffassung des Gerichts nicht gemäß § 56 Abs. 2 und 3 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden konnte11. Vom Anklagevorwurf des Unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) wurde der Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.12 Bei der tatbestandlichen Würdigung des festgestellten Sachverhalts führte das Gericht u. a. aus, es sei „nach der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Angeklagte grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt“ habe: Er habe „den erforderlichen Sicherheitsabstand (. . .) deutlichst unterschritten und damit besonders schwer gegen Verkehrsvorschriften verstoßen.“ Auch habe er sich „rücksichtslos verhalten und sich nur um seines eigenen schnelleren Fortkommens willen über seine Pflichten anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber hinweggesetzt und keine Bedenken gegen sein eigenes Verhalten aufkommen lassen.“ Es sei dem Angeklagten darum gegangen, „so schnell wie möglich voran zu kommen (. . .).“13 Insgesamt habe der Angeklagte i. S. d. § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 3 Nr. 2 StGB fahrlässig grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib und Leben anderer Menschen fahrlässig gefährdet.14 Im Zusammenhang mit der tateinheitlichen Verwirklichung des Tatbestandes der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) in zwei Fällen führte das Gericht aus: „Es war für den Angeklagten (. . .) vorhersehbar, dass die Fahrerin (. . .) bei seinem Herannahen mit hoher Geschwindigkeit und mit zu geringem Sicherheitsabstand erschrecken und heftig reagieren könnte und dass derartige Reaktionen zu schwe9 AG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2004 – 2 Ls 40 Js 26274/03 (unveröffentlicht). – In der Entscheidung des LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03, S. 2 f. = NZV 2005, 274 versehentlich mit Datum der vorletzten Sitzung am 16.2.2004 wiedergegeben. 10 AG Karlsruhe a. a. O., S. 2, 36 f. 11 AG Karlsruhe a. a. O., S. 2, 37 f. 12 AG Karlsruhe a. a. O., S. 2, 39. 13 So insg. die Ausführungen des AG Karlsruhe a. a. O., S. 35. 14 Vgl. AG Karlsruhe a. a. O., S. 36.
1. Kap.: Ein einführender Fall
29
ren, auch tödlichen Folgen führen können. Jeder Verkehrsteilnehmer muss auf Autobahnen auch mit jungen, weniger erfahrenen Fahrzeugführern (. . .) rechnen, die nicht die gleiche Fahrpraxis und Erfahrung haben wie man selbst (. . .). Bei verkehrsgerechtem Verhalten wäre es dem Angeklagten möglich gewesen, die Schreckreaktion der Geschädigten (. . .), den nachfolgenden Schleudervorgang und letztlich den Tod (. . .) zu vermeiden.“15
Die – recht kurz ausfallenden – Bemerkungen des Gerichts zur Strafzumessung berücksichtigten innerhalb des sich hier insgesamt ergebenden Strafrahmens16 zugunsten des Angeklagten das Fehlen von Vorstrafen, den drohenden Verlust seines Arbeitsplatzes sowie den Umstand, dass er „in erheblichem Maße durch das immense öffentliche Interesse an dem Verfahren in den vergangenen Monaten belastet“ worden sei; zu seinen Lasten führte es das hohe Maß an Fahrlässigkeit, den Tod zugleich zweier Menschen, eine verkehrszentralregisterliche Eintragung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung sowie die tateinheitliche Verwirklichung zweier Strafgesetze an.17 II. Reaktionen Gestützt auf die in der mündlichen Urteilsverkündung zum festgestellten Tatgeschehen gemachten Ausführungen des Gerichts berichteten die Medien daraufhin zunächst weiter negativ über den – nunmehr erstinstanzlich verurteilten – Angeklagten. In den folgenden Monaten ließ das Interesse an dem Verfahren dann naturgemäß allgemein etwas nach, mit Beginn der Berufungshauptverhandlung Anfang Juli 2004 nahm es aber wieder deutlich zu.
D. Reaktionen auf die berufungsgerichtliche Entscheidung I. Entscheidung in der Berufungsinstanz In der berufungsgerichtlichen Entscheidung des LG Karlsruhe18 wurden die Sachverhaltsfeststellungen des Tatgerichts weitestgehend bestätigt19 und auf Grund der neuerlichen Beweisaufnahme an einigen Stellen noch ver15
AG Karlsruhe a. a. O., S. 36. Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre oder Geldstrafe, §§ 222, 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 StGB. 17 Siehe insg. AG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2004 – 2 Ls 40 Js 26274/03, S. 37. 18 LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03 = NZV 2005, 274 ff. 19 Vgl. LG Karlsruhe a. a. O., S. 5 ff. = NZV 2005, 274 (274 f.). 16
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1. Teil: Einleitung
tieft20. Die tatbestandliche Würdigung21 mündete letztlich wie schon in der ersten Instanz in einer Verurteilung wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung in zwei Fällen gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 3 Nr. 2, § 222, § 52 StGB, wobei die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nunmehr gemäß § 56 Abs. 1 und 3 StGB zur Bewährung ausgesetzt wurde.22 „Soweit, so gut!“, könnte man an dieser Stelle geneigt sein zu sagen. Das seitens des Angeklagten mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.2.2004 angegriffene erstinstanzliche Urteil wurde jedoch hinsichtlich der Rechtsfolgen dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von (nur noch) einem Jahr verurteilt wurde.23 Hierbei berücksichtigte das Gericht – neben weiteren strafmildernden Gesichtspunkten24 – zugunsten des Angeklagten auch als „einschneidende Tatfolgen“ bezeichnete Umstände, die sich für diesen durch die Tat ergeben hätten: „Als einschneidende Tatfolgen wirkte sich strafmildernd aus, dass ihm (dem Angeklagten; Anm. d. Verf.) aus der Tat erhebliche berufliche Nachteile erwachsen sind. Das langjährige Arbeitsverhältnis (. . .) wurde zum Ende Juli 2004 wegen der vorliegenden Straftat aufgelöst. Eine Weiterbeschäftigung in absehbarer Zeit oder die Aufnahme einer entsprechenden Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber erscheint erheblich erschwert durch das in der Öffentlichkeit durch einen Teil der Presse aufgebaute Aggressionspotential dem Angeklagten gegenüber und der daraus resultierenden Bekanntheit seiner Person. Die ganz außergewöhnliche intensive Berichterstattung eines Teiles der Presse, die in besonders aggressiver Weise vorgenommene Vorverurteilung des Angeklagten unter Darstellung seiner Person – auch mit Bild –, seine ‚Brandmarkung‘ in 20 Siehe dazu LG Karlsruhe a. a. O., S. 11 ff. (nicht veröffentlicht in NZV 2005, 274 ff.). 21 Dazu LG Karlsruhe a. a. O., S. 75 ff. = NZV 2005, 274 (275). 22 Siehe LG Karlsruhe a. a. O., S. 75 f. = NZV 2005, 274 (275) und S. 2, 82 f. = NZV 2005, 274; auf die Richtigkeit der von der amtsgerichtlichen Einschätzung (vgl. oben bei und in Fn. 11) abweichenden Bewährungsentscheidung soll hier nicht näher eingegangen werden. 23 LG Karlsruhe a. a. O., S. 2, 82 = NZV 2005, 274. 24 Namentlich: Fehlende Vorstrafen und eine straßenverkehrsrechtlich annähernd „weiße Weste“ („bei sehr hoher Fahrleistung im öffentlichen Straßenverkehr [. . .] lediglich einmal, vor etwa zwei Jahren, in Erscheinung getreten“); vom Amtsgericht abweichend gab das Landgericht darüber hinaus die nur fahrlässige Verwirklichung des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB als Milderungsgrund an (siehe insg. LG Karlsruhe a. a. O., S. 79 f. = NZV 2005, 274 [275]). Strafschärfend führte das Gericht demgegenüber an: Ein besonders hohes Maß an Pflichtwidrigkeit, den massiven Verstoß gegen die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt, die tateinheitliche Verletzung zweier Strafgesetze sowie die tateinheitliche Verwirklichung einer fahrlässigen Tötung in zwei Fällen (LG Karlsruhe a. a. O., S. 82 = NZV 2005, 274 [276]).
1. Kap.: Ein einführender Fall
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der Öffentlichkeit als ‚Vollgaskiller‘ etc. hat den Angeklagten, wie er glaubhaft und nachvollziehbar vermittelt hat, psychisch und physisch nachhaltig beeinträchtigt und daneben auch seine Familie und sein soziales Umfeld und dadurch ihn wiederum selbst, ebenso damit seine wirtschaftlichen Verhältnisse und seine Existenzgrundlage. Auch diese Umstände sind hier zu berücksichtigen (. . .).“25
Zwar hatte auch das Amtsgericht in seinen Erwägungen entsprechend bisheriger Spruchpraxis26 bereits die Wirkungen des Strafverfahrens als solchem angeführt, namentlich dass der Angeklagte „in erheblichem Maße durch das immense öffentliche Interesse an dem Verfahren in den vergangenen Monaten belastet“ worden war.27 Und die hier seitens des Landgerichts vorgenommene Berücksichtigung der – auf Grund der Verurteilung letztlich auch tatsächlich erlittenen – erheblichen beruflichen Nachteile in Form der Auflösung des Arbeitsvertrages und einer nur sehr geringen (Wieder-)Einstellungswahrscheinlichkeit in naher Zukunft sind ebenfalls schon zugunsten von Angeklagten bei der Strafzumessung in Anschlag gebracht worden.28 Insoweit befand sich die landgerichtliche Entscheidung also in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung. Der Gedanke einer Berücksichtigung der in der Öffentlichkeit „in besonders aggressiver Weise“ erfolgten „Vorverurteilung“ des Beschuldigten und den genannten hiermit in Zusammenhang stehenden weiteren Gesichtspunkten innerhalb der Strafzumessung indes war neu. II. Reaktionen Um das Urteil entbrannte augenblicklich eine heftige Diskussion. Diese fiel gar noch schärfer aus als die im Zusammenhang mit der erstinstanzlichen Entscheidung geführte.29 Infolge der strafmildernden Berücksichtigung einer den Angeklagten schwer belastenden „Vorverurteilung“ verlagerte sich die öffentliche Dis25
LG Karlsruhe a. a. O., S. 80 = NZV 2005, 274 (275 f.); Hervorhebung durch
Verf. 26
Zu Nachweisen siehe etwa schon Jescheck/Weigend, S. 897 f. Siehe oben bei und in Fn. 17. 28 Vgl. nur BGH/T NStZ 1986, S. 496 f. m. Nachw. aus der unveröffentlichten Rspr. des BGH; vgl. ferner MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 54, Schönke/Schröder/ Stree, StGB, § 46 Rn. 55 und Terhorst, in: JR 1989, S. 185 f., jeweils m. w. N. 29 Erschwerend hinzu dürfte hierbei die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung gekommen sein, da dies in der öffentlichen Wahrnehmung allzu häufig als Freispruch – wenngleich als solcher „zweiter Klasse“ – aufgefasst wird (das AG Karlsruhe war insoweit gemäß § 56 Abs. 2 und 3 StGB noch zum entgegengesetzten, gleichsam „öffentlichkeitskonformeren“ Ergebnis gelangt, siehe oben bei und in Fn. 11). 27
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1. Teil: Einleitung
kussion zudem auch auf eine völlig neue Ebene. Inhaltlich verhielten sich die Kommentare diesbezüglich in zwei Richtungen. Einerseits wurden Stellungnahmen veröffentlicht, die diesen Teil der gerichtlichen Entscheidung scharf kritisierten: „Wenn die Stigmatisierung ein Strafmilderungsgrund sein sollte, müsste dies für alle Straftäter gelten (. . .). Dann müsste man jeden Kinderschänder milder bestrafen, denn der wird noch viel stärker stigmatisiert.“30
Andererseits wurde aber auch Verständnis hierfür geäußert angesichts etwa folgender veröffentlichter Medienberichte: „Mit von Tränen erstickter Stimme sagte der Entwicklungsingenieur, (. . .), er und seine Freundin seien wegen einer regelrechten Medienhetze ‚nervlich am Ende‘. “31
und „schilderte (. . .) deutlich angegriffen, dass nicht nur er, sondern auch seine Freundin von den Medien verfolgt würden; dass sich Journalisten in Nachbarhäusern eingemietet hätten, um ihn zu fotografieren. Er habe stark abgenommen und zum Teil Tage lang nicht seine Wohnung verlassen.“32
Das berufungsgerichtliche Urteil wurde am 29. Oktober 2004 rechtskräftig.33 Der Fall war somit letztinstanzlich vor dem LG Karlsruhe entschieden worden. Zweites Kapitel
Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung Nach Schilderung der Chronik dieses in die Thematik einführenden Falles soll es im folgenden Kapitel zunächst darum gehen, die denkbaren Einflüsse von Medienberichterstattung im Allgemeinen (A.) sowie vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen (B. I.) darzustellen und hieraus sodann die im Rahmen dieser Arbeit gewählte Untersuchungsperspektive zu entwickeln (B. II.).
30 Kury, in: Der Tagesspiegel vom 31. Juli 2004, S. 8; ähnl. Brandenstein/Kury, in: NZV 2005, S. 227. 31 Stuttgarter Zeitung vom 06. Juli 2004, www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/ detail.php/760612 (zuletzt abgerufen am 02.07.2007, 09:42). 32 Stuttgarter Zeitung a. a. O. (zuletzt abgerufen am 02.07.2007, 09:42). 33 Siehe Stempelaufdruck der Entscheidung des LG Karlsruhe, Urt. v. 29.7.2004 – 11 Ns 40 Js 26274/03, S. 1 (dem Abdruck der Entscheidung in NZV 2005, 274 ff. nicht zu entnehmen).
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
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A. Wirkmächtigkeit von Berichterstattung im Allgemeinen Die Medien34 fungieren als „Sender“ und beliefern hierbei Zuschauer und -hörer sowie Leser als „Empfänger“ bzw. Rezipienten mit verschiedenartigst aufbereiteten Informationsinhalten. Als unbestritten kann insoweit gelten, dass die Medien – nicht zuletzt auf Grund ihres hohen Verbreitungsgrades – eine große Ausstrahlungskraft entfalten. Dies verdeutlichen auch und gerade die zu den Auswirkungen speziell von Gewaltdarstellungen in den (Massen-)Medien auf die Begehung von Gewaltstraftaten entwickelten sog. Medienwirkungstheorien. Insoweit sind insbesondere Inhibitations-, Katharsis-, Habitualisierungs- und Stimulationstheorie sowie ein anomietheoretischer Ansatz anzuführen.35 Die beiden erstgenannten Theorien gehen von einer aggressionsmindernden Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien aus. Während die Inhibitionstheorie die psychische Hemmung etwaig vorhandener eigener Gewaltphantasien auf Grund von Aggressionsangst bzw. -furcht vermutet, kommt nach der Katharsistheorie dem Betrachten von Gewaltdarstellungen insofern eine Ventilfunktion („Abreaktion“) zu. Die zuletztgenannten Theorien messen medialer Gewaltdarstellung hingegen eine aggressionsfördernde Wirkung zu. Nach der Habitualisierungstheorie kommt es sukzessive zu Gewöhnungseffekten hinsichtlich der Darstellung von Gewalt („Abstumpfung“) mit der Folge steigender Wahrscheinlichkeit eigener Gewaltanwendung. Die Stimulationstheorie bejaht eine gewaltfördernde Wirkung durch (Beobachtungs-)Lernen und anschließende Nachahmung erlernter aggressiver Verhaltensmuster. Gemäß dem anomietheoretischen Ansatz schließlich transportieren die (Massen-)Medien die – nicht ohne weiteres zu erreichenden – erstrebenswerten gesellschaftlichen Ziele und dabei insbesondere das Erlangen materiellen Wohlstandes, 34 Unter Medien (pl. von lat. medium) versteht man in diesem Zusammenhang gemeinhin Vermittlungssysteme für Informationen aller Art. Je nach Verfahrensweise der Informationsübermittlung kann eine Unterteilung in drei Kategorien vorgenommen werden: Audiovisuelle Medien sind solche Medien, die sowohl hörbare als auch sichtbare Informationen vermitteln (Fernsehen, Kino, Bild- und Tonaufzeichnungsverfahren wie Video und DVD, Internet sowie Telefon, mit dem sich neuerdings ebenfalls visuelle Informationen in Form von Texten und Bildern übermitteln lassen); bei Printmedien handelt es sich demgegenüber um gedruckte Nachrichten- bzw. Informationsträger (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher); auditive Medien schließlich vermitteln lediglich akustische Informationen (z. B. Schallplatten, CDs und Hörfunk). 35 Siehe hierzu wie zum Folgenden etwa die Ausführungen schon bei Schneider, Kriminologie, S. 719 ff. mit umfassenden Nachw. aus der Forschungspraxis; siehe ferner Bock, Rn. 959; Eisenberg, Kriminologie, § 50 Rn. 17 ff.; Schwind, § 14 Rn. 20 ff.; siehe auch v. Becker, S. 103 ff.
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1. Teil: Einleitung
und sie präsentieren zugleich deren (leichtere) Realisierbarkeit mit dem gesellschaftlich nicht anerkannten Mittel der Anwendung von Gewalt. Gewaltdarstellungen in den Medien werden hiernach als (verfehlte) Konfliktlösungsmodelle dahingehend wirksam, bestehenden anomischen Druck erfolgreich abzubauen. Wenngleich nach wie vor keine gesicherten empirischen Erkenntnisse dazu vorliegen, wie mediale Darstellungen von Gewalt sich im Einzelnen auf die „Empfänger“ der Informationen tatsächlich auswirken,36 ist doch allen diesen Theorien gemein, dass sie der Medienberichterstattung eine große Wirkmächtigkeit auf etwaiges aggressives Verhalten der Rezipienten zusprechen. Dies ist jedoch nicht auf den Bereich von Gewaltdarstellungen beschränkt, sondern lässt sich darüber hinaus auch für Medienberichterstattung im Allgemeinen formulieren.37 Die Medienlandschaft selbst ist einem steten Wandel unterworfen. Dabei werden in immer kürzeren Zeitabständen immer mehr Menschen erreicht und zugleich mit zunehmend detaillierteren Informationen versorgt. Dies nicht zuletzt auf Grund des noch recht jungen Mediums „Internet“.38 Dem entspricht es, wenn die Medien allgemein als „vierte Gewalt“ bezeichnet werden.39 Hiermit soll zwar zunächst nur auf ihre Kontrollfunktion über die drei staatlichen Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative40 – hinge36 Bock, Rn. 960; Schwind, § 14 Rn. 37; Schneider, in: DVJJ-J 1993, S. 273; vgl. auch Eisenberg, Kriminologie, § 50 Rn. 20; siehe aber Schneider, Kriminologie, S. 725, 750. 37 Vgl. dazu Gerhardt, S. 44 f.: „Daß die Medien einen Einfluß auf Gerichtsverfahren haben, vor allem auch auf den Strafprozeß, ist offenkundig (. . .). (. . .). Das Maß des Einflusses ist allerdings schwer messbar (. . .).“; Jahn, S. 18: „Es fehlen sichere Kenntnisse darüber, inwieweit Medienberichterstattung sich tatsächlich auf den Gang von Strafverfahren auswirkt. Die Gefahr schädigender Einflußnahme liegt aber auf der Hand.“, ähnl. S. 6, 9, 15 f.; vgl. ferner Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2008, S. 38 („Einfluss der Medien weitgehend eingeräumt“); Mertin, in: ZRP 2005, S. 206; Stapper, in: AfP 1996, S. 350 f.; Wohlers, in: StV 2005, S. 187; Wagner, Strafprozessführung, S. 13, 101 f. 38 Siehe zum Ganzen näher unten 4. Teil 2. Kap. A. III. 3. 39 Siehe etwa Hörisch, in: StV 2005, S. 151; Weiler, in: ZRP 1995, S. 131 f.; ders., in: StraFo 2003, S. 191; Neuling, S. 97, 100; Schulz, S. 28; vgl. Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 636 („die Medien sind zwar keine ‚vierte Gewalt‘ im Staate, aber sie sind doch ein beherrschender Faktor“); vgl. auch Stürner, in: JZ 1978, S. 167, der die Medien als Träger öffentlicher Kommunikation die „modernen gesellschaftlichen Gewalten“ nennt. 40 Zugrunde liegt dieser auf den französischen Schriftsteller und Philosophen Charles de Montesquieu zurückgehenden Einteilung die Idee einer staatlichen Gewaltenteilung. Mit seinen Vorstellungen von gegenseitiger Verschränkung und Mitbeteiligung der drei Gewalten zu einem System kontrollierenden Gleichgewichts („De l’esprit des lois“, 1748) wurde Montesquieu zum Urheber der neuzeitlichen
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
35
wiesen sein. Darüber hinaus verdeutlicht diese Terminologie aber auch die herausgehobene Stellung der Medien unter der Geltung des Grundgesetzes. Letztere manifestiert sich in ihrer gesellschaftlichen Funktion, die Öffentlichkeit zu unterrichten, wo dies erforderlich ist, die Zusammenhänge zu erklären, wo dies die Bürger bei der Meinungsbildung unterstützt und sie erforderlichenfalls auch entsprechend zu belehren, wo nur dies insgesamt das Informationsinteresse der Allgemeinheit befriedigt.41 Zugleich ist auf die Selektionsmacht der Medien hinzuweisen, indem ihre Vertreter entscheidenden Einfluss darauf haben, worüber – und in welcher Intensität – zur Kenntnisnahme der Öffentlichkeit berichtet wird; hieraus resultiert letztlich eine Macht auch über Einzelschicksale und Biographien.42
B. Wirkmächtigkeit vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen I. Wirkungssphären Innerhalb denkbarer Wirkungssphären vorverurteilender Medienberichterstattung über die (mutmaßliche) Begehung von Straftaten lassen sich – ausgehend vom Makrobereich der Öffentlichkeit (1.) – dem Ermittlungsbzw. Verfahrensverlauf nachfolgend zunehmend dem Mikrobereich zugehörige Sphären (Ermittlungsbehörden und Verfahrensbeteiligte, 2.–4.) unterscheiden. Gleichsam übergeordnet ist die Strafrechtspflege als Institution betroffen (5.). Schließlich wirkt sich eine vorverurteilende Berichterstattung wiederum auf die Medien selbst aus (6.), wodurch es zur Ausprägung eines „Verstärkerkreislaufs“ kommen kann (7.). 1. Auswirkungen auf die Öffentlichkeit Eine vorverurteilende Berichterstattung wirkt sich naturgemäß zunächst auf die allgemeine Öffentlichkeit als „Summe aller Individuen“ aus, für die Gewaltenteilung (vgl. dazu Herzog, Strafprozess, S. 25: „Gewaltenteilungslehre in der Tradition Montesquieus“). 41 OLG Frankfurt NJW 1980, 597 (598); vgl. auch BVerfGE 35, 202 (230 ff.) – Fall Lebach; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426; Jahn, S. 8; Deutscher Juristentag, in: NJW 1990, S. 2986 f.; vgl. zum Ganzen näher unten 4. Teil 2. Kap. A. III. 2. a), b) am Ende. 42 Ähnl. Stürner, in: JZ 1980, S. 4 f.; vgl. Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 636 („Die Macht der Medien besteht [. . .] darin, daß sie die sog. öffentliche Meinung bestimmen und beeinflussen.“; sie sind damit die „Herren über die veröffentlichte Meinung“) und S. 642 („ungeheure Macht [. . .], Einzelne hochleben zu lassen oder zu verdammen“). – Ausf. zum „Machtpotential der Medien“ Neuling, S. 97 ff.
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1. Teil: Einleitung
die Informationen letztlich ja bestimmt sind. Je nach Verbreitungsgrad des Mediums wird nur die regionale, die überregionale oder aber auch die deutschland-, europa- bzw. gar weltweite Öffentlichkeit erreicht. Die so umfasste Öffentlichkeit wird über die (vermeintlichen) näheren Umstände des „Falles“ bereits vor Beginn und auch während eines etwaigen Strafverfahrens informiert. Gesichtspunkte einer vorverurteilenden Berichterstattung in den Medien können sich aber auch noch nach dessen rechtskräftigem Abschluss auswirken, etwa wenn Vollzugslockerungen anstehen oder ein verbliebener Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Auf dieser Grundlage kann sich in der öffentlichen Meinung eine abschließende Position verfestigen, die eine weitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem (mutmaßlichen) Geschehen erschwert, wenn nicht gar in Gänze unmöglich macht. Bei einer vorverurteilenden Berichterstattung ist also zunächst einmal das Interesse der Öffentlichkeit an einer wahrheitsgetreuen, ausgewogenen und keine verzerrenden Darstellungen enthaltenden Information tangiert.43 2. Auswirkungen auf die Ermittlungsbehörden Auch auf die Tätigkeit der Ermittlungsbehörden44 können sich vorverurteilende Medienberichte auswirken. So ist es denkbar, dass im Vorfeld eines etwaigen Prozesses auf Grund der Darstellungen überhaupt erst oder zumindest schon zu einem früheren Zeitpunkt als ursprünglich erwogen Untersuchungen angestellt werden45 bzw. dass auf Grund des durch eine Vorverurteilung transportierten „öffentlichen Drucks“ trotz eher nicht vorhandenen Anlasses (vgl. §§ 152 Abs. 2 bzw. 170 Abs. 1 StPO) die öffentliche Klage erhoben wird46. Hierbei kann es zu Behinderungen der Ermittlungstätigkeit kommen, wenn beispielsweise große Teile der Öffentlichkeit nur ein bestimmtes Verhalten der Ermittlungsbehörden billigen und letztere sich daher gezwungen sehen, diese oder jene Tätigkeiten zu unterlassen oder aber andere vorzunehmen.47 Zudem ist – wie etwa im Fall des „Autobahnrasers“48 – bei entsprechenden Fallkonstellationen auch eine deutlich erhöhte Ermittlungstätigkeit zu konstatieren. 43
Vgl. OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (600); Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923 f. Zur im Vergleich zu der in der StPO ehedem festgeschriebenen veränderten Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft im Verhältnis zur Polizei siehe Schaefer, Staatsanwaltschaft, S. 74 f. 45 Vgl. Dahs, Rn. 235; Eisenberg, Kriminologie, § 26 Rn. 42; Hassemer, in: NJW 1985, S. 1927; Tilmann, in: StV 2005, S. 175. 46 Ebenso Neuling, S. 166. 47 Vgl. Schulz, S. 11, 12 f. 48 Siehe oben bei und in Fn. 4. 44
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
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Betroffen werden hierdurch insbesondere der Grundsatz gleicher Rechtsanwendung und derjenige der Verhältnismäßigkeit, wenn die Aufnahme von Ermittlungen sich weniger nach den objektiv gegebenen Umständen als vielmehr allein danach richtet, wie und was über ein bestimmtes (mutmaßliches) Tatgeschehen in den Medien berichtet wird. Zugleich wird hierdurch das gesellschaftliche Interesse an einem unbeeinflussten Tätigwerden der Ermittlungsbehörden berührt. 3. Auswirkungen auf bestimmte Verfahrensbeteiligte a) Gericht Auf das mit der Sache befasste Gericht kann sich eine vorverurteilende Medienberichterstattung sowohl bereits vor Beginn als auch während eines Prozesses auswirken. So kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass die generell postulierte Unvoreingenommenheit des zuständigen Richters auf Grund der erfolgten Berichterstattung nachhaltig beeinträchtigt wird,49 weshalb etwa seltener Verfahrenseinstellungen gemäß den §§ 153 ff. StPO vorgenommen und auch insgesamt „härtere“ Entscheidungen getroffen werden könnten. Dies gilt zunächst für Berufsrichter50 und wird speziell bei Schöffen auf Grund deren weitestgehend fehlender juristischer Ausbildung und mangelnder Möglichkeiten der Gewöhnung als gesteigert problematisch 49 Vgl. Grave, in: NJW 1981, S. 211 (betr. Schöffen); Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923; Koppenhöfer, in: StV 2005, S. 173; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426, 430 („Der desensibilisierte Berufsjurist entspricht weder der Realität, noch ist er wünschenswert.“); Scherer, in: JuS 1979, S. 471 (Kritik an der Konzeption einer unabhängigen richterlichen Entscheidungsfindung, „die es nicht gibt“); Stürner, in: JZ 1978, S. 161, 164 (in Literatur und Praxis vertretene abweichende Standpunkte „reichlich wirklichkeitsfremd“); ders., in: JZ 1980, S. 4; Weiler, in: StraFo 2003, S. 188 f.; Gerhardt, S. 45 („richterliche Unbefangenheit noch immer gehütet [. . .] wie ewige Jungfräulichkeit – auch wenn jeder Einsichtige inzwischen weiß, daß sie in dieser Reinkultur jedenfalls ein Mythos ist“); Weigend, in: FS Rolinski, S. 269; Dalbkermeyer, S. 27; Schulz, S. 4; offen gelassen von Weiler, in: ZRP 1995, S. 134; a. A. Roxin, in: NStZ 1991, S. 155 unter Berufung auf BGHSt 22, 289 (294). Insofern lässt sich mit guten Gründen und trotz aller gesetzlich vorgesehenen Verobjektivierungen von einer lediglich gedanklich vorgestellten „Utopie“ des Richters als „reinen Rechtsanwenders“ sprechen, wobei dies angesichts des Umstandes, dass richterliche Entscheidungen wie alles übrige menschliche Handeln von subjektiven Empfindungen überlagert werden, letztlich als völlig „normal“ zu qualifizieren ist (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2008, S. 38: „Richter sind auch nur Menschen“; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430: „auch Menschen“; Stürner, in: JZ 1978, S. 164: schließlich „auch [. . .] Menschen“). Mit anderen Worten: Jedes Urteil beruht letztlich ganz natürlich auf einem Vor-Urteil. 50 Siehe die in der nachfolgenden Fn. 51 angeführten Nachweise.
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1. Teil: Einleitung
zu beurteilen sein51. Wie schon auf der Ebene der Ermittlungsbehörden kann es auch hier zu intensiveren Untersuchungen kommen. Gerichtliche Entscheidungen nach rechtskräftigem Abschluss des Prozesses können von vorverurteilender Berichterstattung ebenfalls noch beeinflusst werden, beispielsweise solche einer in Rede stehenden Aussetzung eines verbliebenen Strafrestes zur Bewährung gemäß §§ 57 ff. StGB. Die vorverurteilende – und oftmals zugleich eine möglichst hohe Sanktionierung einfordernde – Berichterstattung kann andererseits aber auch dazu führen, dass richterliche Schutzinstinkte sowie psychische Tendenzen gemäß dem Gesetz der das Gegenteil bewirkenden Anstrengung52 letzlich in eine sogar „mildere“ Bestrafung einmünden. Als berührte Interessen sind insbesondere zu nennen die richterliche Unabhängigkeit i. S. d. Art. 97 Abs. 1 GG mit dem Erfordernis einer unbefangenen und unbeeinflussten, objektiven und nur dem Gesetz unterworfenen Entscheidung53 sowie – infolge etwaiger medialer Verängstigung oder gar Einschüchterung54 – auch Persönlichkeitsrechte der Richter. Insgesamt betrachtet wird somit die Sicherung der Handlungskompetenz des Gerichts tangiert.55 b) Zeugen und Sachverständige Hinsichtlich möglicher Auswirkungen vorverurteilender Berichterstattung auf Zeugen und Sachverständige gelten ähnliche Erwägungen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob diese sich angesichts des öffentlich aufgebauten Drucks noch unbeeinflusst und unvoreingenommen äußern können oder aber Aussagen machen bzw. Gutachten erstatten, die – zumindest in Teilen – von der in der Öffentlichkeit gleichsam „vorgegebenen“ Einschätzung 51 Vgl. Dahs, Rn. 513; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430; Marczak, in: StraFo 2004, S. 377; Mertin, in: ZRP 2005, S. 205; Stapper, in: AfP 1996, S. 350; Stürner, in: JZ 1978, 164; offen gelassen von Hassemer, Strafverfahren, S. 67; krit. Gatzweiler, in: StraFo 1995, S. 64; a. A. BGHSt 22, 289 (294); Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928; Wohlers, in: StV 2005, S. 187; siehe dazu auch Scherer, in: JuS 1979, S. 473 bei und in Fn. 36. 52 Vgl. Koppenhöfer, in: StV 2005, S. 173; Gerhardt, S. 25. 53 Vgl. ausf. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 162 ff. 54 Vgl. Der Tagesspiegel vom 06. August 2004, S. 8: „Die Richter haben in den vergangenen Jahren lernen müssen, dass sie die Öffentlichkeit bislang anders verstanden haben, als diese sich selbst versteht. Öffentlichkeit, das war in der Theorie eine etwas staubige Vorschrift, die vor Willkürurteilen schützen sollte, und in der Praxis mal ein Rentner oder eine Schulklasse auf einer ansonsten leeren Zuschauerbank. Das ist vorbei. Wenn die Öffentlichkeit heute anrückt, mit Scheinwerfern, Mikrofonen und dreißig Kilometern Kabel (. . .), erschrickt die Justiz noch immer.“. 55 Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923.
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
39
bestimmt wurden.56 Unter dem Einfluss medialer Einschüchterung oder Suggestion zustande gekommene Aussagen von Zeugen können der Wahrheit grundlegend entbehren.57 Ferner kann schon die Aussagebereitschaft von Zeugen nachhaltig negativ beeinflusst werden,58 etwa wenn zugunsten des Beschuldigten wirkende Aussagen erkennbar dem Meinungsbild der Öffentlichkeit widersprechen würden. Auch können die Schilderung eigener Erlebnisse und diejenige solcher Umstände, die erst über die Medien „erlebt“ wurden, untrennbar miteinander verbunden worden sein.59 Betroffen wird hierdurch besonders das Interesse auf Sicherung von Handlungskompetenz; eine etwaige Verängstigung oder Einschüchterung von Zeugen und Sachverständigen beschränkt zudem deren Persönlichkeitsrechte.60 c) Opfer und Nebenkläger Das Opfer der berichteten Straftat und dessen Lebenskreis sowie etwaige Nebenkläger – z. B. das Opfer wiederum selbst – können ebenfalls beeinträchtigt werden. Nicht selten wird beispielsweise im Zuge einer vorverurteilenden Medienberichterstattung das mutmaßliche Opfer schon vor Beginn eines strafrechtlichen Verfahrens der Öffentlichkeit dargeboten und hierdurch intensiven Nachstellungen ausgesetzt. Die Art der Darstellung des Opfers, insbesondere im sensiblen Deliktsbereich der §§ 176 ff. StGB, kann dieses – und darüber hinaus sein privates Umfeld – zusätzlich beeinträchtigen. Diese Beeinträchtigungen können sich während des Strafprozesses weiter vertiefen und auch noch nach dessen rechtskräftigem Abschluss fortsetzen. Andererseits kann sich infolge einer vorverurteilenden Berichterstattung auf Seiten des Opfers auch eine „befriedende“ Wirkung einstellen, wenn das von den Medien bereits als strafrechtlich relevant beurteilte 56
Ebenso Stürner, in: JZ 1978, S. 161, 164; vgl. Neuling, S. 167; siehe auch Grave, in: NJW 1981, S. 211, Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426, 427 f., 430, Stapper, in: AfP 1996, S. 350 und Dalbkermeyer, S. 27 (die Zuletztgenannten jeweils betr. Zeugen). 57 Vgl. Schulz, S. 8; zu einem Fall von Suggestion siehe Weiler, in: ZRP 1995, S. 134. 58 Vgl. Jahn, S. 7. 59 Vgl. ebenso Gatzweiler, in: StraFo 1995, S. 65; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426; Stürner, in: JZ 1978, S. 164. – In der Praxis wurde dies etwa im Fall des einleitend geschilderten „Autobahnrasers“ berichtet (vgl. Der Tagesspiegel vom 10. Februar 2004, S. 3: „Oft mischen sich in die Aussagen Fakten, die Zeugen erst aus der Presse erfahren haben können.“; Stuttgarter Zeitung vom 30. Juni 2004, www. stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/757411 [zuletzt abgerufen am 02.07.2007, 09:35]: „eigene Erinnerung von zahllosen Medienberichten überlagert“). 60 Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923, 1925.
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1. Teil: Einleitung
Geschehen zwar nicht in dieser speziellen Form, so doch zumindest seiner Struktur nach stattgefunden hat. Betroffene Interessen sind etwa die Sicherung von Handlungskompetenz des mutmaßlichen Opfers der berichteten Straftat und infolge medialer Nachstellungen, Verängstigung oder Einschüchterung dessen Persönlichkeitsrechte.61 4. Auswirkungen auf den Beschuldigten Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Straftatenberichterstattung letztlich zentral auf den Beschuldigten62 bezogen ist, kann sich eine Vorverurteilungen enthaltende Darstellung in den Medien naturgemäß insbesondere auf diesen auswirken. Eine derartige Berichterstattung in Ton und Bild präsentiert der breiten Öffentlichkeit eine Person, die als „Täter“ hingestellt wird, der als solcher noch gar nicht existent ist. Für den Beschuldigten – oftmals aus der Anonymität herausgeholt63 – gehen damit mannigfaltige Beeinträchtigungen einher.64 Hierdurch wird zugleich sein privates und berufliches Umfeld betroffen, beispielsweise wenn mediale Nachforschungen in Nachbarschaft und Betrieb angestellt werden. Auch Jahre nach der Tat kann die Vorverurteilung für den Beschuldigten noch weit reichende Konsequenzen haben.65 Schwerwiegend wird zudem der engste Familienkreis der als Täter präsentierten Person berührt, gleiches gilt für Freunde und 61
Vgl. Hassemer a. a. O., S. 1923. Der Begriff des Beschuldigten soll hier weit verstanden werden und über den Beschuldigten i. e. S., den Angeschuldigten sowie den Angeklagten (vgl. insoweit § 157 StPO) hinaus auch den Verurteilten bzw. Freigesprochenen umfassen und damit jede Person, die strafrechtlich relevanten Vorwürfen ausgesetzt ist bzw. war. 63 Vgl. Schulz, S. 5. 64 Müller, in: NJW 2007, S. 1617 f.; Dalbkermeyer, S. 11 ff., 27; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 182; vgl. Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426; Weiler, in: ZRP 1995, S. 135; ausf. zu den persönlichen, sozialen und beruflichen Konsequenzen speziell des Ermittlungsverfahrens Neuling, S. 141 ff. („Bereits die schlichte Existenz eines Ermittlungsverfahrens birgt die Gefahr schwerwiegender nachteiliger Konsequenzen für die individuelle Situation des betroffenen Beschuldigten.“, S. 141). – Siehe auch Schulz, S. 29, der von einer Vorwegnahme des Schuldspruches durch „gesellschaftliche Nebengerichte“ spricht; ebenso schon Marxen, in: GA 1980, S. 373; ähnl. ders. a. a. O., S. 366 f.: „Vor und während des justiziellen Strafverfahrens läuft für viele Tatverdächtige in der Presse ein Sonderverfahren ab, das sich von einem standgerichtlichen Verfahren, sieht man einmal von der physischen Exekution ab, nur wenig unterscheidet.“; vgl. auch Marczak, in: StraFo 2004, S. 378: „Mit der Einrichtung justizförmiger Gerichtsverfahren sollte der Beschuldigte vor einer Verurteilung durch das jeweilige ‚gesunde Volksempfinden‘ gerade bewahrt werden.“. 65 OLG Köln NJW 1987, 2682 (2684); vgl. BVerfGE 35, 202 (234 ff.) – Fall Lebach. 62
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
41
Verwandte des Betroffenen.66 Dies wirkt sich wiederum auch auf den Beschuldigten selbst aus. Die Verteidigung des Beschuldigten wird sich infolge der Berichterstattung im Einzelfall gegebenenfalls auf ein Minimum beschränken müssen,67 etwa um diesen nicht der Gefahr einer noch stärker vorverurteilenden Berichterstattung auszusetzen. Zudem kann sich auf Seiten des Beschuldigten ein erheblicher Geständnisdruck ergeben, der zur Ablegung „falscher“ Geständnisse68 mit der Folge noch weiter beschränkter Verteidigungsmöglichkeiten führen kann. Als betroffenes Interesse ist vor allem anzuführen, dass die fälschlich als bereits überführter Täter bezeichnete Person möglicherweise unschuldig ist, jedenfalls aber bis zur gerichtlichen Feststellung der Schuld als unschuldig zu gelten hat (sog. Unschuldsvermutung69). Wenn schon die Berichterstattung an sich eine Verletzung bzw. Gefährdung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG bedeuten kann70, gilt dies umso mehr für eine Berichterstattung, die zusätzlich in vorverurteilender Art und Weise erfolgt71. In schwerwiegenden Fällen – wenn beispielsweise mutmaßliche Täter als „Bestien“ tituliert werden und ihnen somit letztlich das Menschsein abgesprochen wird – ist sogar das Vorliegen einer Verletzung der Menschenwürde aus Art. 1 GG in Betracht zu ziehen. Somit sind insgesamt zentrale Persönlichkeitsrechte (Anonymität, Schutz der Intimsphäre) betroffen,72 und zwar mitunter auch diejenigen von Personen aus dem näheren Umfeld des Beschuldigten. Darüber hinaus ist die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit und Handlungskompetenz des Beschuldigten berührt.73 66
Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1925; Neuling, S. 142. Vgl. Jahn, S. 7. 68 Schulz, S. 8; vgl. Weiler, in: ZRP 1995, S. 134. 69 Siehe hierzu näher unten 2. Teil 2. Kap. A. I. am Ende. 70 Vgl. BVerfGE 54, 208 (217 f.); OLG Köln JMBl NW 1985, S. 282; Stürner, in: JZ 1978, S. 163; Schulz, S. 7; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 182. – Vgl. dazu aus der Praxis Dahs, Rn. 101: „(. . .) Berichterstattung über Hauptverhandlungen und andere Untersuchungen, durch die der Betroffene sehr bloßgestellt werden kann. Viele Mandanten fürchten zu Recht den öffentlichen Pranger der Medien oft weit mehr als das ihnen evtl. drohende Urteil. Das ist allgemeines Erfahrungsgut aller Verteidiger.“ (Hervorhebung im Original). 71 Vgl. im Ergebnis ebenso BVerfGE 71, 206 (219); KG Berlin NJW 1968, 1969 (1969 f.); Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 429; Mitsch, in: Die Polizei 2004, S. 254; Roxin, in: NStZ 1991, S. 157. 72 Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923; vgl. Deutscher Juristentag, in: NJW 1990, S. 2986 f. 73 Hassemer a. a. O., S. 1923, 1925. 67
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1. Teil: Einleitung
Speziell bei jugendlichen und heranwachsenden74 Beschuldigten sind die denkbaren Auswirkungen leicht modifiziert: Einerseits können die aus der Verletzung von Persönlichkeitsrechten entstehenden Beeinträchtigungen auf Grund des jungen Alters naturgemäß noch einmal verstärkt sein, andererseits kann eine vorverurteilende Berichterstattung infolge empfundenen „Heldentums“ etc. aber auch dazu führen, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende für sich sogar Positives aus der Berichterstattung zu ziehen vermag.75 5. Auswirkungen auf die Strafrechtspflege als Institution Vorgenannte Auswirkungen strahlen zugleich jeweils übergeordnet auf das Strafverfahren an sich, das heißt die Strafrechtspflege als Institution, aus.76 Insoweit betroffene Interessen sind etwa die Gefährdung der Wahrheitsund Rechtsfindung, die Würde des Gerichts oder das Ansehen der Strafjustiz im Allgemeinen.77 Auch das ein Zuständigkeits- bzw. Verarbeitungsmonopol enthaltende Gewaltmonopol des Staates und damit die allein in hoheitlicher Entscheidung zu treffende Feststellung über Schuld oder Unschuld des Beschuldigten78 werden tangiert, wenn die Medien der Strafjustiz einen bestimmten Ausgang des Prozesses gleichsam vorzugeben bezwecken. Insgesamt wird hierdurch die Umsetzung des Interesses an einer möglichst effektiven Strafrechtspflege bedeutend erschwert. 6. Auswirkungen auf die Medien selbst Schließlich wirkt sich eine medial transportierte Vorverurteilung wiederum auf die Medien selbst aus, etwa indem „schwarze Schafe“ infolge der vorverurteilenden Berichterstattung das Ansehen und Tätigwerden der Medienorgane in ihrer Gesamtheit negativ beeinflussen.79 Hierdurch können allgemein etwa berufliche – und damit zugleich wirtschaftliche – Interessen der Publikationsorgane beeinträchtigt werden (vgl. Art. 12 Abs. 1 GG). 74 Zu den Altersstufen „Jugendlicher“ und „Heranwachsender“ siehe § 1 Abs. 2 JGG; insoweit ausschlaggebend ist das Alter zum Zeitpunkt der Tat (vgl. dazu § 2 Abs. 2 JGG, § 8 StGB). 75 Siehe näher unten 4. Teil 2. Kap. C. III. 2. c) cc). 76 Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923, 1924; Dalbkermeyer, S. 28. 77 Hassemer a. a. O., S. 1924. 78 Hassemer a. a. O., S. 1924, 1926. 79 Hassemer a. a. O., S. 1924.
2. Kap.: Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung
43
7. „Verstärkerkreislauf“ Vorverurteilungen in den Medien führen zudem dazu, dass auch weitere Medienorgane über die berichtete Straftatenbegehung und den oder die vermeintlichen Täter informieren und insoweit zumindest mittelbar eine Weiterverbreitung der vorverurteilenden Berichterstattung bewirken, wenn nicht gar auf Grund eigener Vorverurteilungen auch selbst weiter vertiefen. Hierdurch kann es zu der Herausbildung eines „Verstärkerkreislaufs“ mit sich fortlaufend gegenseitig steigernden Wechselwirkungen kommen. Die auf diese Weise intensivierte Berichterstattung kann wiederum vertiefend auf die Sphären der Öffentlichkeit, der Ermittlungsbehörden und der Verfahrensbeteiligten80 ausstrahlen und damit zugleich eine weiter gesteigerte Beeinträchtigung der Strafrechtspflege als Institution und der Medien selbst81 zur Folge haben. II. Wahl der Untersuchungsperspektive Vorstehende Ausführungen haben gezeigt, dass es sich in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung um eine sehr komplexe Thematik handelt. Insoweit konnten vielfältige Wirkungssphären unterschieden werden, innerhalb derer Auswirkungen unterschiedlichster Art und Weise und in unterschiedlichster Richtung denkbar sind. Von vorverurteilenden Medienberichten ganz besonders betroffen ist naturgemäß der Beschuldigte,82 der mittels medialer „Ermittlungstätigkeit“ – wie im „Autobahnraser“-Fall83 – schon frühzeitig als überführter Täter beschrieben wird, wenngleich ein entsprechender gerichtlicher Nachweis noch nicht erbracht worden ist.84 Dies steht im Widerspruch zum allgemeinen Aussagegehalt der Vermutung der Unschuld des Betroffenen.85 Daraus, dass der Beschuldigte oftmals gleichsam an den „medialen Pranger“86 gestellt wird, ergeben sich häufig schon zu diesem Zeitpunkt schwerwiegende psychische und physische Belastungen, die sich auch im sozialen und beruflichen Umfeld des Betroffenen bemerkbar machen können87: Ehepartnern, 80
Siehe oben 1.–4. Siehe zuvor 5. und 6. 82 Siehe schon oben I. 4. 83 Dazu oben bei und in Fn. 4. 84 Siehe allg. zur Problematik eigener „Ermittlungstätigkeit“ der Medien Neuling, S. 317 f. 85 Vgl. näher unten 2. Teil 2. Kap. A. I. am Ende. 86 Siehe näher unten bei und in Fn. 781. 87 Vgl. schon oben I. 4. 81
44
1. Teil: Einleitung
Kindern und Verwandten wird medial förmlich nachgestellt, um an (weitere) Informationen zu gelangen, zudem wird das Verhältnis zu Freunden, Arbeitskollegen oder Nachbarn mitunter ernsthaft gestört. Nicht selten treten auch bereits ganz erhebliche berufliche Konsequenzen ein.88 In einigen Fällen bleibt dem Betroffenen schließlich nur der Wegzug aus seiner derzeitigen Umgebung, um fortgesetzten Beeinträchtigungen zu entgehen. Der Beschuldigte wird somit durch eine vorverurteilende Berichterstattung bereits vor Beginn eines etwaigen Strafprozesses erheblich beeinträchtigt. Da schon ein Strafverfahren an sich eine große Belastung für den Betroffenen darstellen kann89, wird dies erst recht für solche Verfahren gelten, über die in vorverurteilender Art und Weise berichtet wird90, etwa wenn die Täterschaft des Beschuldigten trotz lediglich bestehenden Tatverdachts bereits als Gewissheit ausgegeben wird, so dass sich während des Prozesses weitere Beeinträchtigungen einstellen werden. Aber mitunter auch noch Jahre nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens hat der Betroffene an den sich ergebenden Folgen zu tragen91, weshalb sich insoweit zudem nachwirkende Stigmatisierungseffekte ergeben können. Während bislang in der Literatur insbesondere etwaige Auswirkungen vorverurteilender Medienberichterstattung auf das Gericht im Mittelpunkt der Untersuchungen standen,92 soll in dieser Arbeit nach alledem die Wirkungssphäre speziell des Beschuldigten näher beleuchtet werden. Jugendliche und heranwachsende Beschuldigte bedürfen insoweit jeweils besonderer Betrachtung.93
88 Vgl. wiederum etwa den „Autobahnraser“-Fall; ferner das Verfahren gegen den betrügerischen Berufsschiedsrichter R. Hoyzer: Am 29.04.2005 wird dieser vom DFB „wegen unsportlichen Verhaltens in acht Fällen“ lebenslang gesperrt und aus dem Fußball-Verband ausgeschlossen. 89 Dahs, Rn. 101; Jescheck/Weigend, S. 862; Kramer, Rn. 273; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 402; vgl. Kempf, in: StraFo 2004, S. 301; Tilmann, Angeklagter, S. 55; vgl. ferner § 171b GVG. 90 Ebenso OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (600): „erhebliche Verschlimmerung der bereits eingetretenen Beeinträchtigungen“. 91 Vgl. dazu nur den der Entscheidung BVerfGE 35, 202 ff. zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem es um die Rechtmäßigkeit der Ausstrahlung eines – den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Täter in zeitlicher Nähe seiner Haftentlassung neuerlich identifizierenden – Fernsehdokumentar-Spiels ging (Fall Lebach). 92 Vgl. insb. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1921 ff.; Roxin, in: NStZ 1991, S. 153 ff. 93 Siehe schon oben I. 4. am Ende.
3. Kap.: Fragestellung und Gang der Untersuchung
45
Drittes Kapitel
Fragestellung und Gang der Untersuchung Die einleitend dargestellte berufungsgerichtliche Entscheidung des LG Karlsruhe berücksichtigte in der Strafzumessung die „in besonders aggressiver Weise“ erfolgte „Vorverurteilung“ des Beschuldigten und späteren Angeklagten sowie die sich infolge dieser öffentlichen „Brandmarkung“ insgesamt ergebenden physischen, psychischen und wirtschaftlichen Beeinträchtigungen seiner Person.94 Handelte es sich bei dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt nur um einen atypischen und einmaligen oder sich zumindest in absehbarer Zeit nicht wiederholenden Einzelfall, könnte nachfolgend darauf verzichtet werden, diesen Problemkreis einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Weitere Fälle aus der älteren95 und jüngeren96 Vergangenheit – alle94
Siehe oben bei und in Fn. 25. Vgl. etwa den „Vampir-Fall“ aus dem Jahre 1979 (dazu Gerhardt, S. 37 ff. [„Ein inzwischen klassischer Fall einer Vor-Verurteilung. . .“]) und den Fall des vermeintlichen „Terror-Mädchens“ Eleonore P. aus dem Jahre 1977 (dazu Bornkamm, in: NStZ 1983, S. 102 f.; Gerhardt, S. 39 f.); zum „Fall Weimar“ (BGHSt 36, 119 ff.) siehe beispielsweise die Darstellungen bei Neuling, S. 196 f. und Hamm, S. 53 ff., 108 ff. sowie unter www.geocities.com/Athens/Forum/9962/ weitaz3.html (zuletzt abgerufen am 03.07.2007, 14:55): „Monika Weimar schon laengst vor dem Urteilsspruch, ja bereits vor Eroeffnung des Verfahrens, in der oeffentlichen Meinung und den Medien vorverurteilt.“; zum Fall des P. Graf siehe z. B. Schaefer, in: NJW 1996, S. 496 („klassische Vorverurteilung einer Person, hier des Beschuldigten P. Graf, dessen Verhalten in einer Art und Weise [. . .] abgehandelt wurde, als wäre es schon die Hauptverhandlung gegen ihn“; Hervorhebung im Original). 96 Vgl. etwa die Entscheidung des LG Frankfurt a. M., Urt. v. 20.12.2004 – 5/27 KLs 4/04 (= NJW 2005, 692 ff.) gegen den Frankfurter Polizeivizepräsidenten W. Daschner (nachgehend BGH, Beschl. v. 21.5.2004 – 2 StR 35/04, Verwerfungsbeschluss) wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung im Amt gemäß § 357 Abs. 1 i. V. m. § 240 Abs. 1 und 2 StGB mit u. a. diesen Erwägungen zur Strafzumessung: „Auch die Folgen der Taten sind strafmildernd zu berücksichtigen. Die Begleitung durch die Medien vorprozessual und während des Strafverfahrens war immens. Das hat die Angeklagten und ihre Familien sehr belastet und zum Teil – ob gewollt oder nicht – zu einer Prangerwirkung geführt.“ (S. 43 = NJW 2005, 692 [696]). Siehe zu diesem Verfahren aus strafrechtlicher Sicht den Beitrag von Mitsch, in: Die Polizei 2004, S. 254 ff.; zu Begriff und Zulässigkeit (polizeilicher) „Folter“ anlässlich des zugrunde liegenden Sachverhaltes siehe Hilgendorf, in: JZ 2004, S. 331 ff. Vgl. ferner die Entscheidung des LG Düsseldorf, Urt. v. 4.8.2004 – 12 KLs 19/04 (unveröffentlicht) gegen J. Immendorff, seinerzeit Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, wegen Betäubungsmittelverstoßes gemäß §§ 29 Abs. 1 S. 1 Nrn. 3 und 6b, Abs. 4, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, bei der innerhalb der Strafzumessung u. a. 95
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1. Teil: Einleitung
samt erwachsene Beschuldigte betreffend – verdeutlichen indes, dass die in Rede stehende Problematik gerade keine unikale Anomalie darstellt und sich darüber hinaus auch nicht etwa auf straßenverkehrsrechtliche Fälle wie den berichteten beschränken lässt.97 Insgesamt bedarf es daher einer näheren Untersuchung. Bei der Frage, ob eine medienöffentliche Vorverurteilung in einschlägigen Fällen in der Strafzumessung – so das LG Karlsruhe – oder anderweitig zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen ist, muss dem Urteil angesichts der Beeinträchtigungen, die sich aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung für den Betroffenen im Einzelfall ergeben können98, nachdrücklich zugestimmt werden. Hinsichtlich des Wie einer solchen Berücksichtigung gibt es bislang nur wenige Veröffentlichungen in der Literatur – für den jugendstrafrechtlichen Bereich fehlen entsprechende Überlegungen sogar ganz –, und etwa die genannte Entscheidung des LG Karlsruhe setzt sich naturgemäß nur oberflächlich mit der dem Urteil insoweit zugrunde gelegten Dogmatik auseinander. Hierzu bedarf es also weiterer Betrachtungen. Zielstellung der Untersuchung soll es daher sein, einen gangbaren Weg strafjustizieller Berücksichtigung von „Vorverurteilungen“ des Beschuldigten aufzuzeigen, diesen Weg dogmatisch zu fundieren und hierbei einen Beitrag letztlich auch für die Anwendung in der Praxis zu leisten. Besonderer Beachtung bedürfen dabei jugendliche und heranwachsende Beschuldigte, weshalb diesbezüglich im Verlaufe der Arbeit stets zu differenzieren sein wird. Nachdem bislang eher undifferenziert von „vorverurteilender Berichterstattung“ und den mit einer „Vorverurteilung in den Medien“ einhergehenden Beeinträchtigungen des Beschuldigten die Rede war, wird es anschließend zunächst darum gehen, näher zu bestimmen, was hierunter im Rahmen dieser Untersuchung verstanden werden soll (Zweiter Teil). Sodann soll sich in einem weiteren Abschnitt der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung gewählten empirischen Herangehensweise – dem Führen sog. Experteninterviews – zugewendet werden (Dritter Teil). mildernd berücksichtigt wurde, dass „der Angeklagte als Folge der Tat bereits ein Jahr lang einer teils entwürdigenden Pressekampagne in der Öffentlichkeit ausgesetzt“ war (S. 11). 97 Zu aktuellen Fällen siehe die unter der Rubrik „Ein Fall für den Presserat“, Unterpunkt „Persönlichkeitsrechte (Ziffern 8, 9 und 13)“ veröffentlichten Sachverhalte (abzurufen unter www.presserat.de/Persoenlichkeitsrechte.164.0.html; fortlaufende Aktualisierung). 98 Siehe oben 2. Kap. B. I. 4., II.
3. Kap.: Fragestellung und Gang der Untersuchung
47
Der Vierte Teil schließlich beschäftigt sich mit der zentralen Frage einer strafjustiziellen Berücksichtigung in Rede stehender Umstände, wobei dem Titel entsprechend das Jugendstrafverfahren stets einer gesonderten Betrachtung unterzogen wird. Die insoweit in Verbindung mit den Ergebnissen des Dritten Teils realisierte Verknüpfung von Theorie und Empirie hat letztlich den von der Arbeit intendierten interdisziplinären Ansatz zur Folge.
Zweiter Teil
Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“ Im Mittelpunkt der nun erfolgenden begrifflichen Klärung wird wie bereits ausgeführt99 die Wirkungssphäre speziell des Beschuldigten stehen. Die zu erarbeitende Definition, die der vorliegenden Untersuchung dann im Weiteren zugrunde gelegt wird, soll daher auch nur für diese Perspektive entwickelt werden. Zu prüfen ist dafür zunächst, inwieweit die unter dem Stichwort „öffentliche Vorverurteilung“ publizierten bisherigen Definitionsversuche einen in allgemeiner Hinsicht aussagekräftigen – und hierbei speziell die Beschuldigtenperspektive betreffenden100 – Begriffsinhalt herauszubilden vermochten. Erstes Kapitel
Bisherige Definitionsversuche A. Die Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz (1984) I. Definition Nach der sog. Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz aus dem Jahre 1984 versteht man unter einer öffentlichen Vorverurteilung das Vorliegen bestimmter „Umstände, insbesondere Verhaltensweisen, die geeignet sein können zu beeinträchtigen, daß richterliche oder staatsanwaltschaftliche Entscheidungen unbefangen, objektiv und nur auf Grund der jeweils vorgeschriebenen Entscheidungsgrundlage ergehen.“101 99
Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. II. Dies bedarf deshalb besonderer Beachtung, weil je nach perspektivischer Ausrichtung einer Untersuchung eine je unterschiedliche Schwerpunktsetzung und damit zwangsläufig einhergehend eine je unterschiedliche Begriffsfindung erfolgt (vgl. ebenso Hassemer, in: NJW 1985, S. 1922 f.). 101 Der Bundesminister der Justiz, Az. 4100/21 – 65 686/84 v. 31.7.1984, S. 2 (bei Schulz, S. 15 Fn. 66 versehentlich mit „Az. 4001/. . .“ wiedergegeben). 100
1. Kap.: Bisherige Definitionsversuche
49
II. Stellungnahme und Kritik Diese Definition ist zunächst einmal nicht sehr bestimmt. Offen bleibt etwa, was „Umstände, insbesondere Verhaltensweisen“ sind, deren (Nicht-) Vorliegen einer Überprüfung zu unterziehen sein sollen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wessen Verhalten als relevant zu beurteilen ist: Das des Beschuldigten und seines Strafverteidigers? Oder das Verhalten des Opfers und seines Strafanwaltes? Vielleicht gar das der Öffentlichkeit? Die Definition erweist sich diesbezüglich als zu unbestimmt. Auch zeigt sich hier bereits ein weiterer Schwachpunkt der Arbeitsdefinition, der in dem fehlenden Öffentlichkeitsbezug zu erblicken ist.102 Es spräche hiernach nichts dagegen, schon jede Meinungsäußerung im privaten Umfeld des mit der Sache befassten Richters oder Staatsanwaltes als einen „Umstand“ i. S. der Definition genügen zu lassen. In derartigen Fällen von einer – zumal rechtlich – relevanten öffentlichen Vorverurteilung zu sprechen, verbietet sich jedoch von selbst. Denn derartige Relevanz kann naturgemäß nur die öffentliche, also nicht die im lediglich privaten Bereich und ohne nennenswerte Wirkungen in der Öffentlichkeit erfolgende Vorverurteilung entfalten. Die Arbeitsdefinition ist diesbezüglich zu weit gefasst. Ferner ist nicht einsichtig, weshalb es für die Bejahung einer öffentlichen Vorverurteilung schon genügen soll, dass die Umstände „geeignet sein können“, richterliche oder staatsanwaltschaftliche Entscheidungen im obigen Sinne zu beeinträchtigen, also bereits die bloße Möglichkeit einer solchen Beeinträchtigung ausreichen soll. Vielmehr bedürfte es der Einbeziehung einer tatsächlichen Komponente, die danach fragt, ob sich die Beeinträchtigung im konkreten Fall de facto ausgewirkt oder aber sich gerade nicht niedergeschlagen hat. Und nur ersterenfalls ist es angezeigt, eine entsprechende rechtliche Reaktion – wie immer diese im Einzelnen ausgestaltet sein könnte – zu erwägen. Zu widersinnigen Ergebnissen führte die Arbeitsdefinition darüber hinaus in Fällen, in denen die in Bezug genommenen bedeutsamen „Umstände, insbesondere Verhaltensweisen“ eine Beeinträchtigung i. S. der Definition möglich erscheinen ließen, nachweislich eine solche aber gerade nicht vorliegt: Folgerichtig müsste hier dennoch von einer – faktisch gar nicht gegebenen – Vorverurteilungslage ausgegangen werden. Und umgekehrt müsste eine Vorverurteilungslage paradoxerweise verneint werden, wenn nach objektiver Bewertung keine Beeinträchtigung im obigen Sinne zu erwarten stand, sich eine solche aber dennoch ergeben hat.103 102
Ebenso Schulz, S. 16. Vgl. auch Schulz, S. 16: In solchen Fällen sei es „wenig hilfreich (. . .), darauf zu verweisen, dass nach objektiven Maßstäben von einer Beeinträchtigung eigentlich nicht auszugehen war“. 103
50
2. Teil: Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
Nach alledem kann es einzig und allein auf das tatsächliche Vorliegen einer Beeinträchtigung ankommen, nicht schon auf die bloße Möglichkeit ihres Eintretens. Die Arbeitsdefinition ist auch diesbezüglich zu weit. Darüber hinaus verwischt eine derartige Definition die Grenzen zwischen der Ebene bloßer Definitionsbildung und derjenigen anschließender rechtlicher Würdigung, indem bereits hier danach gefragt wird, unter welchen näheren Voraussetzungen eine rechtliche Reaktion zu erfolgen habe. Diese Frage ist aber erst zu einem späteren Zeitpunkt relevant.104 Die Definition setzt diesbezüglich zu früh an. Ohnehin geht es aber in perspektivischer Hinsicht an der im Rahmen dieser Arbeit in den Blick genommenen Problematik vorbei, eine etwaige öffentliche Vorverurteilung lediglich unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob – und gegebenenfalls wie – diese sich auf die Entscheidungsträger (Gericht und Staatsanwaltschaft) und deren Unbefangenheit und Objektivität auswirkt, nicht aber den betroffenen Beschuldigten ganz zentral in die Erwägungen mit einzubeziehen.105 Die Definition ist diesbezüglich für den vorliegenden Ansatz zu eng.106 III. Zwischenergebnis 1 Alles in allem handelt es sich bei der Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz um eine teils zu weite, teils zu enge Begriffsbestimmung, die darüber hinaus die strikt voneinander zu trennenden Ebenen der Definitionsbildung und der sich erst daran anschließenden rechtlichen Würdigung miteinander vermengt. Ohnedies wurde sie aus einer anderen Perspektive heraus formuliert. Insgesamt erweist sich die Arbeitsdefinition daher als ungeeignet für eine Sichtweise, die den Beschuldigten ins Zentrum der Betrachtungen rückt.
B. Der auf den Schutz der Verfahrensrollen der Beteiligten bezogene Ansatz von Hassemer (1985) I. Definition Als Reaktion auf die letztlich unpraktikable Arbeitsdefinition entstand der Definitionsversuch Hassemers aus dem Jahre 1985. In seinem Beitrag107 104
Siehe dazu insg. im 4. Teil. Ähnl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923. 106 Zu weiteren Kritikpunkten rechtstheoretischer sowie grundlegend methodologischer Natur siehe Schulz, S. 16 ff. 105
1. Kap.: Bisherige Definitionsversuche
51
erarbeitete er zunächst – ausgehend von den diesbezüglichen Auffassungen zu § 353d Nr. 3 StGB108 – von einer „öffentlichen Vorverurteilung“ potentiell betroffene Rechtsgüter und hierauf fußend denkbare Schutzzwecke109. Hieraus leitete er sodann eine Vielzahl etwaiger Verletzter110 und ihre jeweiligen, teils im Verhältnis der Disparität zueinander stehenden, berechtigten bzw. rechtlich geschützten Interessen ab, um anschließend ein durchgängiges Leitmotiv ermitteln zu können, das zur Grundlage einer Definition gemacht werden könnte. Hassemer vertrat diesbezüglich den Standpunkt, es bedürfe einer Betrachtung auf einer Interessenebene, die den durch die Medienberichterstattung etwaig tangierten Interessen vorgelagert und im Verhältnis zu diesen elementarer sei, auf der sich sodann Kriterien formulieren ließen, die eine Bewertung und Gewichtung der schützenswerten Interessen ermöglichten.111 Da sich individuelle Interessen – und damit der Schutz von Beteiligten und Beteiligtenrechten – stets auch als allgemeine Interessen begreifen ließen, sei diese, gleichsam übergeordnete Ebene im Schutz des Verfahrens selbst zu finden112, wobei die Integrität der den Beteiligten zukommenden Verfahrensrollen von entscheidender Bedeutung sei: „Sie (die Vorverurteilung; Anm. d. Verf.) interveniert in rechtliche Verfahren so, dass sie deren Förmlichkeit und Regelbindung gefährdet und verhindert, dass die Verfahrensbeteiligten ihre prozessuale Rolle so spielen können, wie die Verfahrensordnungen das vorsehen; (. . .).“113 107
Hassemer, in: NJW 1985, S. 1921 ff. Die Vorschrift des § 353d StGB aus dem Jahre 1975 stellt bestimmte Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen unter Strafe und hat in ihrer Nr. 3 den folgenden Wortlaut: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (. . .) die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens (. . .) ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.“. 109 Erwähnt seien hier insbesondere: Schutz der (Straf-)Rechtspflege, Schutz des jeweils Betroffenen vor vorzeitiger öffentlicher Bloßstellung, Unvoreingenommenheit von (Laien-)Richtern und Zeugen, Unbefangenheit der (sonstigen) Verfahrensbeteiligten, Schutz des Ansehens der Strafjustiz in der Öffentlichkeit (siehe Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923). 110 Die so ermittelte „breite Palette“ potentieller Verletzter reicht vom Beschuldigten sowie weiteren Verfahrensbeteiligten wie (Laien-)Richtern, Staatsanwälten, Zeugen und Nebenklägern über die (Straf-)Rechtspflege als Institution bis hin zur allgemeinen Öffentlichkeit und schließlich zur Presse selbst (Hassemer a. a. O., S. 1923 f.); vgl. insoweit schon die Ausführungen zur „Wirkmächtigkeit vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen“ und speziell die Zusammenstellung von „Wirkungssphären“ (siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. und dort speziell unter I.). 111 Hassemer a. a. O., S. 1925. 112 Hassemer a. a. O., S. 1925. 113 Hassemer a. a. O., S. 1926. 108
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2. Teil: Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
Eine öffentliche Vorverurteilung erfordert hiernach vereinfacht formuliert die Beeinträchtigung der Verfahrensbeteiligten in ihrer jeweiligen prozessualen Funktion.114 II. Stellungnahme und Kritik Der von Hassemer vertretene Begriffsinhalt ist zunächst einmal deutlich bestimmter als die vorerwähnte Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz. Hassemer erkennt die Vielschichtigkeit der Problematik, wenn er den Kreis potentieller „Opfer“ einer öffentlichen Vorverurteilung sehr weit zieht und dabei neben dem Beschuldigten noch weitere Verfahrensbeteiligte wie Gericht und Staatsanwaltschaft, Zeugen und Nebenkläger sowie die (Straf-)Rechtspflege als Institution, die allgemeine Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Presse selbst berücksichtigt115. Zudem verdeutlicht er zutreffend die größtenteils grundlegende Unvereinbarkeit der sich in vielem widerstreitenden Interessen dieser potentiellen „Opfer“ öffentlicher Vorverurteilung. Der Begriff leidet aber wie schon die Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz an der Vagheit des vorgeschlagenen zugrunde zu legenden Maßstabes. Zwar wird mittels einer Vielzahl an Beispielen und Modellen recht anschaulich deutlich zu machen versucht, wann – und vor allem: wie – Beteiligtenrechte im Einzelfall verletzt sein können und inwieweit dieser oder jener Verfahrensbeteiligte als schutzbedürftig erscheint, um dann letztlich den erforderlichen Schutz des Verfahrens an sich gewährleisten zu können. Dennoch wird eine Betrachtung der jeweiligen „Verfahrensrolle“ der Beteiligten auf einer gleichsam übergeordneten Interessenebene eher selten zu eindeutigen Ergebnissen dahingehend führen können, ob eine öffentliche Vorverurteilung stattgefunden hat, die gegebenenfalls eine rechtliche Reaktion bedingt, oder ob dies gerade nicht der Fall ist. Abgesehen davon ist es auch gar nicht erforderlich, einen derartigen Schritt in eine vorgelagerte Ebene der Verfahrensrollen der Beteiligten vorzunehmen, umso die vielen, teils gegenläufigen Interessen zusammenziehen und bewerten zu können116, wenn man – wie hier – den Beschuldigten in das Zentrum der Erörterungen rückt. Zwar erkennt auch Hassemer zumindest die Bedeutung des Beschuldigten bei der Begriffsfindung, was nicht zuletzt darin deutlich wird, dass er diesen bei seiner Auflistung möglicher Verletzter voranstellt117. Allerdings soll seiner Auffassung nach diesbezüglich gerade nicht der Schutz vor Verlet114 115 116 117
Vgl. Hassemer a. a. O., S. 1927. Siehe dazu oben bei und in Fn. 110. Ähnl. Schulz, S. 24. Siehe oben Fn. 110.
1. Kap.: Bisherige Definitionsversuche
53
zung von Persönlichkeitsrechten relevant sein, sondern es soll vielmehr seine Rolle im Verfahren geschützt werden.118 Die konkreten Auswirkungen speziell auf den Beschuldigten bleiben bei seiner Begriffsbestimmung also weithin außen vor. III. Zwischenergebnis 2 Insgesamt erweist sich daher die Definition Hassemers – unbeschadet ihrer inhaltlichen Verdienste – ebenfalls als ungeeignet für eine Sichtweise, die den Beschuldigten ins Zentrum der Betrachtungen stellt.
C. Die Ausführungen Roxins (1991) I. Keine eigene Definition Bereits zu Beginn seines Beitrages119 führt Roxin aus, bis dahin sei „keine halbwegs brauchbare Definition des Begriffes“ getroffen worden.120 Eher für Unverständnis muss deshalb der Umstand sorgen, dass er im Folgenden gar nicht erst den Versuch unternimmt, nun seinerseits eine geeignete Begriffsbestimmung vorzunehmen und es insofern schuldig bleibt, eine eigene – und praktikable(re) – Definition zu entwickeln. Lediglich umschreibend und hierbei im Vagen verbleibend formuliert Roxin, unter welchen Bedingungen möglicherweise von einer Vorverurteilung auszugehen sein könnte.121 Weitgehend unbrauchbar im vorliegenden Zusammenhang macht seine Ausführungen zudem das in weiten Teilen zu konstatierende perspektivische Hin-und-her-Wechseln, wenn er an einer Stelle z. B. darauf verweist, dass es „keine einzige empirische Untersuchung“ darüber gebe, ob und gegebenenfalls wie eine Vorverurteilung Strafurteile beeinflusst habe122, an anderer Stelle aber – und nun dem Blickwinkel dieser Arbeit folgend – abstellen möchte auf eine „verzerrende Berichterstattung“ und daraus sich etwaig ergebende „außergewöhnliche Belastungen“, die einem Angeklagten durch den Strafprozess zuteil würden123. Erst zu einem viel späteren Zeit118
Hassemer, in: NJW 1985, S. 1926. Roxin, in: NStZ 1991, S. 153 ff. 120 Roxin a. a. O., S. 153; siehe auch S. 157. 121 Auch Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426 belässt es insoweit bei lediglich umschreibenden Ausführungen dazu, welche denkbaren Negativ-Wirkungen öffentliche Vorverurteilungen insgesamt entfalten können. 122 Roxin, in: NStZ 1991, S. 153. 123 Roxin a. a. O., S. 154. 119
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2. Teil: Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
punkt, als die Ausführungen hinsichtlich einer – wie angedeutet ohnehin nur versuchten – Annäherung an den Begriff der „Vorverurteilung“ längst verlassen sind und es Roxin bereits darum geht, gegensteuernde Vorschläge zu unterbreiten, nimmt er eine saubere Trennung der Perspektiven vor, indem er von denkbaren „Schäden (. . .) in zwei verschiedenen Richtungen“124 spricht. II. Zwischenergebnis 3 Den Ausführungen Roxins können keine weiterführenden Definitionsinhalte entnommen werden.
D. Ergebnis Die bisherigen Versuche einer begrifflichen Fassung und Eingrenzung „öffentlicher Vorverurteilung“ gingen, was die Definitionen des Bundesministers der Justiz und Hassemers anbetrifft, jeweils schon nicht von der hier gewählten Beschuldigten-Perspektive aus und erwiesen sich daher im vorliegenden Zusammenhang als ungeeignet. Roxin bezieht zwar den Beschuldigten mit ein, lässt dabei aber – jedenfalls zu Beginn – eine strikte Trennung der Perspektiven vermissen. Abgesehen davon unternimmt er keinen eigenen Definitionsversuch. Demzufolge bedarf es für den hier verfolgten Ansatz einer Neudefinition des Begriffs „öffentliche Vorverurteilung“. Zweites Kapitel
Neudefinition in Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung A. Begriffsinhalte Bei der bezweckten (Neu-)Definition des Begriffs „öffentliche Vorverurteilung“ ist dieser zunächst in seine Einzelbestandteile „Vorverurteilung“ (I.) und „öffentlich“ (II.) zu untergliedern.
124 Roxin a. a. O., S. 157: „Man befürchtet einerseits, dass Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten (. . .) verletzt werden. Andererseits geht man davon aus, dass möglicherweise die Unbefangenheit des Gerichts und damit die Objektivität und Sachrichtigkeit des Urteils beeinträchtigt werden können.“.
2. Kap.: Neudefinition
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I. Begriffsbestandteil „Vorverurteilung“ Im Rahmen des Begriffsbestandteils „Vorverurteilung“ soll von der reinen Wortbedeutung ausgegangen werden. Hiernach lässt sich Vorverurteilung schlicht als Vor-Verurteilung lesen.125 Dies wiederum beinhaltet ein vor-gezogenes, vor-schnelles oder auch vor-eiliges – und damit jedenfalls: verfrühtes – Urteil über erst zu einem anderen, namentlich späteren Zeitpunkt sachgerecht zu bewertende Umstände. Bei der in Rede stehenden Problematik, ob und gegebenenfalls wie strafjustiziell auf ein entsprechendes Geschehen zu reagieren ist, geht es naturgemäß um eine staatsanwaltliche bzw. richterliche und somit hoheitliche Entscheidung, die vorweg beurteilt wird, und zwar in Form einer ächtenden Meinungsbildung. Letztere aber trifft vorrangig den Beschuldigten, er ist das primäre „Opfer“ einer sich herausbildenden vorverurteilenden Meinungslage, und die etwaige spätere hoheitliche Entscheidung richtet sich unmittelbar nur an ihn. Alle anderen hiermit zusammenhängenden Gesichtspunkte stellen lediglich Nebenwirkungen und -schauplätze dar. Der Blick wurde daher entscheidend auf den Beschuldigten und etwaige diesen betreffende Auswirkungen ausgerichtet.126 Ein allgemeingültiges und anerkanntes Prinzip, das die vorerwähnte Problematik ganz zentral zum Inhalt hat und zudem den Beschuldigten in den Mittelpunkt seiner Aussage stellt, ist die sog. Unschuldsvermutung, die auf der Ebene des Verfassungsrechts allgemein schon aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgt127 und auf konventionsrechtlicher Ebene auch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erfahren hat128. Auf Grund der festzustellenden sachlichen Nähe zur Unschuldsvermutung soll die gesuchte 125 Im Folgenden soll diese Schreibweise des Begriffs – trotz ihres die in Rede stehende Thematik besonders verdeutlichenden Naturells – nicht gebraucht werden. 126 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. II. 127 Sie hat damit Verfassungsrang (BVerfGE 19, 342 [347]; 22, 254 [265]; 25, 327 [331]; 74, 358 [369 f.]; BVerfG NJW 1990, 2741; HK/Krehl, StPO, Einl. Rn. 14; IntK/Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 382; KK/Pfeiffer, StPO, Einl. Rn. 32a; Meyer-Goßner, EMRK, Art. 6 Rn. 12; Stapper, in: AfP 1996, S. 349; Jahn, S. 16; vgl. Grabenwarter, § 3 Rn. 6; Kondziela, in: MKrim 1989, S. 179 f.; Meyer, in: FS Tröndle, S. 61). – Ausf. zur Unschuldsvermutung siehe die rechtsvergleichende Untersuchung von Stuckenberg, S. 11 ff. 128 Siehe Art. 6 Abs. 2 EMRK. – Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK durch Gesetz vom 7.8.1952 ratifiziert; die Konvention steht nach ihrem InKraft-Treten am 15.12.1953 im Rang eines einfachen Bundesgesetzes, das als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen ist (BVerfGE 74, 358 [370]; BVerfG EuGRZ 2004, 741 [743 f.]; BGHSt 45, 321 [329]; vgl. BVerfGE 35, 311 [320]; BGHSt 46, 93 [97]; OLG Köln JMBl NW 1985, 282 [283]; BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20c; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 11; Cremer, in: EuGRZ 2004, S. 686; Hoffmann-Holland, in: ZIS 2006, S. 540).
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2. Teil: Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
Definition hier daher hinsichtlich ihres ersten Begriffsbestandteils in schlichter Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt dieses Prinzips erfolgen, wonach „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, (. . .) bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“129 zu gelten hat. Die Vermutung der Unschuld des Beschuldigten endet dabei erst mit Eintritt der Rechtskraft des – gegebenenfalls letztinstanzlichen – Urteils130 und beansprucht demnach Geltung während der Dauer des gesamten Strafverfahrens131.132 Eine „Vorverurteilung“ ist aus der hier gewählten Perspektive heraus formuliert also immer dann gegeben, wenn der Beschuldigte entgegen der in rechtsstaatlicher Hinsicht allgemein zu seinen Gunsten sprechenden (Unschulds-)Vermutung bereits vor dem Nachweis seiner Schuld in einem gesetzlich geregelten, förmlichen und durch rechtskräftige Verurteilung abgeschlossenen Verfahren als schuldiger Täter einer in der Vergangenheit begangenen strafbaren Handlung bezeichnet wird. II. Begriffsbestandteil „öffentlich“ Die so verstandene Vorverurteilung muss allerdings „öffentlich“ sein, damit ihr eine auch rechtliche Relevanz zukommen kann.133 Hierfür bedarf es einer Wirkung im nicht nur privaten Bereich und damit – und unter Bezugnahme auf die gängige Auslegung in diversen Straftatbeständen – einer gesellschaftlichen Vorverurteilung, die „von einem größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten“134 Personenkreis getragen wird und dabei „eine größere, 129 So die konventionsrechtliche Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EMRK. – Dass speziell Art. 6 Abs. 2 EMRK seinem Wortlaut nach den Schutz nur solchen Personen zuspricht, die einer Straftat „angeklagt“ sind, spricht hierbei nicht gegen die im Rahmen der gebotenen (Neu-)Definition erfolgende Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung: Nach allgemeiner Ansicht (siehe nur OLG Köln NJW 1987, 2682 [2684]; Meyer-Goßner, EMRK, Art. 6 Rn. 1 m. w. N.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 85; Kondziela, in: MKrim 1989, S. 180 f.; Marxen, in: GA 1980, S. 365 bei und in Fn. 2; Stapper, in: AfP 1996, S. 354; Meyer, in: FS Tröndle, S. 71; Dalbkermeyer, S. 22 ff.; ausf. Neuling, S. 163 ff.) ist sie darüber hinaus auf jeden einer Straftat Beschuldigten, also nicht nur auf den Angeklagten (vgl. zu diesen Begriffen § 157 StPO und oben Fn. 62), anzuwenden. 130 HK/Krehl, StPO, Einl. Rn. 14, § 261 Rn. 2; KK/Pfeiffer, StPO, Einl. Rn. 32a, 89; Meyer-Goßner, EMRK, Art. 6 Rn. 15; Marxen, in: GA 1980, S. 365, 374; vgl. BVerfGE 35, 202 (232) – Fall Lebach. 131 IntK/Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 390; KK/Pfeiffer, StPO, Einl. Rn. 32a; vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 14, 17. 132 Zur Frage, ob die Unschuldsvermutung (auch) für die berichterstattenden Medien gewisse Bindungswirkungen entfaltet, siehe unten 4. Teil 2. Kap. A. VI. 133 Vgl. oben 1. Kap. A. II. 134 So Kindhäuser, StGB, § 111 Rn. 8; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 186 Rn. 19; ähnl. RGSt 63, 431 (432) zu § 186 StGB a. F.; BGHSt 11, 282 (284) zu
2. Kap.: Neudefinition
57
nicht durch nähere Beziehungen zu einander verbundene Anzahl von Personen“135 betrifft136. Das Merkmal „öffentlich“ beinhaltet in der gegenwärtigen – häufig zutreffend als „Medienzeitalter“ bezeichneten – Epoche weiterhin eine „mediale“ Vorverurteilung, das heißt „Öffentlichkeit“ ist in heutiger Zeit vorrangig als „mediale Öffentlichkeit“ zu begreifen137. Denn Öffentlichkeit wird heutzutage ganz wesentlich über die Medien und nicht mehr etwa durch private Mund-zu-Mund-Kommunikation hergestellt. Hieraus resultiert insgesamt der auch im Titel in Bezug genommene Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“, deren etwaiges Vorliegen zu ermitteln ist.138
B. Die Definition von Schulz (2002) In ähnlicher Weise versucht Schulz139 eine Fixierung des Begriffs. So verweist er einleitend darauf, dass eine entsprechende Definition sich „an den davon unmittelbar betroffenen Grundrechtsträgern“ auszurichten habe und damit „ausschließlich auf den Beschuldigten und die Medienorgane“ zu beziehen sei.140 Gewinnbringend an diesem, von ihm selbst als „beschuldigtenorientiert“ benannten Ansatz ist im vorliegenden Zusammenhang die Einbeziehung nicht sämtlicher, von einer Vorverurteilung auch nur irgendwie mittelbar betroffener (Grund-)Rechtsträger. Weiterführend daran ist auch, die Definition insbesondere auf den Beschuldigten hin auszurichten. Indes soll die Begriffsbestimmung hier wie ausgeführt allein auf den Beschuldigten bezogen werden. Die Medienorgane hingegen, die Schulz schon bei der begrifflichen Ausgestaltung einer „Vorverurteilung“ mit einbeziehen möchte, erlangen Bedeutung erst bei der – auch von ihm als erforderlich erkannten – Inbezugnahme der Öffentlichkeit. Dies ist dann aber sachgerechter auch erst unter dem Merkmal „(medien-)öffentlich“ vorzunehmen.141 § 183 StGB a. F.; BayObLG 1956, 187 [188] zu § 366 Nr. 1 StGB a. F.; OLG Karlsruhe NStZ 1993, 389 (390) zu § 111 Abs. 1 StGB; Fischer, StGB, § 111 Rn. 5. 135 So Fischer, StGB, § 186 Rn. 16; ähnl. RGSt 40, 262 (263) zu § 166 StGB a. F.; BGHSt 11, 282 (284) zu § 183 StGB a. F.; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 186 Rn. 19. 136 Vgl. insg. OLG Stuttgart NJW 2004, 622. 137 Hassemer, Strafverfahren, S. 61 f., vgl. auch S. 66, 72; ausf. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 24 ff. 138 Dabei rückt auf Grund ihres überragenden Wirkungskreises insbesondere die massenmediale Öffentlichkeit in den Mittelpunkt. 139 Schulz, Die rechtlichen Auswirkungen von Medienberichterstattung auf Strafverfahren. 140 Schulz, S. 24 und 25. 141 Vgl. oben A. II.
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2. Teil: Zum Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“
Wie hier orientiert Schulz seine Definition dennoch ausschließlich am gedanklichen Inhalt der Unschuldsvermutung.142 Eine Vorverurteilung liege demnach vor, wenn der Beschuldigte – auch im Falle eines noch so dringenden Tatverdachts, eindeutiger Beweislage oder gar eines Geständnisses – bereits als überführter „Täter“ dargestellt werde, bevor das Verfahren (rechtskräftig!) abgeschlossen worden sei. Insoweit befindet die Definition sich in Übereinstimmung mit dem in dieser Arbeit getroffenen Begriffsinhalt. Auf einer weiteren Stufe engt Schulz den Begriff indes wieder ein, um auszuschließen, dass schon geringfügig(st)e Veröffentlichungen zu rechtlichen Konsequenzen führen können bzw. müssen. Dazu beschränkt er zum einen die „Öffentlichkeit“, die die negative Berichterstattung zur Kenntnis nehmen müsse, im obigen Sinne143 darauf, dass sie sich aus „einer unbestimmten Anzahl nicht miteinander persönlich verbundenen Personen“144 zusammensetzen müsse. Zudem bedürfe es einer gewissen Schwere der Beeinträchtigung der verfahrensrechtlichen Position des Angeklagten, was stets dann anzunehmen sei, wenn die Verteidigung des Mandanten – in Anlehnung an die revisionsrechtliche Regelung des § 338 Nr. 8 StPO: wesentlich – beeinflusst sei.145 Ohne diese Herleitung einer in Einzelheiten gehenden kritischen Würdigung unterziehen zu wollen, nimmt Schulz damit jedenfalls wiederum einen Perspektivwechsel vor, der weg vom Beschuldigten und den diesen konkret betreffenden Beeinträchtigungen und hin zu seiner allgemeinen (Verteidigungs-)Position im Verfahren führt, weshalb die Definition für den in dieser Arbeit gewählten Blickwinkel ebenfalls nicht verwertbar ist. Die Definition von Schulz erweist sich – unbeschadet bestehender inhaltlicher Kongruenzen – letztlich wie schon die Arbeitsdefinition des Bundesministers der Justiz und diejenige Definition Hassemers als in perspektivischer Hinsicht nicht geeignet.
C. Ergebnis Eine „medienöffentliche Vorverurteilung“ im hier verstandenen Sinne liegt vor, wenn der Beschuldigte entgegen der in rechtsstaatlicher Hinsicht allgemein zu seinen Gunsten sprechenden (Unschulds-)Vermutung bereits vor dem Nachweis seiner Schuld in einem gesetzlich geregelten, förmlichen und durch rechtskräftige Verurteilung abgeschlossenen Verfahren in der medial unterrichteten Gesellschaft als schuldiger Täter einer in der Vergangenheit begangenen strafbaren Handlung bezeichnet wird. 142 143 144 145
Schulz, S. 27 ff., 30. Siehe oben Fn. 134–136. Schulz, S. 30. Schulz, S. 30 f.
3. Kap.: Schlussbetrachtung zum Zweiten Teil
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Drittes Kapitel
Schlussbetrachtung zum Zweiten Teil Die perspektivische Blickrichtung einer Untersuchung hat maßgeblichen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung einer zu ermittelnden Begriffsdefinition. Der zu definierende Begriff der „medienöffentlichen Vorverurteilung“ sollte sich hier aus den genannten Gründen ganz zentral auf die Wirkungssphäre speziell des Beschuldigten beziehen. Da insoweit keine geeignete Definition vorlag, war eine entsprechende Neudefinition erforderlich. Diese kann nun den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt werden.
Dritter Teil
Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung (Experteninterviews) Die vorliegende Arbeit bediente sich in ihrer methodischen Ausrichtung sog. Experteninterviews146. Den hiermit in Zusammenhang stehenden Fragestellungen widmet sich insgesamt der Dritte Teil. Erstes Kapitel
Allgemeine Vorbemerkungen Eine Möglichkeit, sich der Beantwortung der hier aufgeworfenen Untersuchungsfrage147 zu nähern, besteht darin, Interviews mit Experten zu führen. Die insoweit geführten Interviews waren nicht in der Form reiner „Wissensabfragen“ bei bloßen „Informationslieferanten“ konzipiert, die als solche lediglich als Einstieg in die in Rede stehende Problematik und damit ausschließlich zur Annäherung an den Untersuchungsgegenstand bzw. zur Generierung von Ideen gedient hätten.148 Vielmehr sollte auch eine inhaltliche und dabei in Teilen zugleich statistische Auswertung erfolgen. Experteninterviews sind trotz eines vergleichsweise hohen Verbreitungsgrades in der empirischen (Sozial-)Forschungspraxis methodisch wie methodologisch bislang wenig erforscht.149 Die vorliegende Arbeit kann und soll 146 Zum methodisch-geschichtlichen Ursprung des Begriffs als ehedem bloßes Explorationsinstrument siehe Bogner/Menz, Expertenwissen, S. 16 ff. m. Nachw. 147 Siehe dazu oben 1. Teil 3. Kap. 148 Vgl. Bogner/Menz, Expertenwissen, S. 16; Deeke, S. 13 f.; Esser, S. 109; Lamnek, S. 353; Meuser/Nagel, Expertenwissen, S. 191; Trinczek, Experteninterviews, S. 61 Fn. 5; ders., Managerbefragung, S. 213 Fn. 7; Voelzkow, S. 52 f., 55 f.; Vogel, S. 74; vgl. allg. Kromrey, S. 67. – Siehe allg. zur methodischen Unterscheidung zwischen Forschungsdesigns mit zentraler oder aber bloßer Randstellung von Experteninterviews Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 445 ff. 149 Bogner/Menz, Expertenwissen, S. 18 ff. unter Angabe von Gründen („Missverhältnis zwischen der hohen forschungspraktischen Bedeutung und der geringen methodologischen und methodischen Reflexion“, S. 21); dies., Experteninterview, S. 33 („oft gemacht, aber selten durchdacht“); Deeke, S. 7; Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 481 („randständiges Verfahren“ geblieben), siehe auch S. 482 f.,
2. Kap.: Der Begriff des „Experten“
61
entsprechend der fachlichen (i. e.: juristischen) Vorbildung bzw. Ausrichtung des Verf. diese Lücke nicht zu füllen versuchen. Die folgenden Ausführungen erheben daher nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und hierbei etwa darauf, erschöpfend über die Technik der Interviewführung zu informieren. Insoweit soll es vielmehr mit kursorischen Hinweisen bzw. weiterführende Literatur enthaltenden Verweisen sein Bewenden haben. Die Arbeit möchte sich aber – mit dem Ziel einer Darstellung des ihr zugrunde liegenden spezifischen Forschungsdesigns150 und des insgesamt verfolgten interdisziplinären Ansatzes – zumindest mit einzelnen methodischen Fragestellungen auch vertiefend auseinandersetzen. In diesem Sinne sollen lediglich die innerhalb des gewählten Forschungsdesigns besonders bedeutsam erscheinenden Fragestellungen eingehender behandelt werden. Dies ist voran im Zweiten Kapitel der Begriff des „Experten“, sodann im Dritten Kapitel das Interview als Erhebungsmethode (A.), die Klassifizierung (B.) und Auswertung (C.) der Interviews sowie der anzufertigende Interviewbericht (D.). Zweites Kapitel
Der Begriff des „Experten“ Als Einstieg in diesen Abschnitt kann folgender Erfahrungssatz dienen: „Der Inhalt eines Interviews wird vor allem von zwei Faktoren bestimmt: was man herausbekommen will und wen man fragt. Die Auswahl von Interviewpartnern entscheidet über die Qualität der Informationen, die man erhält.“151
Dementsprechend wichtig ist es, zunächst danach zu fragen, wer über die notwendigen Informationen verfügt und damit überhaupt als potentieller Interviewpartner in Betracht kommt. Zu weit gezogene Grenzen können die empirische Untersuchung vor nicht zu bewältigende Mengenprobleme stellen; daher kann die zu treffende Abgrenzungsentscheidung dazu führen, 486; dies., Expertenwissen, S. 191 („magere Existenz“ fristend); Trinczek, Experteninterviews, S. 59; ders., Managerbefragung, S. 209 f., 221; Voelzkow, S. 51 („paradoxe Widersprüchlichkeit“); Vogel, S. 73 („erstaunliche Diskrepanz“; „alle tun es, aber keiner spricht darüber“); siehe speziell Leitner/Wroblewski, S. 255. – Siehe demgegenüber aber Bogner/Menz, Experteninterview, S. 36 ff., die in der Methodendebatte insgesamt „drei dominante Formen“ von Experteninterviews (namentlich: exploratives, systematisierendes und theoriegenerierendes Experteninterview) ausmachen möchten. 150 Siehe allg. zum Forschungsdesign empirischer Untersuchungen Atteslander, S. 54 ff. 151 Gläser/Laudel, S. 113.
62
3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
dass wichtige Interviewpartner aus dem Blickfeld der Untersuchung geraten (müssen).152 Als Interviewpartner speziell bei Experteninterviews kommen der Terminologie zufolge zwangsläufig nur „Experten“ in Betracht. Dieser offenkundige Schluss führt dann weiter zu der Frage, welcher Begriff des „Experten“ den im Rahmen dieser Arbeit geführten Interviews zugrunde gelegt wurde. Mit anderen Worten: Wer war „Experte“ für die zu erhebenden Informationen?
A. Verwendete Expertenbegriffe I. Alltagsbegriffe In der (medien-)öffentlichen Diskussion wird – in einem Prozess gesellschaftlicher Zuschreibung von dritter Seite hierzu erhoben – eine Vielzahl von Personen umgangssprachlich als „Experte“ für diesen oder jenen Bereich qualifiziert,153 weshalb das alltagsweltliche Verständnis vom „Experten“ und dasjenige seiner „Expertenschaft“ auch ganz erheblich variieren.154 Ein so verstandener – mitunter als willkürlich zu bezeichnender – Expertenbegriff gleichsam sozialen Konstrukts155 entbehrt indes jeder wissenschaftlichen Grundlage.156
152
Vgl. Gläser/Laudel, S. 93. Da gibt es z. B. Wortschöpfungen wie den „Terror-Experten“, den „Amok-Experten“ oder den „Society-Experten“, um nur einige der nicht mal am kuriosesten anmutenden Beispiele zu nennen. 154 Nach Ansicht des Verf. ist in der öffentlichen Meinung eine starke Überhöhung des Begriffs des „Experten“ im Besonderen wie auch von „Experteninterviews“ im Allgemeinen zu gegenwärtigen. Es handelt sich gewissermaßen um einen „Modebegriff“, dem schon seit längerem ein auswuchernder Gebrauch zuteil wird. Dies gilt zugleich auch in Bezug auf die methodischen bzw. methodologischen Grundlagen. – In gleicher Stoßrichtung Pfadenhauer, S. 121: „Entgegen der nachgerade inflationären Etikettierung aller möglichen Arten von Gesprächen als ,Experteninterview‘ (. . .).“; vgl. auch Hitzler/Honer/Maeder, S. 5: „Der Pluralismus der mehr und der weniger sachverständigen Standpunkte und Stellungnahmen zu nachgerade allen – wie auch immer auf der Agenda öffentlicher Aufmerksamkeit plazierten – Themen nimmt ständig zu.“ (Hervorhebung im Original). 155 Vgl. zu dieser Terminologie Deeke, S. 9 f.; ähnl. Hitzler/Honer/Maeder, S. 6 („[. . .] der gesellschaftlichen Konstruktion von Experten [. . .]“). 156 Vgl. krit. auch Bogner/Menz, Expertenwissen, S. 9: „Besteht hier (. . .) nicht die Gefahr, im naiven Glauben an die Absolutheit des Expertenwissens einem vorreflexiven Expertenbegriff das Wort zu reden?“; nach Hitzler, S. 16 „kann man die moderne Gesellschaft gewissermaßen eine ‚Expertengesellschaft‘ nennen“. 153
2. Kap.: Der Begriff des „Experten“
63
II. Wissenschaftliche Begriffe 1. Begriffsinhalte Auch im speziell die theoretischen Grundlagen von (Experten-)Interviews betreffenden Schrifttum werden sehr unterschiedliche Expertenbegriffe vertreten. Nach einer Definition von Mayer157 gilt als Experte jemand, „der auf einem begrenzten Gebiet über ein klares und abrufbares Wissen verfügt. Seine Ansichten gründen sich auf sichere Behauptungen und seine Urteile sind keine bloße Raterei oder unverbindliche Annahmen.“158
Gemäß einer ähnlichen Formulierung von Sprondel159 verfügen Experten „über detailliertes und klares Wissen, das sich allerdings beschränkt auf ein mehr oder weniger fest etabliertes ‚System auferlegter Relevanzen‘, d.h. auf einen Bereich, in dem die Art der relevanten Probleme und die relevanten Lösungsstrategien weitgehend vordefiniert sind. (. . .). Der Prototyp des so gefaßten Experten ist der Wissenschaftler eines begrenzten Fachgebietes.“160
Pfadenhauer161 nähert sich dem Begriff hingegen mit einer Negativformulierung an, indem sie den „Experten“ vom bloßen „Spezialisten“ abgrenzt, der zwar „über ein aufgabenbezogenes, relativ genau umrissenes Teil-Wissen innerhalb eines Sonderwissensbereichs“ verfüge, ohne aber ein dem Expertenbegriff immanentes „Überblickswissen“ diesbezüglich aufzuweisen.162 Hitzler163 grenzt den Experten nicht nur vom Spezialisten, sondern auch vom „Professionellen“ – und weiteren Typenbezeichnungen – ab.164 Während der Experte „über einen ausgesonderten Wissensbestand“ verfüge, der 157
Mayer, Interview und schriftliche Befragung. Mayer, S. 40 (Hervorhebungen im Original). – Vgl. dazu Hitzler, S. 22 bzw. 25 f. („Expertenschaft bezieht sich [. . .] nur [. . .] auf Teilbereiche von Sonderwissensgebieten“ bzw. „Der Experte gilt als Experte auf einem Gebiet.“; Hervorhebung im Original). 159 Sprondel, „Experte“ und „Laie“: Zur Entwicklung von Typenbegriffen in der Wissenssoziologie. 160 Sprondel, S. 145. 161 Pfadenhauer, Auf gleicher Augenhöhe reden. 162 Pfadenhauer, S. 115; auch Pfiffner/Stadelmann setzen sich mit dem begrifflichen Verhältnis zwischen „Experten“ und „Spezialisten“ auseinander. Ihnen zufolge ist der Spezialist „als Besitzer von speziellen Wissensbeständen“ zu qualifizieren (S. 147). Und weiter hebe sich der Experte „vom Spezialisten insofern ab, als er sich in seiner fachspezifischen Ausbildung typischerweise einen ‚tieferen‘, differenzierteren und autonomeren, d.h. von außen schwerer kontrollierbaren Sonderwissensbestand aneignet.“ (S. 148). 163 Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. 164 Hitzler, S. 14 Fn. 2, S. 25. 158
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
„dem Nicht-Experten – jedenfalls in seiner Gesamtheit – nicht (ohne weiteres) zugänglich ist“165, sind hiernach Professionelle „eine spezifisch moderne, an der Durchsetzung von kollektiven Eigeninteressen orientierte Erscheinungsform von Experten“166.
Was den Experten wiederum vom Spezialisten unterscheide, das sei „zum einen, daß er nicht nur über technische Kenntnisse verfügt, sondern über komplexe Relevanzsysteme, und das ist zum anderen, daß er nicht nur weiß, was er zur praktischen Bewältigung seiner Aufgaben wissen muß, sondern daß er weiß, was die (jeweiligen) Spezialisten auf dem von ihm ‚vertretenen‘ Wissensgebiet wissen – und wie das, was sie wissen, miteinander zusammenhängt.“167
Demgegenüber sind Experten Stackelbeck168 zufolge solche Personen, „die aufgrund ihrer Funktion etc. über spezielles Wissen verfügen, das in dieser Konzentration und Zusammensetzung oftmals an keiner anderen Stelle abgerufen werden kann“.169
Haller170 dagegen nennt über bloße „fachliche Kompetenz“ in der einen oder anderen Ausprägung hinausgehend „persönliche Unbefangenheit gegenüber dem zur Diskussion gestellten Sachverhalt“ bzw. „Unabhängigkeit“ als wesentliche Merkmale von Experten.171 2. Relativität des Expertenbegriffs Die teils erheblichen inhaltlichen Unterschiede der genannten Definitionen erklären sich daraus, dass das methodische Konstrukt172 der Expertenrolle einer Person ein „relationaler Status“173 ist, dessen Zuweisung stets in Abhängigkeit zum jeweiligen Forschungsinteresse und dem innerhalb des 165
Hitzler, S. 26. Hitzler, S. 25. 167 Hitzler, S. 26 (Hervorhebungen im Original). 168 Stackelbeck, ExpertInneninterviews zur Wirkung von Langzeitarbeitslosigkeit. 169 Stackelbeck, S. 43. – Ähnl. Friebertshäuser, Feldforschung, S. 516: „FunktionsträgerIn, der oder die über ein spezialisiertes Insiderwissen verfügt“; Meuser/ Nagel, Expertenwissen, S. 180: „Das entsprechende Expertenwissen resultiert aus der praktischen Wahrnehmung von bestimmten Funktionen; insofern ist es spezialisiertes Sonderwissen. Und es ist nur solchen Personen verfügbar, die diese spezifische Funktion innehaben bzw. einmal innehatten, (. . .). Insofern gilt Expertenwissen als Insiderwissen.“, vgl. auch S. 187 Fn. 9: „beträchtliches spezialisiertes Sonderwissen“. 170 Haller, Das Interview. 171 Haller, S. 152 f. 172 Vgl. zu dieser Terminologie oben bei und in Fn. 160. 173 Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 443. – Mit ähnl. Formulierung Hitzler, S. 19 („relationales Phänomen“; Hervorhebung im Original). 166
2. Kap.: Der Begriff des „Experten“
65
betreffenden Untersuchungsfeldes gewählten Untersuchungsgegenstand erfolgt174: „Wen man als Experten oder Expertin bezeichnet und entsprechend interviewt, bleibt (. . .) letztlich abhängig vom jeweiligen Forschungsinteresse. Der ExpertInnen-Status wird somit in gewisser Weise vom Forschenden verliehen, begrenzt auf eine jeweilige Fragestellung.“175
Der Begriff des „Experten“ ist mit anderen Worten kontextgebunden.176 Besonders anschaulich kommt diese Kontextgebundenheit in nachfolgendem Zitat zum Ausdruck: „Bei Experteninterviews sprechen wir mit Menschen, die entweder im Umgang mit unseren Probanden Erfahrung haben: z. B. Lehrer, Sozialarbeiter, Sportfunktionäre, oder die über unseren Forschungsgegenstand besondere und umfassende Erfahrung haben. Es können deshalb Ärzte, Manager, aber auch Verbrecher als Experten betrachtet werden.“177
Es handelt sich bei dem Begriff des „Experten“ also um eine „soziale Etikettierung (. . .), die – von wem auch immer – aufgrund spezieller Kompetenzansprüche und/oder Kompetenzunterstellungen vorgenommen wird. Ansprüche wie Unterstellungen verweisen auf – wie auch immer aus- und nachgewiesene – besondere Wissensbestände. Expertenwissen, als Sammelbegriff dieser Wissensbestände, bezeichnet somit – grosso modo – das Wissen, über das zu verfügen jemand glaubhaft zu machen versteht, der jemandem anderen gegenüber als Experte gilt (. . .).“178
3. Ergebnis Zusammenfassend ergibt sich, dass es den Experten schlechthin nicht gibt. Eine inhaltliche Abgrenzung zu den exemplarisch genannten – und 174
Bogner/Menz, Experteninterview, S. 41, 45 f.; Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 483 f., 486; dies., Expertenwissen, S. 180; dies., Expertise, S. 259; Pfadenhauer, S. 124; Vogel, S. 74 Fn. 4; einschr. Mayer, S. 40. 175 Friebertshäuser, Feldforschung, S. 516. – Ähnl. Walter, S. 271. 176 Ebenso Deeke, S. 21, siehe auch S. 7 f., 11, 15 f.; Kassner/Wassermann, S. 96, siehe auch S. 109. 177 Atteslander, S. 155 (Hervorhebung im Original). – Vgl. auch Friebertshäuser, Feldforschung, S. 516: „Das kann ein ‚Chef‘ der Gruppe, eine Sozialarbeiterin oder ein Lehrer sein.“; vgl. mit anschaulichen Beispielen ferner Kromrey, S. 380 f. 178 Hitzler/Honer/Maeder, S. 6 (Hervorhebung im Original). – Sehr ähnl. Hitzler, S. 27 (der Experte erscheint „nicht als jemand, der besondere Kompetenzen hat, sondern als jemand, der es versteht, sozial zu plausibilisieren, daß er über besondere Kompetenzen verfügt“ und ist somit „[. . .] der Prototyp des als ‚kompetent‘ und ‚legitimiert‘ – wofür auch immer – anerkannten Akteurs. Kompetenz – wofür auch immer – ist dabei zu verstehen als eine soziale Zuschreibung aufgrund wahrgenommener bzw. wahrnehmbarer Verhaltensmerkmale und unterstellter Eigenschaften.“; Hervorhebungen im Original); ähnl. auch Walter, S. 271.
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
weiteren179 – Definitionen ist schon auf Grund der Vielschichtigkeit derselben nicht möglich. Nach dem zuvor Gesagten180 ist eine solche aber auch gar nicht erforderlich. Vielmehr soll im Folgenden, teilweise in Anlehnung an und unter Bezugnahme auf bereits unternommene definitorische Überlegungen, auch hier ein auf das spezielle Forschungsvorhaben abgestimmter und damit relationaler Expertenbegriff entwickelt werden, der den geführten Interviews zugrunde gelegt wurde.
B. Der hier zugrunde gelegte Expertenbegriff I. Herleitung eines spezifischen Expertenbegriffs Ausgangspunkt des methodischen Konstrukts einer „Expertenrolle“ kann die Überlegung sein, dass ein „Experte“ dem reinen Wortstamm181 zufolge eine Person ist, die – in Abgrenzung zum Laien182 – auf dem in Frage kommenden Sachgebiet über besondere Kenntnisse verfügt, also „Sachverständiger“ bzw. zumindest „Kenner“ oder „Könner“ der Materie ist und daher für die Untersuchung besonders geeignet erscheint. Diese Personen verfügen über einen „privilegierten Zugang zu Informationen“183 hinsichtlich der betreffenden Thematik. Als Interviewpartner geeignet erscheinen hierbei naturgemäß vor allem diejenigen Personen, „die aufgrund ihrer beruflichen Stellung über besonderes Wissen verfügen“184, da diese eine weit reichende Erhebung von 179 Bogner/Menz, Experteninterview, S. 39 ff. beispielsweise unterscheiden den voluntaristischen vom wissenssoziologischen sowie konstruktivistischen Expertenbegriff, wobei letzterer sich wiederum in einen methodisch-relationalen und einen sozial-repräsentationalen Ansatz aufgliedere, um sodann über eine Reformulierung des konstruktivistischen und wissenssoziologischen Begriffs einen vierten, eigenen Expertenbegriff zu entwickeln (S. 43 ff., 46); Walter, S. 270 f. geht in seiner Studie von einer Doppelbedeutung des Expertenbegriffs aus und grenzt namentlich den „Experten als institutionelle Figur“ vom „Experten als methodologische Figur“ ab; vgl. zum Ganzen auch Gläser/Laudel, S. 9 ff.; Meuser/Nagel, Expertise, S. 258 ff. – Rogge/Bürgy, S. 19 f., 23 f. hingegen verwendet die Begriffe des „Experten“ und des zu erhebenden „Expertenwissens“ ohne definitorische Vorüberlegungen. 180 Siehe oben 2. 181 Von lat. expertus = erprobt, bewährt. 182 Zu den sozialen Typen des „Experten“ und des „Laien“ vgl. Sprondel, S. 140 („zwei gut zu kontrastierende Strukturen von Wissen“); vgl. speziell zu gemeinsamen Denkfiguren von Laien, Praktikern und Experten Walter-Busch, Gemeinsame Denkfiguren von Experten und Laien. 183 Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 443. 184 Vgl. so Gläser/Laudel, S. 11 Fn. 2; vgl. im Rahmen spezieller Thematik auch Pfiffner/Stadelmann, S. 148 („Die Wissensbestände von Experten [. . .] werden im
2. Kap.: Der Begriff des „Experten“
67
„praxisgesättigtem Erfahrungswissen“185 ermöglichen. In diesem Zusammenhang „bildet (. . .) nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse“186, sondern es interessieren lediglich die von dieser „innerhalb eines organisatorischen oder institutionellen Kontextes (. . .) gewonnenen exklusiven Erfahrungen und Wissensbestände“187.
In einem weiteren Schritt der begrifflichen Einengung eines untersuchungsspezifischen Expertenbegriffs kann beispielsweise auf die Verantwortlichkeit bzw. Entscheidungsautonomie und damit insgesamt auf die verantwortliche Zuständigkeit für getroffene Entscheidungen abgestellt werden.188 Zur Erlangung möglichst „praxiswirksamer“189 Informationen kann sich weiter darauf beschränkt werden, lediglich auf (letzt-)verantwortlich zuständige190, das heißt solche Personen zurückzugreifen, die unmittelbar zur Entscheidungsfindung berufen sind. II. Anwendung der Begriffsmerkmale Innerhalb der aufgeworfenen Untersuchungsfrage, wie einer medienöffentlichen Vorverurteilung strafjustiziell begegnet werden kann, kommen als „Experten“ grundsätzlich etwa die (straf-)gerichtlichen VerfahrensbeteiRahmen ihrer Erwerbstätigkeit appliziert.“); Sprondel, S. 151 („Das Innehaben beruflich organisierter Expertenrollen setzt heute in jedem Falle die Absolvierung allgemeiner wie spezieller Ausbildung voraus, in der das als relevant geltende Sonderwissen erworben wird. Dessen Besitz wird in entsprechenden Zertifikaten mit gesellschaftlicher Gültigkeit sanktioniert.“); Stackelbeck, S. 39, 43; Walter-Busch, S. 85 („Fachleute [. . .], die sich hauptberuflich [. . .]“); siehe demgegenüber aber Meuser/ Nagel, Expertise, S. 260, 262 f.; Pfadenhauer, S. 122 ff. 185 Vgl. so Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 481. 186 Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 442 (Hervorhebung im Original), siehe auch S. 444; übernehmend Nohl, S. 21; ähnl. Mayer, S. 37, einschr. S. 61 f.; vgl. auch Deeke, S. 11; Flick, Sozialforschung, S. 139; Voelzkow, S. 55. 187 Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 444, siehe auch S. 442; übernehmend Nohl, S. 21; ähnl. Mayer, S. 37, einschr. S. 61 f.; vgl. auch Deeke, S. 11; Meuser/ Nagel, Expertise, S. 264. 188 Vgl. Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 443; dies., Expertise, S. 259; vgl. anschaulich auch dies., Expertenwissen, S. 182: Experten sind „im wahren Sinne des Wortes der entscheidende Teil“ (Hervorhebung durch Verf.) und verfügen über ein hohes Maß an „Entscheidungskompetenz“, vgl. ferner S. 187 f. 189 Vgl. Bogner/Menz, Experteninterview, S. 45: „Dieses ist für die (. . .) Untersuchung nicht etwa deshalb interessant, weil der Experte dieses Wissen beispielsweise in besonders systematisierter und reflektierter Form aufweist, sondern weil es in besonderem Maße praxiswirksam wird.“ (Hervorhebung im Original), und ferner: „Nicht die Exklusivität des Wissens macht den Experten für das (. . .) Interview interessant, sondern seine Wirkmächtigkeit.“. 190 Vgl. Pfadenhauer, S. 116 f.
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
ligten – darunter insbesondere Verteidigung, Staatsanwaltschaft sowie Gericht und im Falle jugendstrafrechtlicher Verhandlung auch die Jugendgerichtshilfe – in Betracht. Was jedoch das zuletzt genannte Merkmal der (Letzt-)Verantwortlichkeit angeht, so ist von den aufgeführten Verfahrensbeteiligten naturgemäß vor allen anderen das (Straf-)Gericht als solches (vgl. etwa §§ 24 ff. GVG) und dabei gegebenenfalls der Einzelrichter (vgl. § 25 GVG) – bei Jugendstrafverfahren das Jugendgericht (vgl. §§ 33 ff. JGG) und dabei gegebenenfalls der Strafrichter als Jugendrichter (vgl. § 33 Abs. 2, § 34 JGG) – unmittelbar zur Entscheidungsfindung berufen. So ist eine etwaige strafmildernde Berücksichtigung in Rede stehender Umstände, wie sie im einführend berichteten Fall durch das LG Karlsruhe vorgenommen wurde191, nur dem Gericht eröffnet. Für die getroffenen Entscheidungen kann das Gericht – als öffentlichkeitswirksame Beispiele seien etwa eine revisionsgerichtliche Verhandlung oder ein strafgerichtliches Verfahren wegen Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB genannt – auch im obigen Sinne zur Verantwortung gezogen werden. Zudem können (Jugend-)Strafrichter, nachfolgend verkürzt mit (Jugend-)Richter bezeichnet, auf Grund ihrer beruflichen Ausbildung und Tätigkeit für diese Untersuchung als besondere „Wissensquellen“ eingestuft werden. (Jugend-)Richter sollen daher im Rahmen der dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriffsdefinition192 als „Experten“ qualifiziert werden.193 III. Auswahl der Interviewpartner Schon aus forschungspraktischen Gesichtspunkten der Erreichbarkeit und auf Grund der daraus sich ergebenden tatsächlichen Hindernisse wird die Untersuchung nicht auf die mit den einschlägigen Verfahren konkret befassten Richter194 bezogen werden können. Vielmehr soll eine abstrakte Aus191
Siehe oben bei und in Fn. 25. Siehe dazu oben I. 193 Die sog. stakeholder-Problematik, wonach der Umstand, dass die interviewten Experten primär aus eben jener Institution stammen, die von dem Untersuchungsergebnis maßgeblich betroffen ist, infolge vermeintlicher Kontrolltätigkeit des Interviewers zu inhaltlichen Rechtfertigungstendenzen bzw. -sequenzen und somit weit reichender Informationskontrolle seitens der Interviewpartner führen kann (vgl. Leitner/Wroblewski, S. 242, 248), erweist sich hier schon angesichts der im Vorfeld zugesicherten Anonymisierung der Gesprächsinhalte (siehe unten bei und in Fn. 261) sowie allgemein auf Grund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und der daraus resultierenden freien Berufsausübung als eher unproblematisch. 194 Etwa auf die im einführend berichteten Verfahren zuständigen Richter am AG und LG Karlsruhe. 192
3. Kap.: Das Experten-Interview
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wahl erfolgen, namentlich sollen von vorne herein nur diejenigen Richter als Interviewpartner in Betracht kommen, die an Gerichten im Bundesland Berlin tätig sind. Hinsichtlich einer amtsrichterlichen Tätigkeit steht zu vermuten, dass diese die Entscheidungsträger mit Fällen der in Rede stehenden Art nur selten befassen wird. Denn medienöffentliche Vorverurteilung i. S. der Begriffsdefinition195 ist gerade darauf angelegt, sich vermehrt in solchen Verfahren zuzutragen, in denen etwa die Tatvorwürfe eher „spektakulärer“ Natur sind. Daher werden – auf Grund des dann regelmäßig zugleich erfolgenden medialen Herstellens von Öffentlichkeit – mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit die Richter am Landgericht mit einschlägigen Verfahren befasst sein. Der „Experten“-Status soll für diese Arbeit196 daher den (Jugend-)Richtern am Landgericht Berlin zugewiesen werden.
C. Ergebnis Als Experten werden für diese Untersuchung die (Jugend-)Richter am Landgericht Berlin qualifiziert. Drittes Kapitel
Das Experten-Interview Die folgenden Ausführungen widmen sich zunächst dem Prozess der Datenerhebung (A.). Im Anschluss daran werden die geführten Interviews einer Klassifizierung unterzogen (B.), bevor der Prozess der Datenauswertung näher beschrieben wird (C.). Abschließend erfolgen Bemerkungen zur Anfertigung des Interviewberichts (D.).
A. Das Interview als Erhebungsmethode Der nachfolgende Abschnitt beschreibt die Phase der Datenerhebung.
195 196
Siehe oben 2. Teil 2. Kap. C. Siehe oben bei und in Fn. 173: sog. relationaler Expertenbegriff.
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
I. Der Methodenkanon empirischer Forschung Methodologisch197 lässt sich empirische (Sozial-)Forschung in zwei grundlegend verschiedene Forschungszweige untergliedern, deren einer sich quantitativer, deren anderer hingegen sich qualitativer Methoden bedient.198 Zur Abgrenzung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden diene einführend und exemplarisch ein schon historisch zu nennendes Zitat von Mangold199: „Als ‚qualitative‘ Methoden werden vor allem solche Verfahren bezeichnet, die auf die besonderen – inneren und äußeren – Merkmale von Einzelfällen gerichtet sind und deren Zusammenhang ganzheitlich zu erfassen und zu deuten versuchen. ‚Quantitative‘ Verfahren werden entsprechend solche Forschungsmethoden genannt, die auf die Untersuchung größerer Mengen von Untersuchungseinheiten zugeschnitten sind und dabei vom Einzelfall mehr oder weniger rigoros abstrahieren.“200
Das nachfolgende Zitat versucht eine Unterscheidung demgegenüber aus dem Blickwinkel der Methodenebene: „Quantitative Methoden beruhen auf einer Interpretation sozialer Sachverhalte, die in der Beschreibung dieser Sachverhalte durch Zahlen resultiert. (. . .). Dieses Vorgehen impliziert eine Reduzierung sozialer Komplexität und eine Standardisierung: Ein Ausschnitt der beobachteten sozialen Vielfalt wird auf Skalen abgebildet, und es wird mit Häufigkeiten des Auftretens von Merkmalsausprägungen operiert. Qualitative Methoden beruhen auf der Interpretation sozialer Sachverhalte, die in einer verbalen Beschreibung dieser Sachverhalte resultiert. Sie standardisieren nicht (oder doch nicht in dem Umfang wie quantitative Methoden), und sie reduzieren die Komplexität sozialer Sachverhalte auf eine andere Art und Weise.“201
War früher noch ein regelrechter Methodenstreit mit „häufig zu konstatierender, unproduktiver Gegenüberstellung qualitativer und quantitativer Verfahren etwa unter falscher Gleichsetzung von Gütekriterien“202 zu beobachten, der aus einer fehlenden inhaltlichen Auseinandersetzung der beiden Paradigmen auf gemeinsamer method(olog)ischer Grundlage resultierte und sich in einem tiefen Graben sowie einer Ideologisierung der Debatte zwi197 Unter „Methodologie“ versteht man die Theorie der wissenschaftlichen Methoden, oder kurz: die Lehre von den Methoden (Methodenlehre). 198 Garz/Kraimer, S. 1, 6; Gläser/Laudel, S. 22; vgl. Esser, S. 101. – Zu Unterscheidungsmerkmalen qualitativer und quantitativer Analysen siehe etwa Mayring, Inhaltsanalyse, S. 16 ff. 199 Mangold, Empirische Sozialforschung. 200 Mangold, S. 20. – Zu Schwierigkeiten einer begrifflichen Unterscheidung siehe Oswald, S. 74 f. 201 Gläser/Laudel, S. 24. 202 Garz/Kraimer, S. 6.
3. Kap.: Das Experten-Interview
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schen dem quantitativen und dem qualitativen Lager äußerte203, ist heute die starre Trennung von quantitativen und qualitativen Verfahren weitgehend aufgegeben worden. Es stehen nun „immer weniger die Unvereinbarkeiten zwischen der qualitativen und quantitativen Methode im Vordergrund (. . .), vielmehr sind es zunehmend die gegenseitigen Ergänzungen der beiden Forschungsansätze und die damit einhergehende Erkenntnisgewinnung, die ins Zentrum des Interesses empirischer Forschung rücken (. . .). Bei allen Unterschieden sind es keine sich ausschließenden Typen wissenschaftlicher Forschung, es gibt Gemeinsamkeiten und Überschneidungen ebenso wie vielfältige sinnvolle Kombinationsmöglichkeiten. Dabei sind qualitative Untersuchungen nicht nur Grundlage quantitativer Forschung, die qualitativen Ergebnisse ergänzen und vertiefen auch die quantitativen Daten und umgekehrt.“204 203 Deeke, S. 12 („Spannungsverhältnis von quantitativer und qualitativer Sozialforschung“); Engler, S. 124 („In den vehement und kontrovers geführten Auseinandersetzungen über den Einsatz von qualitativen und quantitativen Methoden [. . .].“; „Polarisierung von qualitativen versus quantitativen Methoden“), siehe auch S. 129; Gläser/Laudel, S. 278, vgl. auch S. 22 f.; Kelle/Erzberger, S. 299 („starke Tendenz, qualitative und quantitative Methoden zwei unterschiedlichen Methoden zuzuordnen“); Mayring, Inhaltsanalyse, S. 19; Voelzkow, S. 51 („allgemeine Kontroverse zwischen den Anhängern der quantitativen und der qualitativen Methoden“). 204 Mayer, S. 25. – Ähnl. Engler, S. 126 („Vorzüge der Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden sind evident“), siehe auch S. 129, zum Verhältnis von qualitativen und quantitativen Methoden siehe S. 123 ff.; Flick, Sozialforschung, S. 67 („Qualitative und quantitative Forschung sind weder unvereinbare Gegensätze, die nicht etwa auch kombiniert werden könnten [. . .].“); Flick/Kardorff/ Steinke, S. 24 („lassen sich bei entsprechenden Fragestellungen auch miteinander verbinden“), siehe auch S. 25; Hugl, S. 27 („Qualitative und quantitative Verfahren können, statt zu konkurrieren, im Zusammenspiel [. . .] ihre vollen Kräfte entfalten.“); Kelle/Erzberger, S. 299 („so unüberwindlich muss die Grenze zwischen qualitativer und quantitativer Methodologie allerdings nicht sein“), zu Möglichkeiten gegenseitiger Integration qualitativer und quantitativer Forschungsergebnisse siehe S. 304 ff., zu Strategien der Methodenintegration S. 307 f.; Mayring, Sozialforschung, S. 19, 37 f., 133 f., 148, 149 f.; Oswald, S. 74 (handelt sich „nicht um diametral entgegengesetzte oder sich ausschließende Typen wissenschaftlicher Forschung“, sondern es gibt „Gemeinsamkeiten und Überschneidungen ebenso [. . .] wie vielfältige sinnvolle Kombinationsmöglichkeiten“), zu Möglichkeiten der Verbindung von qualitativen und quantitativen Methoden siehe S. 82 ff.; Rogge/Rogge, S. 287 („[. . .] quantitativen Methoden nicht in jedem Fall die Priorität einzuräumen [. . .]. Andererseits gibt es oftmals keinen vernünftigen Grund, warum nicht anstelle von Beschreibungen Zahlen verwendet werden können [oder sogar müssen].“); Voelzkow, S. 57 („Schlußfolgerung, daß die quantitative wie die qualitative Sozialforschung ihre jeweiligen Stärken nicht durch eine unangebrachte Konkurrenz, sondern durch eine konstruktive Komplementarität entfalten sollten“); siehe überblicksartig Garz/Kraimer, S. 14 ff. Eine Überwindung des Gegensatzes qualitativ-quantitativ fordert auch Mayring, Inhaltsanalyse, S. 19, 45; vgl. auch Diekmann, S. 445 („Am besten verzichtet man aber auf diese ideologisch verkrampften Bewertungen von Methoden.“); Gläser/ Laudel, S. 26 („Statt der häufig beschworenen ,Unvereinbarkeit‘ [. . .] zwei unter-
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
Andererseits „kann (. . .) weder ein Streit ‚qualitativ versus quantitativ‘ – oberflächlich polemisch betrachtet: ‚Geschichten versus Zahlen‘ – noch können Konvergenzbestrebungen, nach denen unvereinbare Ansätze, wenn schon nicht als austauschbar, so doch als komplementär betrachtet, zur Überwindung der Gegensätze qualitativ und quantitativ beitragen. Erhebt man die Wahl der Methode nicht zur Glaubensfrage, ist eine Versöhnung der beiden methodologischen Paradigmen auch nicht nötig, denn beide haben ihre Berechtigung und ihre Vorteile, die je nach spezifischer Lage des zu untersuchenden Phänomens, den einen oder anderen Forschungsansatz zum (. . .) Zug kommen läßt.“205
Die Wahl der Erhebungsmethode richtet sich also in erster Linie nach der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung206 und sollte „auf das jeweilige Befragungs- oder Beobachtungsobjekt ausgerichtet sein“207. II. Überblick zu den qualitativen Erhebungsmethoden208 Die Ursprünge qualitativer (Sozial-)Forschung liegen in der „richtigen“ Auslegung der Heiligen Schrift (sog. theologische Hermeneutik) einerseits, der fachgerechten Interpretation von Gesetzestexten (sog. juristische Hermeneutik) andererseits.209 Hinsichtlich der Methoden qualitativer Forschung ist die Untersuchung der menschlichen Existenz grundsätzlich durch Experimente210 und Beobachtungen211 möglich. Erstere sind auf Grund ihres speziellen Charakters, der weitgehenden inhaltlichen Konstruiertheit und einer grundlegenden ethischen Problematik indes nur eingeschränkt praktikaschiedliche Wege zum selben Ziel [. . .].“); im Rahmen spezieller Thematik Leitner/ Wroblewski, S. 245 („schließt selbst bei einer deutlichen Bevorzugung qualitativer Methoden die Verwendung quantitativer Methoden mit ein“). 205 Hugl, S. X (sic!). – Ähnl. Deeke, S. 12 („Beide methodologischen Konzepte haben aufgrund ihrer je spezifischen Leistungsfähigkeit ihr eigenes Recht.“); Kelle/ Erzberger, S. 308 („abhängig von der Art des untersuchten Gegenstandsbereichs“); Mayring, Inhaltsanalyse, S. 19; ders., Sozialforschung, S. 134; Voelzkow, S. 51 („sachlich angemessener [. . .], quantitative und qualitative Methoden nicht gegeneinander auszuspielen, sondern unterschiedlichen Forschungsaufgaben zuzuordnen“). 206 Vgl. speziell betr. Interviews Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 374; vgl. ferner Atteslander, S. 232, 238, 327; Mayer, S. 34; Mayring, Sozialforschung, S. 133 und allg. S. 40, 65, 134, 149; vgl. allg. auch Diekmann, S. 165; Flick, Forschung, S. 253, 264; ders., Sozialforschung, S. 391; Flick/Kardorff/Steinke, S. 22; Gläser/Laudel, S. 24; Kromrey, S. 67; Oswald, S. 79. 207 Vgl. Atteslander, S. 329. 208 Nach Gläser/Laudel, S. 36 ff. 209 Garz/Kraimer, S. 2; vgl. Mayring, Sozialforschung, S. 13. 210 Siehe dazu allg. Atteslander, S. 196 ff.; Stier, S. 207 ff.; siehe speziell Mangold, S. 33 ff.
3. Kap.: Das Experten-Interview
73
bel, letztere bieten demgegenüber ein sehr breites Anwendungsspektrum.212 Beobachtungsmethoden i. e. S. beinhalten dabei eine bloße Betrachtung der Untersuchungsgegenstände (Situationen, Prozesse und Individuen) in deren natürlichem sozialen Umfeld,213 während Beobachtungsmethoden i. w. S. eine Befragung derjenigen Menschen, die an den zu untersuchenden Situationen und Prozessen teilhaben, zum Inhalt haben. Eine derartige Befragung kann schriftlich oder mündlich erfolgen; im Falle einer mündlichen Befragung spricht man von einem Interview.214 III. Angewandte Erhebungsmethode Im hier gewählten Forschungsansatz sollte mithilfe einer empirischen Erhebung untersucht werden, wie der in Rede stehenden Problematik strafjustiziell zu begegnen sein könnte. Diesbezüglich erschien die Heranziehung der zuletzt genannten Erhebungsmethode (Interviews) mit Personen aus der Praxis als „Experten“215 besonders geeignet.216 Innerhalb der einheitlichen Terminologie des „Interviews“ als „mündliche Befragung“ haben sich in der Literatur allerdings die verschiedenartigsten Begrifflichkeiten217 und hierbei wiederum zahlreiche Kategorien und Unter211 Dazu allg. etwa schon Mangold, S. 53 ff.; siehe ferner Atteslander, S. 79 ff.; Diekmann, S. 456 ff.; Flick, Sozialforschung, S. 199 ff.; Kromrey, S. 336 ff.; Stier, S. 167 ff.; zu Formen der Beobachtung siehe Girtler, S. 60 ff. 212 Vgl. Friedrichs, S. 273, 341 f. 213 Anzuführen ist hier insbesondere die sog. teilnehmende Beobachtung (siehe dazu speziell Friebertshäuser, Feldforschung, S. 503, 520 ff.; Martens, Teilnehmende Beobachtung; zu Formen teilnehmender Beobachtung vgl. Lueger, S. 62 f.; siehe allg. etwa Flick, Sozialforschung, S. 206 ff.; Friedrichs, S. 288 ff.; Mayring, Sozialforschung, S. 54 f., 80 ff.; siehe ausf. auch Atteslander, S. 104 ff.; Lamnek, S. 547 ff.), bei der die menschlichen Untersuchungsobjekte in ihrer natürlichen Umgebung belassen und so im Alltag begleitet werden. 214 Friedrichs, S. 192, 208, 236; Kromrey, S. 351, 376 f.; Lamnek, S. 342 f.; Mayer, S. 97 ff.; Rogge/Rogge, S. 103; ähnl. Mangold, S. 53, 57; vgl. auch schon van Koolwijk, S. 17; Maccoby/Maccoby, S. 37. Synonym für „Interview“ gebraucht wird mitunter der Begriff Gespräch. Wenngleich sich diese Terminologie letztlich als zu „zweiseitig“ erweist angesichts des zentralen Informationsbedürfnisses des Interviewers und der daraus in tatsächlicher Hinsicht resultierenden Interaktion, mit anderen Worten an eine Konversation zwischen und nicht mit Experten erinnert, soll dieser Begriff aus Gründen sprachlicher Variation auch hier an dieser oder jener Stelle Verwendung finden. 215 Dazu insg. oben im 2. Kap. 216 Siehe allg. zu forschungspraktischen Vorzügen dieser Erhebungsform Bogner/ Menz, Expertenwissen, S. 7 ff. 217 Exemplarisch – trotz der Vielzahl – und in alphabetischer Reihenfolge seien genannt: analytische, biographische, detaillierte, diagnostische, diskursive, episodische, ermittelnde, ethnographische, explorative, fokussierte, freie, informatorische,
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
kategorien218 herausgebildet. Die klassifikatorischen Grenzen sind dabei fließend, das Interview gibt es also nicht.219 Eine Gemeinsamkeit weisen die in der Literatur beschriebenen Typen von Interviews aber insofern auf, als sie sich anhand bestimmter methodischer Merkmale klassifizieren lassen. Eine solche Klassifizierung der speziell im Rahmen dieser Arbeit geführten Interviews soll auch im Folgenden untergenommen werden.
B. Klassifizierung der geführten Interviews Eine Klassifizierung der geführten Interviews kann anhand der Merkmale „Sinn und Zweck“ (I.) sowie „Gegenstand“ (II.) der Interviews, „Art und Anzahl der Interviewpartner“ (III.) sowie „Technik der Datenerhebung“ (IV.) erfolgen.220 I. Sinn und Zweck der Interviews Sinn und Zweck der geführten Interviews war es, das besondere Wissen sowie die Einschätzungen und Sichtweisen der an den Entscheidungsprozessen unmittelbar beteiligten „Experten“221 zugänglich und für die Beantwortung der Untersuchungsfrage fruchtbar zu machen.222 II. Gegenstand der Interviews (Erkenntnisinteresse) Hieraus ergibt sich zugleich der Gegenstand bzw. das Erkenntnisinteresse der Interviews, nämlich die Handlungen, Beobachtungen und das besondere Wissen der als „Experten“ beurteilten Personen sowie ihre Einstellungen zu der in Rede stehenden Problematik zu erheben.223
klinische, leitfadenbasierte bzw. -gestützte, narrative, offene, (problem-)zentrierte, qualitative, quantitative, rezeptive, situationsflexible, (nicht-, halb-, voll-)standardisierte, (un-, semi-)strukturelle bzw. -strukturierte, thematische bzw. themenzentrierte, therapeutische, vermittelnde sowie Intensiv- oder Tiefeninterviews. 218 Siehe überblicksartig etwa Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 372 f., 375 ff.; Lamnek, S. 330 ff., 356 ff. 219 Bogner/Menz, Experteninterview, S. 67. 220 Nach Gläser/Laudel, S. 38 ff. 221 Siehe dazu oben 1. Kap. am Anfang, 2. Kap. B. I. am Ende, II. 222 Vgl. dazu Pfadenhauer, S. 113. 223 Vgl. dazu Pfadenhauer, S. 114; vgl. auch Walter, S. 271 f.
3. Kap.: Das Experten-Interview
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III. Art der Interviewpartner und deren Anzahl je Interview Als Interviewpartner wurden (Jugend-)Richter im Allgemeinen und dabei speziell die (Jugend-)Richter am Landgericht Berlin bestimmt.224 Hinsichtlich der Anzahl der interviewten Personen225 bergen Einzelinterviews nicht die bei Doppel- oder Gruppeninterviews226 mitunter auftretenden – die Erhebung und Auswertung erschwerenden, hierbei gar die Ergebnisse verzerrenden und daher methodisch nahezu unüberbrückbaren – Schwierigkeiten der Zuordnung der Interviewinhalte zu den jeweiligen Interviewpartnern.227 Was die Anzahl der Interviewpartner pro Interview anbelangt, wurden daher stets Einzelinterviews geführt. IV. Technik der Datenerhebung Das Klassifikationsmerkmal „Technik der Datenerhebung“ kann in die Untermerkmale „Grad der Standardisierung“ (1.) und „Form der Kommunikation“ (2.) untergliedert werden.228 1. Grad der Standardisierung229 Hinsichtlich des Standardisierungsgrades lassen sich grundsätzlich (voll-)standardisiertes, halb-standardisiertes und nicht-standardisiertes Interview unterscheiden.230 Während das (voll-)standardisierte Interview für jedes der Interviews gleich bleibende, im Voraus verbindlich formulierte Fragen bereithält, die in einer exakt festgelegten Reihenfolge gestellt und auch nur in ganz bestimmter Art und Weise beantwortet werden können, und dies beim halb-standardisierten Interview noch hinsichtlich der Fragen des Interviewers gilt, sind beim nicht-standardisierten Interview weder Frage224
Siehe oben 2. Kap. B. II. und III. Zur Anzahl der interviewenden Personen siehe unten bei Fn. 296. 226 Bei diesen werden zwei oder mehr Personen zugleich interviewt. 227 Ähnl. Friedrichs, S. 215; Gläser/Laudel, S. 41; Mangold, S. 63; vgl. Lamnek, S. 422. 228 Nach Gläser/Laudel, S. 38 ff. 229 Allg. zu „straffen“ oder aber eher „lockeren“ Forschungsdesigns siehe Flick, Forschung, S. 261. 230 Siehe schon Maccoby/Maccoby, S. 39 f., 45; ferner Gläser/Laudel, S. 38 f.; Lamnek, S. 331, 336 ff.; Rogge/Rogge, S. 103; vgl. Diekmann, S. 374, 445; ähnl. auch schon van Koolwijk, S. 17 f. – Siehe demgegenüber Atteslander, S. 146 ff., 160 f.; Kromrey, S. 378. 225
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
wortlaut und -reihenfolge noch die entsprechenden Antwortmöglichkeiten vorgegeben.231 Hier wurde im Grundsatz232 das zuletzt genannte Interviewformat gewählt, da stärker standardisierte Vorgehensweisen sich nicht dafür eignen, „das jeweils spezifische Wissen der Experten zu erschließen. Sie würden im Gegenteil gerade das besondere Wissen der Experten (. . .) abschneiden“.233
Zugleich konnte so den Prinzipien von Flexibilität234 und Offenheit235 Rechnung getragen werden.236 Interviewer und Interviewpartner unterlagen also grundsätzlich keiner Standardisierung. Eine andere Frage ist es, ob die in den Gesprächsinhalten der prinzipiell qualitativ durchgeführten Interviews enthaltenen Daten in Teilbereichen einer auch quantitativen Auswertung unterzogen werden können.237 a) Teil-standardisierte Interviews Doch auch bei dem Grundsatz nach nicht-standardisiert geführten Interviews im vorstehenden Sinne sind die Interviewer hinsichtlich der zur Anwendung gelangenden Methoden der Datenerhebung nicht gänzlich frei, sondern vielmehr an bestimmte Vorgaben gebunden; man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sog. teil-standardisierten Interview.238 Eine solche Vorgabe239 können Fragelisten darstellen. Dieser sog. Leitfaden240 wird im Vorfeld und für alle Interviews einheitlich entwickelt. 231
Gläser/Laudel, S. 39; vgl. schon Maccoby/Maccoby, S. 39 f.; vgl. ferner Diekmann, S. 374; Hugl, S. 48; Mangold, S. 59; Rogge/Rogge, S. 103; Stier, S. 171, 184, 188 f. Siehe demgegenüber aber van Koolwijk, S. 17, der den „Grad der Standardisierung“ lediglich auf die Interviewfragen und deren Wortlaut und Reihenfolge bezieht und hinsichtlich der Antwortmöglichkeiten das Merkmal der „Strukturierung des Befragungsablaufs“ verwendet (Hervorhebungen im Original); Kromrey, S. 378 f.; Mayring, Sozialforschung, S. 66. 232 Vgl. im Einzelnen die Ausgestaltung der Fragen des für die Gespräche erarbeiteten Interviewleitfadens, abgedruckt im Anhang (dort unter A. I. bzw. II.); näher dazu unten b) bb) (2) (a) bzw. (b). 233 Gläser/Laudel, S. 35, vgl. auch S. 41; ähnl. Flick, Sozialforschung, S. 143; Meuser/Nagel, Expertenwissen, S. 183; Trinczek, Experteninterviews, S. 60; ders., Managerbefragung, S. 211. 234 Dazu allg. Lamnek, S. 25 f., 194, speziell S. 350. 235 Siehe dazu unten bei und in Fn. 280 f. sowie b) bb) (2) (c). 236 Vgl. Trinczek, Experteninterviews, S. 60; ders., Managerbefragung, S. 211 f. 237 Dazu unten bei und in Fn. 313 f. 238 Gläser/Laudel, S. 39; vgl. Flick, Sozialforschung, S. 143; Hopf, Interviews, S. 351; Hugl, S. 48 f. 239 Andere Vorgaben innerhalb des nicht-standardisierten Interviewformats enthält das narrative Interview, bei dem durch komplexe Fragestellungen des Interviewers
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Die konkrete Formulierung der Fragen und ihre tatsächlich praktizierte Reihenfolge hingegen sind nicht vorgegeben. Zudem sind auch der Vollständigkeit der Beantwortung dienende, verständnissichernde oder gar weiterführende ad hoc-Nachfragen, die naturgemäß nicht im Leitfaden berücksichtigt werden können, uneingeschränkt zulässig.241 Leitfadeninterviews sind insgesamt besonders geeignet, der Komplexität eines Themas gerecht zu werden.242 Da in Experteninterviews zumeist ganz unterschiedliche Themen anzusprechen sind, dies sich aber in einem offenen oder narrativen Interview nicht ohne weiteres realisieren ließe, und zudem auch konkrete, eindeutig feststellbare Informationen ermittelt werden müssen, sind Experteninterviews zweckmäßigerweise in Form von Leitfadeninterviews zu führen.243 Leitfadeninterviews sollten daher auch hier zur Anwendung gelangen. b) Interviewleitfaden Leitfadeninterviews „fristen (. . .) eher ein Mauerblümchendasein“244 in der methodischen und methodologischen Diskussion. Entsprechend der inhaltlichen Beschränkung dieser Arbeit kann und soll diese Lücke durch die nun folgenden Ausführungen nicht geschlossen werden; diese verstehen sich daher in der Hauptsache als lediglich mit Überblickscharakter versehene Angaben, wobei indes je nach spezifischer Relevanz punktuelle Vertiefungen vorgenommen werden sollen.245
auf Seiten des Interviewpartners jeweils längere Erzählstränge ausgelöst werden sollen; beim offenen oder freien Interview hingegen nähert sich der Interviewer der vorgegebenen Thematik durch Fragen an, die nicht auf einem vorgefertigten Leitfaden basieren (siehe zum Ganzen Gläser/Laudel, S. 40). 240 Hieraus ergibt sich zugleich die Terminologie als Leitfadeninterview, das mitunter auch als „leitfadenbasiertes“, „leitfadenorientiertes“ oder „leitfadengestütztes“ Interview bezeichnet wird. 241 Siehe zum Ganzen Gläser/Laudel, S. 39 f.; vgl. betr. die Zulässigkeit sog. ad hoc-Nachfragen auch Mayring, Sozialforschung, S. 70. 242 Vgl. Gläser/Laudel, S. 41. 243 Gläser/Laudel, S. 41, 102, 107; vgl. Mayer, S. 36 f., 42; im Ergebnis ebenso Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 373; Trinczek, Experteninterviews, S. 59; ders., Managerbefragung, S. 209 Fn. 2, S. 210. – Mayer, S. 36 ff. bezieht seine Ausführungen zum Leitfadeninterview sogar ausschließlich auf Experteninterviews. 244 Trinczek, Experteninterviews, S. 59; ders., Managerbefragung, S. 210, ähnl. S. 221. – Eine Ausnahme bilden insoweit etwa die Ausführungen von Flick, Sozialforschung, S. 117–145. 245 Siehe schon oben im 1. Kap.
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
aa) Funktionen des Leitfadens Die im Interviewleitfaden enthaltenen Leitfragen geben dem Interviewer eine grobe Orientierung über den gewünschten Gesprächsverlauf an die Hand.246 Der Interviewleitfaden dient demzufolge einer thematischen Vorbereitung und Strukturierung der Interviews.247 Hierbei stellt der Leitfaden sicher, dass der Interviewpartner zu allen wichtigen Aspekten befragt wird,248 dass also alle diejenigen Informationen erhoben werden, die im Vorfeld als relevant eingestuft wurden249. Für den Fall einer größeren Anzahl geführter Interviews wird damit zugleich gewährleistet, dass gleichartige und daher vergleichbare Informationen erhoben werden.250 Übergeordnet erleichtert die Verwendung eines Leitfadens es, den Widerspruch zwischen einer begrenzten Interviewdauer und einem nahezu unbegrenzten Informationsinteresse auf Seiten des Interviewers zu bewältigen.251
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Dem entspricht es, dass der Leitfaden solche Fragen enthält, „die bei erwartungsgemäßer Beantwortung ein an einen natürlichen Gesprächsverlauf angenähertes (. . .) Gespräch möglich machen“ (Gläser/Laudel, S. 139). 247 Mayer, S. 36; Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 486; dies., Expertenwissen, S. 184; dies., Expertise, S. 268; vgl. Mayring, Sozialforschung, S. 67, 69; Walter, S. 273 f. 248 Gläser/Laudel, S. 41, 138; Hugl, S. 49, 224; Lamnek, S. 352; Mayer, S. 36; Stier, S. 188; Vogel, S. 76; ähnl. Leitner/Wroblewski, S. 252; Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 487 f.; dies., Expertise, S. 269; vgl. Diekmann, S. 446; Mayring, Sozialforschung, S. 67, 69; mittelbar Flick, Sozialforschung, S. 139 f. („Steuerungsfunktion in Hinblick auf den Ausschluss unergiebiger Themen“). 249 Flick, Sozialforschung, S. 125 i. V. m. S. 118 und 120, 143, 409; Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 375; Gläser/Laudel, S. 39, 139; vgl. Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 448, 453. 250 Siehe schon Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 451, 453; wiederaufgreifend dies., Das Experteninterview, S. 488; übernehmend Bogner/Menz, Experteninterview, S. 38; in Teilen übernehmend Nohl, S. 21; siehe auch Gläser/Laudel, S. 139, 146; Mayer, S. 36, 44; vgl. Bureau of Applied Social Research, S. 143, 146, 151; Diekmann, S. 446; Flick, Sozialforschung, S. 144; Mayring, Sozialforschung, S. 70; Stier, S. 188; Vogel, S. 74; einschr. Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 375 f. („eine gewisse Vergleichbarkeit der Ergebnisse“; „erleichtert später die Vergleichbarkeit der Interviews untereinander“); vgl. im Rahmen spezieller Thematik a. A. Lueger, S. 191 f. („Es macht [. . .] wenig Sinn, verschiedene Gespräche an einem gemeinsamen ‚Leitfaden‘ auszurichten, weil die Aussagen keine Vergleichbarkeit zulassen. Die verschiedene Bedeutung von Fragen für die gesprächsbeteiligten Personen und die jeweils spezifische, aber bedeutungsformierende Integration in ein Gesprächssetting und einen internen Gesprächszusammenhang zerstören jede direkte Möglichkeit einer Gegenüberstellung [. . .].“; Hervorhebung im Original). 251 Gläser/Laudel, S. 182 m. Nachw.
3. Kap.: Das Experten-Interview
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bb) Konstruktion und Struktur des Leitfadens252 Es folgen Ausführungen zur näheren Ausgestaltung des im Rahmen dieser Arbeit herangezogenen Interviewleitfadens253. Diese orientieren sich an der Struktur des erstellten Leitfadens und thematisieren demzufolge zunächst die seitens des Interviewers vorgenommenen einleitenden Bemerkungen [(1)], sodann den Leitfadeninhalt selbst [(2)] und endlich den gewählten Abschluss der Interviews [(3)]. Daran schließt sich zuletzt ein Abschnitt über eine gegebenenfalls erforderlich werdende Modifizierung des Leitfadens an [(4)]. (1) Einleitende Bemerkungen Einige wichtige Aspekte eher formeller Natur waren den geführten Interviews voranzustellen254, allen voran die gegenständliche Ausrichtung der Untersuchung an sich unter Benennung und Erläuterung des Arbeitstitels255 und das Ziel der insoweit geführten Interviews. Zu den wesentlichen Vorbemerkungen gehörte ferner, die Interviewpartner gemäß dem Prinzip der informierten Einwilligung256 möglichst ausführlich über die Forschungsziele und das methodische Vorgehen der Erhebung zu informieren. Besonders bedeutsam war es hier zudem, einleitend die Perspektive der Untersuchung257 zu verdeutlichen, um inhaltliche Missverständnisse und damit letztlich die Erhebung unbrauchbarer Daten („Datenmüll“) von vorne herein auszuschließen. Denn bereits in den geführten Probeinterviews258 zeigte es sich immer wieder, dass die Interviewpartner die gewählte Untersuchungsperspektive zu verlassen und ihr persönliches Betroffensein259 einzubeziehen versuchten, um das es hier aber gerade nicht bzw. nur am Rande gehen sollte. 252 Siehe insg. zur Konstruktion von (Experteninterview-)Leitfäden Gläser/Laudel, S. 138 ff.; Mayer, S. 42 ff. 253 Siehe dazu den im Anhang (dort unter A. I.) abgedruckten „Interviewleitfaden Erwachsenenrichter“. 254 Vgl. dazu insg. unter „Vorbemerkungen“ des hier verwendeten Leitfadens. 255 Der ursprünglich gewählte Titel („Medienöffentliche Vorverurteilung als gesetzlicher Strafmilderungsgrund im Jugend- und/oder Erwachsenenstrafverfahren?“) wurde im Verlaufe der Untersuchung auf Grund der erzielten Interviewergebnisse teilweise erweitert („Strafjustizielle Folgerungen. . .“). 256 Vgl. Diekmann, S. 75 f.; Gläser/Laudel, S. 140; Hopf, Forschungsethik, S. 591 ff.; vgl. auch Lueger, S. 193. – Siehe dazu auch die §§ 4, 4a, 40 BDSG. 257 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. II.: Im Fokus der Betrachtungen steht ganz zentral der Beschuldigte. 258 Dazu näher unten D. II. 1. a) am Ende. 259 Vgl. dazu oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 3. a).
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
Weiterhin galt es – entsprechend einem mit methodischer Selbstverständlichkeit ausgestatteten Grundsatz empirischer Forschung260 –, den Interviewpartnern vorab umfassende Anonymität zuzusichern. Dem entsprach es, eine Anonymisierung der in den Interviews erlangten und später veröffentlichten Informationen vorzunehmen.261 Auch war es erforderlich, gegenüber den Interviewpartnern im Vorfeld das forschereigene wertneutrale Erkenntnisinteresse und die sich daraus ergebende umfängliche Ergebnisoffenheit hervorzuheben.262 Denn es sollte vermieden werden, dass die Gesprächsinhalte bereits in der einen oder anderen Richtung von geäußerten oder zumindest vermuteten Einschätzungen des Interviewers beeinflusst werden konnten. (2) Leitfadeninhalt (a) Leitfaden für Erwachsenenrichter In inhaltlicher Hinsicht begannen die Gespräche mit zwei einführenden Fragen zum früheren, gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Ablauf medialer Straftatenberichterstattung „bei Gericht“, die bewusst allgemein gehalten und als Einstieg in die Thematik gedacht waren (Fragen I. 1. und 2.). Sie sollten den Interviewpartnern die grobe Zielrichtung der Untersuchung vorgeben und diese für den Gegenstand der Erhebung sensibilisieren.263 Im Anschluss daran wurde das Gespräch im Rahmen weiterführender Fragen auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand hingeführt. Zunächst sollten sich die Interviewpartner hierbei „aus dem Bauch heraus“ zu einer etwaigen strafmildernden Berücksichtigung einer medienöffentlichen Vor260 Friebertshäuser, Feldforschung, S. 526; Hopf, Forschungsethik, S. 594, mit Darstellung von Arten der Verletzung dieses Grundsatzes in Form der Weitergabe personenbezogener Daten oder unzureichend anonymisierender Veröffentlichungen (S. 595 ff.); speziell betr. Interviews Kromrey, S. 352; Mayer, S. 45; vgl. Diekmann, S. 73 ff. und speziell betr. Interviews S. 375, 417; Gläser/Laudel, S. 140. – Siehe allg. zu forschungsethischen Fragen i.R. sozialwissenschaftlicher Forschung Gläser/ Laudel, S. 45 ff. und den dort als „Anhang 1“ abgedruckten „Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen (BDS)“ i. d. F. v. 27.11.1992; ferner Rogge/Rott, S. 283 ff. 261 Vgl. insoweit auch § 40 Abs. 2 BDSG. 262 Dies sollte auch bereits im Arbeitstitel zum Ausdruck gebracht werden, namentlich durch das ans Ende gesetzte Satzzeichen („?“). – Einschr. Bogner/Menz, Experteninterview, S. 64. 263 Die dazu ermittelten Interviewergebnisse werden im Rahmen dieser Arbeit aus inhaltlichen und räumlichen Gründen nicht näher dargestellt.
3. Kap.: Das Experten-Interview
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verurteilung des Betroffenen äußern (Frage II. 1.). Bei insoweit ablehnender Haltung264 galt es, diese unter Angabe von Gründen zu erläutern. Im Falle grundsätzlicher Bejahung einer derartigen Berücksichtigung265 war es – im Anschluss an die auch hier zunächst erbetene Erläuterung entsprechender Argumente – den nachfolgenden Fragen vorbehalten, den Untersuchungsgegenstand weiter zu erforschen. Namentlich wurde nach etwaigen dogmatischen Anknüpfungspunkten (Frage II. 2.), Möglichkeiten einer inhaltlichen Konkretisierung (vgl. Fragen II. 3., 4. und 5.) sowie solchen einer anderweitigen Berücksichtigung medienöffentlicher Vorverurteilung im Strafverfahren (Frage II. 6.) gefragt. Unter den beiden nachfolgenden Gliederungspunkten des Leitfadens wurden sodann konkrete Fälle und deren untersuchungsgegenstandsbezogene Behandlung thematisiert, wobei sowohl bundesdeutsche (III.) als auch speziell innerhalb Berlins verhandelte (vgl. IV.) Fälle zur Sprache gebracht und hierbei auch etwaige eigene Erfahrungen mit dem Untersuchungsgegenstand (Frage IV. 1.) ermittelt wurden. Der anschließende Exkurs zur Frage einer etwaigen Strafschärfung infolge eines medienöffentlichen „Vor-Freispruchs“ (V.) wendete sich einem ganz speziellen Problemkreis zu, der sich thematisch im Umkehrschluss aus der hier geführten Untersuchung ergab.266 Weiterhin wurden die Interviewpartner dazu befragt, ob – und gegebenenfalls aus welchen Gründen – eine unterschiedliche Behandlung medienöffentlicher Vorverurteilungen im Jugendstrafverfahren geboten sei (Frage VI. 1.), wobei wiederum auch auf eine etwaige strafschärfende Berücksichtigung im Falle eines medienöffentlichen „Vor-Freispruchs“ eingegangen wurde (Frage VI. 2.)267. Die Gespräche endeten in inhaltlicher Hinsicht mit dem abermaligen Stellen der beiden einleitenden Fragen des Interviews, namentlich zum frü264 Eine kategorische Ablehnung äußerten Experteninterviews lfd. Nrn. E9, E10 und E17 sowie J1, weshalb diese Richter zu den Fragen II. 2.–5. und III. des Leitfadens nicht (mehr) interviewt wurden. 265 Als nicht von vorne herein auszuschließen beurteilten dies 85,00 % der Erwachsenenrichter und 88,89 % der Jugendrichter und damit insgesamt die weit überwiegende Zahl der Interviewpartner (86,21 %). 266 Mit dem genannten Problemkreis wird sich soweit ersichtlich in der Literatur bislang nur wenig auseinandergesetzt. Lediglich argumentativ und am Rande erwähnt wird die Thematik etwa von Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923 und Roxin, in: NStZ 1991, S. 154; eine konkrete Fallstudie findet sich bei Hamm, S. 64 ff. – Im Rahmen dieser Arbeit wird der genannte Gesichtspunkt einschließlich der hierzu ermittelten Interviewergebnisse aus räumlichen Gründen nicht näher dargestellt. 267 Auch insoweit (siehe vorherige Fn. 266) wird aus Raumgründen auf eine Darstellung der erzielten Ergebnisse verzichtet.
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heren, gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Ablauf medialer Straftatenberichterstattung „bei Gericht“ (VII.). Hierdurch konnte eine auf Grund des Gesprächsinhalts des geführten Interviews etwaig veränderte allgemeine Einstellung des Interviewpartners gegenüber medialer Straftatenberichterstattung ermittelt werden.268 (b) Leitfaden für Jugendrichter Für den Fall, dass sich die gewählten Interviewpartner einer Untersuchung noch deutlich voneinander unterscheiden lassen, etwa durch die jeweilige berufliche Position269, ist es methodischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen zufolge angezeigt, auch mit unterschiedlichen Interviewleitfäden zu arbeiten.270 Dementsprechend war für die mit Jugendrichtern geführten Interviews ein leicht modifizierter Leitfaden erforderlich, insbesondere auch wegen der insoweit in Teilen speziellen Thematik.271 Die Abweichungen betreffen namentlich die unter III. 2. des Interviewleitfadens angeführten Beispielsfälle.272 Darüber hinaus wurden die Fragen insgesamt allgemein auf den jugendstrafrechtlichen Bereich bezogen und erst unter Gliederungspunkt VI. ein Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht angestellt. (c) Prinzip der Offenheit Während der Interviews wurde das Prinzip der Offenheit273 dadurch gewährleistet, dass grundsätzlich274 offene Fragen gestellt wurden, die keine konkreten Antwortvorgaben enthielten und es dem Interviewpartner somit ermöglichten, ganz gemäß seiner individuellen Erfahrungen und Ansichten zu antworten.275 268 Zur hier nicht erfolgenden Darstellung der diesbezüglich ermittelten Interviewergebnisse vgl. Fn. 263. 269 Vgl. Leitner/Wroblewski, S. 250. 270 Vgl. Gläser/Laudel, S. 113, 146; vgl. aus der Praxis Stackelbeck, S. 40. 271 Der „Interviewleitfaden Jugendrichter“ ist ebenfalls im Anhang (dort unter A. II.) abgedruckt. 272 Angesichts fehlender einschlägig entschiedener Fälle aus dem jugendstrafrechtlichen Bereich wurden die zum Erwachsenenstrafrecht angeführten Beispiele („Autobahn-Raser“, Immendorff und Daschner) aber auch hier in zentraler Art und Weise zur Diskussion gestellt. – Vgl. entsprechend unter III. 3. des Leitfadens. 273 Siehe schon oben bei Fn. 235 sowie unten bei und in Fn. 280 f. 274 Eine Ausnahme bilden insoweit die Fragen III. 1. sowie IV. 1. und 2. des Leitfadens. 275 Vgl. Friedrichs, S. 198; Gläser/Laudel, S. 111; Kromrey, S. 365; Mayer, S. 36, 43; vgl. auch Lamnek, S. 345; Lueger, S. 190. – Demgegenüber enthalten
3. Kap.: Das Experten-Interview
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(3) Schluss Zum Abschluss eines Interviews bietet sich im Allgemeinen die Frage danach an, ob der Interviewpartner noch ihm wichtige Aspekte des Themas zur Sprache bringen möchte, die aus seiner Sicht bislang zu wenig berücksichtigt bzw. noch gar nicht thematisiert werden konnten.276 Entsprechend wurde vorliegend verfahren.277 (4) Modifizierung des Leitfadens Die Ausgestaltung eines Leitfadens „basiert auf theoretischen Annahmen über Einflussfaktoren, Problembereiche oder Wirkungen, die sich aus bereits vorliegenden Informationen (. . .) ergeben“.278
Die Konzeption eines Leitfadens setzt daher den vorherigen Erwerb eines „möglichst umfassenden und einschlägigen Vor-Wissens“ voraus.279 Dieses Wissen wird sich während der geführten Interviews aber zwangsläufig noch erweitern. In theoretischer Hinsicht hat gemäß dem methodologischen Prinzip der Offenheit280, das „für Wissenschaft schlechthin“ gilt, der Forschungsprozess zugänglich für unerwartete Informationen zu bleiben, insbesondere solche, die wesentliche Aspekte des Untersuchungsgegenstandes betreffen.281 Und auch aus forschungspraktischer Sicht erwiese es sich als geradezu absurd, das erst während des Forschungsprozesses erworbene Wissen nicht zur Qualifizierung der bisherigen Ergebnisse zu benutzen.282 Der Interviewleitfaden ist daher in einem Prozess der Modifizierung fortwährend weiterzuentwickeln.283 Dies hat unbeschadet dessen zu gelten, dass geschlossene Fragen zwei oder mehr konkrete Antwortvorgaben (Atteslander, S. 162; Diekmann, S. 408; Friedrichs, S. 198; Kromrey, S. 365; Lamnek, S. 344; Maccoby/ Maccoby, S. 49). – Siehe allg. zur „Lehre von der Frage“ Friedrichs, S. 192 ff.; Kromrey, S. 359 ff. 276 Vgl. Gläser/Laudel, S. 144 f.; Leitner/Wroblewski, S. 253. 277 Siehe unter „VIII. Abschließende Bemerkungen“ des Leitfadens. 278 So im Rahmen spezieller Thematik Leitner/Wroblewski, S. 250. 279 Pfadenhauer, S. 127, siehe auch S. 121, 125 ff.; ähnl. Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 375; Lamnek, S. 354. 280 Siehe schon oben bei Fn. 235 sowie (2) (c). 281 Vgl. so Gläser/Laudel, S. 27 f.; vgl. auch Bohnsack, S. 23; Lamnek, S. 21, 194, 258 f.; Mayring, Sozialforschung, S. 27 f.; Oswald, S. 85. 282 Gläser/Laudel, S. 34; vgl. allg. Mayer, S. 22, 25, 28. 283 So hinsichtlich spezieller Thematik auch Leitner/Wroblewski, S. 250; aus der Praxis Stackelbeck, S. 37, 40, vgl. auch S. 42; vgl. ferner Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 376; Gläser/Laudel, S. 145 ff.; Mayring, Sozialforschung, S. 69; vgl. allg. Lamnek, S. 25 f., 194, 258 f.
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hierdurch die Möglichkeiten zum Vergleich der Interviews in Einzelbereichen einer Einschränkung unterliegen.284 Demgemäß sind Vorstudien – das heißt im Umfang begrenzte empirische Untersuchungen, die das für die eigentliche Untersuchung notwendige umfangreiche Wissen beschaffen sollen – zwar bei der Verwendung standardisierter Fragebögen zwingend erforderlich. Im Rahmen der Anwendung qualitativer Methoden hingegen ist das Risiko eines inhaltlichen Fehlschlags nicht ganz so groß, da der Leitfaden nach den Erfahrungen der ersten Interviews noch überarbeitet werden kann.285 Aus diesem Grunde sind bei der Verwendung eines Interviewleitfadens auch „echte“ Probeinterviews286 nicht notwendig287: Die ersten Interviews dienen dann nämlich automatisch der Erprobung des Leitfadens.288 cc) Anwendung des Leitfadens Die Interviews wurden wie erwähnt auf der Basis eines vorformulierten Leitfadens geführt. Dieser stellt indes nur eine Richtschnur für den tatsächlich erfolgenden Informationsaustausch dar. Die Formulierung der Fragen und deren Abfolge waren nicht im Einzelnen vorab festgelegt.289 Mit anderen Worten wurde – wie es allgemeinen methodischen Überlegungen entspricht290 – die Ausprägung einer solchen „Leitfadenbürokratie“ gerade vermieden, die dem nach dem Leitfaden geplanten Gesprächsverlauf abso284
Mayer, S. 45. Gläser/Laudel, S. 104 f.; siehe zur Fortentwicklung eines Leitfadens während des Untersuchungsprozesses exemplarisch Hugl, S. 224 ff., 229. 286 Vgl. zur insoweit erforderlichen Anzahl von Probeinterviews Friedrichs, S. 221 bzw. S. 235: „Umfang: 20–30 Personen. Pro Interviewer 2–3 Interviews“ bzw. „Umfang: Ca. fünf Interviews, pro Interviewer mindestens eines, möglichst zwei“ (Hervorhebungen im Original). 287 Einschr. Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 376 („empfiehlt sich, die erste Fassung eines Leitfaden-Katalogs in Probeinterviews zu testen“); a. A. Friedrichs, S. 221 („Pretest unabdingbar“); Mayer, S. 44 („wichtig, den Leitfaden in Probeinterviews zu testen“); siehe ferner aus einem speziellen methodischen Blickwinkel heraus Aufenanger, S. 45 f. („unbedingt notwendig, Probeinterviews durchzuführen“); vgl. allg. Atteslander, S. 329 f., 333 f.; Diekmann, S. 169. 288 Zu den im Rahmen dieser Arbeit aus methodisch-tatsächlichen Gründen dennoch durchgeführten Probeinterviews siehe unten D. II. 1. a) am Ende. 289 Vgl. schon oben bei und in Fn. 246 f. 290 Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 376 f.; Gläser/Laudel, S. 182 m. Nachw.; vgl. Bureau of Applied Social Research, S. 143 („elastisch“ zu handhaben), S. 146, 151 f.; Flick, Sozialforschung, S. 125 i. V. m. S. 119, S. 143 f., 409; Hugl, S. 49, 229; Lamnek, S. 352; Mangold, S. 59 f.; Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 483 („flexible, unbürokratische Handhabung des Leitfadens“; ebenso schon dies., Expertise, S. 269; wörtlich zitiert bei Mayer, S. 46); Stier, S. 184, 188; Vogel, 285
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lute Bedeutung beimisst und dabei den konkreten Gesprächsverlauf vernachlässigt. Dem entspricht es, den Leitfaden nicht als „zwingendes Ablaufmodell“ zu handhaben.291 Hinsichtlich der Chronologie des Leitfadens galt daher: Wenn und soweit der Interviewte eine Fragestellung früher als nach dem Leitfaden geplant behandelte, hatte dies stets vorrangige Bedeutung. Der Interviewleitfaden bildet nach alledem lediglich ein grobes „Fragen-Gerüst“; dem Interviewer obliegt es dann, im Einzelnen zu entscheiden, ob, wann und in welcher Form eine Frage gestellt wird,292 umso insgesamt einen gesprächssituationsflexiblen Einsatz des Leitfadens zu gewährleisten. 2. Form der Kommunikation Der zweite Gesichtspunkt der Technik der Datenerhebung ist die während der Interviews gewählte Kommunikationsform. Ein persönliches Interview vis-à-vis bietet etwa gegenüber einem Telefoninterview293 den entscheidenden Vorteil einer signifikant erhöhten menschlichen Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem.294 Zudem wird bei einer telefonischen Kommunikation die maximal mögliche Interviewdauer deutlich niedriger zu veranschlagen sein als bei einem persönlichen Interview295, womit zugleich ein erheblich geringerer zu erwartender Informationsgehalt einherginge. Hinsichtlich der Anzahl der interviewenden Personen296 können Probleme etwa dann auftreten, wenn durch komplexe Fragestellungen nicht minder komplexe Sachverhalte erhoben werden sollen und der Einzelinterviewer mit dem Ausformulieren der Fragen einerseits und dem Niederschreiben der Antworten andererseits überfordert wäre. Eine aus diesem Grunde gewählte Kommunikationsform mit mehreren Interviewern oder aber einem Einzelinterviewer, der sich einer zusätzlich anwesenden und protokollierenS. 76 (kein „Leitfaden-Schematismus“); vgl. auch Haller, S. 229; Hopf, Interviews, S. 358. 291 Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 449; ähnl. dies., Das Experteninterview, S. 487; dies., Expertise, S. 269 („nicht im Sinne eines standardisierten Ablaufschemas“; wörtlich zitiert bei Mayer, S. 46); Nohl, S. 21; Schmidt, Auswertungstechniken, S. 545; vgl. auch Deeke, S. 18; Meuser/Nagel, Expertenwissen, S. 183 („flexible Handhabung des Leitfadens“). 292 Hopf, Interviews, S. 351; Mayer, S. 36; vgl. Gläser/Laudel, S. 138. 293 Siehe ausf. zur Methodik telefonischer Befragungen Diekmann, S. 429 ff. 294 Ähnl. Lamnek, S. 346; Mayer, S. 99 f.; vgl. auch Haller, S. 216 f. 295 Ebenso Friedrichs, S. 215; Mayer, S. 101; siehe dagegen Diekmann, S. 431; Stier, S. 202. 296 Zur gewählten Anzahl der interviewten Personen siehe oben bei Fn. 225.
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den dritten Person bedient, hat indes wegen gewichtiger methodischer Nachteile297 auszuscheiden.298 Insgesamt ergibt sich somit der Begriff des „Einzel-Einzelinterviews“. Diese terminologische Umschreibung soll abschließend verdeutlichen, dass im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Interviewer als Einzelperson das Gespräch stets auch mit nur einer Person (dem jeweiligen Interviewpartner) geführt hat.
C. Auswertung der Interviews Der nun folgende Abschnitt beschreibt den Prozess der Datenauswertung. Diese setzt zunächst die Sicherung der in den Interviews erhaltenen Informationen voraus. I. Informationssicherung Ohne eine ausführliche Informationssicherung kann eine gesicherte Informationsauswertung nicht erfolgen. Die Frage ist daher, wie Interviews mit wie hier nur einem Interviewer299 durchgeführt werden können, ohne angesichts des Faktums natürlichen menschlichen Vergessens einen nachhaltigen Informationsverlust und somit eine spürbare Dezimierung verwertbarer Informationen in Kauf nehmen zu müssen. Insoweit stellt also die Nachbereitung der Interviews bereits die (Vor-)Phase ihrer anschließenden Auswertung dar. Zunächst ist festzustellen, dass die nach Ansicht des Verf. in diesem Zusammenhang zweckdienlichste Methode300 – der Interviewer sichert die Informationen mittels verdeckter Tonbandaufzeichnung – schon aus forschungsethischen Gründen301 nicht möglich ist. Offene, das heißt mit Wissen des Interviewpartners erfolgende Tonbandmitschnitte wiederum sind mit gewichtigen methodischen Nachteilen verbunden302, weshalb eine Tonbandaufnahme insgesamt auszuscheiden hatte. 297
Erbslöh/Wiendieck, S. 85 („durch die zusätzliche Anwesenheit eines teilnehmenden Beobachters [würde; Zusatz durch Verf.] die Interviewsituation verzerrt“); vgl. auch Friedrichs, S. 219; a. A. vgl. Leitner/Wroblewski, S. 252 f. – Ausf. zu Vor- und Nachteilen von Einzelinterviews siehe Gläser/Laudel, S. 149 ff. 298 Zur (dennoch) gewährleisteten Informationssicherung siehe anschließend C. I. 299 Siehe oben B. IV. 2. am Ende. 300 Siehe insg. zu Möglichkeiten der Aufbereitung und Sicherung des erhobenen und anschließend einer Auswertung zu unterziehenden Materials Mayring, Sozialforschung, S. 85 f., 89 ff. 301 In diesem Sinne etwa schon Maccoby/Maccoby, S. 71 („delikate ethische Probleme“). – Hinzu treten rechtliche Gründe.
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In Betracht kam aber die Anfertigung sog. Gedächtnisprotokolle303. Hierbei werden bereits während des Interviews zu den Fragen des Leitfadens die entsprechenden Antworten des Interviewpartners zumindest stichpunktartig notiert.304 Diese werden sodann so bald als möglich – das bedeutet in aller Regel: sofort – nach Beendigung des Interviews in ein möglichst ausführlich gestaltetes und umfassendes Interviewprotokoll überführt.305 In einigen der geführten Interviews sind auf Grund einer natürlich verzögerten Sprechweise des Interviewpartners auch schon während des Gesprächs längere Notizen möglich gewesen. II. Informationsauswertung Die mit Hilfe des Leitfadens erhobenen und mittels der Gedächtnisprotokolle gesicherten Informationen bedurften im Anschluss einer Auswertung. Die Wahl der Auswertungsmethode ergibt sich allgemein anhand des gewählten Forschungsdesigns; mit anderen Worten erfordert jeder Forschungsgegenstand – wie schon bei der Wahl der Erhebungsmethode306 – seine eigene, ganz spezifische Auswertungsmethode, die sich wiederum an der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung zu orientieren hat.307 302
So würde mitunter etwa die erhöhte Sekundärmotivation der Experten betr. die Teilnahme an einem solchen Interview (vgl. näher unten Fn. 362) und dessen konkreter Verlauf nachgerade konterkariert. Vgl. dazu Flick, Sozialforschung, S. 245 („nicht auszuschließen, dass er [der Aufzeichnungsvorgang; Anm. d. Verf.] die Äußerungen der Beteiligten beeinflusst“); Stier, S. 189. – Allg. a. A. (indes ohne nähere Ausführungen) vgl. Leitner/Wroblewski, S. 253; Friedrichs, S. 150 („Im allgemeinen ist der Einfluß [einer Aufzeichnung; Anm. d. Verf.] geringer als vermutet, zumindest nach einer Anfangsphase der Gewöhnung.“) und speziell betr. Interviews ders., S. 229 („nach aller Erfahrung gewöhnt sich der Befragte rasch an das Mitlaufen des Tonbandes“); ebenso Lamnek, S. 353, 389 f., 393 f. 303 Vgl. dazu etwa schon Maccoby/Maccoby, S. 67 ff.; vgl. ferner Atteslander, S. 157. – Diese sind nicht gleichbedeutend mit dem jeweils erstellten Interviewbericht (zu letzterem siehe unten D.). 304 Eine derartige stichpunktartige Mitschrift der Interviewinhalte hat gegenüber einem Tonbandmitschnitt den entscheidenden Vorteil, dass die Interviewsituation insgesamt unbefangener ist und die Interviewinhalte daher in einem nur geringeren Maße beeinflusst werden (können). 305 Vgl. Friebertshäuser, Feldforschung, S. 519: „Je kürzer der Abstand (. . .), umso detaillierter ist die Erinnerung. Die Zeit sorgt für das Vergessen oder überdeckt die Erfahrungen (. . .) mit neuen Eindrücken, so daß diese häufig unwiederbringlich verloren gehen. Deshalb sollte so bald und so sorgfältig wie möglich nach einer Felderfahrung alles aufgeschrieben werden.“. 306 Siehe oben bei und in Fn. 206 f. 307 Vgl. speziell betr. Leitfadeninterviews Schmidt, Auswertungstechniken, S. 565 f.; dies., Leitfadeninterviews, S. 447; vgl. ferner Mayring, Sozialforschung,
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1. Überblick zu den qualitativen Auswertungsmethoden Zu den qualitativen Auswertungsmethoden gehören – unter Zugrundelegung forschungspraktischer Gesichtspunkte – sog. freie Interpretationen, sequenzanalytische Methoden sowie die Verfahren des Kodierens und der Inhaltsanalyse.308 Während sich im vorliegenden Zusammenhang ein inhaltsanalytisches oder kodierendes Verfahren als zu aufwändig erwiesen und dies mit Abstrichen auch noch für die Sequenzanalyse gegolten hätte,309 können freie Interpretationen als hiervon unbelastet gelten. Hierbei werden die durch die Interviews generierten Informationen und Ansichten interpretiert und sodann die für die Beantwortung der Untersuchungsfrage wichtigsten dieser Aussagen zusammenfassend dargestellt.310 2. Angewandte Auswertungsmethode Die bezüglich der zuletzt genannten Auswertungsmethode (freie Interpretationen) von Gläser/Laudel geäußerten Bedenken311 mögen bei den dort thematisch behandelten rekonstruierenden Untersuchungen zutreffend sein, innerhalb der hier vorgenommenen Untersuchung verfangen sie indes nicht. S. 133 und allg. S. 40, 65, 134, 149; vgl. allg. auch Diekmann, S. 165; Flick, Forschung, S. 253, 264; ders., Sozialforschung, S. 391; Flick/Kardorff/Steinke, S. 22; Gläser/Laudel, S. 24; Kromrey, S. 67; Oswald, S. 79. 308 Nach Gläser/Laudel, S. 41 ff.; siehe ferner die Methode der interpretativen Auswertung nach Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 451 ff. und allg. zu Auswertungsverfahren Mayring, Sozialforschung, S. 103 ff. 309 Vgl. nur die (teils sehr umfänglichen) methodischen Ausführungen von Atteslander, S. 215 ff.; Aufenanger, S. 47 ff.; Diekmann, S. 481 ff.; Flick, Sozialforschung, S. 257 ff., 287 ff.; Friedrichs, S. 314 ff.; Gläser/Laudel, S. 43 f., 191 ff.; Hugl, S. 87 ff., 98 ff.; Kromrey, S. 310 ff.; Lamnek, S. 478 ff., 505 ff.; Mayring, Inhaltsanalyse, S. 56 ff.; ders., Sozialforschung, S. 114 ff.; vgl. ferner die nach Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 456 ff. innerhalb der Auswertung anfallenden fünf (bzw. sechs) Arbeitsschritte (Transkription,) Paraphrasierung, Überschriftengenerierung, thematischer Vergleich, soziologische Konzeptualisierung und theoretische Generalisierung (verkürzte Wiedergabe in: dies., Das Experteninterview, S. 488 f.; verkürzt dargestellt bei Mayer, S. 49 ff.); aus der Praxis Bohnsack, S. 143 ff., 219 ff.; speziell aus derjenigen der dokumentarischen Interpretation von leitfadengestützten bzw. biographischen Interviews Nohl, S. 65 ff. bzw. S. 91 ff.; vgl. speziell betr. Leitfadeninterviews auch Schmidt, Leitfadeninterviews, S. 448 ff. 310 Vgl. Gläser/Laudel, S. 42 f. 311 Gläser/Laudel, S. 43: „Dieses Vorgehen ist eigentlich keine Auswertungsmethode. Da keine Verfahrensregeln existieren und das Vorgehen nicht weiter beschrieben werden kann, kann niemand nachvollziehen, wie der Forscher von seinen empirischen Daten (. . .) zu seinen Schlussfolgerungen gelangt ist. (. . .) wissenschaftlicher Wert (. . .) eher gering (. . .).“.
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Dem Grundsatz nach erfolgte die Auswertung der Interviews daher in diesem Sinne. Was eine Verknüpfung qualitativer Interviews mit quantifizierenden Auswertungsbestandteilen anbelangt, so gibt es „Unterschiede bei der Auswertung solcher (qualitativer; Anm. d. Verf.) Interviews: Während die einen etwas näher beim quantitativen Paradigma liegen, betonen die anderen sehr extrem ihre qualitative Orientierung. Will man nur grob differenzieren, so kann man bei der Auswertung und Analyse von Interviews drei Formen extremtypisch gegenüberstellen: (1) Quantitativ-statistische, (2) interpretativ-reduktive und (3) interpretativ-explikative Form.“312
Ohne die im Rahmen dieser Arbeit zur Anwendung gelangte Auswertungsmethode einer dieser Formen oder aber anderweitig getroffenen Kategorisierungen begrifflich näher zuordnen zu wollen, wurde hier jedenfalls eine Verbindung von qualitativer mit quantitativer Auswertung praktiziert. Denn es sollten vorliegend nicht nur verschiedene qualitative Aussagen zu den jeweiligen Gesprächsinhalten gemacht, sondern darüber hinaus auch Quantifizierungen einzelner Interviewergebnisse vorgenommen werden313, nicht zuletzt um die erhaltenen Informationen und Ansichten insgesamt bestmöglich darstellen zu können. Hierzu ist eine – in methodischer Hinsicht zulässige314 – Transformation der Interviewinhalte in quantitative Daten vorzunehmen. Der „gemeinsam geteilte institutionell-organisatorische Kontext“ der sich äußernden Experten gewährleistet hierbei weitgehend die Möglichkeit zum Vergleich der Interviews.315 Speziell bei den originär „Statistik produzierenden“ Fragen beziehen sich die Antworten angesichts des einheitlich verwen312
Lamnek, S. 402. Siehe schon oben bei Fn. 148. 314 Lamnek, S. 7, 198; Rogge/Rogge, S. 101 („Qualitative Daten lassen sich [. . .] in quantitative Resultate überführen [. . .].“), siehe auch S. 245, 247; vgl. Mayring, Sozialforschung, S. 25, 37 f., 65, 134; Oswald, S. 71, 76 ff., 82; Schmidt, Auswertungstechniken, S. 560, 562 ff. bzw. dies., Leitfadeninterviews, S. 454 f., jeweils unter Angabe von Gründen (S. 563: Quantifizierungen innerhalb qualitativer Interviews „erhöhen die Transparenz bei der Darstellung der Ergebnisse“ bzw. S. 455: „Um zur Transparenz und Überprüfbarkeit einer qualitativen Studie beizutragen, [. . .].“); vgl. mit speziellem Bezug auch Friebertshäuser, Feldforschung, S. 516 („qualitativ erhobenes Material [lässt sich; Anm. d. Verf.] während der Auswertung quantifizieren“). 315 Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 488; dies., Experteninterviews, S. 453; dies., Expertise, S. 269; übernehmend Bogner/Menz, Experteninterview, S. 38; in Teilen übernehmend Nohl, S. 21. 313
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deten Leitfadens auf eine standardisierte Situation und sind auch insofern miteinander vergleichbar.316 Innerhalb der Auswertung wird indes an einigen Stellen zwischen den Gesprächsinhalten der Interviews mit Erwachsenenrichtern und denjenigen mit Jugendrichtern zu unterscheiden sein. 3. Gütekriterien Zu den klassischen Gütekriterien quantitativer empirischer Forschung gehören die Gesichtspunkte der Validität und der Reliabilität wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung.317 Nach allgemeiner quantitativer Begriffsdefinition betrifft die Validität oder „Gültigkeit“ einer Untersuchung den Grad der Genauigkeit, mit dem die Messung ein Merkmal, das es zu messen gilt, auch tatsächlich misst.318 Demgegenüber bezieht sich das Kriterium der Reliabilität, das heißt der „Zuverlässigkeit“ einer Untersuchung, gemäß quantitativer Terminologie auf die Stabilität der Messung sowie die Konstanz der Messbedingungen und ist somit ein Maß für die Reproduzierbarkeit der Messergebnisse.319 Allerdings ist die Anwendung derartig definierter quantitativer Gütekriterien auf – wie hier320 – qualitativ ausgerichtete Untersuchungen nicht angezeigt, da das „Wirklichkeitsverständnis“ der beiden Forschungsrichtungen hierfür zu verschieden ist; es lassen sich also nicht einfach die Güte316
Vgl. Aufenanger, S. 40. Atteslander, S. 330; Diekmann, S. 216; Hugl, S. 146; Kromrey, S. 193, 250; Lamnek, S. 143, 146; Mayring, Inhaltsanalyse, S. 109 f.; ders., Sozialforschung, S. 140; vgl. Friedrichs, S. 100 ff.; Mayer, S. 54; Stier, S. 51, 56. – Zum in quantitativen Forschungsvorhaben zusätzlich geforderten Gütekriterium der Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretations-Objektivität der Messung, das heißt der Unabhängigkeit der Messergebnisse vom jeweils tätigen Forscher, siehe etwa Lamnek, S. 173; Mayer, S. 88 mit Angabe weiterführender Lit.; vgl. hierzu auch Diekmann, S. 216 f. 318 Die Validität betrifft also die Frage, „ob das gemessen wird, was gemessen werden sollte“ (Friedrichs, S. 100; Mayer, S. 54 f., 172, vgl. auch S. 88; vgl. ferner Atteslander, S. 7, 228, 255, 330; Diekmann, S. 224; Hugl, S. 146; Kelle/Erzberger, S. 305; Kromrey, S. 389; Lamnek, S. 150; Mayring, Sozialforschung, S. 140 m. Nachw., S. 141; vgl. auch schon Mangold, S. 15). 319 Die Reliabilität gibt folglich an, „inwieweit bei einer wiederholten Messung unter gleichen Bedingungen das gleiche Ergebnis erzielt wird“ (Mayer, S. 55, vgl. auch S. 88, 176; vgl. ferner Atteslander, S. 7, 228, 255 f., 330; Diekmann, S. 217; Friedrichs, S. 102; Hugl, S. 146; Kromrey, S. 250 ff., 389, 394; Lamnek, S. 166; Mayring, Sozialforschung, S. 140 m. Nachw., S. 141; vgl. auch schon Mangold, S. 17 f.). 320 Siehe oben A. II. am Ende, III. 317
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maßstäbe quantitativer Forschung auch auf solche Projekte mit qualitativer Ausrichtung anwenden, vielmehr sind spezifische Gütekriterien zu entwickeln.321 Denn man kann etwa „nie abstrakt von der Gültigkeit eines Ermittlungsinstruments sprechen, sondern muß immer angeben, wofür es gültig sein soll.“322 Dies gilt unbeschadet dessen, dass die früheren Ausschließlichkeitsansprüche zwischen quantitativem und qualitativem Paradigma mehr und mehr überwunden zu sein scheinen.323 Auf dieser Grundlage wird „die Frage der Validität von qualitativer Forschung zu einer Frage, inwieweit die Konstruktionen des Forschers in den Konstruktionen derjenigen, die er untersucht hat, begründet sind (. . .) und inwieweit für andere diese Begründetheit nachvollziehbar wird (. . .). Damit wird das Zustandekommen der Daten ein Ansatzpunkt für die Bestimmung der Validität (. . .).“324
Die Validität behandelt dann die Fragestellung, „ob und inwieweit eine empirische Verfahrensweise dem Gegenstand angemessen, also adäquat ist“325, das heißt ob „die Interpretationen des Forschers (. . .) seiner (derjenigen des Gegenstandes; Anm. d. Verf.) Eigenstrukturiertheit Rechnung tragen“326. Insoweit kann insgesamt auf die bisherigen Ausführungen verwiesen werden. Desgleichen wird „das Kriterium der Reliabilität in Richtung einer Prüfung der Verlässlichkeit von Daten und Vorgehensweisen reformuliert, die sich aus der Spezifik qualitativer Methoden heraus begründen lässt. Andere Verständnisweisen von Reliabilität wie 321 Vgl. Flick, Sozialforschung, S. 329 f. m. Nachw.; ähnl. Mayring, Sozialforschung, S. 140 m. Nachw. („Einsicht [. . .], dass man nicht einfach die Maßstäbe quantitativer Forschung übernehmen kann. Gütekriterien qualitativer Forschung müssen neu definiert, mit neuen Inhalten gefüllt werden. Denn die Maßstäbe müssen zu Vorgehen und Ziel der Analyse passen [. . .].“) und hierauf zust. Bezug nehmend Mayer, S. 55; Steinke, S. 322 f., 324; ähnl. auch Flick, Sozialforschung, S. 390; Lamnek, S. 143, S. 144 („Methodologische Gütekriterien sind [. . .] kein einheitliches und allseits geteiltes Konzept; die Maßstäbe zur Beurteilung empirischer Forschungen sind heterogen.“); speziell hinsichtlich Befragungen ähnl. Kromrey, S. 394 ff. – Zur Entwicklung neuer, methodenspezifischer („methodenangemessener“) Kriterien siehe Kromrey, S. 330 ff., 333 ff., 342 f.; Mayring, Sozialforschung, S. 142 ff.; Steinke, S. 323 ff. (dort als „Kernkriterien qualitativer Forschung“ bezeichnet). 322 Mangold, S. 15 (Hervorhebungen im Original). 323 Vgl. oben A. I. 324 Flick, Sozialforschung, S. 323 f. – Vgl. auch Matt, S. 585 sowie das Kriterium „intersubjektiver Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses“ nach Steinke, S. 324 ff. (Hervorhebung im Original). 325 Vgl. so Bohnsack, S. 186 (Hervorhebung im Original), vgl. auch S. 17, 94, 188; vgl. ferner Matt, S. 586. 326 Vgl. so Bohnsack, S. 188.
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die häufige Wiederholbarkeit von Erhebungen mit denselben Daten und Resultaten sind dagegen zurückzuweisen.“327
Die so verstandene Reliabilität einer empirischen Untersuchung lässt sich etwa „auf dem Wege der Formalisierung der empirischen Verfahrensweise leisten, indem wir deren Arbeitsschritte i. S. einer ‚Methode‘ begrifflichtheoretisch explizieren“.328 Weiterhin „lässt sich die Reliabilität durch (. . .) eine Überprüfung von Leitfäden (. . .) in Probeinterviews oder nach dem ersten Interview“ erhöhen329, so dass sich insgesamt reliable Ergebnisse einstellen. Auch insoweit sei auf die bisherigen Ausführungen verwiesen. 4. Repräsentativität Betreffend die an einigen Stellen quantitativ ausgewerteten Fragestellungen des Interviewleitfadens stellt sich die Frage nach der Repräsentativität330 der ermittelten Ergebnisse. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang die sog. Grundgesamtheit331, also „diejenige Menge von Individuen, Fällen, Ereignissen (. . .), auf die sich die Aussagen der Untersuchung beziehen sollen“332, und die sog. Stichprobe333, ein „nach bestimmten statistischen Gesichtspunkten gebildeter Teil der Grundgesamtheit“334. 327 Flick, Sozialforschung, S. 322. – Hierauf zust. Bezug nehmend Mayer, S. 55; vgl. auch Mangold, S. 18 („Zuverlässigkeit betrifft [. . .] den Grad der formalen Genauigkeit von empirisch ermittelten Daten“). 328 Vgl. so Bohnsack, S. 186 (Hervorhebung im Original), vgl. auch S. 94, 188; vgl. ferner die speziell für qualitative Forschung vorgeschlagenen allgemeinen Gütekriterien der Verfahrensdokumentation und der Regelgeleitetheit nach Mayring, Sozialforschung, S. 144 f., 145 f. (siehe zu diesen – und weiteren – allgemeinen Gütekriterien auch Hugl, S. 149 f.; Lamnek, S. 146 ff.). 329 Flick, Sozialforschung, S. 321 m. Nachw. – Zu den im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Probeinterviews siehe unten D. II. 1. a) am Ende, zur Weiterentwicklung des Leitfadens während des Forschungsprozesses siehe oben B. IV. 1. b) bb) (4). 330 Repräsentativität ist neben Validität und Reliabilität (siehe dazu oben 3.) ein weiteres zentrales Gütekriterium – ursprünglich: quantitativer – empirischer Forschung. 331 Siehe dazu allg. Friedrichs, S. 128 f. 332 Kromrey, S. 261; ähnl. König/Bentler, S. 93; Mayer, S. 58, 172; Merkens, Stichproben, S. 98 Fn. 1. 333 Siehe speziell zur Stichprobenbildung für Experteninterviews Mayer, S. 37 ff.; siehe ferner aus dem spezifischen Schrifttum Merkens, Stichproben; siehe allg. Atteslander, S. 304 ff.; Diekmann, S. 325 ff.; Friedrichs, S. 123 ff. 334 Mayer, S. 175, vgl. auch S. 59; vgl. ferner Atteslander, S. 304; König/Bentler, S. 93; Mayring, Sozialforschung, S. 23; Merkens, Stichproben, S. 98 Fn. 1. – Im Rahmen des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes war indes keine besondere Auswahl etwa nach Alter, Geschlecht etc. erforderlich, vielmehr waren die Richter untereinander als gleichwertig zu beurteilen.
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Eine Stichprobe ist repräsentativ, wenn sie in der Verteilung aller relevanten Merkmale der Struktur der Grundgesamtheit entspricht, mit anderen Worten ein zwar verkleinertes, im Übrigen aber wirklichkeitsgetreues Gegenbild der Grundgesamtheit darstellt.335 Gewiss wird die hier vorgenommene Auswahl der Interviewpartner336 dem Anspruch an eine repräsentative Stichprobe, ein in diesem Sinne „verkleinertes Abbild der Grundgesamtheit“337 darzustellen, nicht in Gänze gerecht. Abgesehen von im Schrifttum ohnehin geäußerten grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der – häufig nur vermeintlichen – Repräsentativität von Stichproben338 war bei den geführten – dem Ansatz nach qualitativen – Interviews eine derartige Repräsentativität der Stichprobe im strengen empirischen, statistischen bzw. wahrscheinlichkeitstheoretischen Sinne aber auch gar nicht erforderlich.339 Zudem konnte und sollte für die an den Interviews teilnehmenden (Jugend-)Richter schon vom Forschungsansatz her nicht der Anspruch erhoben werden, diese seien statistisch repräsentativ für die Gesamtheit der am Landgericht Berlin oder gar bundesweit gegenwärtig landgerichtlich tätigen (Jugend-)Richter. Die vorliegende Untersuchung verfolgte vielmehr das 335 Lamnek, S. 182 f.; Mayer, S. 59, 174; ähnl. Atteslander, S. 304 f.; Lamnek, S. 265; Mangold, S. 28 f.; Mayring, Sozialforschung, S. 23; Rogge/Rogge, S. 178. – Zu den (wahrscheinlichkeitstheoretischen) Voraussetzungen statistischer Repräsentanz von Forschungsergebnissen siehe etwa Mangold, S. 28 ff. 336 Siehe dazu unten D. II. 1. b). 337 Friedrichs, S. 125; Lamnek, S. 265; Mayer, S. 59, vgl. auch S. 40; ähnl. Kromrey, S. 269; Rogge/Rogge, S. 177 f. Krit. zu dieser Begrifflichkeit Stier, S. 157 ff. 338 Siehe etwa Diekmann, S. 368 bzw. S. 369: „Die Redeweise von der ‚repräsentativen Stichprobe‘ ist nicht mehr als eine Metapher, eine bildhafte Vergleichung. In der Statistik ist der Begriff der ‚repräsentativen Stichprobe‘ kein Fachbegriff. Man spricht von Zufallsstichproben oder einer Wahrscheinlichkeitsauswahl, aber strenggenommen nicht von repräsentativen Stichproben.“ bzw. „Wenn man (. . .) bedenkt, daß ‚repräsentative Querschnitte‘ im Wortsinn nicht existieren, kann man mit einiger Berechtigung auch von einem Mythos der repräsentativen Stichprobe sprechen“; krit. zur oftmals unreflektiert postulierten Repräsentativität von Stichproben auch Stier, S. 157 ff. („Redeweise von einer ‚repräsentativen‘ Stichprobe im Grunde genommen als inhaltsleer zu apostrophieren“, S. 159). 339 Vgl. Lamnek, S. 384, vgl. auch allg. S. 183 f.; vgl. ferner Merkens, Auswahlverfahren, S. 291: „Es geht nicht darum, die Verteilung von Merkmalen in Grundgesamtheiten zu erfassen, sondern darum, die Typik des untersuchten Gegenstandes zu bestimmen (. . .).“; ders., Stichproben, S. 100: „An seine Stelle (diejenige des Kriteriums der statistischen Repräsentativität; Anm. d. Verf.) tritt die Forderung der inhaltlichen Repräsentation, die über eine angemessene Zusammenstellung der Stichprobe erfüllt werden soll.“, vgl. auch S. 104; hierauf zust. Bezug nehmend Mayer, S. 38 („Steht bei der Stichprobenbildung in der quantitativen Forschung die statistische Repräsentativität im Vordergrund, so ist in der qualitativen Forschung die Relevanz der untersuchten Subjekte für das Thema leitend, d.h. die inhaltliche Repräsentation.“), vgl. auch S. 40.
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Ziel, ein vergleichsweise umfangreiches Meinungsbild der am Landgericht Berlin tätigen (Jugend-)Richter zu den interessierenden Fragestellungen zu erheben.340 Diesbezüglich ist die Auswahl der Richter ohne weiteres als geeignet einzustufen.
D. Interviewbericht Der nachfolgende Abschnitt enthält Angaben zu dem für jedes Interview einzeln angefertigten Interviewbericht341. Dafür erfolgt zunächst ein Bericht über die Anzahl der insgesamt geführten Interviews. I. Anzahl der geführten Interviews Die Grundgesamtheit, das heißt „diejenige Menge von Individuen, Fällen, Ereignissen (. . .), auf die sich die Aussagen der Untersuchung beziehen sollen“342 – hier also die Menge der (Jugend-)Richter am Landgericht Berlin – betrug zum Zeitpunkt der Erhebung ausweislich des Geschäftsplans des Landgerichts Berlin343 N(ges) = 102 Richter aus 36 Kammern, davon N(jug) = 17 Jugendrichter aus sechs Jugendkammern.344 Von ihnen wurde im Zeitraum Oktober bis Dezember 2005 eine Stichprobe von n(ges) = 30 Richter aus 20 Kammern am Landgericht Berlin interviewt, davon n(jug) = zehn Jugendrichter aus fünf Jugendkammern. Die Interviews mit den Richtern bzw. Jugendrichtern liefen während des genann340 Vgl. insoweit auch die „Vorbemerkungen“ des verwendeten Leitfadens, abgedruckt im Anhang (dort unter A. I. bzw. II.). 341 Dieser ist nicht gleichbedeutend mit dem jeweils erstellten Gedächtnisprotokoll (zu letzterem siehe oben bei und in Fn. 303 ff.). 342 Zu Nachw. siehe oben Fn. 332. 343 Siehe „Geschäftsplan des Landgerichts Berlin 2005“ (Stand: 04.10.2005); von einem Abdruck im Anhang wurde abgesehen. Der jeweils aktuelle Geschäftsplan des Landgerichts Berlin kann abgerufen werden unter www.berlin.de/sen/justiz/ gerichte/lg. 344 Die angesichts der Anzahl der – mit je drei Richtern besetzten – Kammern anzumerkende mathematische Abweichung hinsichtlich der Gesamtzahl der Richter erklärt sich aus der Tätigkeit von sechs Richtern (davon ein Jugendrichter) in zugleich zwei Kammern. – Berücksichtigt wurden hierbei: große Strafkammern, erweiterte kleine Strafkammern, Jugendkammern und die Rehabilitierungskammer gemäß Rn. 103 des Geschäftsplans (= Gliederungspunkt IV. 1., S. 81 ff.) sowie die durch Präsidialbeschluss vom 15.08.2005 mit Wirkung vom 16.08.2005 zusätzlich errichtete Strafkammer 52 (siehe S. 117 des Geschäftsplans). Keine Berücksichtigung fanden demgegenüber die kleinen Strafkammern und die Strafvollstreckungskammern gemäß Rn. 104 bzw. Rn. 105 des Geschäftsplans (= Gliederungspunkt IV. 2., S. 105 ff. bzw. Gliederungspunkt IV. 3., S. 114 ff.).
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ten Zeitraumes parallel. Einschließlich der drei mit Erwachsenenrichtern geführten Probeinterviews345 wurden somit insgesamt 33 Interviews geführt. II. Inhaltliche Ausgestaltung Zur Sicherung der Informationen über die Art und Weise der Interviewanbahnung sowie die inneren und äußeren Umstände der geführten Gespräche ist für jedes Interview die Anfertigung eines Interviewberichts346 erforderlich, der zum einen die jeweilige Kontaktaufnahme und damit das Zustandekommen des Interviews beschreibt (dazu 1.), zum anderen seine konkreten Rahmenbedingungen wie Ort, Dauer und Verlauf festhält (siehe 2.) und somit insgesamt eine abschließende Bewertung der spezifischen Interviewsituation ermöglicht (3.).347 1. Kontaktaufnahme a) Erstkontaktierung In einem ersten Anlauf wurde – auch einschlägigen Empfehlungen in der Literatur folgend348 – versucht, sich mithilfe eines sog. gate-keeper („Türwächter“, „Schlüsselperson“) Zugang zum Feld zu verschaffen, wozu zunächst ein geeigneter Ansprechpartner am Landgericht Berlin349 ermittelt wurde. Ziel war es, auf diesem Wege insgesamt etwa 30 Richter, davon ca. ein Drittel Jugendrichter, für ein Gespräch zu gewinnen. Entsprechend methodischen Erwägungen, wonach die „erste Anfrage (. . .) am besten schriftlich“350 zu geschehen hat und „auf eine darauf folgende te345
Vgl. unten II. 1. a) am Ende. Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 392; vgl. Gläser/Laudel, S. 187; vgl. ferner Flick, Sozialforschung, S. 135, 138; Friedrichs, S. 211; Hugl, S. 230 (dort jeweils als „Postskript“ bezeichnet); vgl. auch Lamnek, S. 391 f.; Lueger, S. 195; Schmidt, Auswertungstechniken, S. 545 f. („Zusätzlich zu den Interviews wird der Erhebungsprozeß selbst zum Gegenstand der Analyse.“). 347 Der hier verwendete Interviewberichtsbogen ist im Anhang (dort unter B.) abgedruckt. – Siehe allg. zur Nachbereitung von Interviews Friebertshäuser, Interviewtechniken, S. 390, 392. 348 Vgl. Lueger, S. 60 ff.; Mayer, S. 45; Merkens, Auswahlverfahren, S. 288; ders., Stichproben, S. 101; vgl. auch Friebertshäuser, Feldforschung, S. 515 Fn. 27. 349 Hierbei handelte es sich um einen später ebenfalls interviewten Richter; Aspekte der Anonymität (vgl. oben bei und in Fn. 260 f.) stehen einer genaueren Bezeichnung des gewählten Ansprechpartners entgegen. 350 Vgl. Meuser/Nagel, Das Experteninterview, S. 487; dies., Expertise, S. 269 (jeweils wörtliches Zitat); vgl. ferner Diekmann, S. 416; Mayer, S. 100; aus der Praxis Stackelbeck, S. 41. 346
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
lefonische Terminvereinbarung“ abzielen sollte351, wurde dabei der Versuch unternommen, durch ein gemeinsam mit dem Ansprechpartner erstelltes und die wichtigsten Informationen enthaltendes Rundschreiben das Einverständnis einer genügenden Anzahl von Interviewpartnern zu erlangen. Hierauf erklärten sich indes lediglich drei Erwachsenenrichter (inklusive des Ansprechpartners) zu einem Interview bereit. Dies entspricht einer Rücklaufquote von insgesamt 2,9 % bzw. 0 % bei den Jugendrichtern. Über die genauen Hintergründe für diese unerwartet niedrige Quote kann nur spekuliert werden, wenngleich sich im Zusammenhang mit der sodann erfolgten Zweitkontaktierung (dazu im Anschluss) zumindest einige Anhaltspunkte ergaben.352 Die drei sich aus der Erstkontaktierung ergebenden Interviewtermine mit Erwachsenenrichtern wurden (dennoch) durchgeführt, namentlich zur Erprobung der Interviewsituation im Allgemeinen sowie der Verständlichkeit und Vollständigkeit des Leitfadens im Besonderen (sog. Probeinterviews353).354 Um die Kontaktaufnahme bei den – zumal in Teilen auch statistisch – ausgewerteten Interviews einheitlich zu gestalten, wurden diese drei Interviews abgesehen von einigen inhaltlichen Stellungnahmen355 nicht in die Auswertung mit einbezogen. b) Zweitkontaktierung Die ursprünglich geplante Kontaktaufnahme mittels Rundschreiben hatte wie geschildert entgegen den Erwartungen keinen hinreichenden Erfolg. Daher wurden in einem zweiten Anlauf die potentiellen Interviewpartner persönlich kontaktiert.356 Diese persönliche Kontaktaufnahme fand unmit351 Vgl. Meuser/Nagel, Expertise, S. 269 (wörtliches Zitat); vgl. ferner die in der vorherigen Fn. 350 aufgeführten Nachweise. 352 Desöfteren genannt wurde etwa, dass im Jahreslängsschnitt zu viele derartiger Schreiben im Umlauf seien und daher die Ablehnung eines Interviewwunsches ohne vorherige inhaltliche Prüfung schon aus zeitlichen Gesichtspunkten besonders nahe liege. 353 Vgl. oben B. IV. 1. b) bb) (4) am Ende. 354 Speziell mit Jugendrichtern wurden keine solchen Probeinterviews geführt, da der auf Grund der zahlenmäßigen Begrenztheit der Interviewpartner (siehe oben I.) faktisch deutlich erschwerte Zugang dem entgegengestand. Ohnehin befanden sich die angewendeten Leitfäden zu weiten Teilen in Übereinstimmung [vgl. oben B. IV. 1. b) bb) (2) (a) und (b) sowie im Anhang unter A. I. und II.], weshalb ein derartiges Vorgehen insgesamt als entbehrlich angesehen werden konnte. 355 Entsprechende Gesprächsinhalte aus diesen (Probe-)Interviews sind gesondert ausgewiesen (als lfd. Nrn. P1, P2 bzw. P3). 356 Vgl. dazu Esser, S. 115: „scheint sicher, daß allein der persönliche Kontakt des Interviewers (. . .) einen unmittelbaren ‚Zwang zu Interaktion‘ setzt, der nur schwer durchbrochen wird“.
3. Kap.: Das Experten-Interview
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telbar vor Ort im Landgericht Berlin357 und dort am jeweiligen Dienstzimmer statt, in wenigen Fällen zunächst über die Geschäftsstelle der entsprechenden Kammer. Innerhalb des in diesem Rahmen geführten kurzen (Vor-)Gesprächs wurden das nähere Anliegen der Untersuchung dargelegt und dessen Verwirklichung mit (Experten-)Interviews erläutert. Zudem wurden die in etwa geplante Länge der Interviews – je nach Verlauf ca. 40–50 Minuten – angegeben, umfassende Anonymität zugesichert und auf die nicht erfolgende Tonbandaufzeichnung hingewiesen, um die Ablehnung eines Interviewwunsches im Zusammenhang mit einem dieser – mutmaßlich häufigen – Versagungsgründe nach Möglichkeit ausschließen zu können. Abschließend erfolgte bei entsprechender Bereitschaft eine Terminvereinbarung zum Interview. Die Auswahl der kontaktierten Richter erfolgte zufällig, das heißt ohne Rücksicht auf Kammerzugehörigkeit, Position, Alter, Geschlecht und ähnliche Merkmale der Richter, vielmehr allein auf der Grundlage einer alphabetisierten Namensliste, die anhand des Geschäftsplans des Landgerichts Berlin358 erstellt worden war. Es kam also ein zufallsgesteuertes Auswahlverfahren zur Anwendung, bei dem für jedes Element der Grundgesamtheit – hier: für jeden (Jugend-)Richter am Landgericht Berlin gemäß Geschäftsplan – eine im Grundsatz gleiche Wahrscheinlichkeit bestand, in die Auswahl aufgenommen zu werden.359 Bei den auf dieser Grundlage erfolgten Interviewanfragen erklärten sich 71,4 % der Erwachsenenrichter360 und 58,8 % der Jugendrichter361 zu einem Interview bereit. Dies entspricht einer – nunmehr innerhalb der Erwartungen liegenden362 – Zustimmungsquote von zusammen genommen 66,6 %, 357 Postalische Anschrift und Zugang: Turmstraße 91 bzw. Wilsnacker Straße 4, 10559 Berlin-Tiergarten. 358 Siehe dazu oben Fn. 343. 359 Sog. einfache Zufallsstichprobe bzw. reine Zufallsauswahl, vgl. Atteslander, S. 305 f. und Diekmann, S. 330 f. bzw. Mayer, S. 60; vgl. auch Esser, S. 110; Rogge/Rogge, S. 177 f. Demgegenüber handelte es sich der Klassifizierung von Stier, S. 117, 125 ff., 133 f. zufolge um ein gemischtes, gleichsam „willkürlichzufallsgesteuertes“ Auswahlverfahren. – Siehe zum Ganzen Kromrey, S. 271 ff. 360 Von 28 Erwachsenenrichtern lehnten sieben Richter ein Interview ausdrücklich ab, zudem hätte eines der zunächst zeitnah vereinbarten Gespräche auf Grund terminlicher Engpässe des Interviewpartners sodann erst deutlich außerhalb des Untersuchungszeitraumes (siehe dazu oben I.) stattfinden können. 361 Bei 17 Jugendrichtern ergaben sich sechs Absagen, wobei auch hier (vgl. vorherige Fn. 360) eines der zunächst zeitnah vereinbarten Interviews infolge terminlicher Engpässe des Interviewpartners letztlich nicht durchgeführt wurde. 362 Vgl. dazu etwa Diekmann, S. 189 zur Erfolgssquote speziell bei Telefoninterviews: „Meist wird man auch bei erheblichen Anstrengungen bei nicht mehr als 60 bis 70 % der Zielpersonen (= Ausschöpfungsquote) ein Interview realisieren kön-
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das heißt mit lediglich jedem dritten kontaktierten Richter konnte letztlich kein Interview geführt werden.363 2. Aspekte der Erhebungssituation Als Aspekte der Erhebungssituation364 ist auf den Ort, die Dauer und den konkreten Verlauf der Interviews einzugehen. Die Interviews wurden am Arbeitsort der Interviewten, das heißt im Landgericht Berlin, und dort im jeweiligen Dienstzimmer geführt. Mit den Erwachsenenrichtern dauerten die Interviews zwischen minimal ca. 30 bzw. 35 Minuten und maximal etwa 100 bzw. 120 Minuten bei einer durchschnittlichen Dauer von gut einer Stunde365. Speziell bei den Jugendrichtern lag die Dauer der Interviews im Durchschnitt bei knapp einer Stunde366, wobei das kürzeste Interview etwa 30 Minuten367, die beiden längsten ca. 80 Minuten dauerten. Insgesamt ergibt sich damit eine durchschnittliche Interviewdauer von knapp 61 Minuten. Hinsichtlich des konkreten Verlaufs der Interviews wurden äußere und innere Störfaktoren auf dem jeweiligen Interviewberichtsbogen festgehalten. Äußere Störungen etwa in Form von kurzen telefonischen oder anderweitigen Unterbrechungen kamen recht häufig vor, haben aber den Ablauf und die Intensität der Interviews nicht weiter beeinträchtigt, da anschließend unproblematisch an den vorherigen Gesprächsstand angeknüpft werden konnte. Der ferner angefertigte Vermerk etwaiger innerer Störfaktoren sollte Aufschluss über die dem jeweiligen Gesprächspartner während des Interviews anzumerkende Bereitschaft bzw. -willigkeit geben, auf die gestellten Fragen des Leitfadens zu antworten. nen.“ – Zu möglichen Faktoren einer (signifikant erhöhten) Sekundärmotivation von Experten hinsichtlich der Teilnahme an einem solchen Interview siehe Bogner/ Menz, Expertenwissen, S. 8 f. 363 Aus den insgesamt erfolgten 45 Interviewanfragen resultierten 13 Absagen und zwei letztlich doch nicht durchgeführte Gespräche (vgl. dazu Fn. 360 und 361). Als Grund für erteilte Absagen wurde insbesondere (insgesamt sieben Richter, davon drei Jugendrichter) mangelnde Zeit infolge einer (zu) hohen Arbeitsbelastung genannt. – Allg. zu möglichen Verweigerungsgründen siehe Esser, S. 114 ff. 364 Siehe hierzu allg. Friedrichs, S. 147 ff. und speziell betr. Interviews S. 215 ff. 365 Die insgesamt ca. 1260 Interviewminuten ergeben bei 20 geführten Gesprächen eine Dauer von durchschnittlich ca. 63 Minuten. 366 Bei insgesamt ca. 505 Gesprächsminuten der neun geführten (und ausgewerteten, siehe dazu unten 3.) Interviews beträgt die durchschnittliche Dauer ca. 56 Minuten. 367 Eines der Interviews, das lediglich ca. 15 Minuten dauerte, wurde nicht in die Auswertung einbezogen (vgl. dazu unten bei und in Fn. 372).
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3. Bewertung der spezifischen Interviewsituation Eine den Interviewberichtsbogen abschließende Bewertung der spezifischen Interviewsituation368 lässt unter Berücksichtigung insbesondere der Dauer des jeweiligen Interviews369 sowie von etwaigen äußeren und inneren Störfaktoren370 Rückschlüsse auf die Verwertbarkeit der Interviews371 zu. Unter Beachtung dieser Kriterien fiel die Bewertung für eines der geführten Interviews negativ aus.372 Aus der genannten Stichprobe von n(ges) = 30 Richter aus 20 Kammern373 wurden daher letztlich nur 29 Interviews mit Richtern aus 19 Kammern in die Datenauswertung einbezogen, davon neun Interviews mit Jugendrichtern aus vier Jugendkammern.
368 Zu Interaktionsstrukturen im Interview mit Experten, der Wahrnehmung des Interviewers durch den Experten gemäß einer von sechs Basiskategorien (als Co-Experten, Experten einer anderen Wissenskultur, Laie, Autorität, potentiellen Kritiker oder Komplizen) und einem etwaigen methodischen (Aus-)Nutzen dieser Interaktionstypologie im Rahmen der konkreten Interviewführung siehe Bogner/Menz, Experteninterview, S. 47 ff., 50 ff., 60 ff.; zu Rollenbeziehungen im Interview siehe auch schon Maccoby/Maccoby, S. 56 ff. 369 Dazu oben 2. b). 370 Dazu oben 2. c). 371 Siehe zu speziellen Fragen der Verwertbarkeit von Interviews Aufenanger, S. 44 ff. – Allg. zu Fehlerquellen im Interview siehe ausf. Diekmann, S. 382 ff. unter systematisierender Einteilung in drei Fehlerquellenkategorien („Befragtenmerkmale“, „Fragemerkmale“ sowie „Merkmale des Interviewers und der Interviewsituation“; dazu S. 382 ff., S. 391 ff. sowie S. 399 ff.); zu Problemen des Interaktionsverhältnisses im Interview hinsichtlich des Befragten siehe ferner Esser, S. 118 ff., zu solchen hinsichtlich des Interviewers Stier, S. 185 f.; zu Quellen von Interviewerfehlern siehe auch schon Maccoby/Maccoby, S. 72 ff., zu solchen und spezifischen Kontrollmöglichkeiten Erbslöh/Wiendieck, S. 89 ff.; allg. zu Grenzen messtheoretischer Neutralität von Befragungen siehe van Koolwijk, S. 18 ff. – Zu möglichen Ursachen und Formen des Misslingens speziell von Experteninterviews Meuser/Nagel, Experteninterviews, S. 449 ff. 372 Die Durchsicht der Interviewberichtsbögen ergab, dass eines der geführten Gespräche (Experteninterview lfd. Nr. J10) in Anbetracht seiner – gegenüber dem Durchschnittswert der übrigen Interviews (siehe oben bei und in Fn. 366 f.) deutlich abfallenden – Dauer von lediglich knapp 15 Minuten und entsprechender inhaltlicher Oberflächlichkeit sowie angesichts eines insgesamt eher „reservierten“ Auftretens des Interviewpartners nicht verwertbar erschien. 373 Siehe oben I.
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3. Teil: Zu Methodik und Praxis der empirischen Erhebung
Viertes Kapitel
Schlussbetrachtung zum Dritten Teil So wie es den Experten374 und das Interview375 nicht gibt, lässt sich auch nicht von dem Experteninterview sprechen376. Mit anderen Worten: „Experteninterviews“ können nicht als eigenständiges methodisches Instrument mit starren und verallgemeinerungsfähigen Verfahrensregeln aufgefasst werden.377 Vielmehr handelt es sich hierbei letztlich um ein „Interview“, und zwar ein solches mit „Experten“. Dem entspricht es, dass die im Rahmen dieser Arbeit geführten Interviews einer eigenen Klassifizierung zugeführt378 und die erhaltenen Informationen mit einer ganz speziellen Auswertungsmethodik analysiert379 wurden.
374
Siehe oben 2. Kap. A. II. 3. Siehe oben bei und in Fn. 219. 376 Bogner/Menz, Experteninterview, S. 67; dies., Expertenwissen, S. 20. – Hinsichtlich spezieller (journalistischer) Thematik a. A. Haller, S. 197, wonach unter einem Experten-Interview allgemein die „Befragung von Fachleuten zu einem ungeklärten und/oder strittigen Geschehen“ zu verstehen sei; das Experten-Interview dient hiernach „der Aufklärung und Deutung ungeklärter/unverstandener Vorgänge und Sachverhalte“ (S. 152). 377 Deeke, S. 7 f., vgl. auch S. 14, 21; Kassner/Wassermann, S. 103 ff. und dabei insb. S. 104, 108; Vogel, S. 73, 82; einschr. Bogner/Menz, Experteninterview, S. 39: „Der Einwand liegt nahe, Experteninterviews seien in unzulässiger Weise über den Forschungsgegenstand beziehungsweise den Gesprächspartner definiert und daher keine eigenständige Methode“; Trinczek, Managerbefragung, S. 209 Fn. 2; insg. zur Kritik siehe Trinczek, Experteninterviews, S. 59; ders., Managerbefragung, S. 209 f., 221; a. A. („eigenständige Methode“) Pfadenhauer, S. 113; in diesem Sinne auch Walter, S. 271, dessen geäußertes Ziel es ist, „die methodologischen Grundlagen dieses Forschungsinstruments (zu; Zusatz durch Verf.) beleuchten“; vgl. ferner Meuser/Nagel, Expertenwissen, S. 191. 378 Siehe oben 3. Kap. B. 379 Dazu oben 3. Kap. C. 375
Vierter Teil
Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung Nach den Ausführungen im Dritten Teil zu Methodik und Praxis der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten empirischen Erhebung (Experteninterviews) folgen nun Überlegungen hinsichtlich der dogmatischen Fragen, die sich im Rahmen der gewählten Untersuchungthematik ergeben haben. Es stellte sich hier zunächst die Frage, ob eine medienöffentliche Vorverurteilung in einschlägigen Fällen in der Strafzumessung oder anderweitig zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen ist. Angesichts der Schwere der für den von einer vorverurteilenden Medienberichterstattung betroffenen Beschuldigten im Einzelfall resultierenden Beeinträchtigungen380 war diese Frage zu bejahen381. Der vierte Teil wendet sich der Frage zu, wie eine derartige Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichterstattung zugunsten des Betroffenen auf strafjustizieller Ebene erfolgen könnte. Insoweit wird das Zweite Kapitel das hier vertretene Konzept einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung, das Dritte Kapitel eine damit in Zusammenhang stehende Berücksichtigung strafprozessualer Art zum Inhalt haben. Zuvor jedoch soll im Ersten Kapitel auf etwaige weitere Möglichkeiten staatlicher Reaktion in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung eingegangen werden. Erstes Kapitel
Mögliche Reaktionsebenen und -arten Ebenen und Arten staatlicher Reaktion auf medienöffentliche Vorverurteilungen können sich sowohl de lege lata (A.) als auch de lege ferenda (B.) ergeben.
380 381
Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4., II. Siehe oben bei Fn. 98.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
A. Betrachtung de lege lata Nachfolgend soll – unter Heranziehung einschlägiger Literatur – der Frage nachgegangen werden, ob de lege lata bereits anderweitig eine angemessene staatliche Reaktion auf die Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung ermöglicht wird. Zunächst ist festzustellen, dass zu diesem Themenkomplex insgesamt bislang nur wenig spezifische Literatur existiert. Zwar erbat der Deutsche Bundestag bereits Mitte der Achtziger Jahre im Rahmen der sog. Parteispenden-Affäre382 eine Stellungnahme der Bundesregierung dazu, „ob der Grundgedanke des angelsächsischen Prozeßrechts, daß öffentliche Vorverurteilungen ein faires Verfahren nicht erschweren dürfen, in das deutsche Strafprozeßrecht übernommen werden kann“383 (sog. contempt by publication als Ausprägung des anglo-amerikanischen Rechtsinstituts contempt of court384). Die damaligen Ergebnisse385 der durch den Bundesminister der Justiz diesbezüglich konsultierten Interessengruppierungen386 könnten auf Grund der sich stets verändernden tatsächlichen wie rechtlichen Situation zwar nicht ohne weiteres auf die heutige Zeit übertragen werden, aber doch zumindest als Ausgangspunkt und Richtschnur der Überlegungen dienen. Indes behandeln sie durch den vorgegebenen übergeordneten Gesichtspunkt des fairen Verfahrens in perspektivischer Hinsicht eine andere Ebene387 und erweisen sich daher im vorliegenden Zusammenhang als ungeeignet. 382
Ausf. dazu Neuling, S. 173 ff.; Wagner, Strafprozessführung, S. 118 ff. Siehe BT-Drs. 10/1496, Antrag v. 24.5.1984; vgl. dazu Der Bundesminister der Justiz, Az. 4100/21 – 65 686/84 v. 31.7.1984, S. 1; Hassemer, in: NJW 1985, S. 1921; Jahn, S. 7; Dalbkermeyer, S. 161 f. 384 Dazu schon Scherer, in: JuS 1979, S. 470 ff., 472; ausf. zum contempt of court etwa Stürner, in: JZ 1978, S. 161 ff.; zum Prinzip des fairen Verfahrens als „Fundament aller Grundsätze des rechtsstaatlichen Strafprozesses“ siehe Albrecht, Kriminologie, S. 120 ff.; zur „fair trial“-Maxime siehe ferner Neuling, S. 122 ff., 166 ff. 385 Siehe Bericht der Bundesregierung, BT-Drs. 10/4608 v. 27.12.1985, S. 1 ff. – Im Rahmen der Bitte um „umfassende Prüfung der Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Form ‚öffentlichen Vorverurteilungen‘ und ihren Auswirkungen auf Strafverfahren und deren Ergebnis begegnet werden kann“ (Der Bundesminister der Justiz, Az. 4100/21 – 65 686/84 v. 31.7.1984, S. 1), sollte insbesondere zu folgenden Fragen Stellung genommen werden: „1. Einschätzung der gegenwärtigen tatsächlichen Situation (. . .) 2. Bewertung der Möglichkeiten des geltenden Rechts (. . .) 3. Besteht ein Regelungsbedarf, bejahendenfalls auf welchen Gebieten besonders? 4. Einschätzung etwaiger neuer Vorstellungen (. . .)“ (Der Bundesminister der Justiz a. a. O., S. 3). 386 Namentlich die „von diesem Phänomen in erster Linie berührten Berufsgruppen der Journalisten, Verteidiger, Richter und Staatsanwälte“ (Der Bundesminister der Justiz a. a. O., S. 1). 383
1. Kap.: Mögliche Reaktionsebenen und -arten
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(Weitere) Bestandsaufnahmen aus der älteren388 und jüngeren389 Vergangenheit haben ergeben, dass die als relevant erkannten Regelungen und Regelungsbereiche des Straf- (StGB), Strafprozess- (StPO), Gerichtsverfassungs(GVG), Zivil- (BGB), Medien- (Pressekodex) und nicht zuletzt auch des Verfassungsrechts (GG) für den Beschuldigten lediglich unzureichende Reaktionen und Reaktionsmöglichkeiten dafür bereit halten, die aus einer Vorverurteilung resultierenden Schäden und Nachteile adäquat auszugleichen.390 Dies gilt für Regelungen des materiellen Strafrechts etwa hinsichtlich der Beleidigungstatbestände der §§ 185 ff. StGB, die nur dem hinsichtlich des (mutmaßlichen) Tatgeschehens letztlich freigesprochenen, nicht aber dem diesbezüglich rechtskräftig verurteilten Beleidigten zugute kommen können391 sowie der Strafvorschrift des § 353d Nr. 3 StGB, der schon infolge ihrer inhaltlich auf Mitteilungen „im Wortlaut“ beschränkten Strafbewehrung ein nur sehr enger Anwendungsbereich verbleibt392.393 387 Ausdrücklich Bericht der Bundesregierung, BT-Drs. 10/4608 v. 27.12.1985, S. 4: „Daß ‚öffentliche Vorverurteilungen‘ auch (. . .) das Ansehen der davon Betroffenen beeinträchtigen und ihr berufliches Fortkommen erheblich behindern können, wird (. . .) nicht verneint. Diese Frage nach einer Verbesserung des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes liegt aber außerhalb des durch den Berichtsauftrag in erster Linie erfaßten strafverfahrensrechtlichen Bereichs“; siehe auch die insoweit seitens des Bundesministers der Justiz zugrunde gelegte Arbeitsdefinition (oben 2. Teil 1. Kap. A. I.). 388 Hassemer, in: NJW 1985, S. 1927 ff.; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 428 f.; Roxin, in: NStZ 1991, S. 155 ff.; Jahn, S. 9, 11 f., 14. 389 Schulz, S. 52 ff. – Zum Rechtsschutz des Beschuldigten speziell im Ermittlungsverfahren ausf. Neuling, S. 221 ff. 390 Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1927, demzufolge der Betroffene sich nur „meist zu spät und mit zu schwachen Mitteln“ zur Wehr setzen kann; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 431, wonach „Maßnahmen und Regelungen weder vorhanden noch ersichtlich sind“; Roxin, in: NStZ 1991, S. 156, der zu dem Ergebnis kommt, dass es sich bei den seinerseits zu diesem Problemkreis durchleuchteten Vorschriften „um ‚weiche‘ Regelungen handelt, die teils umgehbar, teils unverbindlich, teils von sehr beschränkter Reichweite sind“; vgl. auch Schaefer, in: NJW 1996, S. 497; gemäß dem Ergebnis der Bestandsaufnahme von Schulz, S. 90 ist das Resultat der Prüfung ebenfalls „wenig ermutigend“; anders Jahn, S. 18; nun wohl auch Hassemer, Strafverfahren, S. 68. 391 Siehe § 190 S. 1 StGB. Eine gewichtige (einschränkende) Rolle spielt zudem § 193 StGB als Ausfluss von Art. 5 GG. – Ebenso Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 428 f.; Schulz, S. 52 f.; vgl. auch Jahn, S. 9. 392 Vgl. dazu etwa Fischer, StGB, § 353d Rn. 6; zu einem der (seltenen) einschlägigen Fälle siehe etwa OLG Stuttgart NJW 2004, 622 f. – Ebenso Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 428; Roxin, in: NStZ 1991, S. 156; Weiler, in: StraFo 2003, S. 186; Neuling, S. 226 f.; Schulz, S. 56 ff.; vgl. Bornkamm, in: NStZ 1983, S. 103 Fn. 4. 393 Zum hier vertretenen Konzept einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung siehe unten 2. Kap.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Im Bereich des Strafprozessrechts betrifft beispielsweise die in Teilen der Literatur394 erwogene Annahme eines – gemäß §§ 170 Abs. 2, 204, 206a, 260 Abs. 3 StPO zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens möglichen – Verfahrenshindernisses wiederum eine gleichsam übergeordnete Ebene, namentlich diejenige der Beeinträchtigung eines fairen Verfahrens an sich, und erweist sich daher im vorliegenden Zusammenhang als ungeeignet.395 Denn Inhalt eines Verfahrenshindernisses können allgemein nur solche Umstände sein, die nach dem – wenn nicht ausdrücklichen, so doch zumindest aus der Systematik ersichtlichen – Willen des Gesetzes so schwer wiegen, dass von ihrem (Nicht-)Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens in seiner Gesamtheit abhängig gemacht werden muss396; das ist aber bei der im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen perspektivischen Ausrichtung des Begriffs der „medienöffentlichen Vorverurteilung“ einzig und allein auf den Beschuldigten397 gerade nicht der Fall. Mit anderen Worten ist unter dem hier gewählten Blickwinkel nicht das Verfahren selbst „vergiftet“ und daher als solches undurchführbar, sondern vielmehr ist der Beschuldigte durch eine vorverurteilende Medienberichterstattung über Gebühr beeinträchtigt worden und dies – in noch zu ermittelnder Art und Weise – zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.398 § 169 S. 2 GVG, wonach Rundfunk- und Fernsehaufnahmen der Gerichtsverhandlung für Zwecke ihrer öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhaltes nicht zulässig sind, sowie die Regelungen betreffend den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß §§ 171a ff. GVG399 394 Vgl. ausf. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1927 f.; Wohlers, in: StV 2005, S. 189 ff.; Schulz, S. 111 ff., 123; vgl. ferner BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 517; Kissel/Mayer, GVG, § 16 Rn. 69; Gatzweiler, in: StraFo 1995, S. 66 f.; Hillenkamp, in: NJW 1989, S. 2844 f., 2849; nur in absoluten Ausnahmefällen: Weiler, in: GA 1994, S. 571 f. („wenn staatliche Stellen die Medien benutzen“ und damit „regelmäßig nicht in Betracht“ kommend), ders., in: ZRP 1995, S. 136 und ders., in: StraFo 2003, S. 191; dagegen Deutscher Juristentag, in: NJW 1990, S. 2992 (Abt. Medienrecht, Beschl. IV. 11c); Widmaier/Krause, § 7 Rn. 64; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 17; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430; Roxin, in: NStZ 1991, S. 153 f.; Jahn, S. 14; Dalbkermeyer, S. 226 ff., 228, 231; siehe auch MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 55 („eher fern liegend“) und allg. Rieß, in: JR 1985, S. 48. 395 Anders Experteninterviews lfd. Nrn. E3 und E4; wie hier lfd. Nrn. E2, E5 und E8 sowie P2. – Vgl. zu dieser Thematik Frage II. 6. des Interviewleitfadens. 396 BGHSt 15, 287 (290); 32, 345 (350); 33, 183 (186); 36, 294 (295); 41, 72 (75); Rieß, in: JR 1985, S. 45, 46 f.; Dalbkermeyer, S. 227; vgl. BGHSt 24, 239 (240); Pfeiffer, StPO, § 206a Rn. 4; Hillenkamp, in: NJW 1989, S. 2847; Schulz, S. 123 ff., 125. 397 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. II. 398 Zum hier vertretenen Konzept einer Anknüpfung im Strafprozessrecht siehe unten 3. Kap.
1. Kap.: Mögliche Reaktionsebenen und -arten
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gewährleisten ebenfalls keinen hinreichenden Schutz des Betroffenen vor den Beeinträchtigungen einer medienöffentlichen Vorverurteilung.400 Auch Vorschriften des Zivilrechts, etwa die Regelungen betreffend Schadensersatz, Widerruf und Unterlassung gemäß den §§ 823, 826, 1004 BGB, vermögen einschlägigen Untersuchungen zufolge401 erlittene Beeinträchtigungen nicht adäquat auszugleichen. Was die Vorschriften des Pressekodex402 anbelangt, so wird unter Ziffer 13 („Unschuldsvermutung“) bestimmt: „Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“
Und die beigeordnete Richtlinie 13.1 besagt hierzu konkretisierend: „Die Berichterstattung über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dient der sorgfältigen Unterrichtung der Öffentlichkeit über Straftaten und andere Rechtsverletzungen, deren Verfolgung und richterliche Bewertung. Sie darf dabei nicht vorverurteilen. Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn sie ein Geständnis abgelegt hat und zudem Beweise gegen sie vorliegen oder wenn sie die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind. Ziel der Berichterstattung darf in einem Rechtsstaat nicht eine soziale Zusatzbestrafung Verurteilter mit Hilfe eines ‚Medien-Prangers‘ sein. Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden.“403
Trotz inhaltlicher Passgenauigkeit voranstehender Kodexpassagen auf Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung wird schon dadurch, dass der Pressekodex ausweislich seiner Bestimmung als „Freiwillige Selbstkontrolle gedruckter Medien“ einerseits nicht für alle Medien Geltung beanspruchen kann, andererseits nicht mit nach außen gerichteter Rechtsverbindlichkeit ausgestattet ist, insgesamt kein angemessener Schutz des Betroffenen vor medienöffentlicher Vorverurteilung gewährleistet. Dass der Pressekodex allgemein die „Wahrung der journalistischen Berufsethik“ sicherstellen soll, relativiert sich zudem erheblich angesichts des Umstandes, dass Entschei399 Allg. zum Grundsatz der Öffentlichkeit siehe etwa Kissel/Mayer, GVG, § 169 Rn. 1, 8 ff.; Meyer-Goßner, StPO, § 169 GVG Rn. 1, 3 ff.; jeweils m. w. N. 400 Ausf. dazu Schulz, S. 61 f., S. 62 ff.; vgl. Roxin, in: NStZ 1991, S. 156. 401 Siehe Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 429; Schulz, S. 72 ff., 76; vgl. OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (601); Weiler, in: ZRP 1995, S. 133; anders Roxin, in: NStZ 1991, S. 157, 160. 402 Deutscher Presserat, Pressekodex. 403 Deutscher Presserat, Pressekodex, Richtlinie 13.1 – Vorverurteilung.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
dungen des Presserats ohne spürbare Konsequenzen bleiben404 und es sogar den Anschein hat, als ob manche Medien insbesondere des sog. Boulevards den Ausspruch derartiger Rügen eher noch als zusätzlichen Ansporn betrachten, auch weiterhin in entsprechender Art und Weise zu berichten.405 Hinzu kommt, dass der zum 01. Januar 2007 neu gefasste Pressekodex im Vergleich zu seiner bisherigen Fassung den Betroffenen deutlich weniger vor einer verfrühten medialen Bezeichnung als „Täter“, „Schuldiger“ etc. in Schutz nimmt.406 Zuletzt ist auch denjenigen Vorschriften der RiStBV, die sich explizit mit der Vermeidung unnötiger Beeinträchtigungen des Beschuldigten auseinandersetzen – während des Ermittlungsverfahrens namentlich die Richtlinien Nr. 4a („Keine unnötige Bloßstellung des Beschuldigten“)407 und Nr. 23 („Zusammenarbeit mit Presse und Rundfunk“)408 sowie in der Phase der Hauptverhandlung die auch in vorgenannter Richtlinie in Bezug genommene Nr. 129 („Berichterstattung durch Presse und Rundfunk“)409 –, auf 404 Als schärfste Sanktion kann der Presserat gegen die dem Pressekodex beigetretenen Publikationsorgane lediglich „öffentliche Rügen“– verbunden mit einer Verpflichtung zum Abdruck – aussprechen. 405 Vgl. insg. Jahn, S. 11 f., 15; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 429; Roxin, in: NStZ 1991, S. 156; Schulz, S. 80 f. 406 Ziffer 13 und die sie konkretisierende Richtlinie 13.1 des Pressekodex des deutschen Presserats in der bis 31. Dezember 2006 gültigen Fassung (abrufbar unter: www.presserat.de/Pressekodex.8.0.html) lauteten noch: „(. . .). Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt werden. (. . .).“ bzw. „(. . .). Bis zu einer gerichtlichen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung, auch im Falle eines Geständnisses. Auch wenn eine Täterschaft für die Öffentlichkeit offenkundig ist, darf der Betroffene bis zu einem Gerichtsurteil nicht als Schuldiger im Sinne eines Urteilsspruchs hingestellt werden. (. . .).“. 407 Nr. 4a RiStBV trägt folgenden Wortlaut: „Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann. Das gilt insbesondere im Schriftverkehr mit anderen Behörden und Personen. Sollte die Bezeichnung des Beschuldigten oder der ihm zur Last gelegten Straftat nicht entbehrlich sein, ist deutlich zu machen, daß gegen den Beschuldigten lediglich der Verdacht einer Straftat besteht.“. 408 Im vorliegenden Zusammenhang relevant sind insbesondere folgende Ausschnitte von Nr. 23 Abs. 1 RiStBV: „(. . .). Diese Unterrichtung (diejenige der Öffentlichkeit; Anm. d. Verf.) darf weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorweggreifen; (. . .). Auch ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer vollständigen Berichterstattung gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten (. . .) überwiegt. Eine unnötige Bloßstellung ist zu vermeiden. Dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird in der Regel ohne Namensnennung entsprochen werden können. (. . .).“. 409 Die für die in Rede stehende Thematik einschlägigen Bestandteile von Nr. 129 Abs. 1 RiStBV lauten: „(. . .), das Recht des Angeklagten, sich ungehindert zu ver-
1. Kap.: Mögliche Reaktionsebenen und -arten
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Grund ihrer mangelnden Verbindlichkeit und fehlender Außenwirkung410 keine nennenswerte Schutzwirkung beizumessen.411 De lege lata wird folglich keine angemessene staatliche Reaktion auf die Beeinträchtigungen medienöffentlicher Vorverurteilungen ermöglicht. Zu prüfen ist, ob dies zumindest de lege ferenda erreicht werden könnte.
B. Überlegungen de lege ferenda De lege ferenda kommt zunächst die Einführung einer unmittelbar gegen Vorverurteilungen gerichteten Strafvorschrift in Betracht.412 Am zielgerichtetsten wäre es insoweit, den Straftatbestand gegen die Tätigkeit der Medien selbst und damit gegen Journalisten sowie verantwortliche Redakteure und Presseorgane zu richten, da nur so das eigentliche Problem – gleichsam „bei der Wurzel gepackt“ – bekämpft werden könnte.413 Die konkrete inhaltliche Fassung eines derartigen Straftatbestandes ließe sich etwa in Anlehnung an die einschlägigen Vorschriften des Pressekodex und der RiStBV414 formulieren. Probleme ergeben sich jedoch schon daraus, dass die Verantwortlichkeit einzelner Medienvertreter kaum einmal genau zu ermitteln sein wird415, zumal sich eine medienöffentliche Vorverurteilung in aller Regel erst aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Medien und Medienvertretern ergibt416, so dass Praktikabilität und tatsächlicher Vollzug einer solchen Strafvorschrift von vorne herein erheblich in Frage gestellt wären. Zudem würden die Medienunternehmen selbst angesichts der weitgehenden Austauschbarkeit der Personen – zumal bei freien Journalisten – nur wenig bis gar nicht betroffen.417 Darüber hinaus ergäben sich angesichts der grundgesetzlich teidigen, (darf; Zusatz durch Verf.) nicht beeinträchtigt werden; auch sind die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten (. . .) zu berücksichtigen (. . .).“. 410 Vgl. insoweit die „Einführung“ der RiStBV. 411 Vgl. ebenso Roxin, in: NStZ 1991, S. 156 („praktische Bedeutung dieser Vorschriften ist auch nicht erheblich größer als die der Ermahnungen im Pressekodex“), siehe aber S. 160; vgl. ferner Neuling, S. 255 und Schulz, S. 59 f. 412 Vgl. dazu den pointierten Kommentar in Experteninterview lfd. Nr. E14: „Gesetze kosten nichts“. 413 Zu älteren Vorschlägen einer Eindämmung des Problems durch Strafvorschriften vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1921 f.; Roxin, in: NStZ 1991, S. 154 f. 414 Siehe oben bei und in Fn. 407–409. 415 Vgl. aber OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 und OLG Köln JMBl NW 1985, 282 (283). 416 Vgl. schon oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 7. („Verstärkerkreislauf“). 417 Insoweit würden angesichts des mitunter erbitterten „Kampfes“ um Verkaufszahlen und Auflagen auf dem Publikations-Markt (vgl. dazu Widmaier/Lehr, § 20
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
eingeräumten herausragenden Stellung der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG418, hier zudem in Kombination mit der Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, ganz beträchtliche verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einer solchen Vorschrift. Dem bereits von einer vorverurteilenden Berichterstattung Betroffenen käme ein neu eingeführter Straftatbestand ohnehin nicht mehr zugute, da diesbezüglich sprichwörtlich „das Kind schon in den Brunnen gefallen“ ist, während sich eine entsprechende (abschreckende) Wirkung des neuen Tatbestandes wenn überhaupt erst in naher oder ferner Zukunft entfalten könnte. Weiterhin wäre beispielsweise eine verschärfte Heranziehung des Pressekodex419 zu erwägen. Diesbezüglich könnte das bestehende System einer (Selbst-)Kontrolle der Medien durch den Presserat erweitert werden, etwa indem es diesem erlaubt würde, auch spürbare Sanktionen wie Berufsuntersagungen oder empfindliche Strafzahlungen auszusprechen. Indes handelt es sich hierbei ausschließlich um Binnenrecht, bei der die Verpflichtungserklärung zudem auf ausschließlich freiwilliger Basis erfolgt. Möglichkeiten eines staatlichen Zugriffs sind insoweit nicht gegeben. Desgleichen scheidet eine verschärfte Anwendung oder Ausweitung der einschlägigen Vorschriften der RiStBV420 aus, da es sich bei diesen zwar um staatliches, aber ebenfalls nicht verpflichtendes Binnenrecht handelt. Etwaige Anknüpfungspunkte im Dienst- und Standesrecht der am Strafverfahren beteiligten Berufsgruppen wiesen ebenfalls eine lediglich binnengerichtete Wirkung auf.
C. Zwischenergebnis Nach alledem ist durch die hier untersuchten Regelungen und Regelungsbereiche eine adäquate staatliche Reaktion auf Fälle vorverurteilender Medienberichterstattung weder bereits de lege lata eröffnet, noch steht eine solche de lege ferenda zu erwarten. Möglicherweise stellt aber eine materiellrechtliche, namentlich strafzumessungsimmanente, Berücksichtigung der mit einer Vorverurteilung einhergehenden Beeinträchtigungen eine solche Reaktion für den Betroffenen dar, wie sie etwa auch im einführend berichteten Fall durch das LG KarlsRn. 3) allein erhebliche finanzielle Einbußen eine entsprechende Wirkung zeitigen können. 418 Siehe nur Stürner, in: JZ 1980, S. 2 („dominantes Grundrecht des demokratischen Staates“); dazu näher unten 2. Kap. A. III. 2. a). 419 Dazu oben bei und in Fn. 402 ff. 420 Siehe oben bei und in Fn. 407 ff.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 109
ruhe in Form einer Strafmilderung vorgenommen wurde421 (dazu im Zweiten Kapitel). Auf dieser Grundlage könnte sodann eine spezielle – in Literatur und Rechtsprechung bislang nicht erwogene – strafprozessuale Berücksichtigung eröffnet sein (Drittes Kapitel). Zweites Kapitel
Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung Das nun folgende Kapitel befasst sich mit der Idee einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung von in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung erlittenen Beeinträchtigungen des Beschuldigten. Die (wenigen) insoweit einschlägigen Veröffentlichungen haben sich dieser Thematik lediglich kursorisch zugewendet und hierbei zudem auf nähere dogmatische Ausführungen verzichtet.422 Ohnehin wurde dort zumeist ein schon in perspektivischer Hinsicht ungeeigneter Begriff „öffentlicher Vorverurteilung“ zugrunde gelegt.423 Die gemachten Ausführungen sind daher nicht – zumindest nicht ohne weiteres – auf die hier anzustellenden Überlegungen übertragbar.
A. Kritische Erörterung von Gegenargumenten Im Folgenden sollen zunächst etwaige – teils auch in den geführten Interviews zur Sprache gekommene – Gesichtspunkte, die per se gegen die Konzeption einer Berücksichtigung vorverurteilender Berichterstattung zugunsten des Beschuldigten innerhalb der Strafzumessung sprechen könnten, einer kritischen Erörterung unterzogen werden. I. Aspekt eines (zu) hohen gerichtlichen Feststellungsaufwandes Ein in einigen Interviews geäußerter Einwand424 betraf die Überlegung, dass die gerichtliche Aufklärung entsprechender Umstände mit einem (zu) 421
Siehe oben bei und in Fn. 25. Vgl. etwa Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928; Roxin, in: NStZ 1991, S. 154; Wohlers, in: StV 2005, S. 191; Jahn, S. 14; eine Ausnahme bildet insoweit die Veröffentlichung von Schulz, S. 130 ff. 423 Siehe oben 2. Teil 1. Kap. D., 2. Kap. B. am Ende. 424 Experteninterviews lfd. Nrn. E5 und E14 sowie J5. Rein prozessökonomische Erwägungen waren zudem bei den lfdn. Nrn. E9 und E10 ausschlaggebend für die 422
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
hohen Aufwand verbunden wäre – und zwar gerade auch im Hinblick auf die stets erforderliche revisionsrechtliche Absicherung425 –, weshalb ihre Berücksichtigung schon aus praktischen Gesichtspunkten heraus von vorne herein auszuscheiden habe. Andernfalls werde die Hauptverhandlung mit zusätzlichen Ermittlungen belastet426, woraus zugleich eine deutlich erhöhte Dauer des Verfahrens resultieren könne.427 Da Schwierigkeiten in der Feststellung, die mitunter auch eine Verlängerung des Verfahrens ergeben können, jedoch kein spezifisches, sondern ein für den Bereich der Strafzumessung insgesamt und auch ganz allgemein bestehendes Problem darstellen, darf allein hiervon nicht abhängig gemacht werden, ob die Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Berichterstattung in die die Höhe der zu verhängenden Strafe betreffenden Überlegungen einbezogen werden. Ohnehin bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe der letztlich verhängten Strafe rechtstatsächlich nicht immer streng ursächlich den innerhalb der Urteilsgründe explizit aufgeführten Strafzumessungsgesichtspunkten nachfolgt.428 Eine entsprechende Einführung in den Prozess hat, da die diesbezügliche Beweisaufnahme die Feststellung der Beweistatsachen als Grundlage der Urteilsentscheidung betrifft, nach den Regeln über den Strengbeweis (§§ 244–257 StPO) zu erfolgen. Insoweit können alle denkbaren Beweise erhoben und hierbei die ganze Bandbreite der nach der StPO zulässigen Beweismittel herangezogen werden.429 Dass eine erfolgte medienöffentgegenüber einer Strafmilderung insgesamt eingenommene ablehnende Haltung (vgl. oben bei und in Fn. 264). 425 Experteninterviews lfd. Nrn. E11, E13 und E14. 426 Experteninterview lfd. Nr. E13. Daher sei eine Berücksichtigung nur für den (mutmaßlich seltenen; Anm. d. Verf.) Fall angezeigt, dass alle Verfahrensbeteiligten, namentlich Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, sich hierüber bereits im Vorfeld verständigen können, ferner bei mit der Entscheidung eintretender Rechtskraft. 427 Experteninterview lfd. Nr. E5. 428 Rasehorn, in: NJW 1972, S. 83: „Ein Strafrichter verhängt zumeist die Strafe, die er seiner Überzeugung nach für richtig hält und schneidet danach die Strafzumessungsgründe zurecht.“; vgl. dazu Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 252 f.; vgl. auch Jescheck/Weigend, S. 883: „Ob die Urteilsbegründungen die Überlegungen, die das Gericht tatsächlich angestellt hat, immer zutreffend wiedergeben, ist zweifelhaft (. . .).“; Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 75: „angesichts der mangelnden Präzision des Strafzumessungsrechts wird der Richter im Regelfall nicht gehindert sein, die Fälle (. . .) unanfechtbar zu begründen“. – Ebenso Experteninterview lfd. Nr. P1. 429 Denkbar sind folglich etwa der Urkunden- bzw. Augenscheinsbeweis mit einschlägigen Zeitungsartikeln (vgl. dazu OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 [599 ff.]) und -bildern sowie Fernseh- und Radioberichten, die Erstellung psychologischer und psychiatrischer Sachverständigengutachten zu den physischen und psychischen Beeinträchtigungen des Beschuldigten sowie diesbezügliche Zeugenbefragungen. Fer-
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 111
liche Vorverurteilung überhaupt im Prozess zur Sprache kommt, wird hierbei maßgeblich von einem entsprechenden Vorbringen der Verteidigung abhängen.430 II. Einwände im Zusammenhang mit dem Verhalten des Beschuldigten Weitere Einwände berühren das Verhalten des Beschuldigten. 1. Instrumentalisierung der Medien Dies gilt beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit einer Instrumentalisierung der Medien durch veröffentlichte Stellungnahmen des Beschuldigten.431 In derartigen Fällen wird – zumindest zu weiten Teilen – eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung nicht angezeigt sein, wenn und soweit die Instrumentalisierung als Auslöser einer sodann erst erfolgenden vorverurteilenden Medienkampagne ausgemacht werden kann. Einer prinzipiellen Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichte innerhalb der ner können Bestandteile der Vernehmung des Angeklagten, die formell nicht zur Beweisaufnahme gehört (§ 244 Abs. 1 StPO; siehe aber § 257 StPO), materiell als Beweis gewertet werden, beispielsweise die i. R. d. § 243 Abs. 4 S. 2 StPO ermittelten einschlägigen (und als wahr unterstellten) Lebensumstände des Angeklagten. Um die Hauptverhandlung insgesamt möglichst zu entlasten, kommt hinsichtlich der (speziell am Landgericht Berlin der mit der Sache befassten Kammer durch die Gerichtspressestelle in Pressemappen ausgehändigten und weiteren) das Verfahren betreffenden Medienberichte das Selbstleseverfahren in Betracht, ferner können bestimmte Gegebenheiten mitunter als „allgemein bekannte“ bzw. „gerichtsbekannte“ Tatsachen qualifiziert werden, die zwar in der Hauptverhandlung zur Sprache gebracht werden müssen, hierbei aber keines weiteren Beweises bedürfen (BVerfGE 48, 206 [209]; BGHSt 6, 292 [293, 295 f.]; BGH StV 1988, 514; KK/Herdegen, StPO, § 244 Rn. 69, 72; ausf. dazu Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 16 ff.). Ein psychologisches und psychiatrisches Sachverständigengutachten sollte aus prozessökonomischen Erwägungen nur im Ausnahmefall in Auftrag gegeben werden. Insg. krit. hinsichtlich etwaiger Möglichkeiten einer Einführung in den Prozess äußerten sich (dennoch) Experteninterviews lfd. Nrn. E5 und E12; zunächst ebenfalls krit., im weiteren Gesprächsverlauf aber zunehmend relativierend Experteninterview lfd. Nr. E20. 430 Dies nicht zuletzt deshalb, weil eine nicht unerhebliche Anzahl der Richter etwa die im vorliegenden Zusammenhang besonders relevanten (Boulevard-)Medienberichte – jedenfalls vorgeblich – gar nicht lesen wird. 431 Auch der Verteidiger des Beschuldigten kann insoweit tätig werden (vgl. Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 427; Roxin, in: NStZ 1991, S. 159; Jahn, S. 8 f., 11; Neuling, S. 318; hierauf wurde auch von einem der Interviewpartner kritisch hingewiesen [Experteninterview lfd. Nr. E10]). Es stellt sich aber die Frage der Zurechnung instrumentalisierenden (Verteidiger-)Verhaltens zulasten des Beschuldigten.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Strafzumessung steht die bloße Möglichkeit einer Instrumentalisierung der Medien durch den Beschuldigten indes nicht entgegen.432 2. Schweigen und wahrheitswidriges Leugnen des Beschuldigten Problematisch ist auch, dass ausgedehntes Schweigen (vgl. §§ 115 Abs. 3 S. 1; 136 Abs. 1 S. 2; 163a Abs. 3 S. 2 bzw. Abs. 4 S. 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 S. 2; 243 Abs. 4 S. 1 StPO) sowie wahrheitswidriges Leugnen der Tatvorwürfe – und in diesem Zusammenhang sogar beharrliches Äußern von Unwahrheiten – dem Beschuldigten zwar rechtsstaatlich zugestanden433, aber nicht selten gerade ausschlaggebend für eine entsprechende und manchmal über lange Zeit andauernde vorverurteilende Berichterstattung sind, während ein „schnelles Geständnis“ des Beschuldigten den Prozess zumeist zeitnah(er) beendete und damit die Beeinträchtigungen oftmals geringer hielte. Keine Strafmilderung also, denn der Angeklagte „hätte ja sofort gestehen können“? Eine derartige Betrachtungsweise konterkarierte indes die dem Beschuldigten – mit guten Gründen – eingeräumte Rechtsstellung, die bloße Wahrnehmung seiner Rechte darf ihm nicht zum Nachteil gereichen.434 Die bloße Tatsache seines Schweigens oder Leugnens vermag es daher ebenfalls nicht, eine Berücksichtigung in der Strafzumessung von vorne herein auszuschließen. 3. Straftat als alleiniger Impulsgeber der Berichterstattung Im Zusammenhang mit dem Verhalten des Beschuldigten könnte zuletzt gegen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung der Gedanke sprechen, dass im Falle eines zu Recht deliktischer Handlungen bezichtigten Beschuldigten dieser durch die Begehung der in Rede stehenden Straftat letztlich die alleinige Verantwortung für die Berichterstattung in den Medien und damit zugleich für etwaige mit einer Vorverurteilung einhergehende Beeinträchtigungen trägt. Allerdings bildete eine strafzumessungsimmanente Be432 Dass das faktische Vorliegen einer solchen Instrumentalisierung tatsächlich kaum einmal positiv wird festgestellt werden können, ist ein infolge Schutzerwägungen hinzunehmender Umstand. 433 Siehe näher Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 899 f. sowie Rn. 550 ff., jeweils m. w. N. (auch) aus der Rspr. – Der geschützte Bereich zulässiger Verteidigung wird aber etwa dann verlassen, wenn ein Verdacht bewusst wahrheitswidrig auf einen Zeugen gelenkt wird, sei es ausdrücklich oder lediglich durch die Andeutung entsprechender Verdachtsmomente (vgl. BGH NStZ 1986, 85 [86]; BGH/D MDR 1974, S. 721). 434 Vgl. BGH StV 1993, 72.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 113
rücksichtigung nicht die Reaktion auf die Berichterstattung als solche, sondern nur auf eine in vorverurteilender Art und Weise erfolgende. Insoweit ist der Beschuldigte schutzbedürftig und auch -würdig, zumal in Fällen, in denen sich die Vorwürfe ex post in Teilen als haltlos erweisen. Im Zusammenhang mit dem Verhalten des Beschuldigten ergeben sich somit insgesamt keine Einschränkungen. III. Bedenken hinsichtlich des (sich verändernden) Verhältnisses zwischen Justiz und Öffentlichkeit Weitere Kritikpunkte könnten sich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Justiz und Öffentlichkeit ergeben. In diesem Verhältnis erlangen die Freiheit der Medien i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG im Allgemeinen (1.) und diejenige der Presse gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG im Besonderen (2.) eine gesteigerte Bedeutung. Der diesen Freiheiten verfassungsrechtlich zufallende Rang beeinflusst den im Gesamtbereich medialer Arbeitstätigkeit seit einiger Zeit festzustellenden Wandel erheblich und hat hierbei auch verstärkte Veränderungen des in Rede stehenden Verhältnisses zur Folge (3.). 1. Die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG im Allgemeinen Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG betrifft die sog. Medienfreiheiten435, wobei lediglich die drei für die Allgemeinheit im Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes wichtigsten (Massen-)Kommunikationsmittel Presse, Rundfunk und Film ausdrückliche Erwähnung im Verfassungstext gefunden haben. Sie schützen abstrakt die Freiheit der im Medienwesen beschäftigten Personen vor staatlichem Zugriff und konkret deren „massenkommunikative Vermittlungsleistung“436. Die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zeichnen sich in tatsächlicher Hinsicht durch „besonders nachhaltig wirksame“437 Verbreitungswege aus, mit der innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Personen erreicht werden können438, und sie haben daher besonderes Gewicht439. 435 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 30, 38 ff.; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 86 ff.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 1; Fechner, Rn. 59; Jarass, S. 61 f., 107, 111; Stern/Stern, S. 1511; vgl. Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 635. – Zum Begriff der Medien vgl. oben Fn. 34. 436 Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 1 (im Original in Fettdruck), vgl. auch Rn. 23. 437 Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 86. 438 Siehe schon oben bei Fn. 38. 439 Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 1.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 3 GG verbürgte „Freiheit der Berichterstattung (. . .) durch Film“ beinhaltet nicht etwa nur „berichterstattende“ Filme, sondern über den Wortlaut der Norm hinaus auch Spielfilme, Werbefilme und sonstige Kategorien von Filmen.440 Die Freiheit des Rundfunks gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG umfasst den Hörfunk und das Fernsehen sowie weitere technische Herstellungs- und Verbreitungswege, etwa auch das „Internet“.441 Der Begriff der Presse i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG schließlich umfasst alle zur Verbreitung geeigneten und bestimmten Druckerzeugnisse und Träger von Informationen, die nicht dem Film- oder Rundfunkbegriff unterfallen.442 Zu den beiden vorgenannten Freiheiten wird die Pressefreiheit jeweils über die Art der Herstellung und Verbreitung abgegrenzt.443 Auf konventionsrechtlicher Ebene gewährleistet Art. 10 Abs. 1 EMRK444 dem Einzelnen Freiheiten, die weitgehend deckungsgleich mit den Garantien des Art. 5 Abs. 1 GG sind.445 Hierbei ist speziell die Freiheit der Presse im Konventionstext zwar nicht ausdrücklich erwähnt, sie ist aber als Bestandteil der Meinungsfreiheit gleichwohl vom geschützten Bereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK umfasst.446 440
Absolut h. M.; siehe etwa BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 902 m. w. N. Zu Einzelheiten siehe M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 94 ff., 95, 100. 442 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 361; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 59; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 68; Stern/Stern, S. 1528; ausf. zum Begriff der Presse siehe etwa Fechner, Rn. 16 f., 681 ff.; Löffler/Bullinger, § 1 Rn. 68 ff. 443 M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 59, 95, 166 f.; vgl. BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 361, 375, 907; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 314; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 24a f., 36, 50; Jarass, S. 32; Stern/Stern, S. 1515. – Hiernach kann etwa „Ein und dieselbe Videocassette (. . .) als Presse zu Hause benutzt, als Film im Kino gezeigt oder als Rundfunk verbreitet werden.“ (M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 167). 444 Die Vorschrift lautet: „(1) 1 Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. 2 Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. 3 (. . .).“. 445 Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 6; vgl. BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20a; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 14. – Hinsichtlich des Anwendungsverhältnisses gilt, dass die Konvention im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht, das als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen (Verfassungs-)Rechts zu berücksichtigen ist (zu Nachw. siehe oben Fn. 128). 446 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20a, 44, 358, 967, 969; Dreier/ Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 10, 22; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rn. 15; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rn. 5, 20; Fechner, Rn. 583; Holoubek, in: AfP 2003, S. 194; vgl. EGMR EuGRZ 1979, 386; 1995, 16 (20); 2003, 488 (490); Kugelmann, in: EuGRZ 2003, S. 20. In Anlehnung an Art. 10 Abs. 1 EMRK (zum Wortlaut siehe oben Fn. 444) enthält auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine derartige Ge441
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 115
2. Die Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG im Besonderen Angesichts ihrer speziellen Relevanz für die hier besprochene Thematik soll sich im Folgenden – und stellvertretend für alle Medienfreiheiten447 – der Freiheit der Presse noch etwas näher zugewendet werden. a) Verfassungsrechtlicher Stellenwert In tätigkeitsbezogener Hinsicht erfüllt die Presse die Funktion448, bestehende Informationsbedürfnisse zu befriedigen, die Pluralität existierender Meinungen aufzuzeigen, deren inhaltliche Überprüfung zu ermöglichen und darüber hinaus auch eigene Meinungen zu bilden und entsprechend zu vertreten.449 Als Bestandteil der modernen Massenkommunikation ist die Presse somit unentbehrlich für die öffentliche und individuelle Meinungsbildung.450 Die Existenz einer freien Presse ist zugleich „schlechthin konstituierend“451 für die das Grundgesetz kennzeichnende freiheitliche demokratische Grundordnung452, und sie besitzt aus diesem Grunde einen herausragenden Stellenwert innerhalb der Verfassung453. währleistung, namentlich in ihrem Art. 11: „(1) 1 Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. 2 Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. (2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“. 447 Ausf. zur Rundfunk- und Filmfreiheit siehe etwa Fechner, Rn. 879 ff. und 1052 ff. sowie Stern/Stern, S. 1640 und 1564 ff. 448 Nicht aber die verfassungsrechtliche bzw. öffentliche „Aufgabe“ (explizit wie hier: Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 44; Stern/Stern, S. 1561 ff. m. w. N.; a. A. BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 11, einschr. Rn. 352 ff., 355; vgl. hierzu BVerfGE 20, 162 [174 f.]; vgl. insg. zu diesem Begriff M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 74 ff.). 449 BVerfGE 20, 162 (174 f.); 52, 283 (296); 113, 63 (76); Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 44; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 23; vgl. S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 11. 450 BVerfGE 12, 205 (260); 35, 202 (222); 107, 299 (332); Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 17, 66; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 11, 13; Stern/Stern, S. 1509; vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 40. 451 BVerfGE 10, 118 (121); 20, 56 (97); 35, 202 (221); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 4; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 1; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 17, 66; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 2; vgl. BVerfGE 107, 299 (329); Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 23; Stern/Stern, S. 1510. 452 Mit den Worten des BVerfG: „Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist Wesenselement des freiheitlichen Staates und für die moderne Demokratie unentbehrlich.“ (BVerfGE 52, 283 [296]; bestätigt in BVerfGE 113, 63 [76]; ganz ähnl. schon BVerfGE 20, 162 [174]; 50,
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
(Abwehr-)grundrechtlich geschützt ist neben der Berichterstattung als solcher und der Verbreitung eigener Meinungen454 auch die bloße Unterhaltung455. Unerheblich hierbei ist, ob die Veröffentlichung als für die Befriedigung von Informationsbedürfnissen dienlich und wertvoll oder aber unergiebig und nutzlos zu qualifizieren ist.456 Der grundrechtlich verbürgte Schutz wird mit anderen Worten unabhängig davon gewährt, welche Qualität das jeweilige Presseerzeugnis besitzt.457 b) Presse-Rechte Die grundrechtliche Gewährleistung umfasst „alle wesensmäßig mit der Pressearbeit zusammenhängenden Tätigkeiten“458 und reicht „von der Be234 [239]; vgl. auch Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 118: „für das Funktionieren eines demokratischen Staates und einer demokratischen Gesellschaft schlechterdings unverzichtbare Grundrecht“). 453 Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 43 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 23; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 65 („liberales Urgestein und Grundstock des demokratischen Verfassungsstaates“); vgl. BVerfGE 107, 299 (332). 454 BVerfGE 10, 118 (121); 62, 230 (243); Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 94; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 26. 455 EGMR EuGRZ 2004, 404 (406); BVerfGE 34, 269 (283); 101, 361 (389 f.); BGH AfP 2004, 119 (122); KG Berlin ZUM 2005, 561 (561 f.); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 364, 417; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 94; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 26; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 64; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 12; Jarass, S. 195; Löffler/Bullinger, § 1 Rn. 70; Petersen, § 2 Rn. 12 ff. – Vgl. einschr. EGMR NJW 2004, 2647 (2650): nur, sofern die Veröffentlichung „als Beitrag zu irgendeiner Diskussion von allgemeinem Interesse für die Gesellschaft angesehen werden kann“. 456 BVerfGE 34, 269 (283): „Unterhaltungs- und Sensationspresse“; BGH AfP 2004, 119 (122); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 364 („Sensationspresse“); Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 94 („Skandalblätter“); Jarass/ Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 26 („Skandal- und Sensationsblätter“); M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 60; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 128; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 31 („Skandal- und Sensationsberichte“), Rn. 84; Sachs/ Bethge, GG, Art. 5 Rn. 69; Ipsen, Rn. 444; Löffler/Bullinger, § 1 Rn. 70; Pieroth/ Schlink, Rn. 572 („Regenbogenpresse“); krit. Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 636. 457 BVerfGE 25, 296 (307); 34, 269 (283); 66, 116 (134); OLG Saarbrücken NJW 1971, 892 (893); S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 14; Stern/Stern, S. 1530 f.; vgl. BVerwGE 47, 247 (254); M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 60. – Der jeweilige qualitative Inhalt eines Druckwerks spielt aber bei der im Konfliktfall erforderlich werdenden Abwägung zwischen der Pressefreiheit und anderen Verfassungsgütern durchaus eine Rolle (BVerfGE 34, 269 [283]; 50, 234 [240]; BGH AfP 2004, 119 [122]; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 31; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 69; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 14; krit. Löffler/Bullinger, § 1 Rn. 70). 458 Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 27; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 33; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 13; ähnl. BK/Degenhart, GG,
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 117
schaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen“459. Von besonderer Bedeutung sind insoweit bereits die publizistischen Vorbereitungstätigkeiten und hierbei vor allem die Beschaffung von Informationen,460 und etwaige staatliche Behinderungen des grundsätzlich zu gewährenden freien Zugangs zu Informationen und Informationsquellen aller Art würden es der Presse erheblich erschweren – wenn nicht gar ganz unmöglich machen –, die ihr in der freiheitlichen Demokratie zukommende Funktion461 zu erfüllen462. Die Freiheit der Presse gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG beinhaltet daher etwa auch das Recht der im Pressewesen beschäftigten Personen auf Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen jeglicher Art und nach den für alle geltenden Bedingungen463, und hierbei im Speziellen das Recht, an Gerichtsverhandlungen teilzunehmen und über deren Inhalte anschließend Bericht zu erstatten464. In Anbetracht der auch hierin zum Ausdruck kommenden „Eigenständigkeit“465 der Presse ist diese vom Bereich staatlicher Tätigkeit strikt zu trennen.466 Dem „widerspräche es, die Presse oder einen Teil von ihr Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 380; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 95; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 62; Stern/Stern, S. 1531; vgl. auch BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 30; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 133, 135. 459 BVerfGE 20, 162 (176); 36, 193 (204); 107, 299 (329); Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 27; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 70; ganz ähnl. BVerfGE 10, 118 (121); 12, 205 (260); 62, 230 (243); 66, 116 (133); 91, 125 (134); BGH AfP 2004, 119 (122); KG Berlin ZUM 2005, 561; BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 380; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 95; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 33; krit. Stern/Stern, S. 1531 f. 460 BVerfGE 50, 234 (240); 91, 125 (134); BVerfG NJW 2001, 503 (504); Stern/ Stern, S. 1532; vgl. BVerfGE 107, 299 (329 f.); Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 70. 461 Dazu oben bei Fn. 448. 462 Ebenso Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 70; vgl. BVerfGE 50, 234 (240); 91, 125 (134); BVerfG NJW 2001, 503 (504); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 11, 347; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 14. 463 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 381, 385 ff., 392; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 65; v. Münch/Kunig/Wendt, GG, Art. 5 Rn. 34. 464 BVerfGE 50, 234 (239 f.); 91, 125 (134); BVerfG NJW 2001, 503 (504); BK/ Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 381, 513 f.; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 70; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 14. 465 BVerfGE 10, 118 (121); 12, 205 (260); 20, 162 (176); 36, 193 (204); 62, 230 (243); 66, 116 (133); 85, 1 (12); BGH AfP 2004, 119 (122); KG Berlin ZUM 2005, 561; BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 10, 347, 382; Sachs/Bethge, GG, Art. 5 Rn. 70; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 11, 14. 466 Vgl. BVerfGE 20, 162 (175): „So wichtig die (. . .) der Presse zufallende ‚öffentliche Aufgabe‘ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privat-
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
unmittelbar oder mittelbar von Staats wegen zu reglementieren oder zu steuern“467. Im Gegenteil soll das der Presse – wie auch den (Massen-) Medien insgesamt468 – verfassungsrechtlich übertragene sog. Wächteramt („public-watchdog“469) sogar eine größtmögliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt(en) ermöglichen470, und die Presse besetzt damit in einer neben Sicherheit insbesondere auch auf Freiheit fußenden Staats- und Gesellschaftsordnung wie der grundgesetzlichen471 ein sehr gewichtiges Amt. c) Sorgfaltspflichten Den der Presse in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG durch die Verfassung eingeräumten Rechten stehen gewisse Sorgfaltspflichten gegenüber. Beispielsweise dürfen weder leichtfertig unwahre Nachrichten weitergerechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.“; bestätigt in BVerfGE 66, 116 (133). 467 BVerfGE 12, 205 (260); S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 11. – Siehe auch BVerfGE 52, 283 (296): „Dem Staat sind insoweit nicht nur unmittelbare Eingriffe (. . .) verwehrt; er darf auch nicht durch rechtliche Regelungen die Presse fremden – nicht staatlichen – Einflüssen unterwerfen oder öffnen, die mit dem durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG begründeten Postulat unvereinbar wären, der Freiheit der Presse Rechnung zu tragen.“. 468 Vgl. Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 636: „Die Medien sind in den westlichen Ländern zur größten Macht geworden, mächtiger als die Legislative, die Exekutive und die Jurisdiktion. (. . .). Gewiß haben die Medien (. . .) gegenüber den Institutionen und Funktionsträgern des Staates eine Kontrollaufgabe (. . .).“; siehe auch schon oben bei Fn. 40. 469 EGMR EuGRZ 1995, 16 (20); Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 25; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rn. 15; Holoubek, in: AfP 2003, S. 194. 470 EGMR EuGRZ 2004, 404 (412 f.); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 359, 969; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rn. 21 („Aufgabe eines ‚öffentlichen Wachhundes‘ “). In Staats- und Gesellschaftsordnungen, in denen „die Freiheit eines schwachen Einzelnen durch organisierte staatliche Macht überwältigt wird“ und diese individuelle Freiheit „gegen die Unwiderstehlichkeit der gesammelten staatlichen Macht steht und untergeht“ (Naucke, Privilegierung, S. 20), wobei letztere sich hierbei nur allzu leicht mit einem „Schein von Legitimität“ zu umgeben weiß (ders. a. a. O., S. 21), erlangt dieses Wächteramt nochmals gesteigerte Bedeutung. In der bundesdeutschen Wirklichkeit spielen derartige Überlegungen indes derzeit eine eher untergeordnete Rolle, anders aber gesamtdeutsch etwa während der NS-Zeit und noch vor nicht allzu langer Zeit in einem beträchtlichen Teil des heutigen Staatsgebietes, namentlich in den neuen Bundesländern und zu Zeiten des DDR-Unrechtsregimes (vgl. hierzu ders. a. a. O., S. 11 ff., insbesondere zum staatlich angeordneten Einsatz von Schusswaffen an der innerdeutschen Grenze). 471 Vgl. schon BVerfGE 5, 85 (134 f., 204 f.).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 119
geben472, noch darf die Wahrheit gar bewusst entstellt werden473.474 Die Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der Ermittlung der Wahrheit dürfen jedoch nicht derart hoch bemessen werden, dass hierunter die der Presse verfassungsrechtlich zukommende Funktion475 im Einzelfall zwangsläufig zurücktreten müsste.476 Unter der Voraussetzung gewissenhafter und sorgfältiger Recherchetätigkeit ist es der Presse vielmehr erlaubt, auch solche Sachverhalte zu veröffentlichen, deren Wahrheitsgehalt im Berichtszeitpunkt (noch) nicht mit letzter Gewissheit feststeht.477 Dies gilt auch und gerade für die Berichterstattung im Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten, wobei im Falle bloßer Verdachtsberichterstattung leicht modifizierte Anforderungen zu erfüllen sind, etwa der Hinweis auf das bisherige Vorliegen lediglich von Verdachtsmomenten oder den Grad der (Un-)Zuverlässigkeit anderweitig übernommener Meldungen.478 Ein nach derzeitigem Stand der Ermittlungen „Verdächtiger“ ist eben erst „verdächtig“, eine bestimmte Straftat begangen zu haben, und er darf daher regelmäßig479 nicht schon zu diesem (frühen) Zeitpunkt als überführter „Täter“ dieser Straftat bezeichnet werden, und zwar auch dann nicht, wenn er bereits als Angeklagter vor Gericht steht.480 Allgemein sind die von der Presse jeweils zu beachtenden Sorgfaltspflichten nach den konkreten Umständen
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LG Düsseldorf AfP 1978, 207 (208 f.); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 521. 473 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 419; M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 68 („Denn erfundene ‚Tatsachen‘ sind keine Tatsachen. Bewußt falsche Nachrichten sind Nachrichten über einen anderen Gegenstand als vorgegeben.“). 474 BVerfGE 12, 113 (130); Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 145 ff.; S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 15; Fechner, Rn. 796; Jarass, S. 197; krit. Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 94. 475 Siehe oben bei Fn. 448. 476 Ebenso BGH NJW 1977, 1288 (1289); JZ 2000, 618 (619); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 419, 591 („Die Presse könnte ihre grundrechtliche Funktion der Berichterstattung und der Kritik nicht erfüllen, würde man ihre Berichterstattungsfreiheit auf erwiesene Meldungen beschränken.“); ähnl. S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 15. 477 BVerfG NJW 1998, 1381 (1383); BGH JZ 2000, 618 (619); S-B/H/H/Kannengießer, GG, Art. 5 Rn. 15. 478 Siehe zum Ganzen BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 518 m. w. N.; Petersen, § 4 Rn. 19 ff. 479 Anders nur in wenigen Ausnahmefällen, etwa bei einem ganz gravierenden und auf eine besonders schwere Straftat bezogenen Tatverdacht, wenn aus der Veröffentlichung jedenfalls mittelbar hervorgeht, dass eine Verurteilung noch nicht erfolgt ist (so OLG Frankfurt NJW 1980, 597 [598]) oder im Falle des Todes des mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim Anschlag selbst ums Leben gekommenen Bombenlegers (siehe OLG Hamburg AfP 1983, 466). 480 BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 521.
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des Einzelfalls zu bestimmen, Vorgaben in Form pauschaler Festlegungen verbieten sich insoweit.481 3. Veränderungen des Medienwesens und ihre Auswirkungen Im gesamten Umfeld medialer Arbeitstätigkeit sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten starke Veränderungen eingetreten, nicht zuletzt auf Grund der erheblichen technischen Fortschritte in vielen Aufgabenbereichen.482 Der Konkurrenzkampf um Auflagen und Marktanteile hat sich durch die erfolgte zahlenmäßige Ausweitung der publizierenden Organe in manchen Branchen „bis zur Rücksichtslosigkeit“483 verschärft. Noch verstärkt wird diese Entwicklung durch die darüber hinaus erfolgende technische Erschließung vormals unbekannter Informations- und Kommunikationswege, etwa des „Internet“484.485 Damit gehen zwangsläufig Veränderungen auch des Verhältnisses zwischen Justiz und Öffentlichkeit einher. Die ursprünglich von der – in jeder Hinsicht eng umgrenzten – Gerichtsöffentlichkeit486 wahrgenommene Kontrollfunktion gegenüber den staatlichen Gewalten487 wird nunmehr weitgehend von den Massenmedien ausgefüllt.488 Die Arbeitsabläufe der Justiz 481
BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 591; Löffler/Steffen, § 6 Rn. 163. Vgl. hierzu insg. den „Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der Bundesrepublik Deutschland 1998 – Medienbericht 1998 –“, BT-Drs. 13/10650, S. 1 ff. und hierbei speziell etwa S. 25 („Wandel [. . .] durch die modernen Informations- und Kommunikationstechniken und -dienste“), S. 55 („Wandel zur Informations- und Wissensgesellschaft durch die modernen IuK-Techniken und -Dienste“) sowie S. 260 („rasch fortschreitende Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechniken“); vgl. auch Kugelmann, in: EuGRZ 2003, S. 16 f. – Wie hier Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 50, 60 („Dramatische Veränderungen“); Stern/Stern, S. 1512 („in kaum einem anderen gesellschaftlich-technischen Bereich so Umwälzendes geschehen“). 483 Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 50; ganz ähnl. Prinz, in: NJW 1995, S. 817 („Die Marktsituation führt in einzelnen Marktsegmenten zu besonderer Rücksichtslosigkeit.“). 484 Ausf. zum Begriff der sog. Neuen Medien siehe M/K/S/Starck, GG, Art. 5 Rn. 163 ff.; Stern/Stern, S. 1512 f., 1664 ff.; siehe auch schon Jarass, S. 194; vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 60 f., 93. 485 Die sich stetig erhöhende Anzahl möglicher Verbreitungswege hat zugleich eine zunehmende Überlagerung technischer Formen zur Folge (Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 88; Stern/Stern, S. 1515, 1516 f.; vgl. Fechner, Rn. 155). 486 Vgl. zu diesem Begriff insb. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit. 487 Vgl. hierzu oben bei Fn. 40 sowie bei und in Fn. 468–470. 488 Ebenso BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 386, vgl. auch Rn. 513; vgl. ferner Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 24 ff., 74 ff. 482
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 121
werden hierdurch in erheblichem Maße belastet. Mit den Worten einer Tageszeitung: „Die Richter haben in den vergangenen Jahren lernen müssen, dass sie die Öffentlichkeit bislang anders verstanden haben, als diese sich selbst versteht. Öffentlichkeit, das war in der Theorie eine etwas staubige Vorschrift, die vor Willkürurteilen schützen sollte, und in der Praxis mal ein Rentner oder eine Schulklasse auf einer ansonsten leeren Zuschauerbank. Das ist vorbei. Wenn die Öffentlichkeit heute anrückt, mit Scheinwerfern, Mikrofonen und dreißig Kilometern Kabel (. . .), erschrickt die Justiz noch immer.“489
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Betroffenen diese Belastungen, speziell diejenigen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung, nicht als notwendiges – angesichts der verfassungsrechtlich übertragenen Funktion der Medien gewissermaßen „staatsrechtlich gebilligtes“ – Übel hinzunehmen haben. Diese Frage muss verneint werden, ist doch der Bereich staatlicher Tätigkeit wie bereits ausgeführt490 von demjenigen Tätigwerden privater Medien strikt zu trennen. Dass in der Öffentlichkeit der (fatale) Eindruck entstehen könne, die – originär hoheitliche – Entscheidung stünde in zunehmendem Maße zur Disposition privater Medien, insofern deren Berichterstattung vermehrt in dieser oder jener Hinsicht auf den Ausgang von Strafverfahren Einfluss nehmen könnte,491 ist ebenfalls Gegenstand von Kritik492. Dem kann aber schon entgegnet werden, dass die Institution der Strafrechtspflege allgemein mannigfaltigen inneren und äußeren Einflüssen ausgesetzt ist, denen sie sich im Gerichtsalltag tatkräftig erwehren muss – und im Übrigen auch tatsächlich erwehrt.493 Allein die strafzumessungsimmanente Berücksichtigung von Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung vermochte den befürchteten Anschein nicht zu erwecken. Speziell in den Verfahren gegen Rolf F.494 und J. Immendorff495 war ferner zu lesen, dass in beiden Fällen 489
Der Tagesspiegel vom 06. August 2004, S. 8; vgl. schon oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 3. a) am Ende. 490 Siehe oben 2. b) am Ende; vgl. hierzu auch unten VI. 491 Vgl. dazu BGHSt 22, 289 (295); Hassemer, Strafverfahren, S. 67 f.; Stürner, in: JZ 1980, S. 4; Weiler, in: GA 1994, S. 572. 492 Vgl. Roxin, in: NStZ 1991, S. 154; Weigend, in: FS Rolinski, S. 271. 493 Zu denken ist etwa an die Gefahr unwahrer Zeugenaussagen, die den Ausgang des Verfahrens entscheidend (mit-)beeinflussen können; die Möglichkeit zur Vereidigung von Zeugen (vgl. §§ 59 ff. StPO) unter Hinweis auf die sich aus einem Verstoß gegen die Wahrheitspflicht in diesem Falle ergebenden erhöhten strafrechtlichen Konsequenzen (Verbrechenstatbestand des § 154 StGB) soll dem entgegenwirken. 494 „Autobahnraser-Fall“; siehe dazu insg. oben 1. Teil 1. Kap. 495 Dazu oben Fn. 96.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
„die Richter das Recht selbst in die Hand (nahmen; Zusatz durch Verf.): Sie milderten die Strafen, weil ihnen über die Angeklagten zu viel in der Zeitung stand. Wenn diese Beispiele Schule machen, wird das Verhältnis von Justiz und Öffentlichkeit ganz neuen Belastungen ausgesetzt.“496
Indes erfolgte die strafmildernde Berücksichtigung nicht unter dem Gesichtspunkt, dass „über die Angeklagten zu viel in der Zeitung stand“, sondern vielmehr auf Grund der für die Beschuldigten insgesamt eingetretenen Beeinträchtigungen, weshalb sich auch diese Kritik als haltlos erweist. Insgesamt ergeben sich damit auch aus dem (sich verändernden) Verhältnis zwischen Justiz und Öffentlichkeit keine gegen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung vorverurteilender Berichterstattung sprechenden Gesichtspunkte. IV. Aspekte der Ungleichbehandlung Weiterhin bestehen Bedenken bezüglich verschiedener Ungleichbehandlungen, die sich infolge einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung im Einzelfall in dieser oder jener Richtung ergeben und hierdurch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz497 verletzen könnten. 1. Keine Berücksichtigung bei Freispruch des Beschuldigten So kann etwa gegenüber solchen Personen, die letztlich von allen Tatvorwürfen freigesprochen werden (= ex post zu Unrecht Beschuldigte), eine günstige strafrechtliche Reaktion im Rahmen der Strafzumessung nicht zuerkannt werden, da es dafür schon an einer Verurteilung fehlt. Hieraus könnte sich eine „relative Schlechterstellung“ gegenüber denjenigen Angeklagten ergeben, bei denen angesichts einer Verurteilung eine medienöffentliche Vorverurteilung in der Strafzumessung berücksichtigt werden könnte. Diesbezüglich wäre zu erwägen, ob erstgenannter Personenkreis möglicherweise in einem stets nur geringeren Maße beeinträchtigt wird, weshalb die Ungleichbehandlung einem sachlichen Grund nachfolgen würde. Dass dies nicht der Fall ist, hat sich aber etwa im Fall des Fernseh-Moderators A. Türck gezeigt, der sich – mit Vergewaltigungsvorwürfen belastet – vor Gericht zu verantworten hatte und trotz anschließenden Freispruchs von allen Tatvorwürfen498 weitreichende Folgen zu gewärtigen hatte bzw. wei496
Der Tagesspiegel vom 06. August 2004, S. 8. Dazu allg. etwa Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 1 ff.; Ipsen, Rn. 793 ff.; Pieroth/Schlink, Rn. 428 ff. 498 LG Frankfurt a. M., Urt. v. 8.9.2005 – 6350 Js 207691/03 (unveröffentlicht). 497
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 123
terhin zu gewärtigen hat.499 Dass ein entsprechender Ausgleich auf strafzumessungsrechtlicher Ebene ausscheidet, mag daher im Ergebnis unbefriedigend sein, ist aber zwingende Folge des Freispruchs des Angeklagten. Ein Ausgleich kann insoweit aber in anderen Rechtsmaterien, etwa derjenigen des Zivilrechts500, gesucht werden. 2. Widersprüche bei der Häufigkeit der Anwendung Ungleichbehandlungen könnten ferner auftreten im Zuge einer Gegenüberstellung von Delikten mit einer hohen bis sehr hohen Strafandrohung501 zu solchen, die darüber hinaus einem besonders sensiblen Deliktsbereich angehören502, bei denen Vorverurteilungen in den Medien daher vergleichsweise häufig zu erwarten sind und zudem schwerwiegender ausfallen können. In diesem Zusammenhang könnte etwa die Frage gestellt werden: „Müsste man – bei prinzipieller Billigung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung – dann nicht jeden sog. Kinderschänder milder bestrafen, denn der wird noch viel stärker stigmatisiert?“503 Allerdings wird eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung nicht in jedem derartigen Fall angezeigt sein, sondern vielmehr auch hier entscheidend von den Umständen des Einzelfalles abhängen.504 Dass eine solche Berücksichtigung in 499
Vgl. dazu den Kommentar der Journalistin einer namhaften Boulevard-Zeitschrift: „(. . .) wird noch lange damit konfrontiert werden. Auch wenn er nun tatsächlich freigesprochen wird, wird man ihn immer damit in Verbindung bringen: Das war doch der auf der Brücke (. . .).“. Vgl. ferner Experteninterview lfd. Nr. E2 (für ihn „bleibt einiges hängen“); vgl. allg. Kissel/Mayer, GVG, § 169 Rn. 14 („erhebliche Gefahr [. . .], dass ‚etwas hängen bleibt‘ “); Tilmann, Angeklagter, S. 55 („Folgen [. . .] auch bei einem Freispruch erheblich“). Dennoch wäre es nach Experteninterviews lfd. Nrn. E7 und J3 im Falle einer Verurteilung nicht angezeigt gewesen, die aus der zu konstatierenden Vorverurteilung für Türck resultierenden Beeinträchtigungen strafmildernd zu berücksichtigen; anders Experteninterview lfd. Nr. E18. 500 Vgl. oben bei und in Fn. 401. 501 Beispielsweise die §§ 211 ff., 249 ff. StGB. 502 Insbesondere Straftaten nach den §§ 174 ff. StGB. 503 Zurückgehend auf Kury, in: Der Tagesspiegel vom 31.07.2004, S. 8 sowie Brandenstein/Kury, in: NZV 2005, S. 227. – Vgl. dazu Frage II. 5. des Interviewleitfadens. 504 Näher unten B. IV. 2. – Auch in den Interviews ergab sich diesbezüglich eine weit überwiegende Ablehnungsquote (81,81 % der hierzu befragten elf Erwachsenenrichter): Zwar erfolge in diesem Deliktsbereich besonders häufig eine entsprechende Berichterstattung (lfd. Nrn. E4 und E5) mit sehr zahlreicher reißerischer Bildberichterstattung gerade in den Boulevardmedien (lfd. Nrn. E5 und E11) auch unter Namensnennung des mutmaßlichen Täters (lfd. Nr. E11), der zudem etwa als „Bestie“ oder „Schwein“ tituliert werde (lfd. Nrn. E1 und E4), womit eine tiefgreifende Stigmatisierung auf Grund gewichtiger Belastungen (lfd. Nr. E5) sowie zu-
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
derart sensiblen Deliktsbereichen auf Grund der besonderen Umstände möglicherweise aber häufiger angezeigt sein wird505, bedeutet insoweit keinen inhaltlichen Widerspruch. 3. (Keine) Berücksichtigung erst nachträglich eintretender Beeinträchtigungen Eine Ungleichbehandlung ergibt sich zuletzt daraus, dass Beeinträchtigungen, die erst nach Beendigung des gerichtlichen Verfahrens eintreten, nicht (mehr) in die hoheitliche Strafzumessungsentscheidung mit einbezogen werden können. Dies gilt etwa für diejenigen negativen beruflichen Konsequenzen, die sich für den Beschuldigten infolge vorverurteilender Medienberichterstattung und damit einhergehender Stigmatisierung seiner Person506 im Anschluss an seine Entlassung aus einer gegebenenfalls verbüßten Strafhaft ergeben haben. Dabei handelt es sich indes um das regelmäßige „Schicksal“ erst nachträglich eintretender Gesichtspunkte, und es kann hieraus kein Argument gegen die Berücksichtigung bereits vor dem Urteilsspruch erfolgter Beeinträchtigungen hergeleitet werden. Wenn und soweit das Eintreten entsprechender Umstände aber schon im Zeitpunkt des Urteilsspruchs erkennbar angelegt ist, können diese bei der Entscheidung über eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung bereits mit einbezogen werden. Die festgestellten Ungleichbehandlungen ergeben damit insgesamt ebenfalls keine gegen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung vorverurteilender Berichterstattung sprechenden Gesichtspunkte. V. Beschränkter Kreis der Begünstigten Vorgebracht werden könnte ferner, eine Berücksichtigung in der Strafzumessung erziele – wenn überhaupt – nur geringfügige positive Wirkungen auf die gegebenenfalls ebenfalls beeinträchtigten Familienangehörigen, Freunde und Arbeitskollegen des Betroffenen. Angesichts dieser mangelnden Ausstrahlungswirkung könnte der tatsächliche Nutzen einer solchen Begleich die Kundgabe eines moralischen Urteils (lfd. Nr. E11) einhergehe; gleichwohl sei bei Sexualstraftaten insgesamt (lfd. Nrn. E3, E4 und E6) nicht per se eher bzw. eine höhere Milderung der Strafe angezeigt. Einige Erwachsenenrichter (lfd. Nrn. E5, E7, E8 und E13) sehen weitergehend auch unter Berücksichtigung etwaiger besonderer Umstände keinen Anlass, bei derartigen Straftaten eher eine Strafmilderung zuzubilligen. 505 Siehe unten B. IV. 2. a) aa). 506 Siehe näher unten B. IV. 2. c) cc).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 125
rücksichtigung daher insgesamt als nicht allzu groß eingestuft werden. Eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung käme aber unmittelbar dem Betroffenen zugute, weshalb sich schon insoweit ein insgesamt hinreichender Nutzen ergäbe. Und es ist eben fester Bestandteil des Straf(zumessungs)rechts, dass dieses ganz zentral auf den (mutmaßlichen) Täter und seine „Tat“ ausgerichtet ist, nicht aber schwerpunktmäßig zugleich etwaige Wirkungen einbezieht, die sich darüber hinaus für den genannten Personenkreis ergeben können.507 VI. Aspekt fehlender Verantwortlichkeit des Staates Ein weiterer Gesichtspunkt, der gegen eine Berücksichtigung zugunsten des Beschuldigten in der Strafzumessung sprechen könnte, ist der Umstand, dass die aus einer Vorverurteilung etwaig resultierenden Beeinträchtigungen in aller Regel508 nicht von staatlichen Organen verursacht werden, sondern sich vielmehr erst durch die Berichterstattung privater Medien ergeben.509 Insoweit steht eine vorverurteilende Medienberichterstattung zwar im Widerspruch zum allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung,510 dieses rechtsstaatliche Prinzip richtet sich aber – jedenfalls originär – nur an die staatliche(n) Gewalt(en), hingegen nicht auch an die (nicht-staatliche) „Mediengewalt“.511 Die Streitfrage, ob die Unschuldsvermutung in diesem Sinne nur die staatliche Strafgerichtsbarkeit bindet512 und ihr lediglich dergestalt eine mittelbare Drittwirkung zukommt, dass sie bloßer Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung medialer Straftatenberichterstattung ist513 oder aber ob sie darüber 507
Etwas anderes gilt zwangsläufig für diejenigen Teile des genannten Personenkreises, die im Zusammenhang mit den festgestellten Geschehnissen zugleich selbst strafrechtlichen Vorwürfen ausgesetzt sind und sodann entsprechend verurteilt werden. 508 Siehe aber unten B. IV. 2. b) bb). 509 Weiler, in: ZRP 1995, S. 135; ausf. zur privatwirtschaftlichen Struktur der Presse BK/Degenhart, GG, Art. 5 Rn. 437 ff. 510 Vgl. oben 2. Teil 2. Kap. A. I. am Ende. 511 Zu Nachw. siehe die nachfolgenden Fn. 512 f. 512 So die h. M.: OLG Frankfurt NJW 1980, 597 (598); OLG Hamburg AfP 1983, 466 (467); BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 521; Meyer-Goßner, EMRK, Art. 6 Rn. 13; Mitsch, in: Die Polizei 2004, S. 254; Roxin, in: NStZ 1991, S. 156; Meyer, in: FS Tröndle, S. 62 f.; vgl. BGH JZ 2000, 618 (619); Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 427. 513 So OLG Frankfurt a. a. O.; OLG Hamburg a. a. O.; OLG Köln JMBl NW 1985, 282 (283); NJW 1987, 2682 (2683); Meyer-Goßner, EMRK, Art. 6 Rn. 13; Bornkamm, in: NStZ 1983, S. 104; Hassemer, in: NJW 1985, S. 1923; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 429; vgl. Lampe, in: NJW 1973, S. 217 f.; Roxin a. a. O., S. 157.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
hinaus für den nichtstaatlichen Bereich514 – und damit gegebenenfalls auch hinsichtlich der Tätigkeit privater Medien515 – unmittelbare Geltung beanspruchen kann,516 muss angesichts der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheit der Medien und ihrer daraus resultierenden strikten Trennung vom Staat517 i. S. der erstgenannten und herrschenden Ansicht beantwortet werden. Dies gilt unbeschadet des Umstandes, dass die allgemein anerkannte Kontrollfunktion der Medien518 einen starken staatsrechtlichen Bezug aufweist und den Medien – gemeinhin als „vierte Gewalt“ bezeichnet519 – rechtstatsächlich ein zumindest halb-staatlicher Charakter zufällt520. Wenngleich das hoheitlich durchgeführte Strafverfahren mittelbar häufig erst der Auslöser verschärfter medialer Fokussierung ist, kann der Staat in Fällen vorverurteilender Berichterstattung privater Medien folglich nicht selbst „in die Pflicht“ genommen werden. Auch sind Beeinträchtigungen des Beschuldigten, die sich infolge einer medienöffentlichen Vorverurteilung ergeben haben, auf Grund der beschriebenen weitgehenden Trennung medialer Arbeitstätigkeit von den Verrichtungen des Staates diesem als solche nicht zurechenbar.521 Auf eine wie auch immer geartete Verantwortlichkeit des Staates für etwaige „Verfehlungen“ privater Medien im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Straftaten kommt es aber auch gar nicht an. Entscheidend ist aus der hier gewählten (Beschuldigten-)Perspektive522 heraus allein, dass der Betroffene ein solches Ausmaß an Beeinträchtigungen erlitten hat, dass diese in der Strafzumessung oder anderweitig zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind.523
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Vgl. Grave, in: NJW 1981, S. 210; Marxen, in: GA 1980, S. 373 f. So KG Berlin NJW 1968, 1969 (1970); Marxen a. a. O.; Stapper, in: AfP 1996, S. 350 f. („auch die Presse an die Unschuldsvermutung gebunden“, S. 351); vgl. Grave a. a. O.; a. A. BK/Degenhart, GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 521; Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 164; Löffler/Steffen, § 6 Rn. 205 m. w. N.; Roxin, in: NStZ 1991, S. 156, 157. 516 Siehe zu dieser Frage im Überblick Stuckenberg, S. 147 ff. 517 Vgl. oben III. 2. a), b) am Ende. 518 Siehe oben bei Fn. 40 und III. 2. b) am Ende. 519 Zu Nachw. siehe oben Fn. 39. 520 Vgl. Stuckenberg, S. 561 („Machtgefälle in der Fähigkeit zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zwischen Presse oder Fernsehen und der Privatperson“). 521 Vgl. zur abw. Auffassung Schulz, S. 27 ff., 29; vgl. auch IntK/Vogler, EMRK, Art. 6 Rn. 305, 409; Grabenwarter, § 24 Rn. 126; einschr. Weiler, in: ZRP 1995, S. 134, 135. 522 Siehe oben 1. Teil 2. Kap. B. II. 523 Siehe oben bei Fn. 98, 381. 515
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 127
VII. Einwand mangelnder Bestimmbarkeit Einer Überprüfung bedarf auch, ob die Feststellung eines im Einzelfall gegebenen Bedürfnisses strafzumessungsimmanenter Berücksichtigung mit der rechtsstaatlich erforderlichen Sicherheit ermittelt werden könnte.524 In Frage steht insoweit eine Ausprägung des aus Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB, Art. 7 Abs. 1 EMRK folgenden strafgesetzlichen Bestimmtheitsgebots525. Namentlich stünden eine etwaige Verschwommenheit und Konturenlosigkeit der anzuwendenden Kriterien einer Bejahung entgegen. Doch abgesehen davon, dass man unter Rückgriff auf das genannte Gebot nach heutigem Verständnis annähernd die Gültigkeit einer jeden Gesetzesnorm in Frage stellen könnte526 – ermöglicht doch jede scheinbar noch so genaue Regelung weiterhin auch mannigfaltige Auslegungs- und somit verschiedenartige Konkretisierungsmöglichkeiten –, müsste es eben das Anliegen nachfolgender Ausführungen sein, insoweit hinreichend klare Maßstäbe zu setzen. Und dem möglichen Bedenken, dass eine Abwägung der konkreten Umstände in jedem Einzelfalle zwar gerecht, aber von den Gerichten nicht zu leisten sei, da diese ebenfalls letztlich zu vielen Unsicherheitsfaktoren unterläge, kann entgegengehalten werden, dass es Aufgabe weiterer Ausführungen wäre, auch insoweit eine eindeutige Richtschnur zu entwickeln. Der Einwand mangelnder Bestimmbarkeit ist folglich ebenfalls nicht geeignet, die Idee einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung von vorne herein zu hinterfragen. 524 Siehe hierzu Frage II. 3. des Interviewleitfadens. – Diesbezüglich zumindest krit. Experteninterviews lfd. Nrn. E5 und E13 sowie J3. 525 Siehe dazu etwa Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 48 ff.; Schönke/Schröder/ Eser, StGB, § 1 Rn. 17 ff.; vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 1091 ff.; jeweils m. w. N. 526 Hier wäre es nach Ansicht des Verf. angezeigt, zu den eigentlichen „Wurzeln“ des (hier: strafgesetzlichen) Bestimmtheitsgrundsatzes zurückzukehren. Dieser besagt, dass Strafgesetze hinsichtlich ihrer Straftatbestände und Rechtsfolgen „ein Mindestmaß an Bestimmtheit“ aufweisen müssen (Wessels/Beulke, Rn. 47; vgl. Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 26 f.; Bassakou, S. 88), wobei insbesondere die §§ 185, 240 StGB diesbezüglich völlig zu Recht als problematisch beurteilt werden. Was einem Tatbestand konkret unterfällt bzw. welche Rechtsfolge im Falle eines Verstoßes droht, muss aber in zunehmendem Maße auch (wieder) den Gesetzesmaterialien und der darauf gestützten Gesetzesauslegung entnommen werden dürfen. Dass die Gesetzesfassung „dem Bürger Klarheit darüber verschaffen“ müsse, „was verboten ist, damit er sein Verhalten danach richten kann“ (Wessels/Beulke, Rn. 47), ist angesichts der Vielfältig- und -schichtigkeit der Strafgesetze ohnehin eher eine Mär und geht an der Realität ein gutes Stück weit vorbei. Als diesbezügliche Negativbeispiele der letzten Jahre können beispielsweise die Ausgestaltungen der §§ 66 ff., 129 ff., 218 ff., 261 StGB angeführt werden, trotz des insoweit gesteigert grundrechtssensiblen Bereichs. Es handelt sich aber zugleich etwa auch um eine strafprozessuale Problematik, wie z. B. die §§ 100a ff. StPO aufzeigen. – Vgl. zu grundsätzlicher Kritik an der Gesetzesausgestaltung in heutiger Zeit auch Karpen in ZRP 2005, S. 202 f.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
VIII. Fehlen einer gesetzlichen Grundlage Zuletzt könnte noch darauf verwiesen werden, es fehle insgesamt an einer gesetzlichen Grundlage für eine derartige Berücksichtigung. Dieser Frage soll sich im Anschluss unter B. zugewendet werden. IX. Ergebnis Nach alledem liegen keine einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung per se widersprechenden Gesichtspunkte vor. Nach welchen Vorschriften und Grundsätzen sich dies bei Erwachsenen527 im Einzelnen richten könnte, soll nachfolgend untersucht werden.
B. Normative Grundlage Ist der strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung einer vorverurteilenden Medienberichterstattung durch die voranstehende Entkräftung explizit geäußerter – und möglicher weiterer – Gegenargumente grundsätzlich der Weg bereitet worden, bedarf es noch der Bestimmung einer dogmatischen Grundlage.528 Die wenigen bisherigen insoweit einschlägigen Veröffentlichungen haben sich dieser Frage lediglich kursorisch zugewendet und hierbei auf fundierte oder auch nur annähernd begründete Angaben nahezu gänzlich verzichtet.529 Ohnehin wurde dort dem Begriff „öffentlicher Vorverurteilung“ zumeist ein elementar anderes Verständnis zugrunde gelegt, das sich namentlich in der Wahl einer abweichenden Perspektive äußerte530, weshalb jene Ausführungen nicht – oder doch zumindest nicht ohne weiteres – auf den im Rahmen dieser Arbeit gewählten Blickwinkel531 übertragbar sind. I. § 46 StGB Als dogmatische Grundlage für eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung kommt naturgemäß zunächst § 46 StGB als zentrale Regelung zur Strafzumessung in Betracht. 527
Betr. Jugendliche und Heranwachsende siehe unten C. Dies unbeschadet dessen, dass eine genaue „Lokalisierung“ für die Praxis letztlich unerheblich sein mag (insoweit zutr. Experteninterviews lfd. Nrn. E6 und E8). – Siehe hierzu Frage II. 2. des Interviewleitfadens. 529 Vgl. etwa Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430; Roxin, in: NStZ 1991, S. 154; Dalbkermeyer, S. 232 f.; eine Ausnahme bildet insoweit die Veröffentlichung von Schulz, S. 130 ff. 530 Siehe oben 2. Teil 1. Kap. D., 2. Kap. B. am Ende. 531 Siehe dazu oben 1. Teil 2. Kap. B. II. 528
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 129
1. Einführende Bemerkungen Der nun folgende Abschnitt enthält einführende Bemerkungen zu der Frage, welche Erwägungen von (Grund-)Gesetzes wegen innerhalb der Strafzumessung allgemein relevant werden können. Ausgangspunkt soll hierbei § 46 Abs. 1 S. 1 StGB sein [a)]. Sodann folgt – an den Ablauf des strafgerichtlichen Zumessungsaktes anknüpfend – eine Darstellung der Strafzumessungstatsachen und -erwägungen sowie zu deren Abwägung i. R. d. § 46 Abs. 2 StGB [b)]. Abschließen sollen die Ausführungen einige Anmerkungen zum gleichsam übergeordneten Bereich der Strafzwecke [c)]. Zu späteren Gelegenheiten wird auf diese einleitenden Bemerkungen zurückzukommen sein. a) Ausgangspunkt: § 46 Abs. 1 S. 1 StGB „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Dies ist der zentrale, in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB niedergelegte Grundsatz der Strafzumessung. In dieser Vorschrift kommt das als Verfassungsrechtssatz anerkannte Prinzip zum Ausdruck, wonach Strafe nur bei individueller Schuld des Täters verhängt werden darf (nulla poena sine culpa; sog. Schuldprinzip).532 Die individuell verwirklichte Schuld stellt demzufolge den Ausgangspunkt der Strafzumessung (i. e.S.533) dar, sie fungiert mit anderen Worten als Basis bei der Festsetzung der Höhe der zu verhängenden Strafe innerhalb des nach dem verletzten Strafgesetz anwendbaren Strafrahmens.534 Damit ist zugleich auch ein Bereich vorgegeben, innerhalb dessen sich die verhängte Strafe 532 BVerfGE 20, 323 (331); 45, 187 (259 f.); 86, 288 (313); BVerfG NJW 1995, 248 (249); Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 1; LK/Gribbohm, StGB, Vor § 46 ff. Rn. 3, § 46 Rn. 11; vgl. Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 25. 533 Im Gegensatz zur Strafzumessung i. w. S. (auch „Strafbemessung“ genannt, vgl. die Titelüberschrift im Allgemeinen Teil des StGB, Dritter Abschnitt, Zweiter Titel), die neben der Strafzumessung i. e. S. noch die Bestimmung des anwendbaren gesetzlichen Strafrahmens, die Festlegung der Strafart sowie etwaige Entscheidungen u. a. nach den §§ 56 ff., 59 ff. und 60 StGB umfasst (Fischer, StGB, § 46 Rn. 14; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 22; vgl. Frisch, in: ZStW 99 [1987], S. 353; anders LK/Gribbohm, StGB, Vor § 46 ff. Rn. 4). 534 Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 32. – Wie § 12 Abs. 3 StGB zu entnehmen ist, sieht das Gesetz insoweit besondere Anlässe für Strafschärfungen und -milderungen vor. Solche finden sich im Allgemeinen Teil des StGB z. B. in den §§ 13 Abs. 2, 17 S. 2, 21, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2 S. 2, 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 2, 35 Abs. 1 S. 2 Hs. 2, Abs. 2 S. 2, 46a (jeweils i. V. m. § 49 Abs. 1) StGB, aus dem Besonderen Teil des StGB sind zu nennen die Vorschriften für besonders schwere Fälle u. a. in den §§ 212 Abs. 2, 243, 253 Abs. 4 StGB bzw. solche für minder schwere Fälle beispielsweise in den §§ 213, 226 Abs. 3, 227 Abs. 2, 249 Abs. 2, 250 Abs. 2 StGB.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
grundsätzlich bewegen muss; dieser ist deutlich enger als der gesetzliche Strafrahmen.535 Die verhängte Strafe darf in aller Regel nicht außerhalb des so ermittelten Bereichs liegen, da sie andernfalls das Maß der Schuld unterbzw. überschreiten würde und somit das Erfordernis der Verhängung einer – schon oder noch – schuldangemessenen Strafe nicht erfüllt wäre.536 Nur ganz ausnahmsweise ist eine Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe angezeigt und zulässig, so für den Fall, dass eine schwerwiegende und unverschuldete Belastung auf Seiten des Angeklagten nicht anders zu kompensieren wäre.537 Die Schuld des Täters bildet bei der Zumessung also in aller Regel zugleich Grenze und Begrenzung der zu verhängenden Strafe. Anknüpfungspunkt für das auf dieser Grundlage zu fällende Schuldurteil ist die konkret begangene Unrechtshandlung. Denn Strafrechtsschuld ist Einzeltatschuld, nicht aber Charakterschuld und erst recht nicht Lebensführungsschuld.538 Das Vorleben des Täters kann innerhalb der Strafzumessung (i. e. S.539) allerdings gemäß § 46 Abs. 2 StGB Berücksichtigung finden540 (dazu sogleich). b) Abwägung gemäß § 46 Abs. 2 StGB Die den Zumessungsakt weiter bestimmenden Faktoren – die sog. Strafzumessungstatsachen541 – ergeben sich aus § 46 Abs. 2 StGB. Nach S. 1 dieser Vorschrift hat das Gericht die „für und gegen“ den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen. S. 2 führt sodann in sechs Gruppen zusammengefasste Gesichtspunkte auf, die hierbei berücksichtigt werden 535
So die von der h. M. vertretene Spielraum- oder Rahmentheorie; vgl. dazu BGHSt 7, 28 (32); 20, 264 (266 f.); 24, 132 (133 f.); 27, 2 (3); 29, 319 (320); BGH/D MDR 1974, S. 721; Fischer, StGB, § 46 Rn. 20; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 24; zu einer gegenteiligen Ansicht (der Schuld des Täters entspricht eine ganz bestimmte Strafgröße, sog. Theorie der Punktstrafe) siehe die Nachw. etwa bei Kindhäuser, StGB, § 46 Rn. 50. 536 BGHSt 7, 28 (32); 20, 264 (266 f.); 24, 132 (133 f.); 29, 319 (320); Fischer, StGB, § 46 Rn. 19; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 24; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 12; anschaulich gesprochen ergibt sich ein Strafrahmen, der „nach unten durch die schon schuldangemessene Strafe und nach oben durch die noch schuldangemessene Strafe begrenzt wird“ (BGHSt 7, 28 [32]). 537 Fischer, StGB, § 46 Rn. 19, 61 ff., 67 ff. m. w. N. 538 Siehe nur Wessels/Beulke, Rn. 402. 539 Siehe oben bei und in Fn. 533. 540 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 46 Rn. 29 ff.; auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung sowie über die Verwarnung mit Strafvorbehalt spielt das Vorleben des Täters eine Rolle, siehe § 56 Abs. 1 S. 2 StGB sowie § 59 Abs. 1 S. 1, 2 StGB i. V. m. der im Text genannten Norm. 541 Fischer, StGB, § 46 Rn. 23; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 32; vgl. ausf. Frisch, in: ZStW 99 (1987), S. 375 ff., 377 ff.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 131
können. Wie sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut („kommen namentlich in Betracht“) ergibt, handelt es sich dabei lediglich um eine exemplarische Aufzählung. Darüber hinaus können folglich noch weitere Umstände einzubeziehen sein. Schematisiert man nun die in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB – wie erwähnt exemplarisch – aufgeführten Umstände, so können diese in einerseits auf die Straftat und ihre konkrete Ausführung, andererseits in außerhalb der Tat liegende und (nur) auf den Täter bezogene Gesichtspunkte unterteilt werden. Die in den Gruppen eins bis vier genannten tatbezogenen Umstände betreffen dabei das objektive Gewicht der Tat sowie deren Gefährlich- und Verwerflichkeit. Sie lassen sich wiederum in zuvörderst subjektive Gesichtspunkte auf der einen („Beweggründe“ und „Ziele“ des Täters, die aus der Tat sprechende „Gesinnung“ sowie der bei dieser aufgewendete „Wille“)542 und in erster Linie objektive Gesichtspunkte auf der anderen Seite („Art der Ausführung“, verschuldete „Auswirkungen der Tat“ sowie „Maß der Pflichtwidrigkeit“) einteilen. Die (nur) täterbezogenen Umstände der Gruppen fünf und sechs hingegen betreffen außerhalb der Tat liegende persönliche Umstände, die mit der Straftat und ihrer konkreten Ausführung selbst (noch) nicht bzw. nicht mehr in Zusammenhang stehen. De lege lata sind dies das „Vorleben“ und die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ des Täters sowie sein „Verhalten nach der Tat“, letzteres insbesondere in der Form eines Bemühens um eine Schadenswiedergutmachung oder einen Täter-Opfer-Ausgleich. Nicht explizit genannt sind damit demgegenüber Umstände, die sich erst nach und auf Grund der Tat ergeben und die gleichsam von außen – vor dem förmlichen Beginn und während der Durchführung des strafrechtlichen Verfahrens bis hin zu seinem rechtskräftigen Abschluss und noch danach – auf den Täter einwirken. Derartige Umstände können aber auf Grund des nicht abschließenden Charakters des Kataloges in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB möglicherweise ebenfalls einbezogen werden.543 Die so ermittelten relevanten Strafzumessungstatsachen werden in den sog. Strafzumessungserwägungen nach ihrer jeweiligen, die Strafe verschärfenden oder aber abmildernden Wirkung qualifiziert und hinsichtlich der ihnen insoweit zukommenden Bedeutung gewichtet, um sodann in einem Abwägungsprozess jeweils auch zueinander bewertet und abschließend in die Festsetzung eines bestimmten Strafmaßes einzumünden.544 Bei der im Rah542
Vgl. hierzu Frisch, in: ZStW 99 (1987), S. 765 ff. So etwa eine medienöffentliche Vorverurteilung im hier verstandenen Sinne; siehe näher zu dieser Frage unten 3. 544 BGH StV 1988, 248 (249); BGH/T NStZ 1986, S. 495; Fischer, StGB, § 46 Rn. 74; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 32; vgl. Kindhäuser, StGB, § 46 Rn. 30, 32. 543
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
men dieser Abwägung vorzunehmenden individuellen Gesamtwürdigung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit545 ist zu beachten, dass die ermittelten Umstände überwiegend ambivalent, das heißt doppelwertig sind, also je nach Lage des Falles eine strafschärfende und/oder -mildernde Berücksichtigung finden können546. Gemeinsam ist der Vielzahl vorgenannter strafrechtlicher Zumessungserwägungen, dass diese sich – trotz im Einzelfall bestehender Unterschiede – letztlich auf die im Folgenden unter c) dargelegten anerkannten Strafzwecke zurückführen lassen (müssen).547 c) Strafzwecke Eine ausdrückliche gesetzliche Fixierung der zulässigen Strafzwecke ist im StGB nicht getroffen und ihre Begründung und konkrete Ausgestaltung damit letztlich Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen worden. Einigen Vorschriften des StGB und dabei nicht zuletzt § 46 StGB können diesbezüglich indes zumindest einige Anhaltspunkte entnommen werden, wie auch im Folgenden deutlich werden wird. Ausgehend schon vom Altertum existieren zu den Strafzwecken drei Grundideen548, die bis in heutiger Zeit die strafrechtstheoretische Diskussion bestimmen. Erstens: Die absolute Straftheorie. Sie erblickt den Sinn und Zweck des Strafens ausschließlich in der Vergeltung bzw. Sühne des Rechtsbruches (Vergeltungs- bzw. Sühnetheorie i. S. etwa von Kant und Hegel) und bemisst das Maß der Strafe daher einzig und allein nach dem Ausmaß der Schuld.549 545 BGH NJW 1976, 2220; NStZ 1981, 389; StV 1988, 249; BGH/T NStZ 1986, S. 495; Fischer, StGB, § 46 Rn. 14; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 47, 49. 546 BGH NJW 1995, 1038; Fischer, StGB, § 46 Rn. 23, 74; Kindhäuser, StGB, § 46 Rn. 30; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 32; Jescheck/Weigend, S. 886. 547 Vgl. Kindhäuser, StGB, § 46 Rn. 2 ff.; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 3; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 46 Rn. 3; a. A. SK/Horn, StGB, § 46 Rn. 33 ff. 548 Roxin, Strafrecht, § 3 Rn. 1 ff.; vgl. Albrecht, Kriminologie, S. 40 ff. – Denkbar erscheint demgegenüber auch eine Einteilung in nur zwei Grundauffassungen: die absolute(n) Straftheorie(n) auf der einen, die relative(n) Straftheorie(n) auf der anderen Seite (so etwa LK/Gribbohm, StGB, Vor § 46 ff. Rn. 26; Baumann/Weber/ Mitsch, § 3 Rn. 24; Maurach/Zipf, § 6 Rn. 3 f., 5 ff.; Koriath, in: Jura 1995, S. 625). 549 Punitur quia peccatum est gegenüber punitur ne peccetur i. S. der relativen Theorien; vgl. Kindhäuser, StGB, Vor § 1 Rn. 18 ff.; LK/Gribbohm, StGB, Vor § 46 ff. Rn. 26; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 50; Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 23.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 133
Die Idee einer derartigen reinen Abrechnungsstrafe hat z. B. in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ihren Niederschlag gefunden.550 Zum Zweiten: Die Theorie der Spezialprävention. Sie versteht die Strafe als Mittel zum Zweck (relative Straftheorie), wobei der Zweck in der Vorbeugung weiterer Straftaten des einzelnen Täters liegt.551 Prominentester Vertreter dieser Theorie war Franz von Liszt (1851–1919), demzufolge in Abhängigkeit von der jeweiligen Täterpersönlichkeit verschiedene Sanktionsmöglichkeiten eröffnet sind: Unschädlichmachung der weder abzuschreckenden noch zu bessernden Gewohnheitsverbrecher und Abschreckung der bloßen Gelegenheitstäter (negative Spezialprävention) sowie Besserung der Besserungsfähigen und -bedürftigen (positive Spezialprävention).552 Eine solche, auf den Sicherungs- und Erziehungszweck abstellende Strafe wird z. B. in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB553 zugrunde gelegt, wonach die „Wirkungen, die von der Strafe für das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind“, zu berücksichtigen sind. Auch in § 47 Abs. 1 StGB („zur Einwirkung auf den Täter“) und in den §§ 56 Abs. 1 S. 2, 57 Abs. 1 S. 2, 57a Abs. 1 S. 2, 59 Abs. 1 S. 2 StGB („Wirkungen [. . .], die [. . .] für ihn zu erwarten sind“) sind spezialpräventive Erwägungen enthalten. Zuletzt: Die Theorie der Generalprävention. Sie misst dem Akt des Strafens desgleichen einen weitergehenden Zweck zu und ist somit ebenfalls den sog. relativen Straftheorien zuzuordnen. Der Zweck ist hier jedoch nicht mehr auf den etwaigen Täter bezogen, sondern richtet sein Augenmerk auf die Allgemeinheit.554 Das Androhen von Strafe soll demnach zum einen potentielle Täter abschrecken (negative Generalprävention i. S. Anselm von Feuerbachs, 1775–1833), zum anderen soll durch die strafrechtliche Verfolgung das Vertrauen der Bevölkerung in die Bestandsund Durchsetzungskraft der Rechtsordnung gefestigt werden (positive Generalprävention).555 Das Gesetz greift diesen Gedanken auf z. B. in den 550
Vgl. dazu bereits oben a). LK/Gribbohm, StGB, § 46 ff. Rn. 28; Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 24. 552 v. Liszt, in: ZStW 3 (1883), S. 33 ff., 36: „1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher“ (im Original in Kursivdruck), näher zu diesen Gruppen dann im Anschluss auf S. 36 ff., S. 40 f. und S. 41 f.; siehe auch LK/Gribbohm, StGB, § 46 ff. Rn. 28 und v. Liszt/Schmidt, S. 8; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 36. 553 Sog. Sozialklausel; dazu Streng, in: JR 2006, S. 258. 554 BGHSt 34, 150 (151); Kindhäuser, StGB, Vor § 1 Rn. 21; LK/Gribbohm, StGB, § 46 ff. Rn. 29; Baumann/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 25; Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 24. 555 Kindhäuser, StGB, Vor § 1 Rn. 23, 25; -6- ; LK/Gribbohm, StGB, § 46 ff. Rn. 29; Naucke, Privilegierung, S. 31; vgl. dazu BGHSt 34, 150 (151). 551
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
§§ 56 Abs. 1 S. 1 und 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB („schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen“ und „künftig auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen“) bzw. in den §§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 3 und 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB (zur „Verteidigung der Rechtsordnung“). Von den vorgenannten Strafzwecken hat keiner per se auszuscheiden. Zu Recht vorherrschend sind daher heute die sog. Vereinigungstheorien556, die sich darum bemühen, die unterschiedlichen und zu großen Teilen gegenläufigen Strafzwecke in ein System der Co-Existenz zu bringen und hierbei je nach Lage des Falles mal dem einen, mal dem anderen Gesichtspunkt ein höheres Gewicht zukommen lassen. Insgesamt ermöglicht dies eine an allen straftheoretisch denkbaren Gesichtspunkten orientierte und ganz auf den konkreten Einzelfall bezogene Strafzumessung.557 2. Keine Rechtsgrundlage in § 46 Abs. 1 S. 1 und 2 StGB Als Rechtsgrundlage ungeeignet erweist sich innerhalb von § 46 StGB zunächst dessen Abs. 1 S. 1, worin lediglich die Schuld zur Grundlage der Strafzumessung erklärt wird. Gleiches gilt im Ergebnis für § 46 Abs. 1 S. 2 StGB, wonach zwar die für das zukünftige Leben des Täters in der Gemeinschaft zu erwartenden Auswirkungen der Strafe zu berücksichtigen sind, nicht aber diejenigen des durchgeführten Strafverfahrens im Allgemeinen und einer dieses etwaig begleitenden vorverurteilenden Berichterstattung im Besonderen. Zu den im Rahmen des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB berücksichtigungsfähigen Nachteilen gehören also etwaige aus der verhängten Strafe resultierende disziplinaroder standesrechtliche Konsequenzen wie beispielsweise der Verlust der Beamtenrechte und der Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer, ferner ein sonstiger Arbeitsplatzverlust und allgemein die Gefährdung der beruflichen Existenz.558 Eine Berücksichtigung von speziell infolge einer me556
Vgl. BVerfGE 45, 187 (253 f.); 64, 261 (271); BGHSt 20, 264 (266 f.); 28, 318 (326 f.); Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 2; Baumann/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 61 ff., 63; Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 25; Maurach/Zipf, § 6 Rn. 8; ausf. Koriath, in: Jura 1995, S. 625 ff.; vgl. dazu auch die Darstellungen bei Albrecht, Kriminologie, S. 44, Jescheck/Weigend, S. 75 ff. und Roxin, Strafrecht, § 3 Rn. 33 ff., 37 ff. 557 Vgl. Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 25 m. Nachw. aus der Rspr.; Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 147. 558 Vgl. nur BGH/T NStZ 1986, S. 496 f. und BGH/D NStZ 1990, S. 221, jeweils m. Nachw. aus der unveröffentlichten Rspr. des BGH; vgl. ferner MK/Franke,
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 135
dienöffentlichen Vorverurteilung erlittenen Beeinträchtigung hingegen ist hierüber nicht möglich.559 3. Katalogisierter Umstand i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB? Die im Rahmen des § 46 Abs. 2 S. 1 StGB vorzunehmende Abwägung stützt sich inhaltlich auf die im Anschluss in S. 2 der Vorschrift exemplarisch genannten Umstände, die nach dem Willen des Gesetzgebers in die Bemessung der konkreten Strafe einfließen können. Angesichts des nicht abschließenden Charakters dieses Kataloges560 kommen weitere Gesichtspunkte in Betracht. Zu prüfen ist, ob Beeinträchtigungen im hier verstandenen Sinne, die sich auf Grund einer vorverurteilenden Medienberichterstattung für den Angeklagten ergeben haben, im Einzelfall einen solchen Gesichtspunkt darstellen können. Wie bereits ausgeführt wurde561, ist der Gesichtspunkt der Vorverurteilung nicht explizit als zu berücksichtigender Umstand benannt. Er könnte gleichwohl von einem der genannten Umstände umfasst sein, was durch Auslegung562 zu ermitteln sein wird. Namentlich könnte es sich bei den auf Grund einer Vorverurteilung für den Täter ergebenden Beeinträchtigungen etwa um „verschuldete Auswirkungen der Tat“ i. S. der Grp. 4 Alt. 2 handeln [dazu unten b)]. Insbesondere aber könnten etwaige Beeinträchtigungen des Täters den Gruppen fünf bzw. sechs zuzuordnen sein, die außerhalb der Tat liegende und (nur) auf den Täter bezogene Umstände betreffen. Letztere sind „das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ bzw. „sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“. Um eine etwaige Schadenswiedergutmachung i. S. der Grp. 6 Alt. 1 geht es hier jedoch nicht, und auch das (sonstige) Nachtatverhalten des Täters ist vorliegend nicht einschlägig. Vorverurteilende Gesichtspunkte können ferner nicht innerhalb der fünften Gruppe unter das „Vorleben“ des Täters gefasst werden, geht es bei diesen doch eher StGB, § 46 Rn. 54, Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 46 Rn. 55 und Terhorst, in: JR 1989, S. 185 f., jeweils m. w. N. 559 Insoweit a. A. Experteninterviews lfd. Nrn. E4 und E5, nach letzterem allg. „wegen Verletzung der Menschenwürde“. 560 Siehe oben 1. b) am Anfang. 561 Vgl. oben bei und in Fn. 543. 562 Ausf. zu (straf-)rechtswissenschaftlichen Auslegungsmethoden und -hilfsmitteln siehe etwa die Darstellungen von Baumann/Weber/Mitsch, § 9 Rn. 67 ff. und Larenz, Methodenlehre, S. 312 ff.; siehe auch Herzberg, in: JuS 2005, S. 1 ff.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
um Aspekte seines „Nachlebens“. Sie könnten in dieser Gruppe aber unter die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ des Täters zu fassen sein (dazu sogleich). a) „Persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse“ (Grp. 5 Alt. 2) Im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut bereitete es keine Schwierigkeiten, die sich für den Angeklagten ergebenden Beeinträchtigungen dem Bereich seiner „persönlichen Verhältnisse“ zuzuordnen und hier danach zu fragen, ob negative Konsequenzen etwa im gesundheitlichen, familiären oder sonstigen sozialen Bereich563 eingetreten sind.564 Und die „wirtschaftlichen Verhältnisse“, also die finanzielle Ausstattung im Zeitpunkt der Verurteilung565, kann sich beispielsweise dadurch nachhaltig verschlechtert haben, dass der Angeklagte auf Grund der vorverurteilenden Berichterstattung seinen Arbeitsplatz bereits verloren hat bzw. bei der (neuerlichen) Arbeitsplatzsuche erfolglos geblieben ist. Die Systematik von § 46 Abs. 2 S. 2 StGB indes spricht gegen die Berücksichtigung einer medienöffentlichen Vorverurteilung unter dem Aspekt der „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“. Denn die (nur) auf den Täter bezogenen Gruppen fünf und sechs haben ausschließlich solche Gesichtspunkte zur Grundlage, die sich entweder bereits vor der Tat eingestellt haben oder sich zwar erst nach der Tat ergeben haben, aber zentral vom Täter beeinflusst werden (können). Nicht umfasst sind hingegen Umstände, die sich erst nach und auf Grund der Tat ergeben und die vor dem förmlichen Beginn, während seines Verlaufs bis hin zum rechtskräftigen Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens und noch danach gleichsam von außen – und von diesem unbeeinflusst – auf den Täter einwirken. In historischer Hinsicht können hierzu keine fundierten Aussagen gemacht werden, da § 46 StGB insgesamt dem Wandel der Zeit unterliegt566 und daher der dokumentierte Gesetzgeber schon denklogisch keinen manifestierenden Einfluss darauf haben kann, was im Rahmen der Strafzumessung im Einzelnen – und wie hier gerade neuere Phänomene betreffend – zu veranschlagen ist und was nicht. 563
Vgl. MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 45. In drei Gesprächen (Experteninterviews lfd. Nrn. E1, E2 und E19) wurde daher eine Berücksichtigung unter diesem Gesetzesmerkmal befürwortet. 565 Vgl. MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 47. 566 Vgl. allg. Baumann/Weber/Mitsch, § 9 Rn. 76. 564
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Sinn und Zweck der Norm567 schließlich sprechen zumindest nicht gegen die Einbeziehung derartiger Umstände: Eine vorverurteilende Berichterstattung kann sich nachhaltig auf die private und zugleich finanzielle Situation des Angeklagten auswirken und so „seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ negativ beeinflussen. Zudem geht es – makroperspektivisch betrachtet – bei § 46 Abs. 2 S. 1 und 2 StGB stets darum, sämtliche für und gegen den Täter sprechenden Umstände zu ermitteln, um diesen sodann eine strafmildernde oder auch -schärfende Wirkung zuzusprechen568. Völlig geringfügige Auswirkungen und andere unbedeutende Gesichtspunkte werden innerhalb dieser Bewertung indes außer Betracht zu bleiben haben.569 Eine vorverurteilende Berichterstattung i. S. der hier getroffenen Definition übersteigt diese Geringfügigkeitsschwelle im Einzelfall570 und ist daher nach Sinn und Zweck des dem § 46 Abs. 2 StGB insgesamt zugrunde liegenden Strafzumessungsgedankens geeignet, bei der konkreten Bemessung der Strafe in Anschlag gebracht zu werden. Die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 Grp. 5 Alt. 2 StGB sind aber aus den genannten systematischen Erwägungen heraus nicht zu einer Einbeziehung vorverurteilender Gesichtspunkte geeignet. b) „Verschuldete Auswirkungen der Tat“ (Grp. 4 Alt. 2) Unter die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ (Grp. 4 Alt. 2) ließe sich eine vorverurteilende Berichterstattung dem reinen Wortlaut nach ebenfalls fassen. Denn zum einen resultiert die Negativ-Berichterstattung einzig und allein aus der (vorgeworfenen) Tat, diese ist – eine stets wahrheitsgetreue Berichterstattung der Medien einmal unterstellt – conditio sine qua non für jene. Zum anderen ist die Erwägung, dass die „Auswirkungen“ ausschließlich Schäden an anderen Rechtsgütern betreffen können571, nicht etwa zwingend. Auch Auswirkungen der Tat auf den Täter selbst könnten hiervon umfasst sein.572 Allerdings würde solchenfalls die im 567 Krit. hinsichtlich der diesem Auslegungskriterium im Allgemeinen eingeräumten Bedeutung Herzberg, in: JuS 2005, S. 2, 6 ff. 568 Zu Nachw. siehe oben Fn. 544. 569 Allg. zu § 46 Abs. 2 StGB vgl. BGHSt 29, 319 (320); 44, 125 (126); speziell zu den „persönlichen Verhältnissen“ vgl. Fischer, StGB, § 46 Rn. 42. 570 Vgl. näher unten IV. 2. 571 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 888. 572 So auch Fischer, StGB, § 46 Rn. 34b.
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Gesetz angelegte Unterscheidung zwischen „verschuldeten“573 oder aber unverschuldeten Auswirkungen kaum überzeugen können, da derartige Gesichtspunkte unabhängig von einem Verschulden des Täters berücksichtigt bzw. unverschuldeten Auswirkungen insoweit sogar eine höhere strafmildernde Wirkung beigemessen werden müssten.574 Aus diesem Grunde spricht bei § 46 Abs. 2 S. 2 Grp. 4 Alt. 2 StGB schon der Wortlaut eher gegen die Möglichkeit einer Veranschlagung von Nachteilen, die den Täter selbst getroffen haben. Zudem sprechen wiederum systematische Erwägungen gegen eine Einbeziehung: Wie bereits ausgeführt wurde575, handelt es sich bei den „verschuldeten Auswirkungen“ – wie insgesamt bei den Gesichtspunkten der Gruppen eins bis vier – um tatbezogene Umstände, die das objektive Gewicht der Tat sowie ihre Gefährlichkeit und Verwerflichkeit anbelangen. Nicht umfasst hingegen sind solche Umstände, die sich erst nach und auf Grund der Tat ergeben und die gleichsam von außen auf den Täter einwirken – und zwar bereits vor dem förmlichen Beginn, während seines Verlaufs bis hin zum rechtskräftigen Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens und noch danach. Im Falle einer vorverurteilenden Berichterstattung handelt es sich indes um eine solche nachträglich erfolgende Einwirkung von außen, die durch die (mutmaßliche) Begehung der Tat selbst ausgelöst wird, und diese verursacht erst im Anschluss die in Rede stehenden Beeinträchtigungen. Die im Rahmen von § 46 Abs. 2 S. 2 Grp. 5 Alt. 2 StGB gemachten Ausführungen in historischer Hinsicht576 gelten hier entsprechend. Im Hinblick auf den durch die Rechtsprechung näher ausgefüllten Sinn und Zweck der Regelung ist anzuführen, dass das Merkmal der „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ sowohl unmittelbare Tatfolgen als auch nur mittelbare bzw. außertatbestandliche Folgen der Tatbestandsverwirklichung beinhaltet577. Eine entsprechende Medienberichterstattung mit all ihren Konsequenzen ist die Folge der (mutmaßlichen) Begehung der Straftat. 573
Verschuldet sind die Auswirkungen, wenn sie mindestens vorhersehbar und dem Täter vorwerfbar sind (BGHSt 37, 179 [180]; BGH NStZ 1986, 85 [86]; 2002, 645; StV 1987, 100; Fischer, StGB, § 46 Rn. 34; Kindhäuser, StGB, § 46 Rn. 38; MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 37; Jescheck/Weigend, S. 888). 574 Insoweit im Ergebnis fehlgehend Fischer, StGB, § 46 Rn. 34b. 575 Siehe oben 1. b). 576 Siehe oben bei und in Fn. 566. 577 So die h. M.; siehe nur BGHSt 37, 179 (180); Fischer, StGB, § 46 Rn. 34; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 143 ff., 149; MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 37; Jescheck/Weigend, S. 888; krit. zur terminologischen Untergliederung in „inner-“ und „außertatbestandliche“ Folgen Frisch, in: ZStW 99 (1987), S. 755.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 139
Insoweit könnten hier auch die sich speziell aus einer medienöffentlichen Vorverurteilung ergebenden Beeinträchtigungen einbezogen werden. Die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 Grp. 4 Alt. 2 StGB sind – insbesondere wiederum aus systematischen Erwägungen – ebenfalls nicht zu einer Einbeziehung vorverurteilender Gesichtspunkte geeignet. c) Ergebnis Die aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung resultierenden Beeinträchtigungen lassen sich nicht unter die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ (Grp. 4 Alt. 2) oder die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ des Täters (Grp. 5 Alt. 2) subsumieren. Da die übrigen in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB namentlich aufgeführten Umstände schon vom Wortlaut her ebenfalls ausscheiden, kann § 46 Abs. 2 S. 2 StGB – bezogen auf die dort explizit benannten Umstände – insgesamt nicht als dogmatische Grundlage herhalten. 4. Nicht katalogisierter Umstand i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB? Für diesen Fall, dass sich die Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Berichterstattung nicht unter einen der in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB ausdrücklich benannten Gesichtspunkte subsumieren lassen, könnte aber ein nicht „namentlich“ genannter, sprich: unbenannter Fall gegeben sein.578 Der gesetzlichen Intention beispielhafter Aufzählungen entsprechend werden hierbei nur solche Umstände zu berücksichtigen sein, die mit den explizit aufgeführten Gesichtspunkten nach Inhalt und Schwere vergleichbar sind. Eine Gegenüberstellung mit diesen Umständen würde also gegebenenfalls Aufschluss darüber geben müssen, ob die einer medienöffentlichen Vorverurteilung entstammenden Beeinträchtigungen des Angeklagten prinzipiell als Strafzumessungsgesichtspunkt relevant werden können. Bevor dies einer näheren Untersuchung unterzogen werden muss, ist jedoch – dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali folgend – eine Überprüfung dahingehend erforderlich, ob keine speziellere Regelung existiert, die eine Berücksichtigung derartiger, erst nachträglich und von außen 578 Eine Einstufung der Beeinträchtigungen einer medienöffentlichen Vorverurteilung als „unbenannter Fall“ i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB wurde von insgesamt fünf Interviewpartnern befürwortet (Experteninterviews lfd. Nrn. E1 und E6 sowie J2, J7 und J8).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
auf den Täter einwirkender Umstände eröffnet. Im Falle des Bestehens einer solchen Spezialregelung bedürfte es sodann keiner weiteren Überlegungen, ob gegebenenfalls ein unbenannter Fall des § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB vorliegen könnte. II. § 51 StGB Als Spezialregelung in Betracht kommt zunächst § 51 StGB. Nach dieser Vorschrift sind bestimmte Nachteile, die der Täter anlässlich seiner Tat bereits erlitten hat, in die Entscheidung über die zu verhängenden Rechtsfolgen einzubeziehen (sog. Anrechnung)579. Hintergrund dieser Regelung ist nicht zuletzt der verfassungsrechtliche ne bis in idem-Grundsatz des Art. 103 Abs. 3 GG580. Im Falle nur vorläufiger Maßnahmen, die zwar keine „echten“ Strafen i. S. der §§ 38 ff. StGB darstellen, aber zumeist die gleiche Wirkung auf den Betroffenen haben, ist es geboten, diese auf die „eigentliche“ Strafe anzurechnen.581 So ist gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 StGB die Dauer von Untersuchungshaft i. S. der §§ 112 ff. StPO und diejenige einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme582 bei der Bemessung einer zeitigen Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe zu berücksichtigen. Nach § 51 Abs. 5 S. 1 StGB gilt dies entsprechend für die Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis i. S. d. § 111a StPO hinsichtlich der Verhängung eines Fahrverbots gemäß § 44 StGB. Weitere Anrechnungsfälle sind in § 51 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 und 2 sowie Abs. 5 S. 2 StGB enthalten. § 51 StGB ermöglicht folglich den einzelfallbezogenen Ausgleich für bereits erlittene Übel, die sich erst nach der Tat eingestellt haben. Hierzu könnten allgemein auch die aus einer Vorverurteilung resultierenden Beeinträchtigungen des Angeklagten gezählt werden. Wie sich aus der Umrechnungsbestimmung des Abs. 4 der Vorschrift583 ergibt, ist eine Anrechnung prinzipiell auch bei Ungleichwertigkeit der erlittenen Übel denkbar, so dass nicht bereits aus diesem Grunde eine Berücksichtigung der infolge einer Vorverurteilung erlittenen Beeinträchtigungen auszuscheiden hätte. Zudem könnte über § 51 Abs. 1 S. 2 StGB, wonach die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleiben kann, wenn sie „im Hinblick auf das Verhalten des 579 Siehe dazu schon v. Liszt/Schmidt, S. 433 f. (zu § 60 StGB a. F. = § 51 StGB). 580 Jescheck/Weigend, S. 903; dazu allg. Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 56 ff. und Pieroth/Schlink, Rn. 1100 ff. 581 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 903. 582 Siehe dazu ausf. LK/Gribbohm, StGB, § 51 Rn. 3 ff. 583 Zu Einzelfragen der Umrechnung siehe Fischer, StGB, § 51 Rn. 18 f.; MK/ Franke, StGB, § 51 Rn. 22 ff.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 141
Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt“ wäre, eine Instrumentalisierung der Medien durch den Angeklagten selbst oder seinen Verteidiger584 unmittelbar zulasten des Angeklagten berücksichtigt werden. Insgesamt beinhaltet die Vorschrift des § 51 StGB aber – wie aus den obigen Ausführungen bereits deutlich geworden ist – Spezialregelungen, die nur einige wenige, inhaltlich fest umrissene und hier nicht einschlägige nachteilige Aspekte betreffen. Im vorliegenden Zusammenhang hilft § 51 StGB daher nicht weiter. Dies gilt unbeschadet des Umstandes, dass der BGH nach neuester Rechtsprechung585 zumindest hinsichtlich eines Teilbereichs denkbarer Übelszufügungen – namentlich in Fällen überlanger Verfahrensdauer586 – einer sog. Vollstreckungslösung folgt, wonach „zur Entschädigung (. . .) ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt“587, und dies auf den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB zu stützen versucht hat588. Insbesondere ist die Auffassung, wonach sich die insoweit bislang vertretene sog. Strafzumessungslösung nur bedingt, das nunmehr vertretene Modell dafür „allgemein stimmiger“589 in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge, unzutreffend, wie auch den nachfolgenden Betrachtungen entnommen werden kann, und es verbietet sich schon aus diesem Grunde eine Übertragung auf die hier in Rede stehende Fallkonstellation medienöffentlicher Vorverurteilung.590
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Vgl. oben A. II. 1. BGH GS NJW 2008, 860 ff.; auf Vorlage des 3. Strafsenats, BGH NJW 2007, 3294 ff.; nachfolgend etwa BGH NStZ-RR 2008, 208 (208 f.); StV 2008, 298 (298 f.). 586 Und wenn die Verfahrensverzögerungen hierbei (zumindest teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruhen. – Zur Möglichkeit einer Reduzierung lebenslanger Freiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung beim Mord (§ 211 StGB) siehe Hoffmann-Holland, in: ZIS 2006, S. 539 ff. 587 BGH GS NJW 2008, 860. 588 BGH GS a. a. O., 860 (863, 864 f.). 589 So BGH NJW 2007, 3294 (3297); zust. Peglau, in: NJW 2007, S. 3298 f. 590 Darüber hinaus bestehen – etwa angesichts negativer Konsequenzen für solche Fälle, in denen unter Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bislang statt einer Vollzugs- eine Bewährungsstrafe ausgesprochen oder in denen die Strafe auf 90 Tagessätze reduziert werden konnte – auch ganz erhebliche inhaltliche Bedenken gegen das durch den BGH nunmehr vertretene Modell, weshalb die genannte Entscheidung insgesamt überwiegende Ablehnung erfahren hat (siehe nur Gaede, in: JZ 2008, S. 422 m. w. N. in Fn. 4; Leipold, in: NJW-Spezial 2008, S. 152; vgl. Kraatz, in: JR 2008, S. 189, 191 f., 195; a. A. Peglau, in: NJW 2007, S. 3298 f.). 585
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
III. § 60 StGB In den hier behandelten Fällen geht es um nachteilige Konsequenzen, die sich aus einer vorverurteilenden Berichterstattung für den Angeklagten ergeben haben. § 60 StGB könnte geeignet sein, eine Berücksichtigung derartiger Umstände zu ermöglichen. Dies soll im Folgenden einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Die in Rede stehende Vorschrift lautet591: „§ 60. Absehen von Strafe 1 Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. 2 Dies gilt nicht, wenn der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat.“
Die in Bezug genommene Norm, die unter bestimmten Voraussetzungen ein richterliches Absehen von Strafe592 ermöglicht, befindet sich wie schon die §§ 46, 51 StGB im Abschnitt über die Rechtsfolgen der Tat, wenngleich erst in dessen 5. Titel und damit außerhalb der Vorschriften des 2. Titels zur Strafbemessung (§§ 46–51 StGB). Trotz ihrer – insoweit verfehlten593 – Stellung im Gesetz ist die Vorschrift nach allgemeiner Ansicht schon auf Grund ihres Regelungsgehaltes als Vorschrift zur Strafzumessung zu qualifizieren.594 Der in einem der geführten Interviews595 vorgebrachte Einwand, § 60 StGB sei im Zusammenhang mit § 59 StGB zu sehen und bereits aus diesem Grunde ungeeignet, als rechtliche Grundlage einer Strafmilderung zu dienen, erweist sich folglich als haltlos. 591 Die Vorschrift, die auf § 16 StGB i. d. F. des 1. StrRG v. 25.6.1969 zurückgeht, wurde mit der Neufassung des Allgemeinen Teils des StGB durch das 2. StrRG v. 4.7.1969 zum 1.1.1975 ohne inhaltliche Veränderungen zu § 60 StGB in seiner noch heute geltenden Form. – Ausf. zur Entstehungsgeschichte der Norm siehe Bassakou, S. 1 ff. 592 Weitere, indes auf teils unterschiedlichen kriminalpolitischen Erwägungen beruhende (vgl. dazu Jescheck/Weigend, S. 867) Vorschriften, die ein Absehen von Strafe ermöglichen, sind im Allgemeinen Teil § 23 Abs. 3 StGB und im Besonderen Teil die deliktsspezifischen Sonderregelungen z. B. der §§ 113 Abs. 4, 129 Abs. 5, Abs. 6 (i. V. m. 129a Abs. 7), 142 Abs. 4, 157 Abs. 1 und 2, 158, 320 Abs. 2, 330b Abs. 1 StGB. 593 Vgl. nur MK/Groß, StGB, Vor §§ 59 ff. Rn. 7; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 315; offen gelassen in LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 6. 594 BayObLG NStZ 1991, 584; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 1, 21; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 1, 10; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 1, 7; Maurach/Gössel/Zipf, § 66 Rn. 10; Brunner, in: JR 1992, S. 389; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 400 f. („eine der Strafzumessung im weiteren Sinne angehörende ‚Tatfolgenregelung‘ “); im Ergebnis ebenso Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 315. 595 Experteninterview lfd. Nr. P2.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 143
Vielleicht schon auf Grund der verfehlten Stellung im Gesetz und allgemein gewiss auch wegen der rechtstatsächlichen Verortung im „Dunkel der Strafzumessung“ gelangt die Vorschrift nur sehr zurückhaltend zur Anwendung und spielt in der strafgerichtlichen Praxis demzufolge eine eher untergeordnete Rolle596. Dies wurde nicht zuletzt auch in den geführten Interviews deutlich.597 1. ratio legis § 60 StGB trägt einer zunehmenden Individualisierung in der Strafrechtsentwicklung im Bereich der Rechtsfolgenverhängung Rechnung598 und stellt damit ein „typisches Beispiel moderner Kriminalpolitik“599 dar. Der Norm zugrunde liegt der Gedanke, dass – ähnlich wie bei einer Anrechnung in den Fällen des § 51 StGB600 – seitens des Täters bereits erlittene Konsequenzen der Tat bei der konkreten Bemessung der Strafe einzubeziehen sind.601 a) Tatvergeltende Aspekte In straftheoretischer Hinsicht602 lassen sich hierfür insbesondere tatvergeltende Aspekte i. S. der absoluten Theorien heranziehen: Die durch die 596 So haben die Gerichte in den Jahren 2002 bis 2005 lediglich in 306, 324, 388 und 322 Fällen gemäß § 60 StGB von Strafe abgesehen (Statistisches Bundesamt 2002–2005, Fachserie 10, Reihe 3, Tab. 2.2). – Wie hier LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 13 (Heranziehung seitens der Gerichte „nur sehr zurückhaltend“); vgl. Stree, in: NStZ 1997, S. 122 („Vorschrift [. . .], die [. . .] nicht immer die gebührende Beachtung findet“); nach Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 1 und NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 2 spielt die Vorschrift u. a. wegen § 153b Abs. 1 StPO sogar überhaupt „keine Rolle“. Im „Lehr- und Praxiskommentar“ von Kindhäuser, StGB, umfasst die Kommentierung zu § 60 StGB in sechs Randnummern nicht mal eine halbe Seite; vgl. auch die Entscheidungen BGH NStZ 1997, 121 (121 f.) und OLG Celle NStZ 1989, 385 (385 f.), in denen die jeweilige(n)Vorinstanz(en) § 60 StGB trotz entsprechender Anhaltspunkte gar nicht erst erwogen hat (haben). 597 Lediglich in einem der geführten Gespräche (Experteninterview lfd. Nr. E3) wurde § 60 StGB eigenständig als mögliche Rechtsgrundlage genannt, im Übrigen wurde die Norm erst nach entsprechender Fragestellung thematisiert. 598 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 1, vgl. auch Rn. 7; Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 670; Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 66; vgl. Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 320, 322. 599 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 1; Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 68. 600 Siehe oben bei und in Fn. 579. 601 Einen guten Überblick über die hinsichtlich Sinn und Zweck des § 60 StGB insgesamt vertretenen Ansichten verschafft Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 308 ff. 602 Allg. zu den Strafzwecken siehe oben I. 1. c).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Tat eingetretenen (schweren) Folgen können als poena naturalis begriffen werden603 und im Einzelfall auf die strafgerichtlich gegebenenfalls noch auszusprechende poena civilis anzurechnen sein.604 Der Täter ist mit anderen Worten aus tatsächlichen Gründen heraus „schon genug bestraft“, als dass es (zusätzlich) noch einer justitiellen Ahndung der Tat bedürfte.605 Es geht in diesen Fällen letztlich also um einen Verzicht auf Strafe, der auf dem Fehlen eines fortbestehenden (mehr aus der Sicht des Staates formuliert:) Strafbedürfnisses606 bzw. der Verneinung einer andauernden (mehr auf den Täter bezogen:) Strafbedürftigkeit607 beruht, was wiederum daraus resultiert, dass die Schuld des Täters als bereits ausreichend kompensiert608 erscheint. Angesichts dessen, was dem Täter infolge seiner Tat schon widerfahren ist, hat sich der Ausspruch einer Strafe als staatliche Reaktion auf das Tatgeschehen mit anderen Worten „schlechterdings erübrigt“.609 Insoweit handelt es sich in folgenorientierter Betrachtungsweise im Anwendungsbereich des § 60 StGB streng genommen auch gar nicht um ein – hier ganz ausnahmsweise als zulässig zu beurteilendes610 – Unterschreiten der gesetzlichen Strafrahmenuntergrenze bzw. der schuldangemessenen Strafe (namentlich auf „Null“611), berücksichtigt man unter dem Blickwin603 Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 1; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 21; MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 3; Jescheck/Weigend, S. 862; Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 115 f., 117; vgl. Meier, Sanktionen, S. 49; Streng, in: JR 2006, S. 258, 261; a. A. noch Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rn. 5 unter fehlgehendem Verweis auf OLG Hamm MDR 1972, 66 (in nachfolgenden Auflagen folgerichtig nicht mehr erwähnt). – Ausf. zum Gedanken einer poena naturalis bei der Berücksichtigung von Folgen der Tat i. S. d. § 60 StGB Bassakou, S. 114 ff. 604 NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 1; vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928; ders., in: FS Sarstedt, S. 67; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 306, 309 f. 605 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 2 f.; Jescheck/Weigend, S. 862; Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 168; Roxin, Strafrecht, § 4 Rn. 30; vgl. Streng, in: NStZ 1988, S. 487 Fn. 25; vgl. auch Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 309 f. 606 BGH NStZ 1997, 121 (122); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 2; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 3; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 1 (Strafverhängung „unnötig“); Jescheck/Weigend, S. 867; Eser, in: FS Maurach, S. 260; vgl. Stree, in: NStZ 1997, S. 123. 607 Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 1 (Ausspruch einer Strafe „unangebracht“); Baumann/Weber/Mitsch, § 33 Rn. 11 („erhebliche Minderung des Strafwürdigkeitsgehalts“); Wessels/Beulke, Rn. 496; Eser, in: FS Maurach, S. 258. 608 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 3; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 1; Schönke/ Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 1; ähnl. Jescheck/Weigend, S. 862: „Schuld des Täters durch die schweren Folgen, die für ihn ähnlich wie eine Strafe gewirkt haben, (. . .) bereits ausgeglichen“; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 und 318. 609 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 6. 610 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 4, 8, 43; vgl. Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 685; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 321. – Siehe allg. oben bei und in Fn. 537.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 145
kel eines „Gesamtstrafübels“, dass die Schuld bereits anderweitig, und zwar in der Form einer poena naturalis, „abgegolten“ wurde. b) Weitere Aspekte Auch die anderen Leitgesichtspunkte des Strafens können innerhalb des so eröffneten „Mikrokosmos der Strafzwecke“612 zur Begründung herangezogen werden613. In positiv spezialpräventiver Hinsicht kann z. B. darauf abgestellt werden, ob die Auswirkungen der Tat für den Täter so nachhaltig waren, dass eine (zusätzliche) Strafe diesen nicht mehr beeindrucken würde und die Folgen an sich für ihn bereits „Warnung genug“ gewesen sind.614 Eine Strafe kann in diesem Sinne für den Fall unterbleiben, dass infolge der damit einhergehenden Abschreckung insgesamt kein Präventionsbedürfnis mehr besteht.615 Dann ist zugleich die Allgemeinheit vor der Begehung weiterer Straftaten durch diesen Täter in ausreichendem Maße abgesichert (negativspezialpräventiver Ansatz). Generalpräventiv kann beispielsweise eine Rolle spielen, ob von den eingetretenen Tatfolgen bereits eine entsprechende Wirkung auf die Allgemeinheit ausgegangen ist bzw. noch immer ausgeht und sich daher eine (weitere) Bestrafung des Täters zur „Verteidigung der Rechtsordnung“ für die Allgemeinheit erübrigt.616 Schwerste gesundheitliche Folgen auf Seiten 611
Siehe näher unten 4. c). Zurückgehend auf Eser, in: FS Maurach, S. 260; diese Terminologie aufgreifend LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 33, Jescheck/Weigend, S. 863 und Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 321; berichtend Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 74. 613 Krit. Bassakou, S. 75 ff., wonach das „Vollzweckerreichungskonzept“ des § 60 StGB „die Vorschrift, nimmt man das Konzept genau, zur Unanwendbarkeit“ verurteile (S. 77); siehe ferner S. 84 ff.: „§ 60 ist ein Konglomerat aller Strafzwecke, das eine klare Aussage über seine Rechtsnatur und seine kriminalpolitische Aufgabe nicht erlaubt“ (S. 86). 614 OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); AG Osterode NdsRpfl 1971, 262; vgl. Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 115 f., 117; vgl. auch LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 35 (wenn die „Denkzettelfunktion“ der Strafe nicht mehr zum Tragen kommt). 615 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 862. 616 Vgl. OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; AG Osterode NdsRpfl 1971, 262; Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 36; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 10; Jescheck/Weigend, S. 863; Streng, Sanktionen, Rn. 553 (das „allgemeine Rechtsgefühl“ soll nicht durch einen „unverständlich erscheinenden Strafverzicht [. . .] irritiert werden“). – Krit. zur Einbeziehung auch des Merkmals „Verteidigung der Rechtsordnung“ Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 78 („für die Gerichtspraxis und für kriminalpolitische Entwicklungen im Wege dieser Praxis eine schwere Belastung“). 612
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
des Täters beispielsweise können einen sehr hohen Abschreckungseffekt zur Folge haben, zumal wenn sie eine öffentlichkeitswirksame Verbreitung gefunden haben (negativ-generalpräventiver Aspekt). Dieser Effekt kann mitunter sogar größer sein als derjenige, der sich bei einer durch ein hoheitliches Strafurteil zum Ausdruck gebrachten Missbilligung der Tat einstellt. Entscheidend ist der in der Öffentlichkeit wahrnehmbare Intensitätsgrad der schweren Folgen, der in Fällen, in denen der Täter nicht selbst betroffen ist (beispielsweise bei einer Verletzung naher Angehöriger617) in der Regel gemindert sein wird.618 c) Abschließende Betrachtung Insgesamt gesehen liefe also eine (nochmalige) Bestrafung des Täters den Strafzwecken und dabei insbesondere dem Sühnegedanken zuwider; abgesehen davon erfordert es vielfach auch bereits das „natürliche Gerechtigkeitsempfinden“, in derartigen Fällen von Strafe abzusehen619, da ihre Verhängung eine „inhumane Härte gegenüber einem schon Leidgeprüften“ bedeutete620. Und aus der Sicht des Strafrichters wäre es mit dessen Selbstverständnis und hoheitlich legitimierter Tätigkeit nur schwer zu vereinbaren, wenn eine offensichtlich verfehlte Strafe621 dennoch verhängt werden müsste.622 Die enge Verknüpfung zwischen einem schuldhaften Verstoß gegen ein Strafgesetz und der daraufhin gegebenenfalls zu verhängenden (staatlichen) Strafsanktion gilt also nicht auch ohne weiteres in die andere Richtung; der Satz nulla poena sine culpa623 ist insoweit nicht umkehrbar.624 d) Anwendung der strafzweckbezogenen Überlegungen Übertragen auf die hier in Rede stehende Problematik einer vorverurteilenden Medientätigkeit bedeuten vorstehende Ausführungen, dass der Strafzweck der Vergeltung bzw. Sühne durch die infolge der Berichterstattung erlittenen Folgen i. S. einer poena naturalis bereits „abgegolten“ sein könnte, weshalb die auszusprechende poena civilis gegebenenfalls entspre617
Siehe dazu unten 3. b) bb). Vgl. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 18. 619 Ähnl. LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 5 (Bestrafung „ist nicht nur überflüssig, sondern stößt in der Rechtsgemeinschaft allgemein auf Unverständnis.“); MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 3. 620 Streng, Sanktionen, Rn. 553; vgl. Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 309. 621 Dazu unten 3. d). 622 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 5. 623 Vgl. dazu oben bei und in Fn. 532. 624 Jescheck/Weigend, S. 861. 618
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chend zu modifizieren wäre625. Der Betroffene könnte auf Grund der einhergehenden Beeinträchtigungen eine hinreichende faktische Bestrafung abgebüßt haben, wodurch der staatliche Strafanspruch insgesamt schon kompensiert sein könnte. Auf den Täter bezogen ist denkbar, dass die infolge der Vorverurteilung in den Medien eingetretenen Konsequenzen diesen bereits genügend beeindruckt haben, was zugleich zur Folge haben könnte, dass die allgemeine Öffentlichkeit hierdurch vor weiteren Straftaten ausreichend geschützt ist (spezialpräventiver Ansatz). Ferner könnte sich durch die vorverurteilende Medienberichterstattung und die sich daraus etwaig ergebenden – und wiederum über die Medien in die Öffentlichkeit transportierten –, mitunter schwersten gesundheitlichen Belastungen die Verhängung von Strafe zur „Verteidigung der Rechtsordnung“ i. S. generalpräventiver Erwägungen erübrigen. Alles in allem könnte es daher im Einzelfall unbillig erscheinen, gegenüber dem in hohem Maße vorverurteilten Täter dennoch eine staatliche Strafe zu verhängen. Vor diesem Hintergrund spricht aus teleologischer Sicht einiges dafür, in § 60 StGB eine denkbare rechtliche Grundlage für die Berücksichtigung medienöffentlicher Vorverurteilungen innerhalb der Strafzumessung zu erblicken. Nachfolgend soll daher der Versuch unternommen werden, die einzelnen Begriffsmerkmale der Vorschrift im Anschluss an ihre jeweilige inhaltliche Bestimmung hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit speziell auf vorverurteilende Sachverhaltsgestaltungen zu überprüfen. 2. Adressat Die Vorschrift richtet sich nach ihrem eindeutigen Wortlaut ausschließlich an das Gericht. 3. Tatbestandliche Voraussetzungen a) „Folgen der Tat“ Zum tatbestandlichen Inhalt des § 60 StGB gehören zunächst die „Folgen der Tat“. aa) Begrenzung auf Negativ-Folgen Wie sich aus dem Wortlaut des § 60 S. 1 StGB („den Täter getroffen haben“; „so schwer sind, dass“) und aus dem Zusammenhang („Verhängung 625
Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928.
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einer Strafe offensichtlich verfehlt“; Formulierung der Beschränkung des § 60 S. 2 StGB) ergibt, muss es sich dabei um eingetretene Negativ-Folgen handeln. Etwaige positive Konsequenzen hat diese Norm dagegen nicht zum Inhalt.626 In Betracht kommen insbesondere körperliche Auswirkungen, namentlich Gesundheitsschäden oder -beeinträchtigungen und psychische Störungen627, wie sie sich auch auf Grund einer erfolgten medienöffentlichen Vorverurteilung einstellen können. bb) Unmittelbare und mittelbare Tatfolgen Nur Auswirkungen „der Tat“ sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, das heißt, diese müssen gerade „aus der Tat“ resultieren. Damit ist die insoweit erforderliche Kausalität angesprochen. Umfasst sind hiervon zunächst unmittelbare Tatfolgen, etwa die zuvor bereits genannten gesundheitlichen Folgen, soweit sie sich direkt aus dem Tatgeschehen selbst ergeben haben. Der Kreis der Tatfolgen ist aber größer zu ziehen: Einbegriffen sind auch nur mittelbare628 Folgen der Tat, wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes629, das Scheitern der Ehe630 oder Sanktionen infolge eines Disziplinarverfahrens631.632 Auch die finanziellen Auswirkungen eines Arbeitsplatzverlustes, die Belastung mit Schadensersatzansprüchen, geschäftliche Boykottmaßnahmen und andere wirtschaftliche Konsequenzen in Form von Vermögenseinbußen müssen hier Berücksichti626
Siehe dazu auch bereits die Ausführungen zu Sinn und Zweck des § 60 StGB, oben 1. a)–c); so geht auch MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 1, 10 ohne weiteres davon aus, die Vorschrift habe ausschließlich „nachteilige Tatfolgen“ zum Inhalt. 627 Vgl. Fischer, StGB, § 60 Rn. 4; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10; jeweils m. w. N. – Dass insoweit auch etwaige psychische Folgen relevant sind, wird besonders betont von Bassakou, S. 104. 628 Kindhäuser, StGB, § 60 Rn. 2; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 30; NK/ Albrecht, StGB, § 60 Rn. 1; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 6 mit anschaulicher Herleitung; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 5; Jescheck/Weigend, S. 863; Meier, Sanktionen, S. 48; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 424; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401 mit Beispielen (S. 401 f.); Bassakou, S. 104 f. 629 Kindhäuser, StGB, § 60 Rn. 2; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 30; NK/ Albrecht, StGB, § 60 Rn. 9; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 6 mit anschaulicher Herleitung; Jescheck/Weigend, S. 863; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 424; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401; Bassakou, S. 104 f. 630 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 30; Jescheck/Weigend, S. 863. 631 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 30; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 402; Bassakou, S. 104 f. 632 Insg. anders MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10: jeweils nur in Verbindung mit weiteren Tatfolgen.
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gung finden.633 Gleiches gilt für den Verlust der Bewegungsfreiheit entgegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG.634 Denn auch solche Folgen können sich in entsprechend nachhaltiger Weise – häufig sogar schwerer als eine (hoheitlich verhängte) Strafe selbst635 – negativ auf den Angeklagten auswirken und eine solche daher erübrigen. Insgesamt gesehen ist eine Beschränkung auf bestimmte, gleichsam „abstrakte Folgentypen“ weder vom Wortlaut der Norm her angezeigt noch ihrem Sinn und Zweck zu entnehmen.636 Es kommen also unmittelbare wie mittelbare Schäden, materielle wie immaterielle Einbußen bzw. wirtschaftliche wie nicht-wirtschaftliche Tatfolgen in Betracht. Unerheblich ist dabei auch, ob die nachteiligen Folgen allein durch den Täter ausgelöst oder aber durch an der Tat mitbeteiligte Dritte, das Opfer oder gar außenstehende Personen (mit-)verursacht wurden.637 Es muss sich bei den oben genannten, strafähnlichen Tatfolgen auch nicht um Konsequenzen aus der Tat selbst, sondern kann sich auch um solche auf Grund des Strafverfahrens handeln; hat der Täter durch die (Länge der) Strafverfolgung psychische und körperliche Schäden erlitten, können diese also ebenfalls im Rahmen des § 60 StGB Berücksichtigung finden.638 Der so bestimmte Kausalzusammenhang ist erst dann unterbrochen, wenn keinerlei Zusammenhang mehr besteht zwischen der begangenen Tat einerseits und den erlittenen Tatfolgen andererseits.639 In diesen Fällen können die eingetretenen Tatfolgen nicht mehr i. R. d. § 60 StGB zugunsten des Täters in Anschlag gebracht werden, da sie gleichsam außerhalb der Tat stehen und daher bei deren konkreter strafrechtlicher Beurteilung nicht mit einbezogen werden dürfen. 633
Ebenso Fischer, StGB, § 60 Rn. 4; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 25, 28, 30; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 4: Folgen „materieller Art“ ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar nicht erst dann, wenn der Täter durch die Tat zugleich selbst „sein ganzes Vermögen verloren“ hat; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 6; vgl. NK/ Albrecht, StGB, § 60 Rn. 5; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401; restr. OLG Frankfurt NJW 1972, 456 (457); Wagner, in: GA 1972, S. 51 f., wonach wirtschaftliche Nachteile nur für den Fall berücksichtigungsfähig seien, dass an sich Geldstrafe verwirkt wäre, nicht aber bei an sich verwirkter Freiheitsstrafe; krit. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10; a. A. Horstkotte, in: JZ 1970, S. 128. 634 Beachte hierzu aber die Sonderregelung des § 51 StGB (dazu oben II.). – Einschr. („nur in Extremfällen“) MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10. 635 Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401. 636 Ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 25 f. 637 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 12 mit Beispielen. 638 BGH NStZ-RR 2004, 230 (231); Fischer, StGB, § 60 Rn. 4; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 6; a. A. Jescheck/Weigend, S. 863; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 6. 639 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 12.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
In Fällen, in denen der Betroffene einer Vorverurteilung in den Medien ausgesetzt ist bzw. war, bedeuten die daraus etwaig resultierenden Beeinträchtigungen Folgen mittelbarer Art, die nach obigen Maßstäben „aus der Tat“ resultieren und daher als kausal in jenem Sinne zu qualifizieren sind. Es können sich nachfolgend weitere (mittelbare) Folgen ergeben, insbesondere etwa der Verlust des Arbeitsplatzes640, und daraus wiederum weit reichende Konsequenzen wirtschaftlicher Art. Nicht selten kommt es auch dazu, dass die Art und Weise versuchter Informationserlangung seitens der Medien – etwa in der Form einer „Observation“ des Betroffenen in seinem privaten und beruflichen Umfeld – einen schwerwiegenden Verlust seiner Bewegungsfreiheit bedeuten und zugleich weiter vertiefende physische und psychische Beeinträchtigungen zur Folge haben. Der in einem der Interviews641 geäußerte Einwand, die „Folgen der Tat“ i. S. d. § 60 StGB seien ausschließlich unmittelbar zu verstehen, weshalb im Falle einer Berücksichtigung der aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung etwaig resultierenden Nachteile der erforderliche enge Zusammenhang mit der Tat nicht mehr gegeben sei und daher eine Heranziehung der Norm generell auszuscheiden habe, greift daher insgesamt nicht durch. b) „die den Täter getroffen haben“ Ein weiteres Erfordernis ist, dass die Tatfolgen „den Täter getroffen haben“. aa) Begriff des „Täters“ „Täter“ in diesem Sinne ist nicht etwa – und in Abgrenzung zum Teilnehmer642 – nur derjenige, der die Straftat selbst oder durch einen anderen bzw. mittäterschaftlich i. S. d. § 25 Abs. 1 bzw. 2 StGB begeht; auch ein Teilnehmer ist im Rahmen des § 60 StGB tauglicher „Täter“, dem die Regelung zugute kommen kann.643 Abzustellen ist demzufolge nicht auf den strafgesetzlichen, sondern vielmehr auf einen gleichsam übergeordneten Täterbegriff, der jeden vor Gericht stehenden Angeklagten umfasst und z. B. auch bei § 46 StGB zugrunde zu legen ist. 640 Vgl. etwa im einleitend berichteten Fall des „Autobahnrasers“ (oben bei und in Fn. 25). 641 Experteninterview lfd. Nr. J3. 642 Vgl. § 28 Abs. 2 StGB; siehe allg. zur Abgrenzung etwa Baumann/Weber/ Mitsch, § 29 Rn. 27 ff.; Hoffmann-Holland, Strafrecht, S. 106 ff.; Jescheck/Weigend, S. 641 ff., 648 ff. m. w. N. 643 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 10; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 1; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 9.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 151
In Fällen vorverurteilender Berichterstattung ergeben sich insoweit keine Besonderheiten in der Anwendung. bb) Persönliche Betroffenheit Die Tatfolgen müssen den Täter auch „getroffen haben“. Mit diesem Merkmal ist eine versubjektivierende Betrachtungsweise verbunden, die den konkreten Täter und seine individuelle Situation in den Blick nimmt. Der Täter ist von den Negativfolgen der Tat „getroffen“, wenn diese sich auf ihn ausgewirkt haben. Derartige Folgen können zunächst den Täter selbst, das heißt diesen höchstpersönlich und an seinen eigenen Rechtsgütern, treffen. Darüber hinaus kann der Täter aber auch i. S. der Norm „getroffen“ werden, wenn eine emotional nahe stehende Person zu Schaden kommt.644 Als „nahe stehend“ in diesem Sinne sind jedenfalls die Familienmitglieder und (sonstige) Verwandte gemäß §§ 1589 ff. BGB anzusehen,645 ferner können im Einzelfall aber auch schon gute Freunde, die langjährige Nachbarin oder die feste Partnerin des Sohnes „nahe stehend“ in diesem Sinne sein.646 Denn je nach psychischer Konstitution können derartige Auswirkungen den Täter u. U. sogar stärker beeinträchtigen als solche Folgen, die er selbst und am eigenen Leibe zu spüren bekommt647. Allerdings wird ein Getroffensein nur bei tatsächlicher emotionaler Betroffenheit in Betracht zu ziehen sein.648 Andernfalls ist der Täter gerade nicht „getroffen“ im wörtlich verstandenen Sinne der Norm, etwa wenn der durch die Tat (mit-)verursachte Tod eines Familienmitglieds dem Täter „völlig egal“ ist. In solchen Fällen hat eine Anwendung der Vorschrift von 644
Kindhäuser, StGB, § 60 Rn. 2; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 13 m. w. N. – Im Ergebnis ebenso Fischer, StGB, § 60 Rn. 4, Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 3 bzw. Jescheck/Weigend, S. 863, wo der „Verlust von Angehörigen oder nahe stehenden Personen“, eingetretene „Folgen (. . .), die nahe Angehörige oder sonst nahe stehende Personen (. . .) treffen“ bzw. der „Verlust oder die schwere Verletzung nahe stehender Personen“ allerdings undifferenziert dem Merkmal der (schweren) Tatfolgen zugeordnet werden. 645 Nach AG Osterode NdsRpfl 1971, 262 zählen hierzu jedenfalls die „nahen Angehörigen“ des Täters und damit die Personen i. S. d. § 52 StPO bzw. § 383 ZPO („Wer nach dem Willen des Gesetzgebers aus persönlichen Gründen so mit dem Täter verbunden ist, daß er im Strafverfahren und im Zivilprozeß nicht als Zeuge auszusagen braucht, ist als [. . .] naher Angehöriger des Betroffenen anzusehen [. . .].“). 646 Vgl. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 13; vgl. auch LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 23 („enge Täter-Opfer-Beziehung“ erforderlich). 647 Wie hier LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 23. 648 Ebenso MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 14; vgl. auch Streng, Sanktionen, Rn. 553.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
vorne herein auszuscheiden, es sei denn, andere Umstände treten hinzu und bedingen ihrerseits eine Heranziehung.649 Die voranstehende inhaltliche Bestimmung des Merkmals „getroffen haben“ kann ohne weiteres auf Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung übertragen werden. Insbesondere kann die vorverurteilende Medienberichterstattung den Täter selbst treffen, sich aber negativ ferner etwa auf nahe Angehörige auswirken und insoweit den Täter zugleich auch indirekt stark berühren. c) Tatfolgen auf Seiten des Täters wiegen „schwer“ Die eingetretenen Tatfolgen müssen „schwer“ sein. Ein pauschales Abstellen auf „objektiv gegebene oder subjektiv empfundene“ schwere Folgen650 alleine genügt in diesem Zusammenhang nicht. Vielmehr wird ein weitaus differenzierteres Urteil erforderlich sein, in das einerseits das tatsächliche gegenständliche Ausmaß der Konsequenzen (= objektive Komponente) und andererseits ihre konkrete Bedeutung für den Betroffenen (= subjektive Komponente)651 sowie weitere Umstände des Einzelfalles einzugehen haben. Hierbei ist in objektiver Hinsicht der allgemeine Schweregrad der Tatfolgen maßgebend.652 In subjektiver Hinsicht sind die individuellen Auswirkungen zu ermitteln, wie sie sich gerade für diesen Täter ergeben haben, nicht aber diejenigen, wie sie sich generell und bei einem „Durchschnittstäter“ eingestellt haben würden.653 aa) Allgemeine Grundsätze Eine Erfüllung des in Rede stehenden Merkmals kann sich folglich allgemein aus einer Kombination von subjektiven und objektiven Gesichts649 Zuletzt ist noch klarzustellen, dass „getroffen haben“ nicht etwa zeitlich und dahingehend zu verstehen ist, dass die Tatfolgen, die innerhalb des § 60 StGB in Anschlag gebracht werden können, bereits eingetreten sein müssen: Wenn und soweit nur die entsprechende Ursache gesetzt ist, sind die sodann und erst zu einem späteren Zeitpunkt zwingend zu erwartenden Folgen ebenfalls zu berücksichtigen; ebenso MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 14. 650 Vgl. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10. 651 Anders noch (ganz überwiegend bzw. ausschließlich objektive Aspekte maßgebend) BayObLG NJW 1971, 766 (767); OLG Frankfurt NJW 1972, 456 (457); OLG Stuttgart Die Justiz 1970, 423. 652 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 11. 653 OLG Zweibrücken VRS 45, 107; Fischer, StGB, § 60 Rn. 4; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 23 ff., vgl. auch Rn. 29, 31; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 5; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 8; vgl. NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 7.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 153
punkten ergeben. Der Gesetzesbegriff „schwer“ ist insoweit also auf beide Komponenten zu beziehen. Die Tatfolgen können sich danach in einem Fall mehr aus objektiven und weniger aus subjektiven Gründen654, in einem anderen Fall vice versa mehr aus subjektiven und weniger aus objektiven Gesichtspunkten655 als „schwer“ erweisen. Erst recht ist hiernach das genannte Merkmal zu bejahen, wenn es sich um generell beträchtliche Tatfolgen handelt, die den Täter zudem auch individuell erheblich getroffen haben, die also sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht „schwer“ sind.656 Objektiv wie subjektiv nur geringfügige Folgen scheiden hingegen aus, es sei denn, gerade ihre Kombination führt ganz ausnahmsweise insgesamt zum erforderlichen Schweregrad657. Desgleichen scheidet eine Anwendung von vorne herein aus, wenn das Merkmal „schwer“ bezüglich einer der beiden Komponenten schlechthin nicht erfüllt ist658 oder wenn gar in beiderlei Hinsicht kein – und also auch kein geringer – Schweregrad erreicht ist. bb) Einzelnes Unzureichend sind nach diesen Grundsätzen in objektiver Hinsicht bloße Lästigkeiten, es muss sich vielmehr um einigermaßen gravierende Konsequenzen handeln. Solche liegen nicht vor bei regelrecht als „normal“ zu qualifizierenden Tatfolgen659, etwa im Falle einer erforderlich gewordenen 654 Zu denken ist z. B. an die Konstellation, dass sich der Täter bei einem Verkehrsdelikt selbst schwer verletzt bzw. bei fahrlässiger Brandstiftung selbst erheblichen Sachschaden erleidet und hiervon persönlich (nur) einigermaßen mitgenommen wird. 655 Beispielsweise bei Tod eines geliebten Angehörigen oder einer (sonstigen) nahe stehenden Person (vgl. dazu die Fälle BGHSt 27, 298 und AG Köln ZfS 1981, 126), einhergehend mit eher geringfügigen Auswirkungen etwa auf die finanzielle Situation des Täters. 656 So etwa in aller Regel im Falle des Todes der Ehefrau und einer weiteren Person sowie schwerer Verletzungen des Täters und seiner Kinder infolge eines Verkehrsunfalls (vgl. dazu OLG Celle NJW 1971, 575) und bei schweren Verletzungen eines Mitfahrers und Tod der Ehefrau infolge eines trunkenheitsfahrtbedingten Unfalls mit der Konsequenz, die vier gemeinsamen Kinder nunmehr alleine großziehen zu müssen (vgl. dazu OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006). 657 Die Erfüllung des Merkmals ergibt sich hier erst aus einer „Addition“ der beiden Komponenten, die für sich betrachtet noch nicht das erforderliche Gewicht zu erreichen vermochten. 658 Z. B. bei Tod eines Elternteils im Falle fahrlässiger Tötung, die den diesbezüglich angeklagten Täter wegen seiner Kaltschnäuzigkeit völlig unberührt lässt (vgl. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 14) und umgekehrt etwa der den Täter über Gebühr mitnehmende, ungewollte Tod des über alles geliebten Kanarienvogels bei bewusster Brandlegung.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Autoreparatur bzw. eines Totalschadens am eigenen PKW nach einem Verkehrsunfall660. Alsbald abklingende Empfindungen und Gemütsbewegungen wie starkes Entsetzen, tiefe Erschütterung, heftiger Schrecken oder große Furcht661 und eine bloße seelische Belastung auf Grund von Reue, Mitgefühl, Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen662 genügen in subjektiver Hinsicht in aller Regel nicht, insbesondere dann nicht, wenn sie auf Wehleidigkeit beruhen663. Eine im Einzelfall gegebene besonders sensible psychische Konstitution des Täters schließt in diesem Zusammenhang aber die Bejahung der subjektiven Komponente nicht von vorne herein aus.664 Wenn lediglich Folgen für nahe stehende Personen665 eingetreten sind, muss die eigene emotionale Betroffenheit sehr stark sein und die objektiven Folgen müssen regelmäßig schwerer wiegen, da „eigenes Leid“ vom Betroffenen in aller Regel stärker empfunden wird als „fremdes Leid“. Es genügt dann in subjektiver Hinsicht grundsätzlich nicht, dass der Täter die Folgen im üblichen Maße bedauert, sondern er muss sie schon als einschneidenden Schicksalsschlag erleben.666 In objektiver Hinsicht sind hier generell ebenfalls erhöhte Anforderungen zu stellen. Lediglich mittelbar sich ergebende Folgen der Tat wie das Scheitern der Ehe, der Verlust des Arbeitsplatzes oder Sanktionen infolge eines Disziplinarverfahrens667 werden im Einzelfall und nicht nur bei gleichzeitigen gesundheitlichen Schäden genügen.668 Auch im Falle einer Beeinträchtigung 659 OLG Frankfurt NJW 1972, 456 (457); AG Köln ZfS 1981, 126; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 28; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10; vgl. SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 12. 660 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10 (vgl. hierzu die Fälle BayObLG NJW 1971, 766; OLG Zweibrücken VRS 45, 107) bzw. LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 28 (vgl. hierzu die Fälle OLG Frankfurt NJW 1972, 456; OLG Koblenz VRS 44, 415). 661 BayObLG NJW 1971, 766 (767); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 29; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 11; Jescheck/Weigend, S. 863; vgl. auch Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 5. 662 BayObLG NJW 1971, 766 (767); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 29; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 11; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 8; Jescheck/Weigend, S. 863; Wagner, in: GA 1972, S. 51. 663 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 11. 664 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 29; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 8; a. A. noch BayObLG 1971, 766 sowie Tröndle, StGB, § 60 Rn. 3. 665 Siehe zum Begriff „nahe stehend“ oben b) bb). 666 Ebenso, allerdings schon unter dem Merkmal „getroffen“ thematisierend, MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 14. 667 Siehe oben a) bb). 668 So aber MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10; wie hier LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 30; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 6; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 5;
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der „bürgerlichen Reputation“ scheidet eine Heranziehung des § 60 StGB nicht von vorne herein aus,669 sofern diese nachhaltig ist und einen bestimmten – objektiven wie subjektiven – Schweregrad erreicht. Auf Grund der (Länge der) Strafverfolgung sich einstellende schwere psychische und physische Schäden können hier Berücksichtigung finden, sofern sie den Täter massiv getroffen haben.670 Die Bandbreite potentiell relevanter Gesichtspunkte verdeutlichen abschließend die folgenden Beispiele671: irreparable oder lang andauernde gewichtige Gesundheitsschäden; vorübergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen, soweit diese mit längeren und starken Schmerzen verbunden sind; tiefgehende psychische Störungen mit Krankheitswert; Vermögenseinbußen, und zwar nicht erst dann, wenn sie die „bürgerliche Existenz“ des Täters vernichtet haben672. Speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung können sich objektive Beeinträchtigungen etwa dergestalt ergeben, dass der Betroffene schon allein auf Grund des aus einer vorverurteilenden Berichterstattung regelmäßig resultierenden „Rufschadens“ seinen Arbeitsplatz verliert und auch in naher Zukunft keine neue Anstellung findet, was sich zugleich nachhaltig auf seine finanzielle Situation auswirken wird. Hinsichtlich der subjektiven Komponente sind gewichtige psychische Belastungen denkbar, wenn der Betroffene der Medienöffentlichkeit – und dadurch zugleich auch seinem privaten Umfeld – als bereits überführter „Rechtsbrecher“ präsentiert und diesem daraufhin auch persönlich „nachgestellt“ wird. Der sich einstellende Rufschaden kann mitunter derart erheblich sein, dass – unabhängig davon, ob es im weiteren Verlauf überhaupt noch zu einem gerichtlichen Verfahren und einer Verurteilung gekommen ist – die bürgerliche Existenz „als solche“ vernichtet wird, woraus dann in objektiver Hinsicht noch erheblichere finanzielle Einbußen resultieren werden. Je nach individueller Verfassung können hiermit insgesamt ernsthafte seelische Schäden einhergehen. Dem Betroffenen nahe stehende Personen können in gleicher Art und Weise beeinträchtigt werden, was sich wiederum negativ auf die Psyche des Täters auswirken kann. Jescheck/Weigend, S. 863; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 424; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401; siehe auch schon oben Fn. 628 ff., 632. 669 A. A. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10. 670 Zu Nachweisen siehe oben Fn. 638, auch zur Gegenmeinung. 671 Nach MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10 (mit konkreten Fällen aus der Rspr. und weiteren Nachw.). 672 So die h. M.: BayObLG NJW 1971, 766 (767); OLG Frankfurt NJW 1972, 456 (457); OLG Koblenz VRS 44, 415; Fischer, StGB, § 60 Rn. 4; Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 2; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 25, 28, 30; Schönke/Schröder/ Stree, StGB, § 60 Rn. 4; a. A. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 10; Horstkotte, in: JZ 1970, S. 128.
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d) Tatfolgen wiegen „so schwer“, dass eine Strafverhängung „offensichtlich verfehlt“ wäre Weitere Voraussetzung des § 60 StGB ist, dass die Tatfolgen auf Seiten des Täters „so schwer“ sind, dass die Verhängung von Strafe „offensichtlich verfehlt“ wäre.673 aa) Verfehltsein von Strafe „Verfehlt“ meint nicht, dass die Verhängung einer Strafe im konkreten Fall den allgemeinen Strafzwecken674 regelrecht zuwiderlaufen müsste.675 „Verfehlt“ in diesem Sinne ist die Verhängung von Strafe vielmehr dann, wenn sie unter keinem ihrer Leitgesichtspunkte mehr eine sinnvolle Funktion erfüllen könnte676, da diesbezüglich schon die eingetretenen Tatfolgen677 in Anschlag zu bringen sind, dem staatlichen Strafausspruch also diesen gegenüber keine eigenständige Bedeutung mehr zukäme.678 Ob dies der Fall ist, ist in einem tatrichterlichen Abwägungsprozess zu ermitteln, in den die Gesichtspunkte von Grad der Schuld und Schwere der Tatfolgen sowie die (übrigen) Strafzwecke einzubeziehen sind.679 Innerhalb der an dieser Stelle gebotenen wertenden Gesamtschau680 ist also auf den „Mikro673 Nach MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 15 handelt es sich bei diesem Merkmal um das „Kernelement des § 60“, das der Norm ihre „kriminalpolitische Legitimation“ gebe und „auf die Auslegung der anderen Voraussetzungen“ abfärbe; krit. zum Begriff „offensichtlichen Verfehltseins“ Bassakou, S. 86 f., 99 f. 674 Vgl. dazu oben I. 1. c). 675 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 33. 676 BGHSt 27, 298 (300); BGH NStZ 1997, 121 (122); OLG Frankfurt NJW 1972, 456; OLG Hamm VRS 43, 19 (20); Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; Kindhäuser, StGB, § 60 Rn. 4; Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 2, 33; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 11; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 11; vgl. Eser, in: FS Maurach, S. 260; MüllerDietz, in: FS Lange, S. 309 f., 320; vgl. auch MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 15. 677 In Verbindung mit dem formellen Schuldspruch, dazu näher unten bei und in Fn. 846. 678 OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 2; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 11 f. 679 OLG Hamm VRS 43, 19 (20 f.); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; MüllerDietz, in: FS Lange, S. 310; vgl. Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 67; ausf. zur Bedeutung der Strafzwecke in diesem Zusammenhang LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 33 ff. und MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 17 ff. 680 OLG Celle NJW 1971, 575 (576); NStZ 1989, 385 (386); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 37; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 15 ff., 19; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 311 ff., 314.
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kosmos der Strafzwecke“681 einzugehen, wobei insoweit sämtliche Strafziele zu berücksichtigen sind, die für oder gegen die Bejahung einer „verfehlten“ Strafe sprechen können. Für den Fall, dass die schweren Folgen der Tat682 sämtlichen Aufgaben der Strafe genüge tun, büßt diese insgesamt ihre Berechtigung ein und darf daher nicht mehr verhängt werden.683 Dazu muss der Täter so schwere Tatfolgen erlitten haben, dass es einerseits in jeglicher Hinsicht „einer weitergehenden Einwirkung auf ihn nicht bedarf“ (spezialpräventives Element) und dass andererseits „der Allgemeinheit das Absehen von Strafe als Ausdruck humaner Strafrechtspflege so verständlich erscheint, dass sie dadurch einen notwendigen und sinnvollen Rechtsgüterschutz nicht in Frage gestellt sieht“684 und zugleich die erforderliche abschreckende Wirkung auf die Allgemeinheit erzielt wird685 (generalpräventives Element). Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn die Tatfolgen in der Öffentlichkeit „plastisch wahrnehmbar“686, das heißt für Jedermann deutlich erkennbar sind und so abschreckende Effekte entfalten können. Die geforderte wertende Gesamtabwägung ergibt in diesen Fällen, dass die Verhängung von Strafe insgesamt „verfehlt“ ist.687 Das vorstehend näher bestimmte Merkmal „verfehlter“ Strafe kann speziell auch in Fällen einer medienöffentlichen Vorverurteilung zu bejahen sein. Denn die hiermit etwaig einhergehenden Beeinträchtigungen688 können im Einzelfall derart „schwer“ sein, dass ein darüber hinaus gehender Ausspruch staatlicher Strafe nicht mehr ins Gewicht fiele und daher völlig nutzlos bliebe, weshalb die Verhängung von Strafe auf Grundlage der gebotenen wertenden Gesamtabwägung insgesamt verfehlt erschiene. 681
Vgl. dazu bereits oben bei und in Fn. 612. In Verbindung mit dem formellen Schuldspruch, dazu schon oben Fn. 677; näher unten bei und in Fn. 846. 683 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 34. 684 BGHSt 27, 298 (300); BGH NStZ 1997, 121 (122); die Zitate wörtlich übernehmend LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 34 und Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401; vgl. auch OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; BGH/D MDR 1973, S. 899; Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 17 f.; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8. 685 OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 18; vgl. auch Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 36; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8. 686 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 36; zitierend übernommen von MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 18; vgl. SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 12; zu einem solchen Fall „plastischer Wahrnehmbarkeit“ siehe OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768). 687 Zu Einzelbeispielen aus der Rspr. siehe LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 37. 688 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4., II.; näher unten IV. 2. 682
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
bb) Offensichtlichkeit Das Verfehltsein von Strafe muss zudem „offensichtlich“ sein. Dafür müssen die ermittelten Umstände so eindeutig sein, dass ein Absehen von Strafe „jedem ernsthaften Zweifel entrückt“689 ist, sich also schon dem verständigen Betrachter ohne weiteres aufdrängt690. Das bloße „individuelle Mitempfinden des jeweiligen Richters mit dem erbarmungswürdig erscheinenden Angeklagten“ genügt demnach nicht.691 Ist die Verhängung von Strafe nicht derart evident verfehlt, so liegt kein Fall von Offensichtlichkeit in diesem Sinne vor.692 Mit dem zuvor ermittelten Inhalt kann das Merkmal „offensichtlich“ verfehlter Strafe in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung ohne weiteres auf sein Vorliegen hin überprüft werden. cc) In dubio pro reo Bei in der Rechtsanwendung verbleibenden Zweifeln hinsichtlich der Frage, ob die Verhängung einer Strafe auf Grund dieses oder jenes Strafzweckes noch eine Funktion hat und somit nicht „offensichtlich verfehlt“ ist, gehen diese zulasten des Täters; insoweit gilt der in dubio pro reoGrundsatz also nicht.693 Hinsichtlich der Feststellungen tatsächlicher Art, auf die die Entscheidung über das offensichtliche Verfehltsein von Strafe 689 BGHSt 27, 298 (301); OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 38; Meier, Sanktionen, S. 49. 690 BGHSt 27, 298 (300); BGH NStZ 1997, 121 (122); OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); OLG Hamm MDR 1972, 66 (67); VRS 43, 19 (20); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; OLG Stuttgart Die Justiz 1970, 423 (423 f.); OLG Zweibrücken VRS 45, 107; BGH/D MDR 1972, S. 750; 1973, S. 900; Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; Kindhäuser, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 38; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 12; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; Maurach/ Gössel/Zipf, § 66 Rn. 13; Meier, Sanktionen, S. 49; Stree, in: NStZ 1997, S. 122; vgl. OLG Köln NJW 1971, 2036 (2037). 691 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 16. 692 Zu der (problematischen) Frage, inwieweit innerhalb der Prüfung des Merkmals „offensichtlich verfehlte Strafverhängung“ die Vornahme einer umfassenden Gesamtabwägung mit dem Erfordernis eines ohne weiteres ins Auge springenden Erübrigens von Strafe zu vereinbaren ist, siehe LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 39 f. m. w. N.; Maiwald, in: JZ 1974, S. 774; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 311 ff.; beispielhaft Bassakou, S. 99 f.; siehe dazu auch MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 16. 693 BGHSt 27, 298 (301 f.); Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 40, 42; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 16, 29; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; Streng, Sanktionen, Rn. 553; Wagner, in: GA 1972, S. 52; vgl. dazu auch Jescheck/Weigend, S. 864. – Nach Streng, Sanktionen, Rn. 553 reicht es für eine „positive Überwindung des Zweifels“ bereits aus, wenn „mit einiger Eindeutig-
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 159
sodann fußt, muss der Angeklagte demgegenüber nicht mehr als allgemein üblich darlegen, und diesbezügliche Zweifel wirken sich nach allgemeinen Grundsätzen zu seinen Gunsten aus.694 e) Beschränkung des § 60 S. 2 StGB (Ein-Jahres-Grenze) Der zweite Satz des § 60 StGB enthält eine letzte, negative Anwendungsvoraussetzung. Ein Absehen von Strafe ist danach nicht möglich, „wenn der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat“. Dieser Beschränkung ist eine Wertung des Gesetzgebers dahingehend zu entnehmen, dass ein „Absehen von Strafe“ bei als schwerwiegend zu beurteilenden Straftaten von vorne herein nicht in Betracht kommen kann. Keineswegs liegen aber nur Bagatelldelikte im Anwendungsbereich der Norm, vielmehr gilt dies auch noch für Taten mit einer gewissen Schuldschwere.695 Gleichwohl handelt es sich bei § 60 StGB insgesamt um eine Regelung mit absolutem Ausnahmecharakter696. aa) Anwendungsausschluss bei „Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr“ Nur eine Freiheitsstrafe ab einer bestimmten Höhe kann die Anwendung des § 60 StGB von vorne herein ausschließen, nicht hingegen andere Strafen nach Erwachsenenstrafrecht, wie z. B. eine Geldstrafe – gleich welcher keit die besseren Gründe für ein Absehen von Strafe sprechen“; ähnl. Maiwald, in: JZ 1974, S. 774. 694 Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 41; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 29; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 14; vgl. BGHSt 27, 298 (301 f.). 695 Fischer, StGB, § 60 Rn. 2; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 307 f.; weitergehend Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 4 („auch bei schwerer Schuld“); enger MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 1 („Begrenzung auf Fälle im unteren Schuldbereich“). 696 Allg. Ansicht. Siehe OLG Stuttgart Die Justiz 1970, 423 („nur in seltenen Ausnahmefällen“); Fischer, StGB, § 60 Rn. 2 („Tatfolgen-Ausnahmeregelung“; „auf besondere Ausnahmefälle beschränkt“); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 1; MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 2 („betrifft Grenzfälle“); Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 8; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 424 („Tatfolgen-Ausnahmeregelung“); Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 663 („Extremfall einer Strafzumessungsregel“); Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 314 („auf exzeptionelle Ausnahmefälle zugeschnitten“; „betrifft [. . .] Grenzsituationen“); vgl. BGHSt 27, 298 (300 f.); BayObLG NJW 1971, 766 (767); OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); OLG Hamm MDR 1972, 66; OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; OLG Koblenz VRS 44, 415 („für seltene Ausnahmefälle“); Horstkotte, in: JZ 1970, S. 127; vgl. unter Berufung auf die Gesetzesbegründung auch Eser, in: FS Maurach, S. 261 („nur in völlig unzweifelhaften Ausnahmefällen“; Hervorhebung im Original).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Höhe – gemäß § 40 StGB. Die Begrenzung der Absehensmöglichkeit auf Freiheitsstrafe von „nicht (. . .) mehr als einem Jahr“ war697 und ist698 umstritten und wurde mitunter gar als „willkürlich“ bezeichnet699. Nicht sehr weiterführend ist aber der in diesem Zusammenhang gemachte Vorschlag700, die Grenze auf bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe auszuweiten, da eine solche Grenzziehung sich wiederum den gleichen Vorbehalten ausgesetzt sehen müsste. Dem Gesetzgeber stand es in seiner Gestaltungsfreiheit vielmehr frei, irgendeine typisierende und generalisierende Grenze festzulegen, soweit diese nicht völlig unbegründet erscheint701, was vorliegend nicht der Fall ist. bb) Strafe „verwirkt“ Die Anwendung des § 60 StGB ist weiterhin nur für den Fall ausgeschlossen, dass eine Freiheitsstrafe in der genannten Höhe „verwirkt“ ist. Über die (zufällige) sprachliche Ähnlichkeit zum Begriff „bewirkt“ in § 362 Abs. 1 BGB hinaus ist auch eine inhaltliche Kongruenz dieser beiden Merkmale festzustellen, beinhalten beide Begriffe doch ein starkes tatsächliches Moment: Ein Bewirken i. S. d. § 362 Abs. 1 BGB mit der Folge des Erlöschens des Schuldverhältnisses erfordert nicht bloß die Vornahme der vereinbarten Leistungshandlung, sondern ein faktisches Herbeiführen des Leistungserfolges.702 Und erst mit Eintritt dieses Erfolges erlischt der bestehende 697 So sah etwa der Gesetzesentwurf des Bundesjustizministeriums noch eine Zweijahresgrenze vor, und erst der mit der Sache befasste Sonderausschuss setzte diese Grenze – mit der undifferenzierten Begründung, dies genüge, um „alle regelungsbedürftigen Fälle zu erfassen“ – auf ein Jahr Freiheitsstrafe fest. 698 Krit. LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 8 bzw. 12 f. (1-Jahres-Grenze „in ihrer Rechtfertigung und in ihrer Stimmigkeit mit der Grundkonzeption des Rechtsinstituts fraglich“ bzw. „kann nicht sachlich zwingend begründet werden“); Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 687 ff., 689 f.; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 315 ff.; vgl. Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 119 („Warum ist es nötig, daß bei schweren Tatfolgen für den Täter eine Strafe dann verhängt wird, wenn sie ein Jahr übersteigt, aber nicht, wenn sie kürzer ist?“); ders., in: FS Sarstedt, S. 67 f. 699 So Jescheck/Weigend, S. 864; vgl. Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 68 („willkürliche Grenzziehung“); Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 317 („willkürliche zeitliche Grenze“). 700 Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 79; zust. („kriminalpolitisch bedenkenswert“) LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 13. 701 Ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 12; vgl. allg. zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers BVerfGE 13, 21 (29): „Härten in Einzelfällen bei einer generalisierenden Regelung unvermeidlich und hinzunehmen“; BVerfGE 26, 265 (275 f.): „bei notwendig typisierenden Regelungen (müssen; Zusatz durch Verf.) gewisse Härten oder Ungerechtigkeiten hingenommen werden“; BVerfGE 29, 22 (32): „muß (. . .) in Kauf genommen werden, daß sie (die sachgerecht generalisierende Norm; Anm. d. Verf.) im Einzelfall zu einer Härte führt“.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 161
Anspruch nach dieser Norm.703 Desgleichen beinhaltet auch das Verwirken in § 60 S. 2 StGB ein solches Element, indem nicht allgemein auf die abstrakte Strafandrohung für das jeweils begangene Delikt abzustellen ist, sondern darauf, ob im konkreten Fall eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu verhängen wäre; dabei ist das hypothetische Strafmaß zu ermitteln, wie es sich aus den allgemeinen Regeln unter Berücksichtigung sämtlicher Strafzumessungsgründe und einschließlich der den Täter treffenden Tatfolgen ergibt, ohne an dieser Stelle aber bereits die Regelung des § 60 StGB in die Erwägungen mit einzubeziehen.704 Die Vorschrift des § 50 StGB („Zusammentreffen von Milderungsgründen“) steht dem nicht entgegen, eine Doppelverwertung der eingetretenen Tatfolgen – einerseits schon bei der etwaigen Ermittlung einer offensichtlich verfehlten Strafverhängung705, andererseits bei der Feststellung einer ein Jahr nicht überschreitenden (hypothetischen) Freiheitsstrafe – ist also zulässig.706 Denn andernfalls fielen gerade diejenigen Fälle aus dem Anwendungsbereich des § 60 StGB heraus, die hinsichtlich gesetzlicher Milderungsgründe i. S. d. § 49 StGB ein Absehen von Strafe als besonders nahe liegend erscheinen lassen.707 Damit kommen grundsätzlich Delikte jeder Art708 – also auch Verbrechen i. S. d. § 12 Abs. 1 StGB – in Betracht,709 sofern nur die Strafgrenze von 702 So die herrschende Theorie der sog. realen Leistungsbewirkung, siehe nur Palandt/Grüneberg, BGB, § 362 Rn. 1; Larenz, Schuldrecht, S. 238 ff.; vgl. BGH NJW 1991, 1294 (1295). 703 Das Bewirken eines anderen als des geschuldeten Erfolges lässt den Anspruch nicht nach § 362 Abs. 1 BGB erlöschen, möglicherweise aber nach § 364 Abs. 1 BGB, vgl. dazu Larenz, Schuldrecht, S. 247. 704 Fischer, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 14; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 9; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 10; Jescheck/Weigend, S. 864; zunächst ist also so vorzugehen, als „wenn es den § 60 nicht gäbe“ (Lackner/ Kühl, StGB, § 60 Rn. 4); krit. hinsichtlich der Möglichkeit einer begrifflichen Umgrenzung des Begriffs „verwirkt“ Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 317 f.; a. A. Streng, Sanktionen, Rn. 554 („jedenfalls dieser Aspekt [die schweren Tatfolgen für den Täter; Anm. d. Verf.] [. . .] auszuschließen“); ders., in: NStZ 1988, S. 487 Fn. 25. 705 Dazu oben d). 706 BGHSt 27, 298 (299 f.); BGH NStZ 1997, 121 (122); NStZ-RR 2004, 230 (231); Fischer, StGB, § 60 Rn. 5; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 15; Schönke/ Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 10; Jescheck/Weigend, S. 864; Stree, in: NStZ 1997, S. 122 f.; Zipf, in: JR 1975, S. 164; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 318 Fn. 70; vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 4; vgl. krit. Maiwald, in: JZ 1974, S. 775; a. A. Meier, Sanktionen, S. 49. 707 BGHSt 27, 298 (300); die Entscheidung des BGH zitierend LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 15, vgl. auch Rn. 37. 708 Beispielsweise: Straßenverkehrs- und Sexualdelikte, Wirtschaftsstraftaten, aber auch (vorsätzliche) Tötungsdelikte. 709 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 9; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 1, 20; NK/ Albrecht, StGB, § 60 Rn. 12; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 10; SK/
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
einem Jahr Freiheitsstrafe nicht überschritten wird. Überschreitet aber bereits das Mindestmaß der nach dem einschlägigen Tatbestand angedrohten Strafe diese Grenze710, so scheidet ein Absehen von Strafe nach der gesetzlichen Regelung denklogisch von vorne herein aus. Einer exakten „Bezifferung“ der (an sich verwirkten) Strafe bedarf es in diesem Zusammenhang nicht, vielmehr genügt die bloße Feststellung, dass die Ein-Jahres-Grenze im konkreten Fall nicht überschritten wird.711 Denn anders als etwa in der Regelung des § 59 Abs. 1 S. 1 StGB ist die (eigentliche) Strafe nicht zunächst explizit zu „bestimmen“.712 cc) „für die Tat“ verwirkte Strafe Die Regelung des § 60 S. 2 StGB bezieht sich zuletzt nur auf die „für die Tat“ verwirkte Strafe. Im Falle mehrerer abzuurteilender „Taten“ ist zu unterscheiden, ob es sich um eine tateinheitliche (vgl. § 52 StGB) oder aber eine tatmehrheitliche (vgl. § 53 StGB) Verwirklichung der dem Urteil zugrunde liegenden Straftatbestände handelt. Bei Tateinheit ist hinsichtlich des Eingreifens von § 60 S. 2 StGB nur eine einheitliche Entscheidung über die Handlung als solche unter all ihren rechtlichen Gesichtspunkten möglich.713 Bei Tatmehrheit hingegen ist für jeden Tatbestand gesondert zu Horn, StGB, § 60 Rn. 3; vgl. BGHSt 27, 298 (301); vgl. ferner OLG Celle NJW 1971, 575; OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 4; Jescheck/Weigend, S. 862; Streng, Sanktionen, Rn. 553; Zipf, in: JR 1975, S. 163; Hassemer, in: FS Sarstedt, S. 75; MüllerDietz, in: FS Lange, S. 307, 321; krit. Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 687 ff., 689 f. 710 So z. B. bei der absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe in § 211 StGB; bei Totschlag, generell mit Freiheitsstrafe „nicht unter fünf Jahren“ bestraft (§ 212 Abs. 1 StGB), steht hingegen wegen § 213 StGB (minder schwerer Fall des Totschlags, angedrohte Freiheitsstrafe „von einem Jahr bis zu zehn Jahren“) § 60 S. 2 StGB nicht schon theoretisch stets einer Anwendung entgegen; zu beachten ist zudem der Regelungsgehalt des § 49 StGB. Insgesamt scheiden damit aus dem Anwendungsbereich des § 60 StGB nur solche Straftaten per se aus, deren gesetzliche Mindeststrafe im konkreten Fall – also gegebenenfalls unter Heranziehung des § 49 StGB – ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigt (LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 11; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 317). 711 Fischer, StGB, § 60 Rn. 3; Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 4; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 16, 47; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 9, 31; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 10; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 16; Jescheck/Weigend, S. 864; vgl. Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 319; vgl. auch Streng, Sanktionen, Rn. 555. 712 Ebenso MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 9. 713 Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 5; vgl. ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 17, der aber im Einzelfall (insbesondere in Fällen von „Unfallflucht nach einem verschuldeten Verkehrsunfall, verknüpft durch eine Dauerstraftat“) einen „erweiterten, spezifisch folgenorientierten Tatbegriff“ vertritt (ders., StGB, § 60 Rn. 19); vgl.
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prüfen, ob die Ein-Jahres-Grenze des § 60 S. 2 StGB überschritten ist oder nicht.714 Es kann hier daher im Einzelfall zu der merkwürdig anmutenden Konstellation kommen, dass hinsichtlich eines Tatbestandes die Voraussetzungen des § 60 S. 2 StGB zu bejahen sind, während sie bezüglich eines anderen Tatbestandes nicht vorliegen. Im Falle einer derartigen Konstellation scheidet für den einen Tatbestand eine Anwendung von § 60 S. 1 StGB aus, für den anderen hingegen nicht. Speziell in Fällen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung ergeben sich hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Prüfungspunkte715 keine Besonderheiten. Aus dem zuvor716 behandelten Anwendungsausschluss des § 60 S. 2 StGB bei „Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr“ resultiert indes ein erstes717 Anwendungsproblem: Sachverhaltsgestaltungen, in denen in aller Regel höhere Strafen „verwirkt“ sind – insbesondere bei Tötungs-, (sonstigen) Gewalt- sowie Sexualdelikten –, finden nach aller Erfahrung eine deutlich verstärkte Medienresonanz; Vorverurteilungen wirken sich insoweit exponentiell auf den Betroffenen aus, weshalb insgesamt stark erhöhte Beeinträchtigungen auftreten können. Dies ließe eine Anwendung der Vorschrift gerade besonders nahe liegend erscheinen. Wenn nun aber ausgerechnet in solchen Fällen eine Heranziehung von § 60 StGB von vorne herein auszuscheiden hätte, wäre die „Passgenauigkeit“ der Vorschrift auf Sachverhalte der in Rede stehenden Art zumindest in Frage gestellt. Alles in allem offenbart die Norm insoweit einen zu einengenden Charakter. f) Zwischenergebnis 1 Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 S. 1 StGB lassen sich grundsätzlich ohne nennenswerte Schwierigkeiten auf die mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung etwaig einhergehenden Beeinträchtigungen des Betroffenen anwenden. Anderes gilt nur für die beschränkende Ein-JahresGrenze des S. 2 der Vorschrift. Insoweit wäre die Praktikabilität des § 60 StGB in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung auf Tatbestandsseite eher fraglich. auch Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 9; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 4; vgl. ferner MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 9 i. V. m. Rn. 25. 714 Fischer, StGB, § 60 Rn. 3; Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 5; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 9; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 4; vgl. ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 18, der aber im Einzelfall einen „erweiterten, spezifisch folgenorientierten Tatbegriff“ vertritt (ders., StGB, § 60 Rn. 19; siehe dazu schon vorherige Fn. 713); vgl. auch MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 9 i. V. m. Rn. 25. 715 Siehe oben bb) und cc). 716 Oben aa). 717 Zu einem weiteren Anwendungsproblem siehe unten bei Fn. 731.
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4. Rechtsfolge a) Obligatorischer Charakter Nach der gesetzlichen Regelung des § 60 S. 1 StGB („. . . sieht von Strafe ab. . .“) ist bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Rechtsfolge zwingend auszusprechen, also von Strafe abzusehen. Ein richterliches Ermessen ist demnach nicht eingeräumt. b) Absehen von „Strafe“ Abgesehen wird von „Strafe“ i. S. der §§ 38 ff. StGB. Nicht umfasst sind hiervon insbesondere die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB); auch der gesetzliche Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung gemäß §§ 73 ff. StGB718 sowie etwaige Sanktionen nach dem OWiG oder infolge eines Disziplinarverfahrens sind unbeschadet und unabhängig von der Regelung des § 60 StGB zu verhängen.719 Sie können aber ihrerseits die Entscheidung bezüglich einer Heranziehung des § 60 StGB beeinflussen.720 c) „Alles oder nichts“-Prinzip Die Tatfolgen müssen bei § 60 StGB für den Täter derart gewichtig sein, „dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre“. Dies bedingt bereits die nach dem Gesetzeswortlaut einzig mögliche Rechtsfolge der Norm, die sich in einem vollumfänglichen Absehen von Strafe erschöpft, nicht aber z. B. eine bloße Strafmilderung je nach Lage des Falles eröffnet. Die „absolute Strafandrohung“ des § 60 StGB ist also „Null“, der Täter hat bezüglich des vorgeworfenen Tatgeschehens insgesamt nicht mehr mit Strafe im obigen Sinne zu rechnen. Bei mehreren abzuurteilenden „Taten“ ist zu prüfen, ob die Straftatbestände tateinheitlich (vgl. § 52 StGB) oder aber tatmehrheitlich (vgl. § 53 StGB) verwirklicht wurden. Im Falle tateinheitlicher Verwirklichung ist bezüglich eines Absehens von Strafe nach § 60 StGB nur eine einheitliche Entscheidung über die Handlung als solche unter all ihren rechtlichen Ge718
Siehe aber die Härtefallregelung des § 73c StGB sowie die Verhältnismäßigkeitsprüfung des § 74b StGB. 719 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 10, 45; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 23; Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rn. 2 (in Fischer, StGB nicht mehr erwähnt); jeweils m. Nachw. aus der Rspr. 720 Siehe dazu oben 3. a) bb).
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sichtspunkten möglich.721 Es ist also entweder insgesamt von Strafe abzusehen, oder aber es ist eine Strafe gemäß § 52 StGB zu verhängen. Unzulässig wäre es demnach beispielsweise, bezüglich einer Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c StGB von Strafe abzusehen, aber § 60 StGB hinsichtlich einer dabei zugleich verursachten fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB nicht anzuwenden722 – eine Konstellation übrigens, wie sie auch im „Autobahnraser-Fall“ vorgelegen hat723. Denn es wäre wenig einsichtig, den fahrlässig verursachten Tod innerhalb § 60 StGB zu berücksichtigen, hinsichtlich des tateinheitlich verursachten Tatbestandes der Straßenverkehrsgefährdung aber (dennoch) eine Strafe zu verhängen. Bei tatmehrheitlicher Verwirklichung hingegen erstreckt sich ein eventuelles Absehen von Strafe nur auf dasjenige Tatgeschehen, welches die schweren Folgen, die den Täter i. S. d. § 60 S. 1 StGB getroffen haben, kausal herbeigeführt hat.724 Es ist demzufolge nicht ausgeschlossen, dass in ein und demselben Urteil bezüglich eines Straftatbestandes von Strafe abzusehen ist, während hinsichtlich eines tatmehrheitlich verwirklichten anderen Delikts eine Strafe zu verhängen ist. Das „Alles oder Nichts“-Prinzip725 des § 60 S. 1 StGB, das entweder ein völliges Absehen von Strafe oder aber die vollumfängliche Verhängung der an sich verwirkten Strafe eröffnet, ist auf vielfache Kritik726 gestoßen, verdeutlicht aber letztlich nur den intendierten absoluten Ausnahmecharakter der Vorschrift727. Daher ist es auch nicht zulässig, eine Analogie zu § 60 721 BayObLG NJW 1972, 696; OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); Fischer, StGB, § 60 Rn. 7; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 17 (zum im Einzelfall vertretenen „erweiterten, spezifisch folgenorientierten Tatbegriff“ ders., StGB, § 60 Rn. 19; siehe dazu schon oben Fn. 713); MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 25; Schönke/Schröder/ Stree, StGB, § 60 Rn. 9; Streng, Sanktionen, Rn. 555; Zipf, in: JR 1975, S. 163 f.; vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 5; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 4. 722 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 25. 723 Siehe oben 1. Teil 1. Kap. C. I., D. I. 724 Fischer, StGB, § 60 Rn. 7; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 25; vgl. LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 18 (zum im Einzelfall vertretenen „erweiterten, spezifisch folgenorientierten Tatbegriff“ ders., StGB, § 60 Rn. 19; siehe dazu schon oben Fn. 713); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 5; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 7; SK/ Horn, StGB, § 60 Rn. 4. 725 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 8, 17, 43; Jescheck/Weigend, S. 863; Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 685; ders., in: JZ 1974, S. 775; Zipf, in: JR 1975, S. 163; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 314. 726 Insb. von Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 684 f.; ders., in: JZ 1974, S. 773 ff.; krit. auch LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 8, 43; Maurach/Gössel/Zipf, § 66 Rn. 14. 727 Ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 43; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 22; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 314 f.; zum absoluten Ausnahmecharakter siehe schon oben bei und in Fn. 696.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
StGB dergestalt zu eröffnen, dass bei Tatfolgen, die den Täter weniger „schwer“ getroffen haben, über § 60 StGB auch eine bloße Milderung der Strafe vorgenommen728 und hierbei gegebenenfalls eine gesetzliche Strafrahmenuntergrenze unterschritten729 werden kann. Denn § 60 StGB verfolgt nicht das Ziel, die (starren) gesetzlichen Strafrahmenuntergrenzen generell zu öffnen.730 Vielmehr sollen diese Grenzen nach der gesetzlichen Ausgestaltung des § 60 StGB nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen und nur für den Fall durchbrochen werden, dass es hinsichtlich der Verhängung einer – der Tatschuld angemessenen – Strafe eines völligen Absehens bedarf. Hieraus ergibt sich speziell in Fällen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung ein weiteres731 Anwendungsproblem: Häufig wird auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles gerade kein vollumfängliches Absehen von Strafe i. S. d. § 60 StGB in Betracht kommen. Sei es, weil der Strafzweck der Vergeltung bzw. Sühne durch die auf Grund der Vorverurteilung in den Medien erlittenen Beeinträchtigungen nicht i. S. einer poena naturalis bereits gänzlich „abgegolten“ ist; sei es, weil diese den Betroffenen nicht derart stark beeindruckt haben, dass zugleich die Öffentlichkeit vor weiterer Straftatenbegehung hinreichend geschützt ist; oder sei es, weil die sich etwaig ergebenden – und wiederum über die Medien in die Öffentlichkeit transportierten – gesundheitlichen Schädigungen nicht derart gewichtig sind, als dass sie die Verhängung von Strafe zur „Verteidigung der Rechtsordnung“ in Gänze erübrigten.732 Das „Alles oder nichts“-Prinzip des § 60 S. 1 StGB verhindert insoweit eine einzelfallgerechte Abmilderung der Strafe. Fälle, in denen die aufgetretenen Beeinträchtigungen für den Betroffenen ein vollständiges Absehen von Strafe rechtfertigen, dürften demgegenüber nur äußerst selten zu bejahen sein. d) Zwischenergebnis 2 Auf Rechtsfolgenseite eignet sich § 60 StGB nicht für eine bloße strafmildernde Berücksichtigung der mit einer vorverurteilenden Medienberichterstattung etwaig einhergehenden Beeinträchtigungen des Betroffenen. 728 Im Ergebnis ebenso MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 22; Jescheck/Weigend, S. 863; Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 314 f., 321; a. A. Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 684, 696. 729 Im Ergebnis ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 8, 43; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 22. 730 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 43; Maiwald, in: ZStW 83 (1971), S. 685; vgl. Müller-Dietz, in: FS Lange, S. 314 f. 731 Zu einem ersten Anwendungsproblem siehe oben bei Fn. 717. 732 Siehe zu den Strafzwecken speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung schon oben 1. d).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 167
5. Ergebnis Insgesamt erweist sich § 60 StGB für Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung als die gegenüber § 46 StGB und § 51 StGB sachnähere und daher speziellere Vorschrift. Aus den genannten Gründen ist § 60 StGB diesbezüglich aber – zumindest isoliert – keine taugliche Rechtsgrundlage.733 Vielmehr wären in zweierlei Hinsicht gewisse Modifikationen zwingend erforderlich, um die Vorschrift in diesem Zusammenhang heranziehen zu können. Hierbei hilfreich könnte ein Rückgriff auf die bereits als dogmatische Grundlage geprüfte Vorschrift des § 46 Abs. 2 StGB734 sein (siehe sogleich). IV. § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB Hinsichtlich einer rechtlichen Grundlage für eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichterstattung bedarf es möglicherweise einer Rechtsvorschriftenkombination der Norm des § 60 StGB mit derjenigen des § 46 Abs. 2 StGB. 1. Ausdehnende Interpretation des § 60 StGB anhand von § 46 Abs. 2 StGB a) Problemkonstellation Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 StGB sind „die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen“, gegeneinander abzuwägen, um als Abschluss des Zumessungsaktes die Verhängung einer angemessenen Strafe – genauer: eine angemessene Höhe der Strafe – zu gewährleisten. Im Falle einer vorverurteilenden Berichterstattung hat der Betroffene mitunter erhebliche physische, psychische und weitere Folgen zu erleiden.735 Es handelt sich hierbei daher grundsätzlich um einen Umstand, der i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 1 StGB „für“ den Täter sprechen kann. Die mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung für den Betroffenen einhergehenden Beeinträchtigungen lassen sich aber nicht einem der benannten Fälle des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB unterordnen.736 Und hinsichtlich der Annahme eines un733 So aber Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430 (ohne nähere Ausführungen); Schulz, S. 134 ff.; ferner Experteninterviews lfd. Nrn. E3, E8 und E13. 734 Siehe oben I. 3. und 4. 735 Vgl. schon oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4., II.; siehe näher unten 2. c) cc). 736 Dazu oben I. 3.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
benannten Falles i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB erweist sich § 60 StGB als die sachnähere und daher speziellere Regelung für eine Berücksichtigung derartiger, erst nachträglich und von außen auf den Täter einwirkender Umstände.737 § 60 StGB verfügt allerdings in tatbestandlicher Hinsicht über einen zu engen Anwendungsbereich738 und erweist sich darüber hinaus auch auf Rechtsfolgenseite als ungeeignet739. b) Problemlösung Die Lösung dieser Problemkonstellation ergibt sich nun, indem § 60 StGB anhand der Vorschrift des § 46 Abs. 2 StGB in zweifacher Hinsicht ausdehnend interpretiert wird: Zum einen ist es erforderlich, die Beschränkung des § 60 S. 2 StGB unter Rückgriff auf § 46 Abs. 2 StGB zu reduzieren, mit der Folge, dass eine Heranziehung der Norm auch über die EinJahres-Grenze hinaus in Betracht kommt.740 Zum anderen ist es – unter abermaligem Rückgriff auf § 46 Abs. 2 StGB – angezeigt, auch die Rechtsfolge zu modifizieren, und zwar dahingehend, dass eine etwaig erfolgte poena naturalis entsprechend ihrem jeweiligen Gewicht auf den hoheitlichen Strafausspruch „anzurechnen“ ist, so dass auch die Vornahme einer bloßen Strafmilderung allgemein zulässig und je nach den Umständen des Einzelfalles sogar geboten ist.741 Insoweit sind also die Folgen der Tat nicht als „so schwer“ zu beurteilen, als dass die Verhängung von Strafe insgesamt verfehlt wäre, wohl aber in dieser Höhe. Bei der zuerst genannten Modifikation handelt es sich um eine tatbestandliche Ausweitung des § 60 StGB, die zweite Modifikation schließlich führt zu einer Ausweitung des § 60 StGB auch hinsichtlich der Rechtsfolgen. Insgesamt ermöglicht dies eine ganz auf den Einzelfall zugeschnittene und dem allgemeinen Rechtsempfinden gerecht werdende „kompensa737
Dazu oben I. 4. Siehe oben III. 3. e) cc) am Ende, f). 739 Siehe oben III. 4. c) am Ende, d). 740 Im Ergebnis ebenso Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rn. 2 (nicht mehr angeführt in Fischer, StGB); Streng, Sanktionen, Rn. 555; allg. a. A. LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 44; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 7 („Vergleichbare Fälle jenseits der 1-Jahres-Grenze [. . .] sind ggf. mit dem Gnadenrecht zu lösen“); Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 10 (Absehen von einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe infolge eines gesetzgeberischen Kompromisses „mit der Forderung nach hinreichender Reaktion auf ein Fehlverhalten“ nicht möglich); ferner Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 7, der im Zusammenhang mit § 153b StPO hinsichtlich § 60 StGB von „Fällen absoluter Geringfügigkeit“ spricht (Hervorhebung im Original). 741 Im Ergebnis ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 8, 44; Schönke/Schröder/ Stree, StGB, § 60 Rn. 12; Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rn. 2 (nicht mehr angeführt in Fischer, StGB); Zipf, in: JR 1975, S. 164; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401. 738
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 169
torische Strafzumessung“. Diese Lösung entspricht im Übrigen – allerdings nur dem Ergebnis nach – den abweichenden Ansichten, die mit der Begründung, § 60 StGB sei der allgemeine Rechtsgedanke zu entnehmen, dass für den Täter nachteilige Folgen innerhalb der Strafzumessung zu berücksichtigen sind742 bzw. dass dieser Grundsatz schon aus § 46 StGB hergeleitet werden könne743, letztlich einen nicht katalogisierten Umstand i. S. d. § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB annehmen möchten. Eine strafmildernde Berücksichtigung der sich aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung etwaig ergebenden Beeinträchtigungen ist nach hier vertretener Ansicht also nicht isoliert über § 60 StGB, sondern nur unter gleichzeitiger Einbeziehung des § 46 Abs. 2 StGB möglich. Es bedarf daher einer Rechtsvorschriftenkombination dieser beiden Normen. Um diese „Verknüpfung“ auch optisch zum Ausdruck zu bringen, kann beispielsweise eine Anbindung unter dem Kürzel „i. V. m.“ erfolgen. In Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung ist dann § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB die rechtliche Grundlage für eine strafmildernde Berücksichtigung erlittener Beeinträchtigungen. Auch in Fällen, in denen gar ein vollumfängliches Absehen von Strafe in Betracht kommt, bedarf es dieser Verknüpfung mit § 46 Abs. 2 StGB, da insoweit zwar das geschilderte Anwendungsproblem auf Rechtsfolgenseite entfällt, dasjenige in tatbestandlicher Hinsicht jedoch bestehen bleibt.744 Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang eine strafmildernde Berücksichtigung erlittener Beeinträchtigungen in Betracht kommt oder ob gar ganz von Strafe abzusehen ist, hat das Gericht je nach den Umständen des Einzelfalles und im Rahmen einer abwägenden Gesamtbetrachtung745 zu treffen.746 Für die (wenigen) Fälle, in denen hieraus ein Strafmaß unterhalb der Grenze noch schuldangemessenen Strafens resultiert, 742 So OLG Köln VRS 100, 117 (117 f.); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 44; Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rn. 2 (in Fischer, StGB nicht mehr erwähnt); Maurach/Gössel/Zipf, § 66 Rn. 14; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 429; Streng, Sanktionen, Rn. 555; Zipf, in: JR 1975, S. 164; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401. 743 So MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 1, 10, 21; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 10, 16; vgl. Dalbkermeyer, S. 233. 744 Anders Jescheck/Weigend, S. 862 (Für den Fall, dass die Tat so schwer wiegt, dass eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr verwirkt ist, „vermutet das Gesetz [. . .] unwiderleglich, daß aus generalpräventiven Erwägungen ein vollständiger Strafverzicht nicht in Betracht kommt.“). 745 Dazu ausf. im Anschluss 2. 746 Vgl. Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928; anders hinsichtlich des Umfangs der Strafmilderung Schulz, S. 137, der zur Bestimmung ihrer konkreten Höhe – vergleichbar mit der Spezialregelung des § 46a StGB – insgesamt § 49 StGB heranziehen möchte. Dies erweist sich aber schon im Hinblick auf Fälle einer Verwirkung lebenslanger Freiheitsstrafe als problematisch, da solchenfalls ein etwaiges vollumfängliches
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
gilt: Wenn über die gesetzliche Regelung des § 60 StGB ein Unterschreiten der schuldangemessenen Strafe auf „Null“ als ganz ausnahmsweise zulässig erachtet wird747, wird eine die schuldangemessene Strafe unterschreitende bloße Milderung erst recht statthaft sein.748 Das ermittelte Strafmaß muss dem Schuldmaß hier also ebenfalls ausnahmsweise nicht voll entsprechen. Ein strafmilderndes Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe des § 38 Abs. 2 StGB (ein Monat Freiheitsstrafe) ist indes nach allgemeinen Grundsätzen nicht zulässig.749 Für Fälle vorverurteilender Berichterstattung bedeutet dies: Dem Gericht ist es gestattet, die erfolgten Beeinträchtigungen je nach deren spezifischem Gewicht strafmildernd zu berücksichtigen oder auch ganz von Strafe abzusehen. Hierbei fallen Sachverhalte, bei denen i. S. d. § 60 S. 2 StGB an sich eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr „verwirkt“ ist, insgesamt nicht von vorne herein aus dem Anwendungsbereich heraus. c) Zwischenergebnis zum Erwachsenenstrafrecht Als normative Grundlage für eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung erst nachträglich und von außen auf den Täter einwirkender Umstände, namentlich erfolgter Beeinträchtigungen in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung, kann § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB herangezogen werden. Damit scheidet zugleich die Annahme eines nicht „namentlich“ benannten, sprich: unbenannten Falls im Rahmen des § 46 Abs. 2 S. 2 i. V. m. S. 1 StGB aus.750 2. Gesamtabwägung Die Entscheidung darüber, ob und mit welchem Gewicht auf Grund einer vorverurteilenden Medienberichterstattung eine Strafmilderung vorzunehmen oder ob gar ganz von Strafe abzusehen ist, ist in einer umfassenden Gesamtabwägung aller Gesichtspunkte zu treffen.751 In den geführten GeAbsehen von Strafe infolge des dann einschlägigen § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB von vorne herein ausgeschlossen und auch über § 49 Abs. 2 StGB nicht möglich wäre. 747 Vgl. oben bei und in Fn. 610 f. 748 Ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 44; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 12 i. V. m. Vor § 38 Rn. 18a, § 46 Rn. 55; Schäfer, in: FS Tröndle, S. 401. 749 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 44; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 12 i. V. m. Vor § 38 Rn. 18a, § 46 Rn. 55. 750 Vgl. oben I. 4. am Ende. 751 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, § 33 Rn. 11 („Gewichtung zahlreicher Umstände des Einzelfalls“); Hassemer, in: NJW 1985, S. 1928 („Grade von Verletzungen graduell zu würdigen“); Schulz, S. 137.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 171
sprächen wurde sich diesem Problemkreis mit Frage II. 4. des Interviewleitfadens angenähert. Die insoweit relevanten Aspekte können hier im Speziellen in a) straftatbezogene, b) medienbezogene sowie c) beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte untergliedert werden. a) Straftatbezogene Gesichtspunkte Innerhalb der straftatbezogenen Gesichtspunkte ist nach Aspekten aa) der Deliktskategorie, bb) des Verdachtsgrades sowie cc) des Verfahrensstandes zu differenzieren. aa) Deliktskategorie Die Deliktskategorie betrifft namentlich Art und Schwere der begangenen Straftat. Die Auswertung der Interviews ergab diesbezüglich folgendes Bild: Sechs der hierzu befragten bzw. sich äußernden 13 Erwachsenenrichter möchten eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung zumindest auch von Art und Schwere der begangenen Straftat abhängig machen (lfd. Nrn. E2, E8, E11, E12, E16 und E19). Weitere fünf Erwachsenenrichter halten eine derartige Berücksichtigung speziell bei Sexualstraftaten (lfd. Nr. E3) oder allgemein bei bestimmten anderen Delikten (lfd. Nrn. E1, E4, E6 und E13) per se nicht für eher angezeigt; aber bestimmte Delikte seien als besonders medienwirksam zu beurteilen (lfd. Nrn. E4 und E13), und auf Grund der damit in aller Regel einhergehenden zusätzlichen Beeinträchtigungen sei eine Berücksichtigung eher denkbar (lfd. Nr. E6). Entscheidend sei, ob angesichts des konkret in Rede stehenden Delikts eine insgesamt noch angemessene Berichterstattung erfolgt sei (lfd. Nr. E6). Lediglich zwei Erwachsenenrichter (lfd. Nrn. E14 und E15) waren demgegenüber der Ansicht, eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung sei gänzlich unabhängig von Art und Schwere der in Rede stehenden Straftat. Die Interviews ergaben völlig zu Recht, dass die Entscheidung zunächst damit zusammenhängen wird, welchem Deliktsbereich die vorgeworfenen Taten entstammen.752 Denn die Medienorgane haben ihre eigenen „Gesetze“ dafür, worüber berichtet wird und worüber nicht; da zählt eine Sensation mehr als das sachlich vorgetragene Argument.753 752 Vgl. Schulz, S. 137 („Art und Ausmaß des Anklagevorwurfs“); vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 51 Rn. 21; zu einer „Differenzierung nach Deliktskategorien“ unter spezieller Thematik vgl. Schünemann, in: StV 1985, S. 428 ff.; siehe aber Grave, in: NJW 1981, S. 210. 753 Ähnl. Hassemer, Strafverfahren, S. 69; Hörisch, in: StV 2005, S. 153 („die Massenmedien sind [. . .] an Normen nur interessiert, insofern sie spektakulär durch-
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Bestimmte Tatbestandsgruppen erweisen sich insoweit für die mediale Berichterstattung als eher uninteressant, andere hingegen sind dafür umso ergiebiger754 und haben demzufolge einen gewichtigen Einfluss auf das konkrete Ausmaß der Berichterstattung. Zu den letztgenannten gehören jedenfalls die dem Bereich der „Schwerstkriminalität“ zugehörigen Straftaten. Als Richtschnur für in diesem Sinne besonders schwere Taten kann etwa der Straftatenkatalog des § 100a S. 1 StPO herangezogen werden. Darin enthalten sind beispielsweise Straftaten nach den §§ 176a Abs. 1 bis 3, Abs. 5, 176b StGB (siehe § 100a S. 1 Nr. 2 StPO). Darüber hinaus findet der besonders „sensible“ Deliktsbereich der Sexualdelikte im Allgemeinen (§§ 174 ff. StGB) stets ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit. Hierbei heben sich Sexualdelikte gegenüber Kindern755 und dabei wiederum Fälle innerhalb der Familie nochmals ab. Aktuell besonders im Blickpunkt der Medienöffentlichkeit stehen – auf Grund zahlreicher in den letzten Monaten aufgetretener Sachverhalte – speziell Kindstötungen und Fälle von Kindesverwahrlosung. Dem stehen sog. Bagatelldelikte gegenüber. Insgesamt haben hiernach Art und Schwere der in Rede stehenden Straftat einen zentralen Einfluss auf Dauer und Intensität der Berichterstattung756 und damit die sich für den Beschuldigten letztlich etwaig ergebenden psychischen und physischen Belastungen sowie Stigmatisierungseffekte757. bb) Verdachtsgrad Auch der Grad des bestehenden Verdachts hinsichtlich der vorgeworfenen Tat(en) zum Zeitpunkt der medienöffentlichen Vorverurteilung ist von Relevanz. Im Falle lediglich vager Vermutungen etwa wirkt sich eine vorverurteilende Berichterstattung für den Betroffenen mitunter besonders negativ aus, zumal wenn sich der bestehende Verdacht auf eine schwere Straftat bezieht, aber letztlich nicht bestätigt wird und daher nur eine Verurteilung auf der Grundlage eines geringeren Delikts verbleibt.758 Mit zunehmendem Verbrochen werden“); vgl. Schneider, in: DVJJ-J 1993, S. 270, demzufolge Gewalt als „Eintrittsbedingung für mediale Präsenz“ gelten könne. 754 Vgl. Hörisch, in: StV 2005, S. 152: „Massenmedien (. . .) brauchen und bringen Aufregendes. Deshalb haben sie ein Interesse am Unrecht, nicht aber am Recht, an der Eskalation, nicht an der De-Eskalation, am Skandal, nicht am Normalfall, am Konflikt, nicht am Frieden, an der Katastrophe, nicht an der Idylle.“, S. 153: „Nichts verabscheuen Massenmedien so sehr wie das Normale, Alltägliche, Unspektakuläre.“. 755 Ebenso Brandenstein/Kury, in: NZV 2005, S. 227. 756 Dazu näher unten b) aa). 757 Näher unten c) cc).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 173
dachtsgrad – einfacher Verdacht einer Straftat i. S. d. § 160 Abs. 1 StPO, genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage bzw. hinreichender Tatverdacht zur Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 170 Abs. 1 bzw. § 203 StPO – ist die mediale Bezeichnung als „Täter“, „Verbrecher“ oder dergleichen als weniger gravierend zu beurteilen – unbeschadet des auch solchenfalls vorliegenden Widerspruches gegen den allgemeinen Aussagegehalt der Vermutung der Unschuld des Betroffenen759.760 Bei einer angesichts erdrückender Beweislast „nahezu sicheren“ Tatbegehung schließlich wird der Betroffene derartige Titulierungen noch am ehesten hinnehmen müssen, wenngleich auch hier die Unschuldsvermutung betroffen wird. Einzubeziehen ist dabei schließlich, ob es sich ex post um weitestgehend „berechtigte“ oder aber um zumindest in Teilen „unberechtigte“ Angriffe in der Presse handelt, wobei auch erstere durchaus zugunsten des Betroffenen zu berücksichtigen sein können.761 Bei einer den Grad des Verdachts mit der Art und Schwere der vermuteten Straftat762 verknüpfenden Betrachtungsweise763 gilt, dass der Betroffene ab einem bestimmten Verdachtsgrad einer schweren Straftat i. S. d. § 100a S. 1 StPO eine vorverurteilende Medienberichterstattung eher wird tolerieren müssen und somit eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung derartiger Umstände seltener in Betracht kommen wird. Bei weniger gewichtigen Straftaten hingegen ist auch dann eher von der Notwendigkeit einer solchen Berücksichtigung auszugehen, wenn ein erhöhter Verdachtsgrad besteht. Speziell bei Politikern und anderen Personen, die ohnehin schon in der Öffentlichkeit präsent sind764, ist die Grenzlinie des insoweit relevanten Verdachtsgrades höher anzusetzen, das heißt (schon) bei einem leichteren Verdachtsgrad und hinsichtlich (lediglich) geringerer Straftaten wird deren vorverurteilende Kommentierung in den Medien eher als noch zumutbar zu beurteilen sein. Auf die insoweit augenscheinlichen Berührungspunkte mit 758 Ausf. zu Bedeutung und Grenzen medialer Verdachtsberichterstattung Widmaier/Lehr, § 20 Rn. 15 ff. 759 Vgl. näher oben 2. Teil 2. Kap. A. I. am Ende. 760 Siehe OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (600): erhebliche Beeinträchtigungen der Beschuldigten infolge ihrer Bezeichnung als „Terror-Mädchen“, „Terroristin“ und „Mörderin“ bei nach damaligem Erkenntnisstand dringendem Tatverdacht; Grave, in: NJW 1981, S. 210: „Angemessen ist nur ein Ausdruck, der (. . .) erkennen läßt, daß über einen – wenn auch erheblichen – Verdacht berichtet wird.“; siehe auch S. 211, wonach selbst ein dringender Verdacht „es nicht rechtfertigt, einer Nachricht den Anschein der Gewißheit zu geben“. 761 Vgl. BGH NJW 1990, 194 (195); BGH/D NStZ 1990, S. 222; einschr. MK/ Franke, StGB, § 46 Rn. 55. 762 Dazu oben aa). 763 Vgl. dazu unter speziellem Blickwinkel Herzog, in: NStZ 1985, S. 154. 764 Näher unten c) aa).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
der Rechtsprechung des BVerfG betreffend sog. absolute bzw. relative Personen der Zeitgeschichte765 und speziell Straftäter als Personen der Zeitgeschichte766 soll an dieser Stelle zwar verwiesen, aus Platzgründen aber nicht näher eingegangen werden. Bei zwar nicht-prominenten, aber in einer kleineren Gemeinde oder Kleinstadt beheimateten Beschuldigten ist indes zu berücksichtigen, dass sich auf Grund der örtlichen Gegebenheiten schon der bloße Verdacht einer – wenn auch geringen – Straftat besonders negativ auswirken kann. Allgemein gilt, dass die Medienorgane getreu ihres gesellschaftlichen Informationsauftrages aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bereits bei einem schwächeren Verdachtsgrad die Öffentlichkeit eher unterrichten dürfen als staatliche Behörden.767 Insoweit bedarf es einer Abwägung der Belange des Beschuldigten768 mit der Freiheit der Berichterstattung und dem Recht der Allgemeinheit auf Information gemäß Art. 5 Abs. 1 GG. cc) Stand des Verfahrens Hinsichtlich des Verfahrensstandes lässt sich danach unterteilen, ob während der Phase der medienöffentlichen Vorverurteilung bereits auf eine konkrete Person bzw. einen fest umrissenen Personenkreis bezogene Ermittlungen erfolgten oder ob die Untersuchung noch „in alle Richtungen“ vorgenommen wurde. Sodann lassen sich die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 160 StPO, das Zwischenverfahren i. S. der §§ 170 Abs. 1, 199 StPO, das Hauptverfahren nach § 203 StPO und die Phase der (Vorbereitung der) Hauptverhandlung gemäß (§§ 213 ff.,) §§ 226 ff., § 243 StPO unterscheiden.769 Im Vorfeld einer Ermittlung werden keinerlei mediale Begrenzungen der Vermutung der Unschuld des Betroffenen zulässig sein. Mit zunehmendem Fortschreiten des Verfahrens werden – entsprechend den Ausführungen zum Verdachtsgrad770 – insoweit stärkere Einschränkungen zumutbar sein, der 765 Siehe dazu etwa BVerfGE 101, 361 (391 ff.) – Fall Prinzessin Caroline v. Monaco; BVerfG NJW 2001, 1921 (1923 ff.) – Fall Prinz August v. Hannover. – Näher zu den Begriffen siehe etwa schon Bornkamm, in: NStZ 1983, S. 104 m. w. N.; Marxen, in: GA 1980, S. 371; v. Becker, S. 154 ff. 766 Vgl. hierzu etwa BVerfGE 35, 202 (206 ff., 209 ff.) – Fall Lebach. – Siehe dazu ausf. Lampe, in: NJW 1973, S. 217 ff. und v. Becker, S. 170 ff.; zur Einordnung bloß Tatverdächtiger als relative Personen der Zeitgeschichte Marxen, in: GA 1980, S. 371 ff. 767 Gerhardt, S. 42. 768 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4., II. 769 Zu einer Differenzierung nach dem Stand des Verfahrens vgl. auch Stürner, in: JZ 1978, S. 167 f.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 175
Beschuldigte darf aber in den Medien regelmäßig771 nicht etwa bereits als feststehender „Täter“ bezeichnet772 oder als überführter „Rechtsbrecher“ hingestellt werden. b) Medienbezogene Gesichtspunkte Die auf die Medien bezogenen Gesichtspunkte gliedern sich in aa) die Dauer und Intensität der Berichterstattung und bb) die Art der Informationserlangung. aa) Dauer und Intensität der Berichterstattung (1) Art und Verbreitungsgrad des Mediums Bedeutsam ist hier zunächst die Art der medialen Informationsweitergabe.773 Insoweit kann eine Verbreitung im Rundfunk, über die Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften etc.) oder das Fernsehen erfolgen. In dieser Reihenfolge ergeben sich infolge einer erhöhten Reichweite sowie der (auch) visuellen Berichterstattung774 stetig ansteigende Gefahren für den Betroffenen.775 In zunehmendem Maße werden diese Medien in heutiger Zeit durch das – in Sekundenschnelle zugängliche – Medium „Internet“ zumindest erweitert wenn nicht bereits ersetzt, wodurch die genannten Gefahren kumuliert und damit nochmals verstärkt werden. Hinsichtlich des Verbreitungsgrades ist danach zu unterscheiden, ob eine lediglich regionale (Lokalzeitungen und -sender), überregionale oder gar eine (massenmediale) deutschlandweite776 Publikation erfolgte.777 Als europa770
Siehe zuvor bb). Zu den ganz seltenen Ausnahmen siehe oben Fn. 479. 772 Grave, in: NJW 1981, S. 210. 773 Vgl. Schulz, S. 137 f.; vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 51 Rn. 21. 774 Vgl. dazu Müller, in: NJW 2007, S. 1619 („Darstellung von Straftaten im Fernsehen [. . .] bedeutet in der Regel einen wesentlich stärkeren Eingriff in die Privatsphäre als eine Wortberichterstattung“); vgl. auch Schneider, in: DVJJ-J 1993, S. 273, wonach „bewegte Bilder eine ungleich höhere emotionale Kraft entfalten als Worte. Der beste gesprochene Kommentar über eine Greueltat ist hilflos gegenüber einem gleichzeitig laufenden detailfreudigen Bildbericht.“. 775 Ähnl. BVerfGE 35, 202 (226 f.) – Fall Lebach. 776 Vgl. OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (600 f.) betr. Darstellung der Täterschaft der (bislang lediglich dringend verdächtigen) Beschuldigten als Gewissheit in einem „in Millionenauflage verbreiteten Massenblatt“. 777 Vgl. Stürner, in: JZ 1980, S. 5; a. A. Experteninterview lfd. Nr. E1: strafzumessungsimmanente Berücksichtigung unabhängig vom Verbreitungsgrad des Mediums. 771
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
und weltweit verfügbares Medium sind wiederum mit der Berichterstattung über das Internet besondere Gefahren verbunden. Allgemein kann gesagt werden, dass mit zunehmendem Grad der Verbreitung zwangsläufig zugleich das Risiko nachhaltiger Beeinträchtigungen des Betroffenen steigt. Andererseits kann sich ein „Rufmord“ gerade in der beschaulichen Übersichtlichkeit einer Kleinstadt für den Betroffenen schon besonders negativ auswirken.778 (2) Inhalt der Veröffentlichungen Die Veröffentlichungen in den Medien können die bloße Mitteilung der die Täterschaft des Beschuldigten (vermeintlich) begründenden Tatsachen inklusive der Ermittlungsergebnisse oder aber darüber hinaus auch solche Angaben enthalten haben, die zumindest mittelbar zugleich Rückschlüsse auf die Identität des Beschuldigten ermöglichten779. Schließlich wird infolge einer Abbildung des Beschuldigten bzw. gar der Angabe seines Vorund Zunamens nicht selten – und zwar auch bei fehlender Prominenz – dessen eindeutige Identifizierung ermöglicht.780 Eine öffentliche Berichterstattung der zuletzt genannten Art besitzt eine erhebliche „Prangerwirkung“ gegenüber dem Beschuldigten.781 Veröffentlichungen, die zudem (ab-)wertende Meinungsäußerungen bezüglich des Charakters des Beschuldigten, seiner Handlungsweise und 778 Vgl. Gerhardt, S. 25; vgl. auch Ossenbühl, in: JZ 1995, S. 634: „Über ein die Allgemeinheit (. . .) interessierendes Ereignis wird plötzlich die Privatheit und die Privatsphäre eines einzelnen Bürgers einem Millionenpublikum unterbreitet. In einem unentwirrbaren Gemisch aus Tatsachenbehauptungen und Werturteilen wird sein Leben, seine Familie, seine innere Einstellung usw. vor der Nation seziert. Am Ende ist er bürgerlich tot, gestorben am Rufmord.“. 779 Zu einem solchen Fall siehe OLG Braunschweig NJW 1975, 651 (652). 780 Siehe etwa den der Entscheidung OLG Köln NJW 1987, 2682 (2682 ff.) zugrunde liegenden Sachverhalt. 781 BVerfGE 71, 206 (219); OLG Braunschweig NJW 1975, 651 (652); Weiler, in: ZRP 1995, S. 135: „Für den von der Medienberichterstattung betroffenen Beschuldigten wird die Berichterstattung über ‚seinen‘ Fall zum modernen Pranger.“; Dalbkermeyer, S. 11 f.; vgl. OLG Köln NJW 1987, 2682 (2684): „durch den Abdruck seines Bildes der Allgemeinheit vorgeführt und ihrem negativen Urteil preisgegeben worden“; Widmaier/Lehr, § 20 Rn. 5, 55; Eisenberg/Conen, in: NJW 1998, S. 2242; vgl. ferner schon BVerfGE 35, 202 (226) – Fall Lebach („öffentliche Berichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung, Abbildung oder Darstellung des Täters wird stets seinen Persönlichkeitsbereich erheblich beeinträchtigen“). – Siehe zu weiteren nachteiligen Auswirkungen identifizierender Berichterstattung Hassemer, Strafverfahren, S. 68, zu Voraussetzungen und Formen identifizierender Berichterstattung Widmaier/Lehr, § 20 Rn. 40 ff. Zu etwaigen Auswirkungen identifizierender Berichterstattung auf das Verbrechensopfer siehe Meier, in: FS Rolinski, S. 432 ff., 441 ff.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 177
Schuld beinhalteten oder zumindest das (mutmaßliche) Tatgeschehen und die Ermittlungsergebnisse nur einseitig und für den Beschuldigten negativ würdigten782, verstärken diese Wirkung noch. Innerhalb der insoweit vorzunehmenden wertenden Betrachtung sind die Belange des Beschuldigten783 mit der Meinungs- bzw. Pressefreiheit und dem Recht auf Information nach Art. 5 GG, Art. 10 EMRK abzuwägen. Übergreifend macht es einen Unterschied, ob der Beschuldigte lediglich als einer Straftat „Verdächtigter“, „Beschuldigter“ oder „mutmaßlicher“ Täter bezeichnet oder aber – entgegen der bis auf Weiteres geltenden Vermutung seiner Unschuld784 – als „Täter“, „Verbrecher“, „Bestie“ oder „Schwein“ etc. tituliert wurde, obschon die Täterschaft an sich noch gar nicht festgestellt war.785 (3) Dauer der Berichterstattung Bei der Abwägung zu berücksichtigen ist auch die Dauer der vorverurteilenden Berichterstattung. Denn je länger diese fortgedauert hat, desto nachhaltiger wirkt sie sich in aller Regel auf den Beschuldigten aus. Dies hängt maßgeblich von der Länge der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen vor Beginn des Prozesses und derjenigen des Strafverfahrens im Ganzen ab. bb) Art der Informationserlangung Eine Rolle spielt – soweit im Einzelfall der gerichtlichen Feststellbarkeit unterliegend – ferner, auf welchem Wege die berichtenden Medien Kenntnis 782
Vgl. zu einem solchen Fall OLG Düsseldorf NJW 1980, 599. Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4., II. 784 Vgl. oben 2. Teil 2. Kap. A. I. am Ende. 785 Siehe dazu auch KG Berlin NJW 1968, 1969 (Bezeichnung des landesverräterischer Beziehungen beschuldigten Bordell-Inhabers als bereits überführter „BordellSpion“, wenngleich die Spionage-Tätigkeit als solche gerichtlich noch nicht festgestellt worden war); OLG Düsseldorf NJW 1980, 599 (Bezeichnung der Beschuldigten als „Terror-Mädchen“, „Terroristin“ und „Mörderin“ bei nach damaligem Erkenntnisstand zwar dringendem, sich letztlich aber nicht bestätigendem Tatverdacht); LG Berlin, Urt. v. 27.2.1995 – 519 KLs 25/92, S. 7 (Darstellung des Beschuldigten in der Boulevard-Presse als „Pate von Berlin“ und „Unterweltkönig“, „ohne daß das Verfahren erbracht hätte, daß er tatsächlich eine solche Rolle innehatte“, S. 44; unveröffentlicht). Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die neuerdings in den USA gezeigte und aus rechtsstaatlichen Gründen strikt abzulehnende Praxis, wonach behördliche Internetpublikationen der Adressen nebst fotografischer Abbildung verurteilter Sexualstraftäter (vorgeblich) zum Schutze der Bevölkerung erfolgen. 783
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von einem (vermeintlich) strafbaren Verhalten erlangt haben.786 Private Anzeigenerstatter erweisen sich insoweit als irrelevant, und auch eine durch die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG gedeckte „Enthüllung“ infolge journalistischer Recherchetätigkeit („Einfluss der Medien“) bereitet keine weiteren Schwierigkeiten787. Problematisch wird es aber etwa dann, wenn Strafverfolgungsorgane als Repräsentanten des staatlichen Strafanspruches namentlich durch Indiskretionen der Auslöser vorverurteilender Berichterstattung waren bzw. hierzu entscheidend beigetragen haben.788 Ein besonderer Problemkreis eröffnet sich dadurch, dass die Medienöffentlichkeit mitunter auch durch den Beschuldigten oder seinen Strafverteidiger für eigene Zwecke missbraucht und gleichsam instrumentalisiert wird („Einfluss über die Medien“),789 indem etwa eine Tatbeteiligung verharmlost oder das Opfer der Straftat verunglimpft wird. Analog § 51 Abs. 1 S. 2 StGB790 hat dann eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung etwaiger vorverurteilender Medienberichte in aller Regel auszuscheiden, da diese letztlich selbst zu verantworten sind.791 c) Beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte Die nachfolgenden beschuldigtenbezogenen Gesichtspunkte bewirken eine subjektive Einkleidung des Abwägungsprozesses auf der Grundlage der bisher geschilderten objektiven Belange. Sie können nach Aspekten aa) der gesellschaftlichen Stellung des Beschuldigten, bb) seiner individuellen Verteidigungsfähigkeit sowie cc) etwaiger psychischer und physischer Belastungen und Stigmatisierungseffekte aufgetrennt werden. 786 MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 55. – Ausf. zu denkbaren Quellen präjudizierender Publizität siehe Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426 ff. 787 Vgl. dazu Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 427 f.; vgl. auch oben bei und in Fn. 460. 788 Vgl. MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 55; Gatzweiler, in: StraFo 1995, S. 64; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426 f.; Marczak, in: StraFo 2004, S. 377; Gerhardt, S. 37 f., 39 (zum „Vampir-Fall“, in dem eine Presseerklärung des Polizeipräsidiums Auslöser vorverurteilender Berichterstattungen war); Jahn, S. 8 f.; Meier, in: FS Rolinski, S. 427, 443; ausf. zu dieser Problematik speziell im Zusammenhang mit Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden Widmaier/Lehr, § 20 Rn. 22 ff.; Dalbkermeyer, S. 1 ff., insb. S. 229 f. 789 Siehe oben 2. Kap. A. II. 1. sowie bei und in Fn. 584. 790 Nach dieser Vorschrift kann das Gericht anordnen, dass eine Berücksichtigung bestimmter erlittener Nachteile „ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist“. 791 Im Ergebnis ebenso MK/Franke, StGB, § 46 Rn. 55 (die Rede ist hier namentlich von einer „aus Sicht des Straftäters ‚hausgemachten‘ Belastung durch die Presse“).
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aa) Aspekte der gesellschaftlichen Stellung Zunächst gilt es, die Auswirkungen der jeweiligen beruflichen bzw. sozialen Stellung des Beschuldigten für eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichte zu ermitteln. In den Interviews wurden hiermit zusammenhängende Gesichtspunkte am häufigsten genannt.792 Ausgehend von Personen mit keinem oder aber einem nur geringen überregionalen Bekanntheitsgrad und somit weitestgehender Anonymität („Max Mustermann“) lassen sich Personen mit einem deutlich erhöhten Bekanntheitsgrad (Personen des öffentlichen Lebens) von solchen mit einem hohen bis sehr hohen Bekanntheitsgrad (Prominente, Berühmtheiten) unterscheiden.793 In aller Regel nur ein geringes Interesse der Medien besteht an solchen (mutmaßlich) straffällig gewordenen Personen, die bislang nicht in der Öffentlichkeit präsent waren. Lediglich im Falle schwerer bis schwerster Kriminalität794 wird hier in der Regel der bloße Verdacht einer Straftat schon beim ersten Mal eine entsprechende Berichterstattung auslösen. Mit steigendem Bekanntheitsgrad einer Person hingegen steigt auch die Motivation der Öffentlichkeit – und damit diejenige der deren Interessen bedienenden Medien –, sich über die (vermeintliche) Begehung von Straftaten zu informieren. Bei Prominenten schließlich ist sie nochmals erhöht, und zwar oftmals insbesondere bei Vorliegen eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses795 bzw. einer anderweitig öffentlich exponierten Stellung796 des Beschuldigten. Speziell bei stark moralisierend auftretenden Persönlichkeiten stellt sich ferner zwangsläufig ein großes öffentliches Interesse ein, wenn zu vermuten steht, dass diese gegen die geäußerten eigenen moralischen Maximen verstoßen haben.797 Im vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, dass bei im vorstehenden Sinne prominenten Beschuldigten angesichts deren gehobener gesellschaftlicher Position durch eine Vorverurteilung in den Medien ein gleichsam „tieferer Fall“ droht, da für die Betroffenen absolut „mehr auf dem Spiel“798 steht.799 Andererseits gehen hiermit – nunmehr unter relati792 Von den hierzu befragten 17 Erwachsenenrichtern machte lediglich die lfd. Nr. E20 keine entsprechenden Angaben. 793 Vgl. insoweit die Rechtsprechung des BVerfG betr. absolute bzw. relative Personen der Zeitgeschichte (dazu schon oben bei und in Fn. 765 f.). 794 Dazu oben a) aa). 795 Vgl. etwa den Fall Daschner (siehe dazu oben Fn. 96). 796 So beispielsweise im Fall Immendorff (siehe dazu ebenfalls oben Fn. 96). 797 Vgl. dazu den Fall Friedmann. 798 Ebenso Experteninterview lfd. Nr. E13. 799 Vgl. Terhorst, in: JR 1989, S. 187.
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ver Betrachtungsweise – nicht automatisch zugleich auch erhöhte Beeinträchtigungen einher, da die Vorverurteilung eines Nicht-Prominenten im privaten Umfeld sich für diesen unter Umständen sogar gewichtiger auswirkt800 als diejenige eines Prominenten in der Öffentlichkeit. Hinzu treten gesteigerte Möglichkeiten gerade prominenter Persönlichkeiten, schon nach recht kurzen Zeitspannen wieder das vorherige gesellschaftliche Niveau zu erreichen. Oder mit den Worten der Interviewpartner formuliert: Durch einen insgesamt besseren Zugang zu den Medien „fallen (Prominente; Zusatz durch Verf.) immer noch weich“801 bzw. „stehen schneller wieder auf“802. Auch ist bei Medienvertretern im Allgemeinen von einer signifikant erhöhten Bereitschaft zur „Resozialisierung“ speziell prominenter Personen auszugehen, da sich hieraus nach aller Erfahrung ergiebige und über lange Zeiträume nicht versiegende Quellen für weitere Berichte und Reportagen ergeben.803 Prominente werden zudem auf Grund ihrer vorherigen Medienpräsenz in aller Regel besser mit einer entsprechenden Berichterstattung umgehen können.804 Bei Nicht-Prominenten hingegen wirkt sich etwa der Abdruck eines Fotos in der Zeitung unter gleichzeitiger Namensnennung805 grundsätzlich belastender aus, und hiermit gehen zumeist erhöhte Beeinträchtigungen für den Betroffenen einher806. Ohnehin drängen Prominente dem Prinzip „Skandale und Skandälchen“ nachfolgend zum Teil regelrecht mit – auch strafrechtlich relevanten – Geschehensabläufen in die Öffentlichkeit, um das Interesse der Medien zu wecken und sich damit in der Öffentlichkeit präsent zu machen bzw. dies nach Möglichkeit zu bleiben.807 Die in einem Interview808 geäußerte Erwägung, dass derjenige, der als Prominenter oftmals positiv im Lichte der Öffentlichkeit stehe, eben auch die negativen Konsequenzen zu tragen habe und daher eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung vorverurteilender Berichterstattung ausscheide, ist dennoch nur dem Ansatz nach richtig; denn unbillige Beeinträchtigungen infolge medienöffentlicher Vorverurteilung sind auch diesem 800
Siehe schon oben bei und in Fn. 778. Experteninterview lfd. Nr. E2. 802 Experteninterviews lfd. Nrn. E3 und E16. 803 Dies zeigte sich exemplarisch im Fall Friedmann. 804 Experteninterview lfd. Nr. E11. – Siehe näher unten bb). 805 Dazu schon oben b) aa) (2). 806 Experteninterview lfd. Nr. E3. – Dazu näher unten cc). 807 Insoweit spielt also auch die „vorherige Medienpräsenz“ des Beschuldigten eine Rolle (Experteninterview lfd. Nr. E1; ähnl. lfd. Nr. E8). 808 Experteninterview lfd. Nr. E15. 801
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Personenkreis nicht zuzumuten809. Darüber hinaus wird speziell der private Bereich weitestgehend unangetastet zu bleiben haben, wenn und soweit entsprechende Einblicke – zumindest aus freien Stücken – der Öffentlichkeit bislang nicht gewährt wurden. Nach alledem wird Prominenten nicht per se, das heißt allein auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung, eher eine strafmildernde Wirkung zugebilligt werden können, wenn sie Opfer einer vorverurteilenden Medienberichterstattung geworden sind; es wird mit anderen Worten der Ausgestaltung eines diesbezüglichen „Sondermilderungsgrundes für Prominente“ nicht beizupflichten sein810; erst recht gilt dies hinsichtlich eines vollumfänglichen Absehens von Strafe. Oftmals ergeben sich bei diesem Personenkreis aber rein faktisch größere Beeinträchtigungen, die innerhalb der abwägenden Gesamtschau entsprechend zu berücksichtigen sein werden. Umgekehrt ist aber auch bei Nicht-Prominenten nicht per se eher von der Notwendigkeit einer Strafmilderung auszugehen. Vielmehr ist von Fall zu Fall zu entscheiden, inwieweit die berufliche oder soziale Stellung, vor allem die herausgehobene, die Strafzumessung beeinflussen kann.811 bb) Individuelle Verteidigungsfähigkeit Auch die Beantwortung der Frage nach der individuellen Fähigkeit des Betroffenen, sich gegen die medial erhobenen Vorwürfe zu verteidigen, wird Einfluss darauf haben müssen, ob eine Berücksichtigung innerhalb der Strafzumessung angezeigt ist.812 Dabei spielen eine Rolle die intellektuelle Fähigkeit des Betroffenen zur argumentativen Reaktion auf die erhobenen Vorwürfe und das (Nicht-)Vorhandensein von Möglichkeiten, die abweichende Position öffentlich zur Sprache zu bringen und hierbei auch entlastende Umstände vorzubringen813 sowie weitere Abwehrstrategien zu verfolgen. Ein gesellschaftliches Sich-zur-Wehr-Setzen gegen eine mediale Vorverurteilung wird insoweit speziell von Prominenten zumeist leichter zu bewerkstelligen sein als von Nicht-Prominenten;814 dies auch durch einen häufig guten Zugang zu dem einen oder anderen Medienvertreter und weitere, der Stellung gemäße Kontakte.815 Gleiches gilt hinsichtlich eines 809
Im Ergebnis ebenso Experteninterviews lfd. Nrn. E4, E11 und E14. Ebenso Experteninterview lfd. Nr. E5; ähnl. lfd. Nrn. E6 und E7. 811 Vgl. Fischer, StGB, § 46 Rn. 44; eher abl. BGH NJW 2000, 154 (157); 2008, 2057; a. A. Schulz, S. 138. 812 Ebenso Schulz, S. 138; vgl. Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426; Jahn, S. 7. 813 Schulz, S. 138. 814 Vgl. Jahn, S. 7. 815 Ebenso Experteninterviews lfd. Nrn. E3, E16 und E18. 810
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gerichtlichen Sich-zur-Wehr-Setzens;816 Prominente können sich beispielsweise im nicht seltenen Falle größerer zur Verfügung stehender Finanzmittel – zumindest vermeintlich – besserer Anwälte bedienen und vermögen es auf diesem Wege, sowohl zivilgerichtliche Ansprüche erleichtert durchzusetzen als auch die Verteidigung in einem etwaigen Strafprozess fundierter zu organisieren.817 cc) Psychische und physische Belastungen sowie Stigmatisierungseffekte Ganz zentral werden innerhalb der wertenden Gesamtabwägung etwaige psychische und physische Belastungen zu veranschlagen sein. Zu unterscheiden sind insoweit solche sich aus der medienöffentlichen Vorverurteilung ergebenden Belastungen, die bereits vor oder während des gerichtlichen Verfahrens eingetreten sind und mitunter zu einer Stigmatisierung des Beschuldigten818 geführt haben, und solche Belastungen, die sich erst nachträglich und auf Grund einer zuvor erfolgten Stigmatisierung einstellen werden. Zu letzteren zählt etwa ein nach Abschluss eines Strafprozesses allein als bloßer Reflex einer vorverurteilenden Medienberichterstattung erlittener Arbeitsplatzverlust. Auch wird sich beispielsweise ein infolge der Vorverurteilung erforderlich werdender Wegzug des Betroffenen mitsamt seiner Familie, um weiteren Belastungen zu entgehen, besonders negativ auswirken.819 In diesem Zusammenhang kann insgesamt von einem gesellschaftlichen „Stigma des Vorverurteilten“ gesprochen werden, dessen etwaiges Vorliegen und konkretes Ausmaß bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen sein wird. Hierbei sind allgemein auch die Persönlichkeit des Beschuldigten in Gestalt seiner psychischen und physischen Widerstandskraft sowie sein persönliches Umfeld zu veranschlagen.820 Psychisch stabilen sowie familiär 816
Experteninterviews lfd. Nrn. E3 und E5; a. A. Gatzweiler, in: StraFo 1995,
S. 68. 817 Siehe insg. Jahn, S. 7 („der sprichwörtliche ‚kleine Mann‘ kann sich gegen eine öffentliche Vorverurteilung viel schwerer wehren als ein Prominenter“). 818 Vgl. Eisenberg/Conen, in: NJW 1998, S. 2242 und Kempf, in: StraFo 2004, S. 301 (betr. Ermittlungsverfahren) sowie Tilmann, in: StV 2005, S. 176 und Weiler, in: StraFo 2003, S. 186 (betr. Gerichtsverfahren). 819 Nach Experteninterview lfd. Nr. E1 ist ein solcher „nicht zumutbar“. – In den USA wird er speziell bei Sexualstraftaten angesichts der gezeigten Praxis einer behördlichen Internetpublikation der Adresse nebst fotografischer Abbildung des Delinquenten zum (vermeintlichen) Schutz der Bevölkerung (siehe schon oben Fn. 785) zudem wenig erfolgversprechend sein. 820 Ähnl. Schulz, S. 138; vgl. auch Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 426.
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und auch im Übrigen sozial gut eingebundenen Beschuldigten gegenüber werden sich die Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Berichterstattung weniger gewichtig auswirken als bei psychisch labilen oder nicht in gefestigten familiären oder anderweitigen sozialen Strukturen verwurzelten Charakteren; denn von letzteren dürften angesichts ihrer Isolation die sich ergebenden Belastungen nach allgemeiner Erkenntnis schwerer geschultert werden, während ersteren eine kritische Verarbeitung ohne bleibende psychische Schäden eher möglich sein wird. Das konkrete Ausmaß der Belastungen und die Herausbildung etwaiger Stigmatisierungseffekte und deren Gewicht in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung hängen nun entscheidend mit den zuvor genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkten zusammen. In Abhängigkeit insbesondere von Deliktskategorie und Verdachtsgrad821, Dauer und Intensität der Berichterstattung822 sowie gesellschaftlicher Stellung823 wird der Beschuldigte dabei in höherem oder geringerem Maße betroffen worden sein, wenn er in den bzw. über die Medien vorverurteilt wurde. Speziell bei Sexualdelikten und aktuell Fällen von Kindstötungen und -verwahrlosungen richtet sich die Kritik häufig gerade auch gegen das persönliche Umfeld des Beschuldigten, verbunden etwa mit der Frage danach, warum Angehörige, Freunde oder Nachbarn „nichts bemerkt“ und unternommen hätten. Eine derartige Berichterstattung kann sich mittelbar wiederum negativ auf den Beschuldigten auswirken. Sexualstraftäter stehen zudem in der (Untersuchungs-)Haft auf unterster Stufe, woraus sich ebenfalls besondere Belastungen ergeben können. Bei Nicht-Prominenten wird das mutmaßliche Tatgeschehen zwar in aller Regel überregional schon nach einigen Wochen wieder in Vergessenheit geraten sein, im sozialen Nahbereich indes treten zum Teil erhebliche Konsequenzen auch noch nach Jahren auf. d) Abschließende Betrachtung Die Entscheidung, ob Art und Ausmaß der mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung insgesamt verbundenen Beeinträchtigungen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung gemäß § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB zu rechtfertigen vermögen, kann nun auf der Grundlage vorgenannter Kriterien getroffen werden.
821 822 823
Siehe oben a) aa) und bb). Dazu oben b) aa). Siehe oben c) aa).
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aa) Anwendungshäufigkeit Indes wird nur ausnahmsweise eine derartige Berücksichtigung zugunsten des Betroffenen angezeigt sein,824 weshalb es insoweit schon besonderer, über den „Normalfall“ berichterstattender Aktivität hinausgehender Konstellationen bedarf. Zur Begründung einer Strafmilderung auf „Null“, d.h. eines vollumfänglichen Absehens von Strafe, bedarf es sogar ganz besonderer Sachlagen, da eine solche Entscheidung nur in absoluten Ausnahmefällen gerechtfertigt sein wird.825 bb) Fallgruppen Im Folgenden sollen derartige Konstellationen bzw. Sachlagen aufgezeigt werden, in denen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung allgemein besonders in Betracht zu ziehen ist, wobei schon denklogisch nicht sämtliche möglichen Fallgruppen und Situationen Erwähnung finden können. Die exemplarisch genannten Beispiele sollen aber wichtige Anhaltspunkte liefern; sie können sodann mutatis mutandis auf weitere Sachverhalte übertragen werden. Je nach Lage des Falles ist auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob und mit welchem Gewicht infolge der mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung verbundenen Beeinträchtigungen die Strafe gemildert werden muss bzw. gar ganz von Strafe abzusehen ist. (1) Krasses Missverhältnis zwischen verwirklichter Schuld und Ausmaß vorverurteilender Berichterstattung Eine erste Fallgruppe betrifft das Verhältnis zwischen der verwirklichten Schuld und dem konkreten Ausmaß der vorverurteilenden Medienberichterstattung.826 Insoweit ist die Intensität der Berichterstattung zur Schwere der Tat827 bzw. der etwaigen Rechtsfolgen828 ins Verhältnis zu setzen. Bei der mutmaßlichen Verwirklichung eher geringfügigerer Delikte kann sich hier schnell eine besonders große Diskrepanz ergeben; dies kann insbesondere bei der Verwirklichung sog. Bagatellstraftaten829, gerade bei Prominenten830, so824 825 826 827 828 829 830
Vgl. oben bei und in Fn. 748. Vgl. oben bei und in Fn. 610, 696, 727 und 747. So auch Experteninterview lfd. Nr. E7. Experteninterview lfd. Nr. E8. Experteninterview lfd. Nr. E12. Ebenso Experteninterview lfd. Nr. E12. So auch Experteninterviews lfd. Nrn. E2 und E7.
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wie bei Fahrlässigkeitsdelikten831 zu bejahen sein. Ferner kann sich ein relevantes Missverhältnis innerhalb des überaus sensiblen Deliktsbereichs der §§ 176 ff. StGB ergeben832, insbesondere bei Taten gegenüber Kindern, sowie aktuell bei Kindstötungen und Fällen von Kindesverwahrlosung. Mit Abstrichen in der Häufigkeit kann ein derart krasses Missverhältnis zwischen verwirklichter Schuld und Ausmaß medienöffentlicher Vorverurteilung auch bei Wirtschaftsstraftaten, insbesondere wiederum solcher prominenter Personen, auftreten.833 Allgemein formuliert ist diese Fallgruppe überwiegend bei solchen Deliktsbereichen relevant, die aus je unterschiedlichen Gründen heraus als besonders wirkmächtig anzusehen sind, da hier das konkrete Ausmaß der vorverurteilenden Berichterstattung sehr früh einen unverhältnismäßigen Schweregrad erreichen kann. (2) Krasses Missverhältnis zwischen Tatvorwurf und Ermittlungsergebnissen Eine weitere Fallgruppe betrifft ein etwaiges grobes Missverhältnis zwischen den in den Medien erhobenen Tatvorwürfen und den sodann tatsächlich ermittelten Geschehnissen.834 Dies ist insbesondere in solchen Fällen zu bedenken, in denen die insoweit festgestellte Diskrepanz aus rechtlichen Gründen resultiert – z. B. erwiesene Unschuld des Betroffenen –, nicht aber, wenn sie sich lediglich aus tatsächlichen Gründen – z. B. bis zuletzt verbleibende Restzweifel hinsichtlich der Tatbegehung – ergibt. (3) Schwerwiegende Eingriffe in den sozialen Nahbereich des Beschuldigten Die dritte Fallgruppe bezieht sich auf ein besonders krasses Eindringen in den sozialen Nahbereich des Beschuldigten.835 So „ermitteln“ die Vertreter der Medien nicht selten auch im persönlichen Umfeld des Betroffenen, um Informationen gleichsam „aus erster Hand“ zu erhalten, und verletzen hierbei in eklatanter Art und Weise die Gebote journalistischer Zurückhaltung. Erschwerend wirkt es sich aus, wenn der Beschuldigte zudem etwa 831
Desgleichen Experteninterview lfd. Nr. E7. So auch Experteninterviews lfd. Nrn. E2, E16 und E19. 833 Ebenso Experteninterview lfd. Nr. E19. 834 Desgleichen Experteninterviews lfd. Nrn. E2, E3, E6, E8, E13, E16 und E19 sowie P2. 835 Ähnl. Experteninterviews lfd. Nrn. E16 sowie J8 und J9. 832
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
als „Bestie“ oder „Schwein“ tituliert und ihm damit letztlich das Menschsein abgesprochen wird.836 (4) Wiederholungsfälle Als vierte Fallgruppe ist auf Fälle der Wiederholung hinzuweisen, in denen eine bestimmte Person bereits einmal zu einem früheren Zeitpunkt mit der (mutmaßlichen) Begehung einer Straftat konfrontiert und sodann nach etwaiger Durchführung eines Strafverfahrens gegebenenfalls entsprechend verurteilt wurde. In solchen Fällen besteht häufig ein stark gesteigertes Interesse der Medien, verbunden mit effektverstärkenden (vermeintlichen) Belegen defizitärer staatlicher Straftatenverhinderung, so dass Fälle von Vorverurteilung hier besonders nahe liegend sind. (5) Straftaten im Zusammenhang mit dem Beruf Zuletzt ist eine vorverurteilende Medienberichterstattung mit einem derart stark erhöhten Schweregrad auch bei einem beruflichen Bezug des Beschuldigten zur Straftat denkbar, insbesondere bei Wirtschaftsstraftaten und hier wiederum besonders bei solchen prominenter Personen837. cc) Exemplarische Anwendung auf eingangs geschilderten Fall Unter Berücksichtigung vorstehender Erwägungen kann im Fall des „Autobahnrasers“838 der seitens des Gerichts vorgenommenen strafmildernden Berücksichtigung angesichts der lediglich fahrlässigen Begehungsweise (vgl. Fallgruppe 1) und einer den Beschuldigten weit über Gebühr beeinträchtigenden vorverurteilenden Medienberichterstattung (vgl. Fallgruppe 3) voll zugestimmt werden.839 Diese Einschätzung befindet sich im Übrigen in Übereinstimmung mit den Interviewergebnissen.840 836
Ähnl. Experteninterview lfd. Nr. E4. Vgl. hierzu etwa den Fall Ackermann. 838 Siehe hierzu insg. oben 1. Teil 1. Kap. 839 Insg. zurückhaltender Der Tagesspiegel vom 06. August 2004, S. 8 („womöglich“). – Im Fall Daschner (dazu näher oben Fn. 96) wäre eine derartige Berücksichtigung hingegen strikt abzulehnen gewesen, beschränkte sich die Berichterstattung doch weitestgehend darauf, über ein bestimmtes – wenngleich gesellschaftspolitisch unter dem Stichpunkt „Folter“ sehr intensiv diskutiertes – Problem zu informieren und die hinsichtlich der Frage einer angemessenen rechtlichen Würdigung in kontroverser Form angefallenen abstrakten wissenschaftlichen Erörterungen einer Bewertung zu unterziehen (zur eingeschränkten Wirkung von Berichterstattung über die anhand eines konkreten Falles kontrovers verfassten abstrakten wissenschaftlichen 837
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3. Verfahrensrechtliche Erörterungen Die nachfolgenden Erläuterungen wenden sich der Frage zu, welche Aspekte im vorliegenden Zusammenhang a) in der Tatsacheninstanz und b) in der Revisionsinstanz zu beachten sind. a) Tatsacheninstanz aa) Strafmilderung Die konkrete Fassung der Urteilsformel unterliegt grundsätzlich dem Ermessen des Gerichts, vgl. § 260 Abs. 4 S. 5 StPO. Gemäß § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO sind in den Urteilsgründen verpflichtend diejenigen Umstände anzugeben, die für die Zumessung der Strafe „bestimmend“ gewesen sind. Welche Umstände das sind, hat allein der Tatrichter zu beurteilen. Es müssen folglich – schon aus (gerichts-)praktischen Gesichtspunkten – nicht sämtliche denkbaren Zumessungserwägungen des § 46 Abs. 2 StGB erörtert werden, sondern vielmehr nur solche, die im konkreten Fall einigermaßen nahe lagen.841 Die Urteilsgründe müssen ferner die jeweilige Bedeutung und das Gewicht der angeführten Strafzumessungstatsachen hinsichtlich der Tatschuld und des verwirklichten Erörterungen vgl. Stürner, in: JZ 1978, S. 167). – Im Fall Immendorff (siehe dazu ebenfalls näher oben Fn. 96) hätte eine derartige Berücksichtigung in Anbetracht der näheren Umstände des Falles eher auszuscheiden gehabt (strikt abl. Der Tagesspiegel vom 06. August 2004, S. 8: „gewiss nicht“). 840 Vgl. dazu Frage III. 3. des Leitfadens; im Ergebnis hielten elf der hierzu befragten bzw. sich äußernden 15 Erwachsenenrichter eine Strafmilderung am ehesten für gerechtfertigt im Fall des „Autobahnrasers“ (lfd. Nrn. E1, E4, E6-E8, E11, E13, E14, E16, E18 und E19), für am wenigsten gerechtfertigt befanden dies sieben Erwachsenenrichter im Fall Daschner (lfd. Nrn. E2, E4, E6, E8, E11, E16 und E18); drei der 15 hierzu befragten bzw. sich äußernden Erwachsenenrichter hielten eine Strafmilderung in allen drei Beispielsfällen für nicht gerechtfertigt (lfd. Nrn. E3, E5 und E20). Ein deutlich uneinheitlicheres Bild ergab sich demgegenüber bei der Auswertung der jugendrichterlichen Interviews: Während zwei der hierzu befragten bzw. sich äußernden fünf Jugendrichter eine Strafmilderung für am ehesten (lfd. Nrn. J4 und J8) und ein weiterer eine solche für am wenigsten (lfd. Nr. J7) gerechtfertigt hielten im Fall des „Autobahnrasers“, befand je ein Jugendrichter eine Strafmilderung für am ehesten bzw. wenigsten gerechtfertigt im Fall Daschner (lfd. Nr. J7 bzw. J4); zwei der hierzu befragten bzw. sich äußernden fünf Jugendrichter hielten eine Strafmilderung in allen drei Beispielsfällen für nicht gerechtfertigt (lfd. Nrn. J5 und J6). 841 BGHSt 3, 179; 24, 268; BGH NJW 1976, 2220; 1979, 2621; NStZ 1985, 558; JZ 1989, 652; StV 1993, 72; BGH/D MDR 1970, S. 899; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325 (326); LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 316.
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Unrechts der Tat darlegen.842 Eine gleichsam „mathematisierende“ Strafzumessung ist insoweit allerdings nicht möglich843 und damit auch rechtlich nicht erforderlich. Eine Abmilderung der Strafe auf Grund der mit einer vorverurteilenden Medienberichterstattung für den Betroffenen einhergehenden Beeinträchtigungen gemäß § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB kommt nach obigen Maßstäben844 nur in Einzelfällen in Betracht. Dann aber wird sie in aller Regel zugleich „bestimmenden“ Charakter i. S. d. § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO haben und daher auch in den Urteilsgründen zu erörtern sein. Nach § 465 Abs. 1 S. 1 StPO hat der Angeklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen, soweit diese wegen einer Tat entstanden sind, wegen derer er verurteilt wird. Unbeschadet einer etwaigen Strafmilderung auf Grund vorverurteilender Medienberichterstattung kommt es hier zu einer Verurteilung des Angeklagten. Der Angeklagte ist also unter Auferlegung der Kosten schuldig zu sprechen. bb) Absehen von Strafe Wie bereits erwähnt, unterliegt die konkrete Fassung der Urteilsformel grundsätzlich dem Ermessen des Gerichts, vgl. § 260 Abs. 4 S. 5 StPO. Erkennt das Gericht – im vorliegenden Zusammenhang auf Grund der aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung resultierenden Beeinträchtigungen – ganz ausnahmsweise845 gemäß § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB auf ein Absehen von Strafe, so ist dies gemäß § 260 Abs. 4 S. 4 StPO indes ausdrücklich schon in der Urteilsformel zu erklären. Der Angeklagte wird allerdings nicht freigesprochen, vielmehr ergeht auch hier ein formeller Schuldspruch, vgl. § 267 Abs. 3 S. 4 Hs. 2, Abs. 5 StPO.846 In den Urteilsgründen sind die Erwägungen im Einzelnen darzulegen, die Grundlage der Entscheidung waren, vgl. § 267 Abs. 3 S. 4 Hs. 2 StPO. Insbesondere ist anzugeben, weshalb die Verhängung der an sich „verwirkten“ Strafe auf Grund des Eintritts schwerer Folgen „offensichtlich verfehlt“ erscheint. 842
BGHSt 3, 179; Fischer, StGB, § 46 Rn. 106a. LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 324 mit Nachw. entsprechender Modellversuche. 844 Siehe oben 2. d) aa). 845 Siehe ebenfalls oben 2. d) aa). 846 Der formelle Schuldspruch beinhaltet bereits eine spürbare staatliche Reaktion (vgl. BGH NStZ 1997, 121 [122]; OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 49; ausf. hierzu Wagner, in: GA 1972, S. 33 ff.). 843
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Für den Fall, dass § 60 StGB847 nicht zur Anwendung gelangt, obschon auf Seiten des Täters schwere Folgen i. S. der Norm848 eingetreten sind, ist dies (nur dann) gesondert zu begründen, wenn ein Absehen von Strafe zumindest einigermaßen nahe liegt.849 In solchen Fallgestaltungen bedarf es einer möglichst umfassenden Aufschlüsselung der angestellten Erwägungen, aus der eindeutig ersichtlich wird, dass das Gericht die Vorschrift gesehen, ihre Heranziehung intensiv geprüft und erst daraufhin eine abschlägige Entscheidung getroffen hat.850 Nicht genügend ist in diesem Zusammenhang etwa ein allgemeines, also nicht speziell auf § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB bezogenes, gerichtliches Bemerken, dass schwerwiegende Einbußen auf Seiten des Täters strafmildernd berücksichtigt wurden, wenn die besonderen Umstände des Falles auch ein völliges Absehen von Strafe zumindest als möglich erscheinen lassen.851 Die an sich verwirkte Strafe hingegen muss nicht festgesetzt werden.852 Vorstehende Erwägungen gelten entsprechend, wenn trotz eines diesbezüglichen in der Verhandlung gestellten Antrags der Verteidigung nicht von Strafe abgesehen wird.853 Die Kosten des Verfahrens trägt der Angeklagte auch für den Fall eines völligen Absehens von Strafe, vgl. § 465 Abs. 1 S. 2 StPO. Er ist also gleichermaßen unter Auferlegung der Kosten schuldig zu sprechen. b) Revisionsinstanz aa) Strafmilderung Die revisionsrechtliche Überprüfung der Strafzumessung ist nur eingeschränkt möglich in der Weise, dass die Zumessung der Strafe grundsätzlich 847 Nach hier vertretener Auffassung: i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB, siehe oben 1. b), c). – Im Weiteren soll darauf nicht stets gesondert hingewiesen werden, vielmehr soll sogleich § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB als normative Grundlage angegeben werden. 848 Dazu oben III. 3. c). 849 OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); OLG Koblenz VRS 44, 415; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 31; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 16; vgl. (mit ähnl. Formulierung) auch BGH NStZ 1997, 121 (122); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 6; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 47; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 11. 850 Ebenso OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 47; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 31; vgl. LR/ Gollwitzer, StPO, § 267 Rn. 111. 851 OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); vgl. LR/Hanack, StPO, § 337 Rn. 242. 852 Siehe oben bei und in Fn. 711. 853 MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 31.
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allein dem tatrichterlichen Aufgabenbereich zufällt.854 Eine die genauen Einzelheiten in Augenschein nehmende „Richtigkeitskontrolle“ der strafzumessenden Ausführungen des Tatgerichts hat daher zu unterbleiben, lediglich auf Rechtsfehler855 hin hat das Revisionsgericht die Entscheidung zu prüfen.856 Revisionsrechtlich relevant ist es insoweit etwa, wenn solche Umstände nicht erörtert werden, die nach den Umständen des Falles einigermaßen nahe lagen und daher für die Zumessung der Strafe „bestimmend“ i. S. d. § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO gewesen wären857 oder wenn rechtlich anerkannte Strafzwecke völlig außer Betracht gelassen werden bzw. ihr Verhältnis zueinander nicht richtig gewürdigt wird858. Speziell in Fällen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung wird es insoweit häufig angezeigt sein, die erlittenen Beeinträchtigungen zu erörtern,859 und die Nichtberücksichtigung der zentralen860 Strafzweckerwägung, dass diese Beeinträchtigungen eine poena civilis gegebenenfalls erübrigen können, kann sich in bestimmten Fällen als fehlerhaft und damit revisionsbegründend erweisen. Die durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz861 eingefügte Vorschrift des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO ermöglicht es dem Revisionsgericht nunmehr aber, speziell wegen Rechtsfehlern (allein) bei der Strafzumessung von der Aufhebung des Urteils abzusehen, wenn es die verhängte Rechtsfolge dennoch – das heißt trotz des festgestellten Fehlers – für angemessen erachtet. Weitergehend kann es gemäß § 354 Abs. 1a S. 2 StPO eine unangemessen 854 BGHSt 27, 2 (3); 29, 319 (320); 34, 345 (349); BGH NStZ 1983, 268; 1988, 497; 1990, 334; NJW 1995, 2234; BGH/D MDR 1974, S. 721; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325 (326); Fischer, StGB, § 46 Rn. 114; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 63, 326, 337; Meyer-Goßner, StPO, § 337 Rn. 34; MK/Groß, StGB, § 46 Rn. 75, 80; vgl. BGHSt 17, 35 (36 f.). 855 Zu Einzelbeispielen revisibler Rechtsfehler siehe die Darstellung bei LK/ Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 327 ff. 856 BGHSt 27, 2 (3); 29, 319 (320); 34, 345 (349); BGH NStZ 1988, 497; 1990, 334; NJW 1995, 2234; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325 (326); Fischer, StGB, § 46 Rn. 114 f.; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 317, 326; MK/Groß, StGB, § 46 Rn. 75, 80; siehe dazu auch BVerfG NStZ 1991, 499 (499 f.). 857 BGH NStZ 1989, 571; StV 1991, 157; BGH/D MDR 1970, S. 899; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325 (326); LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 317, 326, 331; Meyer-Goßner, StPO, § 267 Rn. 43. 858 BGHSt 29, 319 (320); 34, 345 (349); BGH NStZ 1983, 268 f.; 1988, 497; 1990, 334; NJW 1995, 1038; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325 (326); Fischer, StGB, § 46 Rn. 115a; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 326, 333; Meyer-Goßner, StPO, § 337 Rn. 34; MK/Groß, StGB, § 46 Rn. 80. 859 Siehe schon oben a) aa). 860 Siehe oben III. 1. a), d). 861 Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. JuMoG) v. 24.8.2004, BGBl. I Nr. 45 v. 30.8.2004, S. 2198 ff.
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(hoch) erscheinende Strafe auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft hin mittels eigener Sachentscheidung selbst herabsetzen und damit von einer Zurückverweisung an das Tatgericht absehen.862 bb) Absehen von Strafe Die tatrichterliche Entscheidung ist auch hier nur eingeschränkt und zwar dahingehend überprüfbar, ob die seitens des Tatgerichts vorgenommene wertende Gesamtabwägung863 sich noch innerhalb des Vertretbaren hält.864 Dem Revisionsgericht ist es dabei nicht erlaubt, die Einschätzung des Tatrichters unreflektiert durch (s)eine eigene zu ersetzen, vielmehr hat es dessen Beurteilung entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Revisibilität der Strafzumessung865 zu respektieren.866 Daraus ergibt sich, dass die tatrichterliche Entscheidung einer Überprüfung durch das Revisionsgericht zumeist wird standhalten können.867 Ein Revisionsgrund liegt aber etwa dann vor, wenn eine Erörterung des § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB gänzlich unterblieben ist, obgleich sie sich nach Lage des Falles geradezu aufdrängte.868 Nach allgemeinen Grundsätzen kommt es insoweit grundsätzlich zu einer Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht. Eine Entscheidung nach § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB im Revisionsverfahren selbst und mittels eigener Sachentscheidung ist indes ebenfalls möglich, und zwar in Fällen, in denen die Aufhebung des Urteils (allein) wegen einer Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen erfolgt und das Revi862 Insg. krit. zur Vorschrift des § 354 Abs. 1a StPO siehe Eisenberg/Haeseler, in: StraFo 2005, S. 221 ff.; ferner Fischer, StGB, § 46 Rn. 120 ff. m. w. N.; MeyerGoßner, StPO, § 354 Rn. 28 f. 863 Zu den insoweit relevanten Gesichtspunkten siehe insg. oben 2. 864 OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007); Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 6; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 48; LR/Hanack, StPO, § 337 Rn. 243; Schönke/ Schröder/Stree, StGB, § 60 Rn. 11. – Zu der (auch) insoweit problematischen Frage, inwieweit innerhalb der Prüfung des Merkmals „offensichtlich verfehlte“ Strafverhängung die Vornahme einer umfassenden Gesamtabwägung mit dem Erfordernis eines ohne weiteres ins Auge springenden Erübrigens von Strafe zu vereinbaren ist, vgl. bereits oben Fn. 692 sowie OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 48. 865 Siehe dazu etwa LK/G. Hirsch, StGB, § 46 Rn. 326. 866 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 48; LR/Hanack, StPO, § 337 Rn. 243. 867 Mit ähnl. Formulierung OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006 (1007 f.); MK/ Groß, StGB, § 60 Rn. 32. 868 Vgl. BayObLG NStZ 1991, 584 (betr. Heranwachsenden); OLG Celle NStZ 1989, 385 (386); LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 48; LR/Hanack, StPO, § 337 Rn. 242.
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sionsgericht in Übereinstimmung mit einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft ein Absehen von Strafe für angemessen erachtet, vgl. § 354 Abs. 1 StPO.869 4. Registerrechtliche Erörterungen Wie sich im Umkehrschluss aus § 4 Nr. 1 BZRG – wonach eine Eintragung nur für den Fall erfolgt, dass „auf Strafe erkannt“ wurde – ergibt, ist bei einem vollumfänglichen Absehen von Strafe infolge medienöffentlicher Vorverurteilung gemäß § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB keine Eintragung in das Bundeszentralregister vorzunehmen, wenngleich auch in diesen Fällen ein formeller Schuldspruch ergeht.870 Bei auf dieser Grundlage erfolgter bloßer Strafmilderung hingegen ist eine Eintragung in Höhe der abgemilderten Strafe vorzunehmen, da i. S. d. § 4 Nr. 1 BZRG „auf Strafe erkannt“ wurde. Die aus dieser Eintragung für den Betroffenen sich ergebenden Konsequenzen sollen im Folgenden – nach einleitenden Bemerkungen zu a) Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters und b) der Erteilung von Auskünften hieraus – unter c) kursorisch dargestellt werden. a) Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters871 In der den zuständigen Gerichten und Behörden eingeräumten Möglichkeit, sich jederzeit über etwaige Vorstrafen einer Person informieren zu können, liegt die wesentliche Bedeutung des Bundeszentralregisters.872 Dieses bezweckt einen Ausgleich vorgenannten Interesses von Staat und Gesellschaft an einer zuverlässigen Auskunftsquelle insbesondere über rechts869 Vgl. z. B. die Entscheidung BayObLG NJW 1972, 696; vgl. dazu KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 6; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 48; LR/Hanack, StPO, § 354 Rn. 5; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 32; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 3, 5. 870 Im Ergebnis ebenso Götz/Tolzmann, BZRG, § 3 Rn. 16, § 4 Rn. 4, 14, § 51 Rn. 50, vgl. auch § 16 Rn. 5, 16, § 39 Rn. 29; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 3 Rn. 16, vgl. auch Einl. Rn. 46. Die insoweit geäußerte Kritik (Götz/Tolzmann a. a. O., § 4 Rn. 14; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 46; Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 46, § 3 Rn. 16 f., Vor § 30 Rn. 17) erweist sich demgegenüber als nicht haltbar, bedeutete doch ein gleichwohl vorgenommener Registereintrag eine starke zusätzliche Beeinträchtigung des Betroffenen in Fällen, in denen dieser ohnehin schon „genug bestraft“ ist; siehe näher unten c) cc). 871 Das Bundeszentralregister führt gemäß § 1 Abs. 1 BZRG das Bundesamt für Justiz. 872 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 56 Rn. 17.
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kräftige strafgerichtliche Verurteilungen eines Betroffenen873 mit dem Rehabilitationsinteresse straffällig gewordener Menschen.874 Der Inhalt des Registers speziell bei Verurteilungen ergibt sich aus § 5 BZRG, wobei im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die vorzunehmende Eintragung der Personendaten des Betroffenen (Abs. 1 Nr. 1), der rechtlichen Bezeichnung der Tat, deren der Verurteilte schuldig gesprochen worden ist, unter Angabe der angewendeten Strafvorschriften (Abs. 1 Nr. 6) sowie der verhängten Strafen und weiterer Sanktionen (Abs. 1 Nr. 7)875 von Bedeutung sind. Hinsichtlich dieser und anderer eintragungsrelevanter Sachverhalte haben gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 BZRG zwingend entsprechende Mitteilungen der Gerichte und Behörden an das Bundesamt für Justiz als Registerbehörde (§ 1 Abs. 1 BZRG) zu erfolgen. b) Auskunftserteilung Die bedeutendsten Bestimmungen des BZRG enthalten die Vorschriften der §§ 30 ff. BZRG, die die Auskunft aus dem Zentralregister regeln. Hierbei werden zwei Auskunftsarten unterschieden. aa) Erteilung eines sog. Führungszeugnisses Zum einen kann eine Auskunft aus dem Register durch die Erteilung eines sog. Führungszeugnisses erfolgen. Ein solches wird von der Registerbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin in Bezug auf und an die eigene Person bzw. an deren gesetzlichen Vertreter zu eigener Verwendung (§ 30 Abs. 1 bis 4 BZRG – sog. Privatführungszeugnis) oder zur Vorlage bei einer Behörde (§ 30 Abs. 5 und 6 BZRG) ausgestellt. Ein Führungszeugnis über eine bestimmte Person kann auch unmittelbar an eine Behörde erteilt werden, soweit dies zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Aufgaben erforderlich ist (vgl. § 31 BZRG). Ferner ist über die zuvor erwähnte Erteilung eines Führungszeugnisses zu eigener Verwendung mittelbar auch eine Auskunft 873 Vgl. § 4 Hs. 1 i. V. m. § 3 Nr. 1 BZRG; es gibt ferner Auskunft über (weitere) Entscheidungen, Feststellungen und Tatsachen, vgl. § 3 Nr. 3 bis 6 BZRG. 874 Vgl. Götz/Tolzmann, BZRG, Einl. Rn. 33; Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 37 f.; Jescheck/Weigend, S. 919; vgl. auch Götz/Tolzmann a. a. O., § 30 Rn. 7, § 51 Rn. 5; dies., BZRG-Nachtrag, § 41 Rn. 3a, 4a; Hase, BZRG, § 1 Rn. 1, § 30 Rn. 3; Rebmann/Uhlig, BZRG, Vor § 30 Rn. 3 f., 16, § 30 Rn. 10, § 41 Rn. 2 i. V. m. Rn. 4, Vor § 51 Rn. 8, Vor § 53 Rn. 5; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 56 Rn. 17. – Ausf. zu den Aufgaben des Bundeszentralregisters bzw. zum Anspruch des Betroffenen auf Resozialisierung Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 47 ff. bzw. 59 f. 875 Siehe dazu ausf. Götz/Tolzmann, BZRG, § 5 Rn. 6 ff., 20 ff. sowie 25 ff.
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an Privatpersonen möglich, etwa wenn – wie es gängiger Praxis entspricht876 – im Rahmen der Bewerbung um eine Arbeitsstelle die Vorlage eines (selbstredend: eintragungsfreien) Führungszeugnisses zur Einstellungsvoraussetzung erhoben wird. Der Inhalt des Führungszeugnisses ergibt sich im Einzelnen aus § 32 Abs. 1 S. 1 i. V. m. §§ 4 bis 16 BZRG, wobei im Interesse einer erleichterten Resozialisierung des Betroffenen877 bestimmte Eintragungen von vorne herein grundsätzlich878 nicht bzw. nach Ablauf gesetzlich geregelter Fristen nicht mehr aufgenommen werden879. Im vorliegenden Zusammenhang sind dabei insbesondere Eintragungen nach § 32 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 4 Nr. 1 BZRG (rechtskräftiges Erkennen auf Strafe) sowie i. V. m. § 5 Nr. 1, 6 und 7 BZRG880 relevant. bb) Erteilung sog. unbeschränkter Auskunft Zum anderen erfolgt gemäß § 41 Abs. 1 BZRG auf deren ausdrückliches Ersuchen hin (§ 41 Abs. 4 S. 1 BZRG) an eine Vielzahl öffentlicher (nicht aber: privater) Stellen – namentlich insbesondere an die Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie die Kriminalpolizei – eine zwar zweckgebundene, indes grundsätzlich unbeschränkte Auskunft auch über diejenigen Eintragungen, die in ein Führungszeugnis nicht aufgenommen werden. Mit 876 Götz/Tolzmann, BZRG, Einl. Rn. 34, § 30 Rn. 6, vgl. auch Einl. Rn. 6, 35 f.; vgl. ferner Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 51, 62, Vor § 30 Rn. 10, § 30 Rn. 31, § 32 Rn. 10. – Krit. hierzu Götz/Tolzmann a. a. O., Einl. Rn. 34: „Führungszeugnisse werden (. . .) als datenschutzrechtliche Selbstauskunft in großem Umfang im Zusammenhang mit der Begründung eines Arbeitsverhältnisses von der Arbeitgeberseite gefordert und von den Stellenbewerberinnen und -bewerbern nur deswegen beantragt, um dem Verlangen der (künftigen) Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu entsprechen. Denn diese befinden sich in einer Position wirtschaftlicher Überlegenheit, die es ihnen erlaubt, ihren Wunsch nach Vorlage eines Führungszeugnisses durchzusetzen, weil jede Weigerung der sich bewerbenden Personen (. . .) das Risiko einschließt, die Arbeitsstelle nicht zu bekommen (. . .).“ (Hervorhebungen im Original in Fettdruck); vgl. auch § 30 Rn. 6, § 53 Rn. 13. – Vorgeschlagen wird daher die Ausstellung eines nur die Bewerbung um einen bestimmten Arbeitsplatz betreffenden und lediglich die arbeitsplatzspezifischen Vorstrafen enthaltenden „ArbeitgeberFührungszeugnisses“ (vgl. Götz/Tolzmann a. a. O., Einl. Rn. 38, § 53 Rn. 13; dies., BZRG-Nachtrag, Einl. Rn. 3a). 877 Götz/Tolzmann, BZRG, § 32 Rn. 4; dies., BZRG-Nachtrag, § 32 Rn. 1a; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 3 Rn. 11, § 30 Rn. 9; Jescheck/Weigend, S. 920; vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 30 Rn. 6 i. V. m. Rn. 7; Hase, BZRG, § 32 Rn. 1. 878 Zu Ausnahmen und Weiterungen betr. sog. Behördenführungszeugnisse (§ 30 Abs. 5, § 31 BZRG) siehe § 32 Abs. 3 und 4 BZRG. 879 Siehe § 32 Abs. 2 BZRG bzw. §§ 33 ff. BZRG. 880 Siehe dazu oben bei und in Fn. 875.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 195
anderen Worten ist hier grundsätzlich der gesamte Inhalt des Registers mitzuteilen.881 c) Konsequenzen für den Betroffenen Eintragungen im Bundeszentralregister ziehen für den Betroffenen die im Folgenden aufgeführten Konsequenzen nach sich. aa) Vorhalt und Verwertung gemäß § 51 Abs. 1 BZRG Bestehende Eintragungen dürfen dem Betroffenen „im Rechtsverkehr [. . .] vorgehalten und [. . .] zu seinem Nachteil verwertet“ werden, vgl. § 51 Abs. 1 BZRG882. So wirken sich etwa Vorstrafen, und zwar insbesondere solche „einschlägiger“ Natur, in einem erneuten Strafverfahren – die Staatsanwaltschaft holt zur Vorbereitung einer öffentlichen Klage regelmäßig eine personenspezifische Auskunft aus dem BZR ein (vgl. Nr. 16 Abs. 1 S. 1 RiStBV) – strafverschärfend aus.883 Ferner spielen Eintragungen bei der Zulassung zu einem Beruf oder einem Gewerbe, bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst sowie im Verfahren der Erteilung der Fahrerlaubnis eine gewichtige Rolle (vgl. insgesamt § 10 Abs. 2 Nr. 1, § 41 Abs. 1 Nr. 11, § 52 Abs. 1 Nr. 2 und 4, Abs. 2 BZRG).
881 § 42a BZRG sieht ferner eine Übermittlung personenbezogener Daten für wissenschaftliche Forschungszwecke, insbesondere solche soziologischer und kriminologischer Natur, vor. – Eine unbeschränkte Auskunft an die von den Eintragungen betroffene Person selbst bzw. deren gesetzlichen Vertreter ermöglicht § 42 BZRG. 882 Sog. Vorhalte- und (Beweis-)Verwertungsverbot. Der Begriff des Rechtsverkehrs beinhaltet hierbei alle Rechtsverhältnisse und -beziehungen des Betroffenen; eine Verwertung zum Nachteil des Betroffenen trifft jede Entscheidung, die aus den Eintragungen ungünstige Folgen ableitet (Götz/Tolzmann, BZRG, § 51 Rn. 21, 15; Hase, BZRG, § 51 Rn. 5; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 51 Rn. 26, 28. – Zur Frage, ob das Verwertungsverbot in (nicht registerpflichtigen) Fällen eines vollumfänglichen Absehens von Strafe, in denen die Verurteilung und das dieser zugrunde liegende Tatgeschehen – etwa durch eine noch in den Akten befindliche Auskunft (vgl. dazu Nr. 13 Abs. 1 S. 4 RiStBV), Äußerungen des Betroffenen oder Mitteilungen von dritter Seite – dennoch öffentlich werden, entsprechende Anwendung finden muss, siehe Götz/Tolzmann a. a. O., § 51 Rn. 7, 40 i. V. m. Rn. 50; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 51 Rn. 7 m. w. N. 883 Vgl. BGHSt 24, 198 (199 f.); 24, 378 (380 ff.); 25, 24 (26); 28, 338 (339 f.); OLG Hamm NJW 1959, 305; LK/Gribbohm, StGB, § 46 Rn. 158 ff.; Schönke/ Schröder/Stree, StGB, § 46 Rn. 31; Schäfer/Sander/Gemmeren, Rn. 362 ff.; vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 51 Rn. 26; einschr. Jescheck/Weigend, S. 892 f.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
bb) Offenbarungspflicht gemäß § 53 Abs. 1 BZRG Wie § 53 Abs. 1 BZRG884 im Umkehrschluss zu entnehmen ist, darf sich der Verurteilte während des Bestehens der Eintragung – etwa im Rahmen eines Einstellungsverfahrens auf eine mündliche Fragestellung hin oder beim Ausfüllen eines Fragebogens – nicht als „unbestraft“ bezeichnen und muss darüber hinaus auch „den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt“ offenbaren, wenn die Verurteilung in ein (Privat-)Führungszeugnis nach § 32 Abs. 1, 2 BZRG aufzunehmen (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 BZRG) und nicht zu tilgen (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 BZRG) ist.885 Der Betroffene gilt umgangssprachlich als „vorbestraft“.886 cc) Stigmatisierende Wirkung des Bundeszentralregisters Aus den vorstehend in Bezug genommenen Vorschriften (§§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 BZRG) resultiert eine auch nach Verbüßung der verhängten Strafe andauernde „Bemakelung des Verurteilten, die einer wirksamen Resozialisierung abträglich“887 sein und noch viele Jahre später den (erneuten) Verlust der Existenzgrundlage zur Folge haben kann.888 Erkennbar kommt hierin die besondere Sensibilität der eingetragenen Daten889 zum Ausdruck, deren Verbreitung im Einzelfall dazu geeignet ist, den Betroffenen in seinem persönlichen Lebensbereich nachhaltig zu beeinträchtigen.890 Unter allen denkbaren Beeinträchtigungen ist es dabei insbesondere die (mittelbare) 884
Sog. Verschweigerecht; ausf. dazu Rebmann/Uhlig, BZRG, § 53 Rn. 2 ff. Nach § 53 Abs. 2 BZRG wirkt sich dies auch auf Fälle unbeschränkter Auskunftserteilung an Gerichte und Behörden (§§ 41 ff. BZRG) aus, siehe dazu oben b) bb). 886 Nach Götz/Tolzmann, BZRG, Einl. Rn. 4 stellen in diesem Zusammenhang bestehende „Vorurteile der Gesellschaft gegen Vorbestrafte das größte Hindernis für ihre Wiedereingliederung“ dar (Hervorhebungen im Original in Fettdruck). – Zur stigmatisierenden Wirkung des Bundeszentralregisters im Anschluss cc). 887 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 56 Rn. 17; ähnl. Götz/Tolzmann, BZRG, Einl. Rn. 1, § 51 Rn. 5. 888 Vgl. Götz/Tolzmann a. a. O., § 51 Rn. 17. 889 Vgl. dazu zuvörderst das sog. Volkszählungsurteil des BVerfG (E 65, 1 ff., 41 ff.) betr. das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ als Ausdruck des allg. Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG; siehe ferner Götz/Tolzmann, BZRG, § 41 Rn. 8; dies., BZRG-Nachtrag, § 41 Rn. 5a; Hase, BZRG, § 1 Rn. 2; vgl. auch Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 72, § 1 Rn. 6. 890 Götz/Tolzmann, BZRG, § 1 Rn. 22; vgl. dazu auch Nr. 16 Abs. 2 S. 1 bzw. Nr. 134 S. 1 RiStBV, wonach der Beschuldigte bzw. Angeklagte und seine Familie im Falle eines durch eine Erörterung ausgelösten Bekanntwerdens von Eintragungen von solchen Nachteilen verschont bleiben soll, „die vermeidbar sind oder zur Bedeutung der Strafsache bzw. Straftat außer Verhältnis stehen“. 885
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 197
Auskunft aus dem Bundeszentralregister (auch) an Privatpersonen891, die den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen an seinem – zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden stark erhöhten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt insbesondere: beruflichen – Fortkommen erheblich zuwiderlaufen kann. Die stigmatisierende Wirkung im persönlichen und wirtschaftlichen Bereich des Betroffenen tritt dabei je nach Betrachtungsweise bereits durch die Verurteilung als solche892, durch die nachfolgende Eintragung im Bundeszentralregister893 oder aber erst durch eine hierüber erteilte Auskunft894 ein. Ganz gleich, welchem dieser Standpunkte man insoweit folgen möchte: Es ist jedenfalls eine in starkem Maße stigmatisierende Wirkung zu verzeichnen. V. Ergebnis zum Erwachsenenstrafrecht Normative Grundlage einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung der seitens des erwachsenen Beschuldigten in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung erlittenen Beeinträchtigungen ist § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB.
C. Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Angeklagte Der Problemkreis medienöffentlicher Vorverurteilung beschränkt sich naturgemäß nicht auf erwachsene Beschuldigte. Vielmehr können auch Jugendliche sowie Heranwachsende – genauer: Heranwachsende, auf die gemäß § 105 Abs. 1 JGG materielles Jugendstrafrecht Anwendung findet895 – hierdurch in entsprechender Art und Weise beeinträchtigt werden. Hinsichtlich möglicher Ebenen und Arten staatlicher Reaktion auf medienöffentliche Vorverurteilungen gelten obige Ausführungen entsprechend. Danach ist durch die dort untersuchten Regelungen und Regelungsbereiche eine adäquate staatliche Reaktion auf Fälle vorverurteilender Medienberichterstattung weder de lege lata eröffnet, noch ist eine solche de lege ferenda zu er891
Siehe oben bei und in Fn. 876. Götz/Tolzmann, BZRG, § 51 Rn. 5; Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 15; vgl. auch Götz/Tolzmann a. a. O., Einl. Rn. 35. 893 Götz/Tolzmann a. a. O., Einl. Rn. 1. 894 Vgl. Götz/Tolzmann a. a. O., Einl. Rn. 1, 35; Rebmann/Uhlig, BZRG, Vor § 30 Rn. 3, 5. 895 Hinsichtlich derjenigen heranwachsenden Beschuldigten, die gemäß § 105 Abs. 1 JGG nach materiellem Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen sind, gelten die voranstehenden Ausführungen zum Erwachsenenrecht entsprechend. 892
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
warten.896 Auch hier könnte eine materiellrechtliche, namentlich strafzumessungsimmanente Berücksichtigung eine derartige Reaktion bedeuten (dazu im Anschluss), in deren Nachfolge zudem wiederum eine spezielle – in Literatur und Rechtsprechung bislang nicht erwogene – strafprozessuale Berücksichtigung ermöglicht sein könnte (siehe dazu Drittes Kapitel E.). Wie im Erwachsenenstrafrecht stellt sich auch hier die Frage nach einer geeigneten Rechtsgrundlage. Analog den bei Erwachsenen gemachten Ausführungen von vorne herein nicht in Betracht kommt – unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit gemäß § 2 Abs. 2 JGG – eine (isolierte) Heranziehung von § 46 StGB oder § 51 StGB897. Zu prüfen ist aber, ob § 60 StGB, gegebenenfalls abermals i. V. m. weiteren Vorschriften, (auch) bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden eine solche Grundlage darstellen kann. I. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB 1. Anwendbarkeit des § 60 StGB im Jugendstrafrecht? Zunächst müsste § 60 StGB im Jugendstrafrecht anwendbar sein. a) § 2 Abs. 2 JGG Gemäß § 2 Abs. 2 JGG898 gelten die allgemeinen Vorschriften – und zu diesen zählt § 60 StGB – in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende nur, wenn und soweit das JGG keine hiervon abweichende Bestimmung trifft. Dieses Primat jugendstrafrechtlicher Vorschriften rekurriert zunächst auf explizite positive899 oder negative900 gesetzliche Regelungen, die vom Wortlaut und Sinngehalt her eine das allgemeine Recht verdrängende 896
Siehe oben 1. Kap. Vgl. dazu oben B. I. und II. – Zu § 51 Abs. 1 StGB existieren ohnehin die Sonderbestimmungen der §§ 52, 52a JGG, wobei unbeschadet des Wandels der Rechtsprechung des BGH bei der Frage der Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen (auch) im Bereich des Jugendstrafrechts (BGH GS NJW 2008, 860 [866]: nunmehr im Wege einer sog. Vollstreckungslösung; nachfolgend speziell etwa BGH StV 2009, 93 [93 f.]) insbesondere eine Heranziehung des § 52a Abs. 1 S. 1 JGG nicht angezeigt ist (vgl. dazu insg. oben B. II. am Ende). 898 Die einen ähnlichen Wortlaut aufweisende – und den gleichen Regelungsgehalt betreffende – Vorschrift des § 10 StGB soll aus Gründen der Übersichtlichkeit hier wie im Folgenden nicht mit angeführt werden. 899 Vgl. beispielsweise die Vorschriften der §§ 33 ff. JGG und §§ 39 ff. JGG über die Jugendgerichtsverfassung und die gerichtliche Zuständigkeit in Jugendstrafsachen. 900 Siehe etwa die in den §§ 79–81 JGG ausdrücklich ausgeschlossenen Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrensrechts. 897
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 199
jugendstrafrechtliche Sonderregelung treffen oder aber die Heranziehung einer allgemeinstrafrechtlichen Bestimmung ausdrücklich verbieten.901 Das allgemeine Recht ist darüber hinaus aber auch dort nicht anwendbar, wo seine Heranziehung den (ungeschriebenen) Grundsätzen des JGG902 zuwiderliefe903 oder ein nicht jugendgemäßes Ergebnis nach sich zöge.904 Das JGG enthält in den §§ 5–32 JGG ein spezielles materielles Sanktionen-System, das als lex specialis die allgemeinen Rechtsfolgen-Bestimmungen der §§ 38–76a StGB grundsätzlich verdrängt.905 Dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali gemäß ist die Anwendung der erwachsenenstrafrechtlichen Vorschriften gegenüber den jugendstrafrechtlichen Sonderregelungen folglich im Allgemeinen ausgeschlossen. Indes kann nicht pauschal von einem insgesamt abschließenden Charakter dieser Sondervorschriften gesprochen werden.906 Daher hat eine Heranziehung etwa der erwachsenenstrafrechtlichen Norm des § 60 StGB nicht von vorne herein auszuscheiden. b) Bestehen einer Regelungslücke Eine Vorschrift materieller Art, die dem Gericht gegenüber einem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden im Urteil ein „Absehen von Strafe“ eröffnet, wenn die Folgen der Tat, die diesen getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre, kennt das JGG nicht.907 Und die Vorschrift des § 47 JGG908, nach der unter bestimm901 Ebenso Ostendorf, JGG, § 2 Rn. 2 f.; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 316 f.; vgl. LK/Gribbohm, StGB, § 10 Rn. 1. 902 Dazu ausf. Eisenberg, in: NStZ 1999, S. 281 ff.; zu neueren Bestrebungen siehe Ostendorf, in: StV 2002, S. 441 f. 903 Nix/Möller, JGG, § 2 Rn. 2; vgl. Grethlein, in: NJW 1957, S. 1371. 904 OLG Karlsruhe NStZ 2000, 485; OLG Stuttgart StV 1987, 309; Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rn. 2; D/S/S/Sonnen, JGG, § 2 Rn. 14; Eisenberg, JGG, § 2 Rn. 12; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 2; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 10 Rn. 1; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 316 f.; Eisenberg, in: NStZ 1999, S. 281; so auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 2 Rn. 7 und Potrykus, JGG, § 2 Bem. 2. 905 Vgl. BayObLG NStZ 1991, 584; Fischer, StGB, § 10 (sic!); LK/Gribbohm, StGB, § 10 Rn. 2; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 10 Rn. 5; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317. 906 Ebenso BayObLG NStZ 1991, 584 mit allerdings fragwürdiger Begründung; a. A. Schaffstein/Beulke, S. 87 Fn. 1; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 (im Ergebnis folgenlos, da die „Geschlossenheit“ des jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgensystems seiner „Ergänzung“ durch allgemeinstrafrechtliche Sanktionsvorschriften nicht entgegenstehe, wenn – wie hier – „übergeordnete Rechts- und Gestaltungsprinzipien des Jugendstrafrechts deren Anwendung erfordern“). 907 Der Jugendrichter hat gemäß § 5 Abs. 1 und 2 JGG – bei Heranwachsenden ist die Vorschrift unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG entsprechend
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ten Voraussetzungen das Verfahren auch noch in der Hauptverhandlung (siehe § 47 Abs. 2 S. 2 JGG) eingestellt und somit eine an sich erforderliche Verhängung materieller Rechtsfolgen einer Tat in Fortfall gebracht werden kann, ermöglicht ebenfalls keine Berücksichtigung derartiger Umstände, wenn das Verfahren bis in das Stadium der Urteilsverkündung gediehen ist. Ohnehin handelt es sich bei § 47 JGG um eine Verfahrensvorschrift. Es liegt folglich eine Regelungslücke im materiellen Jugendstrafrecht vor.909 c) Sog. unbewusste Regelungslücke Handelte es sich hierbei um eine „bewusste“ Regelungslücke, die eine diesbezügliche Entscheidung gegenüber Jugendlichen bzw. Heranwachsenden gerade ausschließen soll, so hätte eine Heranziehung der erwachsenenstrafrechtlichen Norm des § 60 StGB auszuscheiden.910 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Gedanke des Absehens von einer grundsätzlich eröffneten Rechtsfolge dem Jugendstrafrecht nicht völlig fremd ist; dies zeigen schon die Vorschriften § 5 Abs. 3 JGG911 bzw. § 26 Abs. 2 JGG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen von Zuchtmitteln und Jugendstrafe bzw. dem Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung abzusehen ist.912 Zudem kann nach verbreiteter Auffassung im jugendstrafrechtlichen Bereich auch nach diversen Vorschriften des Strafgesetzbuches – aus dem Allgemeinen Teil § 23 Abs. 3 StGB, aus dem Besonderen Teil etwa die deliktsspezifischen Sonderregelungen der §§ 113 Abs. 4, 129 Abs. 5, Abs. 6 (i. V. m. 129a Abs. 7), 157 Abs. 1 und 2 StGB – von Strafe abgesehen werden.913 anzuwenden – lediglich ganz allgemein die Möglichkeit, von einer Sanktionierung abzusehen: Für den Fall, dass die richterliche Bewertung der konkreten Tat und der Tatfolgen ergibt, dass schon die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe nicht gegeben sind, liegt bereits eine „systeminterne“ Unanwendbarkeit der jugendstrafrechtlichen Sanktion (hier: Jugendstrafe) vor, nicht aber ein „Absehen von Strafe“ i. S. d. § 60 StGB (Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317; ähnl. BayObLG NStZ 1991, 584). 908 Gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG findet die Vorschrift unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende entsprechende Anwendung. 909 So ausdrücklich auch Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 14; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317. 910 Siehe zur Charakteristik (un-)bewusster Regelungslücken ausf. Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff., 377, 381 ff. 911 Ähnl. Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 14; allg. zu § 5 Abs. 3 JGG siehe Terdenge, in: JA 1978, S. 147. 912 Siehe ferner beispielsweise die §§ 11 Abs. 3 S. 3, 23 Abs. 2, 87 Abs. 3, 101 S. 2 JGG. Zumindest missverständlich daher Bringewat, in: NStZ 1992, S. 316.
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Gegen eine Anwendung im jugendstrafrechtlichen Bereich spricht auch nicht, dass § 60 StGB dem Bereich der Strafzumessung im Erwachsenenstrafrecht angehört914, die bei Verhängung von (Jugend-)Strafe nach grundsätzlich anderen Kriterien (hier § 18 Abs. 2 JGG, dort § 46 StGB)915 zu erfolgen hat.916 Denn der der Vorschrift zugrunde liegende allgemeine Gedanke, dass schwere Tatfolgen, die auf Seiten des Täters eingetreten sind und die Verhängung von Strafe offensichtlich verfehlt erscheinen lassen, in der Sanktionierung Berücksichtigung finden können bzw. müssen, kann gleichsam alters- und damit gesetzesübergreifend Gültigkeit beanspruchen.917 Böhm/Feuerhelm wenden sich dennoch gegen eine Heranziehung des § 60 StGB: Im Jugendstrafverfahren dürfe ohnehin keine Jugendstrafe verhängt werden, wenn nach allgemeinem Strafrecht von Strafe abgesehen werden müsste, da eine Jugendstrafe in einem solchen Fall weder wegen etwaiger in der Tat hervorgetretener schädlicher Neigungen (§ 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG) noch wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG) geboten sei; die Vorschrift sei daher für den jugendstrafrechtlichen Bereich insgesamt „entbehrlich“.918 Diese Ansicht berücksichtigt jedoch nicht, dass schon dem Wortlaut des § 18 Abs. 2 JGG zufolge insbesondere auch Aspekte der erzieherischen Einwirkung innerhalb der Strafzumessungserwägungen einzubeziehen sind, die Frage eines Absehens von Strafe also grundlegend anders zu beurteilen sein wird als bei Erwachsenen. Auch wegen des aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen sog. Verbots der Schlechterstellung919 Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber 913 BayObLG NStZ 1991, 584; D/S/S/Sonnen, JGG, § 5 Rn. 20; Ostendorf, JGG, § 5 Rn. 21; Laubenthal/Baier, Rn. 442. 914 Siehe oben bei und in Fn. 594. 915 Terdenge, in: JA 1978, S. 95 („§ 18 II JGG verdrängt § 46 StGB“), S. 100 („Anstelle von § 46 StGB gilt in bezug auf die Höhe der Strafe § 18 II JGG.“), S. 148 („[. . .] nach anderen Kriterien gemessen [. . .]; im StGB nach § 46, im JGG nach § 18 II“); vgl. Laubenthal/Baier, Rn. 709 ff.; ausf. dazu oben B. I. 1. und unten II. 916 Ebenso BayObLG NStZ 1991, 584. 917 Zu den innerhalb des Tatbestandsmerkmals „verfehlt“ zu beachtenden Modifikationen der (zulässigerweise heranzuziehenden) Strafzwecke siehe unten 2. b) dd). 918 Böhm/Feuerhelm, S. 165. – Nach Terdenge, in: JA 1978, S. 95 ist ein Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB sogar „sicher (. . .) durch die Spezialvorschriften des JGG ausgeschlossen“. Die Inbezugnahme solcher Spezialvorschriften bleibt Terdenge indes schuldig, und darüber hinaus behält er diese strikte Linie auch selbst nicht konsequent bei, wenn er in der Fortsetzung seines Beitrages (in: JA 1978, S. 147 ff.) – ohne nähere Angabe von Gründen – eine Heranziehung des § 60 StGB nur noch als „wohl nicht möglich“ beurteilt (S. 148). 919 Auch als „Verbot der Benachteiligung“ bezeichnet. – Begrifflich abzugrenzen ist hiervon das in den §§ 331, 358 Abs. 2 S. 1 StPO normierte, die Art und Höhe der Rechtsfolgen betreffende Verschlechterungsverbot (Verbot der reformatio in
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Erwachsenen in vergleichbarer Sach- und Verfahrenslage920 könnte die Heranziehung des § 60 StGB im Jugendstrafverfahren vielmehr als allgemein zulässig zu beurteilen sein. Ein Verstoß gegen dieses Verbot liegt allgemein dann vor, wenn Jugendliche bzw. Heranwachsende im Verhältnis zur Anwendung des allgemeinen Straf(verfahrens)rechts in vergleichbarer Sachund Verfahrenslage schlechter gestellt wären als Erwachsene und zudem die unterschiedliche rechtliche Behandlung nicht durch Gründe der Zugehörigkeit zu der anderen Altersgruppe gerechtfertigt werden kann.921 Speziell innerhalb der Sanktionsauswahl bedeutet dies, dass Jugendliche und Heranwachsende aus spezialpräventiven Gründen heraus grundsätzlich nicht härter „bestraft“ werden dürfen als Erwachsene.922 Dies gebietet nicht zuletzt die erziehungspädagogisch geleitete Erwägung, dass bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden gegenüber Erwachsenen Ungleichbehandlungen und Zurücksetzungen – gleich welcher Art – zur Vermeidung von Fehlausprägungen in der charakterlichen Entwicklung möglichst vermieden werden müssen.923 Die Nichtanwendung des § 60 StGB würde angesichts des Fehlens eines im obigen Sinne hinreichend gewichtigen Grundes eine Benachteiligung Jugendlicher bzw. Heranwachsender gegenüber dem allgemeinen Strafrecht nach sich ziehen. Folglich ist auch wegen des genannten allgemeinen Verbots der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Sach- und Verfahrenslage die Heranziehung des § 60 StGB im Jugendstrafverfahren als zulässig zu beurteilen924. Dies peius), das über § 2 Abs. 2 JGG auch im Jugendstrafrecht Anwendung findet (siehe nur Eisenberg, JGG, § 55 Rn. 24 m. w. N.). 920 Siehe ausf. zu diesem allg. jugendstrafrechtlichen Rechtsanwendungsprinzip (so ausdrücklich Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 312; ähnl. Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317; vgl. ferner die Nachweise in der nachfolgenden Fn. 921) Burscheidt, allg. S. 23 ff., im Einzelnen S. 35 ff.; krit. Brunner, in: JR 1992, S. 389 („beliebtbeliebige Formel“); Scheffler, in: NStZ 1992, S. 492 (dem JGG „so absolut nicht zu entnehmen“); insg. abl. Brunner/Dölling, JGG, Einf. II Rn. 26a; Böhm/Feuerhelm, S. 17 f.; Schaffstein/Beulke, S. 194 f. (S. 194: derartiges Verbot „existiert nicht“); Böhm, in: FS Spendel, S. 779 („Einen solchen Grundsatz gibt es [. . .] nicht.“); Fahl, in: FS Schreiber, S. 68 ff. 921 Nix/Rzepka, JGG, § 5 Rn. 21; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 82 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 1 Rn. 13; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 und 318; Scheffler, in: NStZ 1992, S. 492; Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 309 f.; ähnl. ders., in: JZ 1982, S. 61. 922 Nix/Rzepka, JGG, § 5 Rn. 21. 923 Ähnl. BayObLG NStZ 1991, 584; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 9; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5 („Wegen des allgemeinen Gesetzesziels eines jugendadäquaten Präventionsstrafrechts [. . .].“); Nothacker, in: JZ 1982, S. 61 Fn. 65. 924 BayObLG NStZ 1991, 584; D/S/S/Sonnen, JGG, § 2 Rn. 12; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; Laubenthal/Baier, Rn. 440; Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 14; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317; vgl. auch Eisenberg, JGG, § 5 Rn. 11 sowie Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 315.
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gilt umso mehr, als der Regelungsgehalt der Vorschrift den Intentionen des Jugendstrafrechts noch zentraler entspricht als denen des Erwachsenenstrafrechts, indem eine individuelle und hierbei ganz auf den (jugendlichen bzw. heranwachsenden) Angeklagten zugeschnittene Verhängung der Rechtsfolgen eröffnet wird.925 Die Vorschrift des § 60 StGB stellt demnach insgesamt eine zweckmäßige Ergänzung der Rechtsfolgensystematik des JGG dar926, die eine bestehende („unbewusste“) Regelungslücke zu schließen vermag. Eine Anwendung der Norm (auch) im Jugendstrafverfahren läuft folglich nicht nur nicht den Grundsätzen des JGG zuwider, sondern sie zieht ein jugendgemäßes Ergebnis gerade erst nach sich, weshalb ihre Heranziehung im Ergebnis sogar geboten927 ist.928 d) Ergebnis § 60 StGB ist über § 2 Abs. 2 JGG (auch) im Jugendstrafrecht anwendbar.929 925
BayObLG NStZ 1991, 584. Brunner, in: NStZ 1992, S. 389. 927 Ähnl. AG Osterode NdsRpfl 1971, 262 f., wonach es unverständlich bliebe, wenn „die Wohltat des § 16 StGB“ (= § 60 StGB n. F.; siehe dazu schon Fn. 591) nur auf erwachsene und nicht auch auf jugendliche Täter angewendet würde; ferner Brunner, in: JR 1992, S. 389 (der dem § 60 StGB immanente „Grundgedanke [fügt sich; Zusatz durch Verf.] zwanglos dem Erziehungsgedanken und damit einem tragenden Grundsatz des JGG ein“) und Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 („Anwendung des § 60 StGB [. . .] nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern [. . .] sogar notwendig“). 928 Hierdurch wird die dogmatische Grundausrichtung des JGG als zuvörderst dem Erziehungsgedanken – nicht aber etwa Aspekten der Tatvergeltung – verpflichtete Rechtsmaterie nicht verletzt. Denn das geltende Jugendstrafrecht ermöglicht zwar in Gestalt der Erziehungsmaßregeln (§§ 9 ff. JGG) vorrangig die Anordnung ausschließlich der Erziehung dienender Rechtsfolgen, aber mit den Zuchtmitteln (§§ 13 ff. JGG) bzw. der Jugendstrafe (§§ 17 f. JGG) eröffnet es darüber hinaus zugleich die Verhängung solcher Sanktionen, die (zumindest auch bzw. vordergründig) dem sich aus der Tat etwaig ergebenden Ahndungs- und Strafbedürfnis Geltung verschaffen sollen. Auch insoweit stellt die Vorschrift des § 60 StGB folglich keinen „Fremdkörper“ innerhalb der jugendstrafrechtlichen Sanktionsbestimmungen dar (siehe zum Ganzen Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317). 929 Ganz h. M.: AG Osterode NdsRpfl 1971, 262; BayObLG NStZ 1991, 584 m. zust. Anm. Brunner, in: JR 1992, S. 389 und Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 f.; Brunner/Dölling, JGG, § 5 Rn. 8; D/S/S/Sonnen, JGG, § 2 Rn. 12, § 5 Rn. 17; Fischer, StGB, § 60 Rn. 3; LK/Gribbohm, StGB, § 10 Rn. 2; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 10; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 24; NK/Albrecht, StGB, § 60 Rn. 1; Ostendorf, JGG, § 5 Rn. 21; Laubenthal/Baier, Rn. 440; Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 14; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 und 318; 926
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
2. Erforderliche Modifikationen Es sind indes einige Modifikationen bei der Transformation und Ausfüllung der einzelnen Merkmale des § 60 StGB gegenüber den Begriffsinhalten im Erwachsenenrecht erforderlich, wenn diese Vorschrift bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zur Anwendung kommen soll, da nur so die Besonderheiten des jugendstrafrechtlichen Sanktionensystems angemessen berücksichtigt werden können.930 Hinsichtlich der ratio legis der Regelung im Jugendstrafverfahren – insbesondere also der Einstufung der durch die Tat eingetretenen (schweren) Folgen als poena naturalis931, die unter bestimmten Umständen auf eine hoheitlich auszusprechende Strafe anzurechnen ist, insoweit der Täter aus faktischen Gründen heraus als „schon genug bestraft“ erscheint932 – kann zunächst allerdings auf obige Ausführungen933 verwiesen werden. a) Adressat Die Vorschrift richtet sich bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden934 an ein Jugendgericht i. S. d. § 33 Abs. 1 und 2 JGG. b) Tatbestandliche Voraussetzungen aa) „Folgen der Tat“ Die denkbaren unmittelbaren (Negativ-)Tatfolgen sind nicht anders als bei Erwachsenen zu bestimmen.935 Bei den etwaig zu berücksichtigenden Ostendorf, in: StV 2002, S. 442 f.; vgl. auch Dallinger/Lackner, JGG, § 5 Rn. 18; Eisenberg, JGG, § 5 Rn. 11; Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 315; a. A. Böhm/ Feuerhelm, S. 165; Terdenge, in: JA 1978, S. 95 und 148; Fahl, in: FS Schreiber, S. 77 ff., 79; offen gelassen von Schaffstein/Beulke, S. 87 Fn. 1. 930 Desgleichen Bringewat, in: NStZ 1992, S. 316 und 317 f.; vgl. auch Brunner/ Dölling, JGG, § 5 Rn. 8 zum Merkmal „offensichtlich verfehlt“. 931 Speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 15; zu Nachw. aus der allgemeinen Literatur siehe oben Fn. 603. 932 Zu Nachw. siehe oben Fn. 605; speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317. – Ferner: hoheitlicher Strafverzicht, der auf dem Fehlen eines fortbestehenden Strafbedürfnisses bzw. der Verneinung einer andauernden Strafbedürftigkeit beruht, was wiederum daraus resultiert, dass die Schuld des Täters als bereits ausreichend kompensiert erscheint (Bringewat a. a. O., S. 317, 318). 933 Siehe dazu oben B. III. 1. a)–c). – Zu beachten sind aber die (weit reichenden) Modifikationen hinsichtlich der zulässigen Strafzwecke innerhalb des Tatbestandsmerkmals „verfehlt“; siehe dazu unten b) dd). 934 Siehe § 107 JGG.
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mittelbaren Folgen der Tat936 kommen speziell auch der auf der vorverurteilenden Medienberichterstattung beruhende Verlust eines Ausbildungsplatzes, das hierdurch z. B. verursachte Zerbrechen einer festen (Liebes-)Beziehung oder Sanktionen etwa in der Schule (Verweis etc.) in Betracht. bb) „die den Täter getroffen haben“ „Täter“ ist hier der jugendliche bzw. heranwachsende Angeklagte. Dass die Tatfolgen diesen i. S. der Norm „getroffen haben“, wird auf Grund der besonderen psychischen Konstitution junger Menschen eher anzunehmen sein als bei Erwachsenen.937 Dies betrifft sowohl Fälle, bei denen der Täter selbst Einbußen erleidet938, als auch solche, bei denen eine emotional nahe stehende Person zu Schaden kommt939. Als „nahe stehend“ können hier speziell z. B. auch die Mitglieder einer festen „Clique“, der über einen langen Zeitraum betreute Nachhilfeschüler oder das regelmäßig für die Nachbarn beaufsichtigte (Klein-)Kind qualifiziert werden. Bei der erforderlichen Betroffenheit940 darf nicht übersehen werden, dass junge Menschen vor Gericht möglicherweise dazu neigen, dem Geschehenen auf Grund etwa von Imponiergehabe eine vermeintlich andere Bedeutung beizumessen, die der geforderten emotionalen Erschütterung – vordergründig betrachtet – entgegenzustehen scheint, in Wahrheit aber gegeben ist. Gerade in Fällen einer vorverurteilenden Berichterstattung und der damit einhergehenden Medienpräsenz des jungen Angeklagten wird dieser sich mitunter besonders „heldenhaft“ darstellen wollen. Daher werden hier besondere Anforderungen an die im Rahmen des § 43 JGG durchzuführenden Ermittlungen zu stellen sein, etwa auch hinsichtlich der Tätigkeit der Jugendgerichtshilfe, §§ 43 Abs. 1 S. 4 i. V. m. 38 Abs. 3 S. 1 und 2 JGG.941 935 Siehe dazu oben B. III. 3. a) bb); ferner Laubenthal/Baier, Rn. 440, wonach die Voraussetzungen insbesondere dann gegeben sein sollen, „wenn fahrlässige Normverstöße einen eigenen körperlichen oder wirtschaftlichen Schaden des Handelnden zur Folge hatten“. 936 Siehe oben bei und in Fn. 628 ff. 937 Ähnl. AG Osterode NdsRpfl 1971, 262 (262 f.), wonach „jugendliche Täter (. . .) oft physisch und seelisch durch einen Schicksalsschlag mehr getroffen werden, als Erwachsene, die die Härte des Lebens schon mehr kennengelernt haben“. 938 Siehe oben B. III. 3. b) bb). 939 Siehe dazu oben Fn. 644; vgl. ferner Laubenthal/Baier, Rn. 440 („Verlust naher Angehöriger“ besonders relevant). 940 Dazu oben bei und in Fn. 648. 941 Gemäß § 107 JGG ist § 38 JGG in Verfahren gegen Heranwachsende entsprechend anzuwenden; gleiches gilt nach § 109 Abs. 1 S. 1 JGG für § 43 JGG (so auch § 43 Nr. 9 RLJGG).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
cc) Tatfolgen auf Seiten des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden wiegen „schwer“ Hinsichtlich der erforderlichen Schwere der eingetretenen Tatfolgen942 ergeben sich im Rahmen der objektiven Komponente943 keine Besonderheiten. Als regelrecht „normal“ zu qualifizierende und somit von vorne herein nicht zu den „schweren“ Tatfolgen944 zählende Einbußen kommen speziell bei jungen Angeklagten beispielsweise auch leichte Verletzungen nach einer selbst provozierten Schlägerei in Betracht. Ein nochmals gesteigertes Gewicht kommt innerhalb der subjektiven Komponente der Tatfolgen945 den feststellbaren Auswirkungen auf die individuelle Psyche des jugendlichen bzw. heranwachsenden946 Angeklagten zu. Entsprechende, aus einer medienöffentlichen Vorverurteilung resultierende Belastungen werden bei jungen Menschen daher etwaige Defizite innerhalb der objektiven Komponente eher aufwiegen können. Und eine – bei jungen Tätern nach aller Erfahrung häufig noch vorliegende – besonders sensible psychische Konstitution schließt die Bejahung der subjektiven Komponente wie schon bei Erwachsenen947 nicht von vorne herein aus. Im Hinblick auf sich lediglich mittelbar ergebende Folgen der Tat948 ist eine aus der öffentlichen Vorverurteilung resultierende Beeinträchtigung der „bürgerlichen Reputation“ auf die Ebene von Schule, Ausbildungsstätte und sonstigem „Arbeitsumfeld“ des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und dort speziell auf das „Ansehen“ bei Mitschülern, Mitauszubildenden und (sonstigen) Arbeitskollegen zu beziehen. Nicht zuletzt auf Grund der räumlichen Enge des so bestimmten Umfeldes und eines mitunter jahrelangen Fortbestehens gleicher oder zumindest ähnlicher personaler Strukturen kann hier der erforderliche objektive wie subjektive Schweregrad der Tatfolgen im Einzelfall schneller erreicht sein. 942
Siehe oben B. III. 3. c). Dazu oben bei und in Fn. 652. 944 Zu Nachw. siehe oben Fn. 659. 945 Hierzu oben bei und in Fn. 653. 946 Vgl. etwa OLG Frankfurt NJW 1971, 767 (768) betr. 20-jährigen Angeklagten: „Körperschäden (. . .), die ihn von fast sämtlichen Freuden seiner Altersgruppe ausschließen werden“; BayObLG NJW 1992, 1520 (1521) betr. 19-jährigen Angeklagten: Der fahrlässig verursachte Tod seiner Schwester „hat bei ihm eine tiefe psychische Krise ausgelöst, in deren Folge er sich außerstande sah, sein Studium des Maschinenbaus weiterzuführen; (. . .) der Verlust seiner Schwester (wird; Zusatz durch Verf.) ihn wohl sein Leben lang belasten (. . .).“ (insoweit nicht abgedruckt in NStZ 1991, 584 f.). 947 Zu Nachw. siehe oben Fn. 664. 948 Vgl. zum Folgenden oben bei und in Fn. 667 ff. 943
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dd) Tatfolgen wiegen „so schwer“, dass eine Strafverhängung „offensichtlich verfehlt“ wäre „Verfehlt“ ist die Verhängung von Strafe allgemein dann, wenn sie unter keinem ihrer Leitgesichtspunkte eine sinnvolle Funktion mehr erfüllen könnte.949 Bei der in diesem Rahmen vorzunehmenden Gesamtabwägung ist der gesamte „Mikrokosmos der Strafzwecke“ zu berücksichtigen, so dass generell sämtliche Strafzwecke zu erwägen sind, die für oder gegen die Bejahung eines Verfehltseins von Strafe sprechen könnten.950 Dies gilt grundsätzlich auch für den jugendstrafrechtlichen Bereich,951 wobei aber der Umstand, dass nur die nach dem jeweils aktuellen Stand der Strafzwecklehre anerkannten Strafziele einzubeziehen sind952, hier besonderer Beachtung bedarf. Danach dürfen bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden953 – in Abweichung von der Rechtslage bei Erwachsenen – generalpräventive Erwägungen (insbesondere: die Abschreckung der Allgemeinheit, ferner: deren Schutz- und Sühnebedürfnis) und damit ein Teilbereich der denkbaren gegen das Verfehltsein einer Strafverhängung sprechenden Erwägungen nicht herangezogen werden.954 Entsprechende Strafzweckerwägungen haben daher bei der Prüfung einer „verfehlten“ Strafe außer Betracht zu bleiben. Allein hieraus folgt aber nicht etwa, dass im jugendstrafrechtlichen Bereich ein Verfehltsein von Strafe generell öfter zu bejahen sein wird.955 Denn spezialpräventiv tritt der Gedanke der Erziehung als zentraler Abwägungsgesichtspunkt hinzu,956 woraus sich im Einzelfall auch eine zusätzliche Notwendigkeit der Einwirkung ergeben kann, etwa wenn der von einer vorverurteilenden Medienberichterstattung betroffene Jugendliche 949 Zu Nachw. siehe oben Fn. 676; ferner speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur Laubenthal/Baier, Rn. 440; Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 und 492; vgl. auch Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317. 950 Siehe oben bei und in Fn. 679 ff. 951 Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317; nach Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 sind dabei vorrangig die präventiven Strafzwecke zugrunde zu legen. 952 Bringewat a. a. O. 953 Soweit sie materiellem Jugendstrafrecht unterfallen, vgl. dazu § 105 Abs. 1 JGG. 954 BGH/B NStZ 1991, S. 523; Brunner/Dölling, JGG, § 17 Rn. 1, § 18 Rn. 9 f.; Fischer, StGB, § 46 Rn. 18 m. w. N.; Brunner, in: NStZ 1992, S. 389; Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 622 f.; vgl. Eisenberg, in: NStZ 1999, S. 283; vgl. auch Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318. 955 So aber vgl. Brunner, in: NStZ 1992, S. 389; vgl. wie hier BayObLG NJW 1961, 2029 (2029 f.) [zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe unten Fn. 974]. 956 BayObLG NStZ 1991, 584; vgl. Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 f.; vgl. auch BayObLG NJW 1961, 2029 (2029 f.) [zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe unten Fn. 974]. – Betr. die Verhängung von Jugendstrafe siehe § 18 Abs. 2 JGG und dazu § 18 Nr. 2 S. 1 RLJGG.
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bzw. Heranwachsende nachhaltiger erzieherischer Hilfe bedarf. Andererseits können eingetretene schwere Tatfolgen aber bereits eine derartige erzieherische Wirkung auf den jungen Menschen gehabt haben,957 so dass eine zusätzliche (staatliche) Sanktionierung auch eher entbehrlich sein kann. Insgesamt betrachtet handelt es sich bei dem Erfordernis einer „verfehlten“ Strafe um dasjenige gesetzliche Merkmal des § 60 StGB, das innerhalb der Transformation auf den jugendstrafrechtlichen Bereich der stärksten inhaltlichen Modifikation bedarf. Keine Besonderheiten ergeben sich demgegenüber bei der Frage einer „offensichtlich“ verfehlten Strafverhängung958. ee) Beschränkung des § 60 S. 2 StGB (Ein-Jahres-Grenze) Innerhalb der den Anwendungsbereich der Norm beschränkenden EinJahres-Grenze des § 60 S. 2 StGB959 tritt an die Stelle der gegenüber Erwachsenen gemäß §§ 38, 39 StGB gegebenenfalls zu verhängenden Freiheitsstrafe die speziell für Jugendliche bzw. Heranwachsende960 vorgesehene freiheitsentziehende Sanktion der Jugendstrafe nach §§ 17, 18 JGG.961 Übertragen auf den jugendstrafrechtlichen Bereich hat dies zur Folge, dass ein Absehen von Strafe der gesetzlichen Regelung zufolge nicht möglich ist bei Verwirkung962 einer Jugendstrafe von über einem Jahr. Als Anknüpfungspunkt kommen wie bei Erwachsenen grundsätzlich Delikte jeder Art – also auch Verbrechen i. S. der (§ 2 Abs. 2, § 4 JGG i. V. m.) § 12 Abs. 1 957
Vgl. Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491. Dazu oben B. III. 3. d) bb); siehe ferner speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur Laubenthal/Baier, Rn. 440 („Zweckverfehlung muss klar zu Tage treten“). 959 Siehe dazu oben B. III. 3. e). 960 Siehe § 105 Abs. 1 JGG. 961 Fischer, StGB, § 60 Rn. 3; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 11; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 8; SK/Horn, StGB, § 60 Rn. 3; Laubenthal/Baier, Rn. 441; vgl. BayObLG NJW 1961, 2029 (2029 f.) [zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe unten Fn. 974]. – Zur Frage der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB (auch) auf Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel siehe unten c) bb). 962 Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals einer „verwirkten“ Strafe gelten die obigen Ausführungen entsprechend, siehe dazu oben B. III. 3. e) bb); bei der Ermittlung des hypothetischen Strafmaßes sind nach Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 hingegen schon im Erwachsenenstrafrecht vorrangig tatschuldbezogene Gesichtspunkte zugrunde zu legen. Innerhalb des Erfordernisses einer „für die Tat“ verwirkten Strafe, siehe dazu oben B. III. 3. e) cc), ist gegenüber der erwachsenenstrafrechtlichen Regelung der §§ 53 f. StGB die jugendstrafrechtliche Besonderheit des § 31 Abs. 1 JGG zu beachten. 958
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StGB – in Betracht963, sofern nur die Strafgrenze von einem Jahr Jugendstrafe nicht überschritten wird. Speziell in Fällen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung stellt sich bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auf Grund des Anwendungsausschlusses des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 2 StGB bei verwirkter Jugendstrafe „von mehr als einem Jahr“ und der damit einhergehenden Einengung in der Rechtsanwendung die gleiche Anwendungsproblematik wie schon bei Erwachsenen964, die hinsichtlich der „Passgenauigkeit“ der Vorschrift wiederum zumindest Zweifel aufkommen lässt. ff) Zwischenergebnis 1 Auch gegenüber jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeklagten bereitet die Anwendung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 S. 1 StGB auf eine medienöffentliche Vorverurteilung grundsätzlich keine unüberwindbaren Hindernisse. Wie schon im Erwachsenenstrafrecht wirft jedoch die beschränkende Ein-Jahres-Grenze des S. 2 der Vorschrift hinsichtlich der Praktikabilität des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung auf Tatbestandsseite einige Fragen auf. c) Rechtsfolge aa) Obligatorischer Charakter Rechtsfolgend ergibt sich dem Wortlaut zufolge bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen wie im Erwachsenenrecht965 zwingend ein Absehen von Strafe, es ist also kein richterliches Ermessen eingeräumt. bb) Absehen von „Strafe“ Es wird von „Strafe“ abgesehen. Bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden ist also jedenfalls ein Absehen von Jugendstrafe i. S. der §§ 17, 18 JGG eröffnet966. 963 Vgl. zu Nachw. zunächst oben Fn. 709; ferner speziell aus der jugendstrafrechtlichen Rechtsanwendungspraxis und Literatur BayObLG NJW 1992, 1520 (1521) [insoweit nicht abgedr. in NStZ 1991, 584 f.]; Brunner, in: JR 1992, S. 389. 964 Siehe oben B. III. 3. e) cc) am Ende. 965 Siehe oben B. III. 4. a). 966 Zu Nachw. siehe oben Fn. 961. – Nach Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318 gilt dies „zumindest für die Jugendstrafe gem. § 17 II Alt. 2 JGG“.
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Fraglich ist aber, ob über § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB auch ein Absehen von den Zuchtmitteln der §§ 13 ff. JGG gegenüber einem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden967 in Betracht kommt. Denn diese haben gemäß § 13 Abs. 3 JGG gerade nicht die Rechtswirkungen einer Strafe und sind demzufolge keine „echten“ Strafen i. S. d. Jugendstrafrechts [(2)]. Erst recht stellt sich diese Frage bei den Erziehungsmaßregeln der §§ 9 ff. JGG, die lediglich eine geregelte Lebensführung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden968 herbeiführen und hierdurch eine die Erziehung befördernde Wirkung entfalten sollen [(1)]. (1) „Absehen von Erziehungsmaßregeln“? Umstritten ist also, ob § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB auch auf die (Nicht-)Verhängung von Erziehungsmaßregeln Einfluss haben kann, ob mit anderen Worten ein „Absehen von Erziehungsmaßregeln“ eine jugendstrafrechtliche Modalität des allgemeinstrafrechtlichen „Absehens von Strafe“ gemäß § 60 StGB darstellen kann. Hierzu werden unterschiedliche Ansichten vertreten. (a) Erste Ansicht Bringewat969 verneint dies. Der Gesichtspunkt, dass es sich auch bei den Erziehungsmaßregeln um jugendstrafrechtliche Sanktionen handele, genüge nicht schon für eine Gleichsetzung mit der Jugendstrafe. Eine solche Sichtweise widerspreche sowohl dem Grundgedanken des § 60 StGB als auch der dogmatischen Grundstruktur des jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgensystems: Der Vorschrift des § 60 StGB liege der Gedanke zugrunde, dass ein generell vorhandenes Ahndungs- und/oder Strafbedürfnis auf Grund des Eintritts schwerer Tatfolgen ausnahmsweise entfalle. Um das Bestehen oder Nichtbestehen eines derartigen, durch den Erziehungsgedanken modifizierten spezifisch jugendstrafrechtlichen Ahndungs- bzw. Strafbedürfnisses gehe es aber von vorne herein nicht bei der Verhängung von ausschließlich oder doch primär auf Erziehung abzielenden Sanktionen. § 60 StGB könne sich daher nicht auf die allein der Erziehung dienenden Maßregeln der §§ 9–12 JGG erstrecken.970 967 Bei Heranwachsenden sind die Vorschriften der §§ 13 ff. JGG unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG entsprechend anzuwenden. 968 Die Vorschriften der §§ 9 ff. JGG sind – mit Ausnahme der Auferlegung von „Hilfe zur Erziehung“ gemäß §§ 9 Nr. 2, 12 JGG (arg. e contr.; so auch § 105 Nr. 2 S. 1 RLJGG) – unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende ebenfalls entsprechend anzuwenden. 969 In: NStZ 1992, S. 315 ff.
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(b) Zweite Ansicht Der vorstehend wiedergegebenen engen Sichtweise steht ein weiter gefasster Strafbegriff gegenüber: Für den Fall, dass in Vorschriften des Erwachsenenstrafrechts ganz allgemein von „Strafe“ gesprochen werde, beziehe sich dies – die grundsätzliche Anwendbarkeit der Vorschrift gemäß § 2 Abs. 2 JGG vorausgesetzt971 – auch auf diejenigen jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen, die keinen oder einen zumindest nur untergeordneten Strafcharakter aufweisen, namentlich Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel.972 Es wird hiernach der Begriff „Strafe“ in § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB – unbeschadet der Abgrenzungsbestimmung des JGG, wonach Jugendstrafe die einzige „echte“ Strafe innerhalb des jugendstrafrechtlichen Sanktionenkataloges darstellt (vgl. § 13 Abs. 3 JGG)973 – dahingehend verstanden, dass er auch Erziehungsmaßregeln umfasse974. Andernfalls werde das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher (und Heranwachsender) gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Sach- und Verfahrenslage975 verletzt.976 970 So insg. Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318; im Ergebnis ebenso Böhm/Feuerhelm, S. 165 und Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 15. 971 Dies wurde vorliegend bejaht, dazu oben 1. 972 Eisenberg, JGG, § 5 Rn. 11 (abw. in § 2 Rn. 26 [„teilweise“]); vgl. D/S/S/Sonnen, JGG, § 5 Rn. 20 (nur bezogen auf allgemeine Vorschriften, die speziell ein Absehen von Strafe eröffnen); einschr. Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rn. 4, § 5 Rn. 8 („häufig“). 973 BayObLG NStZ 1991, 584; Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rn. 4. 974 So die ganz h. M.: BayObLG NStZ 1991, 584; Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rn. 4, § 5 Rn. 8; D/S/S/Sonnen, JGG, § 5 Rn. 20; Ostendorf, JGG, § 5 Rn. 21; Laubenthal/Baier, Rn. 441; Brunner, in: JR 1992, S. 389; vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 5 Rn. 18; vgl. ferner BayObLG NJW 1961, 2029 (2029 f.) [zu § 233 StGB a. F.: „Wechselseitig begangene Körperverletzungen: Wenn Körperverletzungen nach § 223 mit solchen, Beleidigungen mit Körperverletzungen nach § 223 oder letztere mit ersteren auf der Stelle erwidert werden, so kann das Gericht für beide Angeschuldigte oder für einen derselben die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von Strafe absehen. Satz 1 gilt entsprechend bei fahrlässigen Körperverletzungen nach § 230, soweit nicht eine der in § 224 bezeichneten Folgen verursacht ist.“ (Hervorhebung durch Verf.)]; Eisenberg, JGG, § 2 Rn. 26, § 5 Rn. 11; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 315; krit. MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 24. 975 Siehe dazu näher oben bei und in Fn. 919 ff. 976 BayObLG NStZ 1991, 584; D/S/S/Sonnen, JGG, § 5 Rn. 20 (generell bezogen auf allgemeine Vorschriften, die ein Absehen von Strafe eröffnen); MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 315; vgl. auch BayObLG NJW 1961, 2029 (zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe oben Fn. 974); Dallinger/Lackner, JGG, § 5 Rn. 18; Eisenberg, JGG, § 5 Rn. 11; a. A. Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 15; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318; Brunner, in: JR 1992, S. 389.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
(c) Stellungnahme Für die zweitgenannte Ansicht spricht nicht schon, dass der Vorschrift des § 60 StGB im Jugendstrafrecht andernfalls ein nur sehr geringer Anwendungsbereich verbliebe.977 Denn es sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass die Norm im Jugendstrafrecht ihren absoluten Ausnahmecharakter978 verlieren sollte. Gleiches gilt für den Umstand, dass § 60 StGB im Erwachsenenstrafrecht etwa bei Sanktionen nach dem OWiG oder infolge eines Disziplinarverfahrens nicht anwendbar ist bzw. dass die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung zulässig bleibt979; denn auch im Falle der Verwirklichung schwer(st)er Delikte kann allein die Erteilung von Erziehungsmaßregeln angezeigt sein, und die Maßnahmen der §§ 61 ff. StGB werden im Unterschied zu den Erziehungsmaßregeln nicht „aus Anlass der Straftat“ i. S. d. § 5 Abs. 1 JGG angeordnet.980 Der erstgenannten Ansicht von Bringewat ist zumindest darin zuzustimmen, dass eine unreflektierte Übertragung der Vorschrift des § 60 StGB auf Erziehungsmaßregeln infolge der nach Jugendstrafrecht nur eingeschränkt zulässigen Strafzwecke nicht möglich ist. Namentlich Aspekte der Generalprävention widersprechen grundlegend der jugendgerichtsgesetzlichen Ausprägung eines das jugendliche bzw. heranwachsende Individuum in den Mittelpunkt stellenden Täterstrafrechts981 und müssen daher unberücksichtigt bleiben.982 Hieraus ist aber nicht herzuleiten, dass die Vorschrift generell nicht auf Erziehungsmaßregeln Anwendung finden kann. Denn die mit dem Eintritt schwerer Tatfolgen faktisch verbundenen physischen und psychischen Belastungen können im Einzelfall bereits eine nachhaltige erzieherische Wirkung auf den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden gehabt haben, die eine (zusätzliche) Erteilung von Maßregeln der Erziehung entbehrlich macht.983 977
Vgl. BayObLG NJW 1961, 2029 (2029 f.) [zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe oben Fn. 974]. 978 Zu Nachw. siehe oben Fn. 696; speziell aus der jugendstrafrechtlichen Rechtsanwendungspraxis und Literatur BayObLG NStZ 1991, 584; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 317 („Extremfall einer Strafzumessungsregel“); Scheffler, in: NStZ 1992, S. 492. 979 Siehe dazu oben B. III. 4. b). 980 Ebenso Brunner, in: JR 1992, S. 389 f. bzw. ähnl. BayObLG NStZ 1991, 584. 981 Plakativ: „Täterstrafrecht“ versus „Tatstrafrecht“ (Grethlein, in: NJW 1957, S. 1370; Terdenge, in: JA 1978, S. 95) bzw. „Erziehungsstrafrecht“ versus „Schuldstrafrecht“ (Terdenge, in: JA 1978, S. 95; zu Weiterentwicklungsbestrebungen der 2. Jugendstrafrechtsreformkommission der DVJJ siehe Ostendorf, in: StV 2002, S. 439). 982 Siehe insg. oben b) dd). 983 So kann sich beispielsweise im Falle einer im Straßenverkehr verursachten fahrlässigen Tötung einer nahe stehenden Person die Erteilung einer Weisung an den
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 213
Der hiermit in Bezug genommene Erziehungsgedanke gebietet es in solchen Fällen, von (weiteren) erzieherischen Maßnahmen abzusehen. Ein etwaiges „Absehen von Erziehungsmaßregeln“ erfolgt dann also nicht wie allgemein nach Erwachsenenstrafrecht unter dem Aspekt einer bereits geschehenen „Abgeltung“984, sondern vielmehr unter dem Gesichtspunkt der fehlenden „Notwendigkeit“ (weiterer) erzieherischer Beeinflussung. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 1 StGB985 kann insoweit, das heißt unter zentraler Einbeziehung des Erziehungsgedankens, für den Bereich der Maßregeln gemäß §§ 9–12 JGG gedanklich wie folgt umformuliert werden: „Das Gericht sieht von Erziehungsmaßregeln ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, erzieherisch bereits so wirksam geworden sind, dass eine weitere erzieherische Einwirkung auf den Täter unterbleiben kann.“
Insgesamt ist § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB damit ein weiter Strafbegriff zugrunde zu legen, der im Einzelfall gegenüber Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auch ein „Absehen von Erziehungsmaßregeln“ ermöglicht. (2) „Absehen von Zuchtmitteln“? Vorstehende Ergebnisse lassen sich auf ein etwaiges „Absehen von Zuchtmitteln“ übertragen. Hierbei wird allerdings wie folgt zu differenzieren sein: Soweit das an sich986 in Betracht kommende Zuchtmittel überwiegend ahndender Natur ist, kann § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB ohne weiteres herangezogen werden, da diesbezüglich eine Vergleichbarkeit mit der Jugendstrafe besteht, bei der die Anwendbarkeit allgemein bejaht wurde987. Soweit dem an sich erwogenen Zuchtmittel hingegen eine hauptsächlich erzieherische Wirkung anhaftet, gelten die zuvor zu den Erziehungsmaßregeln gemachten Ausführungen entsprechend; dies gilt insbesondere auch für den dort gemachten Vorschlag einer gedanklichen Umformulierung des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 1 StGB.988 Alles in allem eröffnet der bei § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB zugrunde zu legende weite Strafbegriff gegenüber Jugendlichen bzw. Heranwachsenden folglich auch die Möglichkeit eines „Absehens von Zuchtmitteln“.989 jugendlichen bzw. heranwachsenden Täter, an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (§ 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 10 JGG), erübrigen; siehe auch schon oben bei und in Fn. 957. 984 Siehe oben B. III. 1. a) am Ende. 985 S. 2 der Vorschrift entfällt in diesem Zusammenhang. 986 Siehe dazu oben B. III. 3. e) bb) am Ende. 987 Siehe oben bei und in Fn. 961, 966. 988 Siehe oben (1) (c). 989 Ganz h. M.: BayObLG NStZ 1991, 584; Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rn. 4, § 5 Rn. 8; D/S/S/Sonnen, JGG, § 5 Rn. 20, § 13 Rn. 9; Ostendorf, JGG, § 5 Rn. 21;
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
(3) Ergebnis Der Begriff des Absehens von „Strafe“ in § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB umfasst über ein Absehen von Jugendstrafe hinaus auch ein Absehen von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln. cc) „Alles oder nichts“-Prinzip Dem (Jugend-)Gericht ist – folgte man streng dem gesetzlichen Prinzip des „Alles oder nichts“ in § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 1 StGB990 – nur ein völliges Absehen von Strafe eröffnet, nicht aber eine in Abhängigkeit von den näheren Umständen ausfallende bloße Strafmilderung oder Herabsetzung der Sanktion. Speziell in Fällen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung wird aber nicht selten auf Grund der einzelfallbezogenen Umstände gerade kein umfassendes Absehen von „Strafe“ – hier: von Jugendstrafe, Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln991 – in Betracht kommen, sei es, weil es trotz der täterseits erlittenen Folgen noch weiterer Ahndung bedarf, sei es, weil die aus den Tatfolgen resultierende erzieherische Einwirkung noch nicht weit reichend genug war. Solchenfalls wäre es vielmehr angezeigt, die Sanktion lediglich entsprechend abzumildern. Dem steht aber das genannte „Alles oder nichts“-Prinzip des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 1 StGB entgegen. Hieraus resultiert wiederum die gleiche Problematik wie schon bei Erwachsenen992.
vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 5 Rn. 18; vgl. ferner BayObLG NJW 1961, 2029 (zu § 233 StGB a. F.; zum Wortlaut siehe oben Fn. 974); Eisenberg, JGG, § 2 Rn. 26, § 5 Rn. 11; LK/Gribbohm, StGB, § 10 Rn. 2; MK/Radtke, StGB, § 10 Rn. 5; Laubenthal/Baier, Rn. 440; Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 14; Brunner, in: JR 1992, S. 389; a. A. Böhm/Feuerhelm, S. 165 (Anordnung von Jugendarrest und Auflagen sei von vorne herein „unangemessen“, wenn nach allgemeinem Strafrecht gemäß § 60 StGB von Strafe abgesehen werden müsste); vgl. auch Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318 (nur primär ahndungs- und/oder strafbedürfnisbezogene Zuchtmittel seien hiervon umfasst). 990 Zu Nachw. siehe oben Fn. 725; siehe ferner die speziellen jugendstrafrechtlichen Nachw. BayObLG NStZ 1991, 584; Bringewat, in: NStZ 1992, S. 318; Brunner, in: JR 1992, S. 390. Im jugendstrafrechtlichen Bereich ist in diesem Zusammenhang gegenüber der erwachsenenstrafrechtlichen Regelung der §§ 53 f. StGB die Besonderheit des § 31 Abs. 1 JGG zu beachten. 991 Siehe oben bb) (1)–(3). 992 Siehe oben B. III. 4. c) am Ende.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 215
dd) Zwischenergebnis 2 Gegenüber jugendlichen und heranwachsenden Betroffenen erweist sich § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB auf Rechtsfolgenseite hinsichtlich einer bloßen strafmildernden Berücksichtigung etwaiger mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung einhergehender Beeinträchtigungen ebenfalls als ungeeignet. 3. Ergebnis Insgesamt stellt § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB – zumindest isoliert – in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung keine taugliche Rechtsgrundlage dar. Bezüglich der in zweierlei Hinsicht zwingend erforderlichen Modifikationen ist daher wiederum eine Kombination mit weiteren Vorschriften zu erwägen (siehe sogleich). II. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB bzw. § 18 Abs. 2 JGG u. a. In Betracht kommt zunächst die für das Erwachsenenstrafrecht als dogmatische Grundlage aufgezeigte Rechtsvorschriftenkombination, namentlich mit § 46 Abs. 2 StGB993. Die dem allgemeinen Recht entstammende Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB ist jedoch – jedenfalls im Bereich der Jugendstrafe – maßgeblich durch § 18 Abs. 2 JGG ersetzt,994 weshalb § 46 Abs. 2 StGB zumindest insoweit nicht als Rechtsgrundlage geeignet ist (vgl. § 2 Abs. 2 JGG). Die Vorschrift des § 18 Abs. 2 JGG wiederum, wonach „Jugendstrafe so zu bemessen (ist), dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist“995, gilt ihrem eindeutigen Wortlaut sowie dem Systemzusammenhang 993
Siehe oben B. IV. Ebenso D/S/S/Sonnen, JGG, § 18 Rn. 10; ähnl. Laubenthal/Baier, Rn. 709; Meier/Rössner/Schöch, § 11 Rn. 25 f. (beide jedoch nur in Bezug auf § 46 Abs. 1 S. 1 StGB); vgl. auch § 18 Nr. 2 S. 1 RLJGG („vorrangige Berücksichtigung des Erziehungsgedankens“); vgl. ferner BGH NStZ 1984, 508; StV 1988, 307; NStZ-RR 1997, 281; BGH/B NStZ 2001, S. 322; Brunner/Dölling, JGG, § 18 Rn. 7 f.; Eisenberg, JGG, § 18 Rn. 13, 16 ff., 22; Nix/Teschner, JGG, § 18 Rn. 6; Böhm/Feuerhelm, S. 228 ff., 231 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 12 Rn. 28; vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 18 Rn. 7 f.; Potrykus, JGG, § 18 Bem. 7.; einschr. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 251 f., 256; weitergehend Terdenge, in: JA 1978, S. 95. 995 Dies gilt indes nur vorrangig gegenüber weiteren Erwägungen wie etwa dem Schuldgehalt der Tat (zu Nachw. siehe vorherige Fn. 994). 994
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
zufolge nicht auch für die weiteren jugendstrafrechtlichen Sanktionen der Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel. Speziell bei den Erziehungsmaßregeln könnte daher lediglich eine Anknüpfung an die §§ 10 Abs. 1 S. 1, 12 JGG zu erwägen sein, in denen der Gedanke der Erziehung zentral zum Ausdruck kommt. Hinsichtlich der Zuchtmittel fehlt eine solche Norm innerhalb der jugendstrafrechtlichen Sanktionsvorschriften (§§ 5–32 JGG) ganz; es unterliegt gleichwohl allgemeiner Anerkennung, dass auch insoweit Gesichtspunkten der Erziehung eine besondere Bedeutung zukommt996. Im Ergebnis erschließt sich aus diesen Überlegungen jedenfalls keine Rechtsgrundlage, die für den Gesamtbereich jugendstrafrechtlicher Sanktionen – Jugendstrafe, Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln – einschlägig wäre. Folglich ist § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB weder i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB noch i. V. m. einzelnen Vorschriften des JGG insoweit eine taugliche Rechtsgrundlage. III. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG Wie die voranstehende Prüfung ergab, ist § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB auch nicht i. V. m. Vorschriften des StGB oder des JGG für die Gesamtheit jugendstrafrechtlicher Sanktionen als Rechtsgrundlage einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung medienöffentlicher Vorverurteilungen geeignet. Neben ausdrücklichen gesetzlichen Vorschriften kommt im Jugendstrafrecht aber auch (ungeschriebenen) Grundsätzen997 besondere Bedeutung zu. Gemeinsam ist den oben genannten Vorschriften des JGG die Inbezugnahme erzieherischer Gesichtspunkte. Eine Verknüpfung der Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB namentlich mit dem – gleichsam übergeordneten – Erziehungsgedanken des JGG998 könnte daher als rechtliche Grundlage für die in Rede stehende Berücksichtigung dienen.
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Siehe nur Eisenberg, JGG, § 13 Rn. 7. Zu Nachw. siehe oben Fn. 902–904. 998 Mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 13.12.2007 (BGBl. I S. 2894) findet der Erziehungsgedanke in § 2 Abs. 1 JGG nunmehr auch ausdrückliche Erwähnung. 997
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 217
1. Ausdehnende Interpretation des § 60 StGB anhand des Erziehungsgedankens des JGG a) Problemkonstellation und -lösung Unter Rückgriff auf die zum Erwachsenenstrafrecht angestellten Überlegungen999 lässt sich die im Jugendstrafrecht ebenfalls in zweifacher Hinsicht bestehende Problemkonstellation lösen, indem § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB anhand des Erziehungsgedankens des JGG ausdehnend interpretiert wird: Zunächst ist dabei die Beschränkung des § 2 Abs. 2 JGG, § 60 S. 2 StGB unter Bezugnahme auf den Erziehungsgedanken des JGG dergestalt zu reduzieren, dass die Vorschrift allgemein auch über die Ein-JahresGrenze hinaus zur Anwendung gelangen kann.1000 Hiermit geht eine tatbestandliche Ausweitung der Norm einher. Ferner muss – abermals unter Bezugnahme auf den Erziehungsgedanken des JGG – die Rechtsfolge dahingehend modifiziert werden, dass auch die Vornahme einer bloßen Strafmilderung allgemein statthaft und je nach Lage des Falles sogar angezeigt ist.1001 Dies bedeutet eine Ausweitung des § 60 StGB auch hinsichtlich der Rechtsfolgen. Ermöglicht wird so insgesamt eine ganz auf den jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeklagten zugeschnittene Sanktionsentscheidung. Die erforderliche Verknüpfung kann abermals mit dem optischen Kürzel „i. V. m.“ zum Ausdruck gebracht werden. Dann ist in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG die rechtliche Grundlage für eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung erlittener Beeinträchtigungen.1002 Hinsichtlich der Entscheidung über das Ob und den etwaigen Umfang einer strafmildernden Berücksichtigung der Beeinträchtigungen oder gar ein völliges Absehen von Strafe in Fällen vorverurteilender Berichterstattung gelten die zum Erwachsenenstrafrecht gemachten Ausführungen entsprechend.1003 Insbesondere ist hierüber nach den konkreten Umständen des 999
Siehe oben B. IV. 1. a) und b). Zu Nachw. für das Erwachsenenstrafrecht siehe oben Fn. 740; allg. a. A. Laubenthal/Baier, Rn. 441; a. A. ferner Scheffler, in: NStZ 1992, S. 491 (nur bei Verhängung von Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen gemäß § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG). 1001 Zu Nachw. für das Erwachsenenstrafrecht siehe oben Fn. 741. 1002 Bedingen die näheren Umstände des Falles ein völliges Absehen von Strafe, so bedarf es – analog der Ausführungen zum Erwachsenenstrafrecht (siehe oben bei Fn. 744) – ebenfalls dieser Verknüpfung mit dem Erziehungsgedanken des JGG, da sich solchenfalls zwar das auf Rechtsfolgenseite geschilderte Anwendungsproblem, nicht aber dasjenige in tatbestandlicher Hinsicht erledigt. 1003 Siehe hierzu oben bei und in Fn. 745 ff. 1000
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Einzelfalles und in einer abwägenden Gesamtbetrachtung zu befinden.1004 Unzulässig ist insoweit auch hier ein strafmilderndes Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe, im Bereich speziell der Jugendstrafe also des (erhöhten) gesetzlichen Mindestmaßes des § 18 Abs. 1 S. 1 JGG (sechs Monate Jugendstrafe). b) Zwischenergebnis zum Jugendstrafrecht Im Ergebnis ist § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG die dogmatische Grundlage, wenn die in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung etwaig erlittenen Beeinträchtigungen des jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeklagten eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung finden sollen. 2. Gesamtabwägung Bei der erforderlichen Abwägungsentscheidung, ob und mit welchem Gewicht auf Grund einer vorverurteilenden Medienberichterstattung eine Milderung der Strafe angezeigt oder ob gar ganz von Strafe abzusehen ist, lassen sich wiederum a) straftatbezogene, b) medienbezogene sowie c) beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte unterscheiden. In den geführten Interviews speziell mit Jugendrichtern wurde sich dieser Fragestellung ebenfalls unter II. 4. des Gesprächsleitfadens angenähert. Hinsichtlich der insoweit relevanten Gesichtspunkte kann zunächst jeweils auf die zu den Erwachsenen gemachten Ausführungen1005 verwiesen werden. Darüber hinaus werden innerhalb des Abwägungsprozesses jedoch die Eigenheiten des jugendlichen bzw. heranwachsenden Alters besonders zu berücksichtigen sein; speziell kommt gerade dem Erziehungsgedanken eine zentrale Bedeutung zu. a) Straftatbezogene Gesichtspunkte Bezüglich der Frage nach der Relevanz der Deliktskategorie ergab die Auswertung bei den Jugendrichtern ein ähnliches Bild wie diejenige der Interviews mit Erwachsenenrichtern1006: Eine Hälfte der hierzu befragten bzw. sich äußernden sechs Jugendrichter vertrat die Ansicht, dass eine etwaige strafzumessungsimmanente Berücksichtigung allgemein von Art und 1004 1005 1006
Ausf. dazu im Anschluss 2. Siehe oben B. IV. 2. a), b) und c). Siehe dazu oben B. IV. 2. a) aa).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 219
Schwere der begangenen Straftat abhängig zu machen sei.1007 Die andere Hälfte vertrat diesen Standpunkt zwar nicht in dieser Allgemeinheit, aber zumindest für bestimmte Fallkonstellationen.1008 Ein besonderes Interesse der Medienöffentlichkeit werden unter dem Aspekt einer vermeintlichen allgemeinen „sittlichen Verrohung“ junger Menschen in heutiger Zeit Delikte aus dem Bereich der Sexualstraftaten finden. Dies gilt mit leichten Abstrichen für Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Delikte aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität hingegen sind bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden naturgemäß eher nicht einschlägig. Was den Grad des geäußerten Verdachts hinsichtlich der vorgeworfenen Tat(en) im Zeitpunkt der vorverurteilenden Medienberichterstattung anbetrifft, so kann sich beim Äußern lediglich vager Vermutungen eine medienöffentliche Vorverurteilung für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen angesichts seiner eher noch ungefestigten Persönlichkeit mitunter schneller negativ auswirken als gegenüber einem Erwachsenen1009. Dies gilt insgesamt für mediale Veröffentlichungen, die vor Abschluss des Verfahrens einen überführten „Täter“ in Bezug nehmen. Hierbei werden schon weniger gewichtige Beeinträchtigungen angesichts der erhöhten Schutzbedürftigkeit jugendlicher bzw. heranwachsender Betroffener1010 stärker zu berücksichtigen sein als bei Erwachsenen. Die den Stand des Verfahrens betreffenden Erwägungen1011 gelten bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden analog. Auf Grund des geringeren Alters der Betroffenen und einer damit einhergehenden erhöhten Schutzbedürftigkeit werden etwaige Begrenzungen des allgemeinen Aussagegehaltes der Unschuldsvermutung mit zunehmender Fortdauer des Verfahrens indes noch restriktiver zu handhaben sein. b) Medienbezogene Gesichtspunkte Was die Dauer und Intensität der Berichterstattung anbelangt1012, ergeben sich hinsichtlich Art und Verbreitungsgrad des Mediums besondere Gefahren für den betroffenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden daraus, dass das stetig an Bedeutung gewinnende und weltweit zugängliche Medium 1007
Experteninterviews lfd. Nrn. J2, J4 und J7. Experteninterviews lfd. Nrn. J2: bei Prominentenstraftaten aus dem „Milieu“, insbesondere bei strafbewehrtem Umgang mit Drogen; J4: bei beruflichem Bezug zur Straftat; J7: besonders in Fällen sexuellen Missbrauchs. 1009 Vgl. dazu oben B. IV. 2. a) bb). 1010 Vgl. näher unten c) cc). 1011 Siehe oben B. IV. 2. a) cc). 1012 Zur Sachlage bei Erwachsenen siehe oben B. IV. 2. b) aa). 1008
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
„Internet“ besonders von der Gruppe der Gleichaltrigen genutzt wird. Bezüglich des Inhalts der Veröffentlichungen können sich solche Angaben, die mittelbar einer Identifizierung des jugendlichen bzw. heranwachsenden Beschuldigten den Weg bereitet oder gar eine zweifelsfreie Identifizierung unter Nennung des Namens und gegebenenfalls Abdruck eines Fotos beinhaltet haben, bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden gesteigert negativ auswirken, da Zukunftschancen nachhaltig verbaut werden können. Auf diese Weise an einen „medialen Pranger“ gestellt zu werden1013, kann bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zudem schwere Entwicklungsschäden zur Folge haben. Dies gilt nicht minder für die Veröffentlichung abwertender Meinungen zum Charakter des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden sowie etwaige Titulierungen als „jugendliche Bestie“ oder „junges Schwein“. Wie bei erwachsenen Beschuldigten1014 steigt das Ausmaß der Beeinträchtigungen regelmäßig mit der Dauer der Berichterstattung weiter an. Letztere ist maßgeblich von der Zeitspanne der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im Vorfeld des Prozesses und derjenigen des Strafverfahrens im Ganzen abhängig. Insgesamt wird bei der Berücksichtigung von Dauer und Intensität der Berichterstattung zu beachten sein, dass bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden schon weniger gewichtige Beeinträchtigungen angesichts der signifikant erhöhten Schutzbedürftigkeit junger Menschen1015 stärker als gegenüber Erwachsenen zu berücksichtigen sein werden. Hinsichtlich der Art der Informationserlangung gelten die Ausführungen, die für den Fall erwachsener Beschuldigter gemacht wurden1016, entsprechend. Lässt sich gerichtlicherseits feststellen, dass eine Instrumentalisierung der Medien seitens des jugendlichen bzw. heranwachsenden Beschuldigten oder seiner Verteidigung erfolgte und erst dadurch die festgestellten Beeinträchtigungen eingetreten sind, so wird speziell analog § 52a Abs. 1 S. 2 JGG1017 die Möglichkeit einer mildernden Berücksichtigung dieser Umstände innerhalb der Strafzumessung auch hier regelmäßig entfallen.
1013
Vgl. oben bei und in Fn. 779–781. Siehe oben B. IV. 2. b) aa) (3). 1015 Vgl. näher unten c) cc). 1016 Siehe oben B. IV. 2. b) bb). 1017 Hiernach kann der Richter anordnen, dass eine Berücksichtigung bestimmter erlittener Nachteile „ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Angeklagten nach der Tat oder aus erzieherischen Gründen nicht gerechtfertigt ist“. Gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG findet die Vorschrift unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende entsprechende Anwendung (so auch §§ 52, 52a Nr. 2 RLJGG). 1014
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 221
c) Beschuldigtenbezogene Gesichtspunkte Innerhalb der die Abwägung versubjektivierenden beschuldigtenbezogenen Gesichtspunkte können wiederum Aspekte aa) der gesellschaftlichen Stellung des Beschuldigten, bb) seiner individuellen Verteidigungsfähigkeit sowie cc) etwaiger psychischer und physischer Belastungen und Stigmatisierungseffekte unterschieden werden. aa) Aspekte der gesellschaftlichen Stellung Wie schon in den Interviews mit Erwachsenenrichtern wurden hiermit zusammenhängende Gesichtspunkte am häufigsten genannt.1018 Die gesellschaftliche Position in der Form der bereits erlangten beruflichen bzw. sozialen Stellung wird bei Jugendlichen und Heranwachsenden kaum einmal ernsthaft betroffen sein, wird bei diesen doch in aller Regel auf Grund des jungen Alters (noch) kein oder zumindest ein nur geringer überregionaler Bekanntheitsgrad gegeben sein. In einem weniger „marktorientierten“ Verständnis geht die Abwägung bei Jugendlichen und Heranwachsenden vielmehr dahin, zu berücksichtigen, ob das in Zukunft im Rahmen des beruflichen und sozialen Werdegangs möglicherweise noch Erreichbare auf Grund der medienöffentlichen Vorverurteilung von vorne herein verbaut wird, während im Vergleich hierzu bei Erwachsenen mehr die etwaige Zerschlagung des bereits Erreichten einzubeziehen ist. Darüber hinaus ist der Gedanke einer etwaigen Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Stellung bei Jugendlichen und Heranwachsenden auch in den Bereich der persönlichen Stellung im sozialen Nahbereich zu verlagern und dort danach zu fragen, ob sich die vorverurteilende Berichterstattung etwa in der Schule, an der Universität oder am Ausbildungsplatz und gegenüber guten Freunden und Bekannten besonders negativ ausgewirkt hat.1019 Im (seltenen) Falle prominenter jugendlicher bzw. heranwachsender Beschuldigter handelt es sich wie gegenüber Erwachsenen um eine fehlgehende Überlegung, wenn darauf verwiesen wird, dass derjenige, der positiv im Lichte der Öffentlichkeit stehe, auch stärkere negative Konsequenzen tragen müsse1020, da unverhältnismäßige Beeinträchtigungen auch dieser Personengruppe nicht zuteil werden dürfen.
1018 Lediglich von einem (Experteninterview lfd. Nr. J5) der hierzu befragten acht Jugendrichter wurden keine entsprechenden Angaben gemacht; zu den Erwachsenenrichtern siehe oben bei und in Fn. 792. 1019 Siehe dazu näher unten cc). 1020 So Experteninterviews lfd. Nrn. J2, J4, J8 und J9.
222
4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
bb) Individuelle Verteidigungsfähigkeit Die individuelle Fähigkeit des Betroffenen, sich argumentativ gegen die erhobenen Vorwürfe zur Wehr zu setzen, wird bei Jugendlichen und Heranwachsenden angesichts einer geringeren Lebenserfahrung mitunter deutlich eingeschränkt sein. Hinsichtlich des Zugangs zu Möglichkeiten professioneller Darstellung und Verteidigung sind die Umstände des Einzelfalles ausschlaggebend. Insgesamt werden die hiermit zusammenhängenden Umstände bei Jugendlichen und Heranwachsenden eher in Richtung einer Strafmilderung weisen als bei Erwachsenen. cc) Psychische und physische Belastungen sowie Stigmatisierungseffekte Sind schon bei Erwachsenen etwaige psychische und physische Belastungen innerhalb der wertenden Gesamtabwägung besonders intensiv zu prüfen,1021 so gilt dies umso mehr bei solchen Beschuldigten, bei denen aus den Beeinträchtigungen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung auf Grund ihres jungen Alters erhebliche Entwicklungsschäden resultieren können. Denn aus den Belastungen, die schon vor und während eines gerichtlichen Verfahrens sowie noch nachträglich eintreten können, ergibt sich bei diesen angesichts ihrer noch ungefestigten Persönlichkeit und einer daher signifikant erhöhten Prägbarkeit insgesamt die höhere Wahrscheinlichkeit einer Stigmatisierung.1022 Die Gefahr der Herausbildung eines „Stigma des Vorverurteilten“ besteht folglich auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Als nachwirkende Belastung ergeben sich hieraus etwa Schwierigkeiten bei einem Verbleib in der Schule, und zwar auch in denjenigen Fällen, in denen sich die erhobenen Vorwürfe letztlich als haltlos erwiesen haben. Der Gedanke, dass Jugendliche und Heranwachsende in aller Regel noch ungebunden sind und daher unter Umständen als mobiler gelten könnten als erwachsene Betroffene – weshalb bei ihnen im Falle einer schwerpunktmäßig lediglich regionalen Medien-Kampagne eher von einer Strafmilderung abgesehen und vielmehr ein Wegzug zugemutet werden könnte –, trägt nur auf den ersten Blick. Denn Ungebundenheit und Mobilität dürfen dem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden nicht zum Nachteil gereichen, zumal er eines besonderen Schutzes gerade innerhalb seines bestehenden sozialen Nahbereichs1023 bedarf. 1021
Siehe oben B. IV. 2. c) cc) am Anfang. Mit ähnl. Erwägungen Experteninterviews lfd. Nrn. J3 sowie E5. 1023 Das soziale Nahfeld setzt sich bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden – abweichend von der Situation bei Erwachsenen – vereinfacht dargestellt aus den drei 1022
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 223
Anders könnte es sich hinsichtlich des Umstandes verhalten, dass bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden in bestimmten Fällen trotz im Übrigen gleicher Sachlage gerade keine den Betroffenen nachhaltig belastende Stigmatisierung erfolgt bzw. eine solche faktisch durch positive Peer-Group-Effekte annähernd ausgeglichen wird. So wird die Begehung von Straftaten in manchen Gruppierungen mitunter als Mutprobe verstanden, deren Absolvierung zu gruppeninterner Anerkennung und Bestätigung führt.1024 Auch kann eine besonders „rücksichtslose“ Tatausführung eine erhöhte Akzeptanz innerhalb der Gruppe bewirkt haben.1025 In solchen Konstellationen ist zumindest zu erwägen, ob eine Strafmilderung nicht eher auszuscheiden hätte. Die weiterhin erforderliche Einbeziehung der Persönlichkeit des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden in Gestalt seiner psychischen und physischen Widerstandskraft sowie seines persönlichen Umfeldes1026 hat zu berücksichtigen, dass junge Menschen in aller Regel psychisch eher noch instabil sind1027, so dass sich die Beeinträchtigungen einer medienöffentlichen Vorverurteilung bei ihnen gewichtiger ausgewirkt haben können. Die Herausbildung etwaiger Stigmatisierungseffekte und allgemein das genaue Ausmaß der aus einer vorverurteilenden Berichterstattung resultierenden Belastungen hängen auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden1028 insgesamt maßgeblich mit den zuvor genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkten zusammen. d) Abschließende Betrachtung Ob Art und Ausmaß der mit einer vorverurteilenden Medienberichterstattung insgesamt für den Betroffenen einhergegangenen Beeinträchtigungen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG bedingen, ist anhand der zuvor genannten Kriterien zu entscheiden.
Sozialsystemen Familie, Schule (später Ausbildung und sodann Einstieg in den Beruf) und Peer-Group (= Gruppe der Gleichaltrigen) zusammen; innerhalb dieser drei Erziehungsinstanzen verbringt der Jugendliche bzw. Heranwachsende einen Großteil seiner Zeit und setzt sich in diesem Rahmen mit seiner Umwelt auseinander (vgl. zum Ganzen etwa Schwind, § 10 Rn. 1, § 13 Rn. 21 f.). 1024 Ähnl. Experteninterviews lfd. Nrn. J5 sowie E2 und E12. 1025 Siehe allg. zu Einflüssen gruppendynamischer Kräfte auf Entstehung und Ausprägung von Jugenddelinquenz sowie etwaige jugendstrafrechtliche Konsequenzen hieraus Hoffmann, in: StV 2001, S. 197 f., 198 f. 1026 Vgl. oben bei und in Fn. 820. 1027 Ebenso Experteninterviews lfd. Nrn. J7 und J9, E2 und E3 sowie P1 und P2. 1028 Vgl. zur Sachlage bei Erwachsenen oben B. IV. 2. c) cc) am Ende.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
aa) Anwendungshäufigkeit Hinsichtlich der Häufigkeit der Anwendung wird – bei im Übrigen vergleichbarer Sachlage – schon auf Grund der gesetzgeberischen Grundentscheidung einer prinzipiellen Nichtöffentlichkeit des Verfahrens (vgl. § 48 Abs. 1 JGG)1029 eher als im Erwachsenenstrafrecht1030 von der Notwendigkeit einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung auszugehen sein (rechtliche Situation). Andererseits ergibt sich die behandelte Problematik hier nach aller Erfahrung rein faktisch seltener als bei Erwachsenen; denn Jugendliche wie auch Heranwachsende sind – mutmaßlich wegen des deutlich zurückhaltenderen und dabei weniger aggressiven Tätigwerdens aller Prozessbeteiligten und einer hieraus zugleich resultierenden signifikant erhöhten „Wenigerberichterstattung“ der Medien1031 – in der Öffentlichkeit allgemein weniger präsent und werden daher auch in einem nur geringeren Maße entsprechenden Beeinträchtigungen ausgesetzt (tatsächliche Situation). Wenn aber im Einzelfall doch einmal in vorverurteilender Art und Weise berichtet wurde und hiermit entsprechende Beeinträchtigungen des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden einhergegangen sind, so wirkt sich dies in aller Regel umso gravierender und nachhaltiger aus, da junge Menschen keine mit der physischen und psychischen Verfassung eines Erwachsenen vergleichbare Konstitution aufweisen.1032 Im Ergebnis werden aus einer vorverurteilenden Berichterstattung resultierende Beeinträchtigungen Jugendlicher bzw. Heranwachsender in der gerichtlichen Praxis also nur sehr selten zu berücksichtigen sein, dann aber mit umso größerem Gewicht. Ein völliges Absehen von Strafe gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG ist insoweit im Einzelfall sogar nahe liegender als im Erwachsenenrecht.
1029 Allg. zum jugendstrafrechtlichen Grundsatz der Nichtöffentlichkeit siehe etwa Eisenberg, JGG, § 48 Rn. 8 ff. m. w. N. Gemäß § 109 JGG (arg. e contr.; so auch § 109 Nr. 1 S. 1 RLJGG) findet die Vorschrift in Verfahren gegen Heranwachsende keine Anwendung (siehe aber § 109 Abs. 1 S. 4 JGG und dazu § 109 Nr. 1 S. 2 RLJGG). 1030 Siehe dazu oben B. IV. 2. d) aa). 1031 Vgl. schon BVerfGE 35, 202 (232) – Fall Lebach (erforderliche Zurückhaltung in der Berichterstattung „bei Jugendlichen von den Kommunikationsorganen in der Praxis überwiegend beachtet“). – So verzichten die Medien in aller Regel etwa auch auf eine den jugendlichen bzw. heranwachsenden Beschuldigten identifizierende Berichterstattung. 1032 Ebenso Experteninterviews lfd. Nrn. J5-J8 sowie E2.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 225
bb) Fallgruppen Fallgruppen, bei denen eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung im Allgemeinen besonders zu bedenken sein wird, wurden bereits für das Erwachsenenrecht entwickelt.1033 Die dort beispielhaft genannten Konstellationen bzw. Sachlagen lassen sich bei Jugendlichen und Heranwachsenden analog heranziehen.1034 Im Speziellen ist etwa innerhalb der ersten Fallgruppe (Krasses Missverhältnis zwischen verwirklichter Schuld und Ausmaß vorverurteilender Berichterstattung)1035 entgegen der in einem der Interviews geäußerten Ansicht1036 eine Berücksichtigung der damit einhergehenden Beeinträchtigungen auch bei Tötungsdelikten eröffnet, da solchenfalls ein krasses Missverhältnis des geforderten Ausmaßes ebenfalls denkbar ist1037. Eine gegenüber dem Erwachsenenrecht noch verschärfte Bedeutung kommt bei Jugendlichen und Heranwachsenden dem sensiblen Deliktsbereich der §§ 176 ff. StGB zu,1038 während Wirtschaftsstraftaten – und hierbei insbesondere solche prominenter Personen – naturgemäß eher selten einschlägig sind. Schwerwiegende Eingriffe in den sozialen Nahbereich des Beschuldigten i. S. der dritten Fallgruppe1039 werden bei Jugendlichen und Heranwachsenden angesichts einer signifikant erhöhten Schutzbedürftigkeit eher zu bejahen sein, während die fünfte Fallgruppe (Straftaten im Zusammenhang mit dem Beruf)1040 hier weitestgehend leer läuft. 3. Verfahrensrechtliche Erörterungen Es folgen Ausführungen zu verfahrensrechtlichen Fragen, die bei der in Rede stehenden Berücksichtigung a) in der Tatsacheninstanz und b) in der Revisionsinstanz relevant werden.
1033
Siehe oben B. IV. 2. d) bb) (1)-(5). Aus nahe liegenden Gründen wäre es auch für den jugendstrafrechtlichen Bereich nicht möglich, sämtliche denkbaren Konstellationen anzugeben; die angeführten Fallgruppen können aber wiederum mutatis mutandis auf ähnlich oder anders gelagerte Sachverhalte übertragen werden; vgl. insg. oben B. IV. 2. d) bb) am Anfang. 1035 Dazu oben B. IV. 2. d) bb) (1). 1036 Experteninterview lfd. Nr. J2. 1037 So auch Experteninterview lfd. Nr. J4; ähnl. lfd. Nr. J7. 1038 Ebenso Experteninterviews lfd. Nrn. J7 und J9. 1039 Siehe dazu oben B. IV. 2. d) bb) (3). 1040 Siehe oben B. IV. 2. d) bb) (5). 1034
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
a) Tatsacheninstanz Innerhalb der verfahrensrechtlichen Erörterungen zur Tatsacheninstanz ist wiederum zunächst auf die zum Erwachsenenstrafverfahren angestellten Überlegungen zu verweisen.1041 Insbesondere steht die konkrete Ausgestaltung der Urteilsformel auch hier grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, vgl. (§ 2 Abs. 2 JGG i. V. m.) § 260 Abs. 4 S. 5 StPO. Im – ganz seltenen1042 – Falle eines Absehens von Strafe nach § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG ist dieses gemäß (§ 2 Abs. 2 JGG i. V. m.) § 260 Abs. 4 S. 4 StPO expressis verbis schon in der Urteilsformel kenntlich zu machen. Hinsichtlich der in den Urteilsgründen vorzunehmenden Ausführungen ist die – im Hinblick auf die jugendstrafrechtlichen Besonderheiten die allgemeine Norm des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO ergänzende1043 – Regelung des § 54 Abs. 1 S. 1 JGG zu beachten. Für den Fall, dass der jugendliche bzw. heranwachsende1044 Angeklagte schuldig gesprochen wird – was bei einer bloßen Strafmilderung, nicht aber bei einem Freispruch gegeben ist –, sind hiernach etwa auch diejenigen Umstände anzugeben, die für seine Bestrafung1045 oder für die angeordneten Maßnahmen1046 schlechthin „bestimmend“ gewesen sind.1047 Insoweit sind – wie gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO schon hinsichtlich der Zumessung der Strafe1048 – indes nur die wesentlichen Umstände aufzuführen, nicht aber ist eine lückenlose Wiedergabe der die Sanktionierung anbetreffenden Erwägungen erforderlich.1049 1041
Siehe dazu oben B. IV. 3. a). Siehe oben 2. d) aa). 1043 OLG Jena NStZ-RR 1998, 119 (120); OLG Hamm StV 2001, 176 (177); Laubenthal/Baier, Rn. 361, 363; vgl. Brunner/Dölling, JGG, § 54 Rn. 1; D/S/S/Schoreit, JGG, § 54 Rn. 4, 18, 25; Eisenberg, JGG, § 54 Rn. 5; Nix/Nicolai, JGG, § 54 Rn. 3; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 372; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 86; vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 54 Rn. 3. 1044 Gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG findet die Vorschrift unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende entsprechende Anwendung (so auch § 54 Nr. 4 S. 2 RLJGG). 1045 Also für die Verurteilung zu Jugendstrafe gemäß §§ 17 f. JGG (vgl. § 13 Abs. 3 JGG). 1046 Namentlich: Erziehungsmaßregeln (§§ 9 ff. JGG) und Zuchtmittel (§§ 13 ff. JGG). 1047 Demgegenüber sind im Erwachsenenstrafrecht nach § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO nur diejenigen Umstände anzuführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. 1048 Der Strafbegriff umfasst hier nach dem insoweit zugrunde zu legenden weiten Verständnis über die Jugend(kriminal)strafe hinaus auch Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, siehe oben I. 2. c) bb) (1) (c) am Ende, (2) am Ende. 1042
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 227
Nach den oben entwickelten Maßstäben1050 ist eine Strafmilderung in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden lediglich in seltenen Ausnahmefällen zu erwägen. Bejahendenfalls wird sie dann aber zumeist wie im Erwachsenenstrafrecht zugleich wesentliche Bedeutung haben und deswegen in den Urteilsgründen zu behandeln sein. In Bezug auf die Kosten des Verfahrens ist die gegenüber § 465 Abs. 1 S. 1 und 2 StPO bestehende Sonderregelung des § 74 JGG zu beachten. Hiernach kann im Verfahren gegen einen jugendlichen bzw. heranwachsenden1051 Angeklagten darauf verzichtet werden, diesem die Kosten und Auslagen des Verfahrens aufzuerlegen. Zweck der Regelung ist es, junge Menschen – auch unter Beachtung erzieherischer Gesichtspunkte – vor einer zusätzlichen Bestrafung, namentlich einer solchen wirtschaftlicher Art, zu bewahren.1052 Angesichts der dem § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB1053 auch im Jugendstrafrecht zugrunde liegenden ratio legis, wonach der Angeklagte – zumindest teilweise – als „schon genug bestraft“ erscheint,1054 wird speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung sowohl bei einer bloßen Strafmilderung als auch im Falle eines vollumfänglichen Absehens von Strafe das pflichtgemäße Ermessen („kann“) dahingehend reduziert sein, dass bei Jugendlichen und Heranwachsenden grundsätzlich gemäß § 74 JGG von einer Auferlegung der Kosten und Auslagen abzusehen ist.1055 1049 OLG Frankfurt a. M. StV 2003, 459; D/S/S/Schoreit, JGG, § 54 Rn. 18; siehe auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 54 Rn. 12; vgl. Eisenberg, JGG, § 54 Rn. 49. 1050 Siehe 2. d) aa). 1051 Gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG findet die Vorschrift unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende entsprechende Anwendung (so auch § 74 Nr. 6 RLJGG). 1052 KG Berlin NStZ-RR 1999, 121; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 24; OLG Koblenz StV 1999, 665; LG Osnabrück StV 1990, 509; Brunner/Dölling, JGG, § 74 Rn. 1; Eisenberg, JGG, § 74 Rn. 8; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 344; Laubenthal/Baier, Rn. 367; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 92; Schnitzerling, in: MDR 1962, S. 541; Zieger, in: StV 1990, S. 282; vgl. BGH/B NStZ 1991, S. 524; 2001, S. 326; Dallinger/Lackner, JGG, § 74 Rn. 11; Nix/Nicolai, JGG, § 74 Rn. 4. 1053 Nach hier vertretener Auffassung: i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG, siehe oben 1. – Nachfolgend soll hierauf nicht stets gesondert hingewiesen werden, sondern es soll sogleich § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG als dogmatische Grundlage angeführt werden. 1054 Siehe oben bei und in Fn. 932. 1055 Für eine generell „weitestgehende Anwendung des § 74 JGG“ im Jugendstrafverfahren spricht sich Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 345 aus (Hervorhebung im Original); ähnl. Brunner/Dölling, JGG, § 74 Rn. 1 (in der gerichtlichen Praxis Anwendung des § 74 JGG „zu Recht in weitem Umfang“ anzumerken); Eisenberg, JGG, § 74 Rn. 8 („tendenziell ausgedehnt zu nutzen“), Rn. 9; Schnitzerling, in: MDR 1962, S. 541 („Freistellung von den Kosten nicht die Ausnahmesituation“);
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
b) Revisionsinstanz Was die revisionsrechtliche Überprüfung von Entscheidungen anbelangt, so kann zunächst ebenfalls auf die zum Erwachsenenstrafrecht gemachten Ausführungen1056 verwiesen werden. Das tatrichterliche Unterlassen der Benennung von Umständen, die für die Zumessung der Strafe „bestimmend“ gewesen sind und daher gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 267 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO in den Urteilsgründen hätten angegeben werden müssen1057 – so etwa in aller Regel in Fällen, in denen eine medienöffentliche Vorverurteilung den jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeklagten schwer beeinträchtigt hat1058 –, bedeutet demzufolge einen revisiblen Rechtsfehler1059. Ein solcher liegt hiernach speziell in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung auch vor, wenn der – rechtlich anerkannte – Strafzweck der Erziehung1060 überhaupt nicht in die Entscheidung einbezogen oder sein Gewicht im Verhältnis zu weiteren Strafzwecken nicht entsprechend bestimmt wurde.1061 Ein revisionsgerichtliches Absehen von der Urteilsaufhebung wegen Rechtsfehlern (nur) bei der Strafzumessung auf der Grundlage eigener Sachentscheidung gemäß § 354 Abs. 1a S. 1 StPO i. d. F. des 1. Justizmodernisierungsgesetzes1062, wenn das Gericht die verhängte Rechtsfolge trotz des festferner schon Dallinger/Lackner, JGG, § 74 Rn. 12, 13 („in einer großen Zahl der Fälle“); vgl. Zieger, in: StV 1990, S. 282 („Es sollte jedem Verteidiger [. . .] eine Selbstverständlichkeit sein, [. . .] auch zu beantragen, daß im Falle eines Schuldspruchs nach § 74 JGG davon abgesehen wird, dem jungen Mandanten die Kosten und Auslagen aufzuerlegen.“); vgl. auch D/S/S/Schoreit, JGG, § 74 Rn. 2; einschr. KG Berlin NStZ-RR 1999, 121. 1056 Siehe oben B. IV. 3. b). – Zu beachten sind hinsichtlich der Zulässigkeit der Anfechtung von Entscheidungen aber die Sonderregelungen des § 55 Abs. 1 und 2 JGG. Die damit einhergehende Beschränkung der Rechtsmittel führt zu einer Beschleunigung des Verfahrens und liegt somit insgesamt im Interesse der – wenn schon nicht zeitnahen, so doch zumindest zeitnäheren – Erziehung des jugendlichen (bzw. heranwachsenden, vgl. § 109 Abs. 2 S. 1 JGG) Angeklagten, Meier/Rössner/ Schöch, § 1 Rn. 36. 1057 Speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur D/S/S/Schoreit, JGG, § 54 Rn. 32; vgl. Nix/Nicolai, JGG, § 54 Rn. 14. 1058 Vgl. oben a). 1059 Speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur D/S/S/Schoreit, JGG, § 54 Rn. 32; Nix/Nicolai, JGG, § 54 Rn. 14; Ostendorf, JGG, § 54 Rn. 24. 1060 Siehe zur zentralen Einbeziehung des Erziehungsgedankens im Rahmen einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichterstattung gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG unter dem Merkmal „verfehlter“ Strafverhängung oben I. 2. b) dd). 1061 Zum Erwachsenenstrafrecht vgl. oben bei und in Fn. 858. 1062 Siehe oben Fn. 861.
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 229
gestellten Fehlers als angemessen erachtet, hat für den jugendstrafrechtlichen Bereich grundsätzlich auszuscheiden (vgl. § 2 Abs. 2 JGG).1063 In aller Regel ist die Sache daher unter Aufhebung des Urteils an das Tatgericht zurückzuverweisen. Eine auf eigener Sachentscheidung des Revisionsgerichts beruhende Herabsetzung einer unangemessen (hoch) erscheinenden Rechtsfolge auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 354 Abs. 1a S. 2 StPO ist für das Jugendstrafrecht sogar als stets unzulässig zu beurteilen (vgl. § 2 Abs. 2 JGG).1064 Hierüber hat allein das Tatgericht nach Aufhebung des Urteils und entsprechender Zurückverweisung der Sache zu befinden. 4. Registerrechtliche Erörterungen Analog den Bemerkungen zum Erwachsenenstrafrecht1065 ist eine Entscheidung, die auf Grund einer medienöffentlichen Vorverurteilung ein völliges Absehen von Strafe gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG beinhaltet, nicht in das Bundeszentralregister einzutragen.1066 Demgegenüber zieht eine bloße Herabsetzung der Strafe eine Eintragung in Höhe der abgemilderten (Jugend-)Strafe1067 nach sich, da i. S. d. § 4 Nr. 1 BZRG „auf Strafe erkannt“ wurde. Hinsichtlich der nachfolgend unter c) dargestellten Konsequenzen, die aus dieser Eintragung für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen resultieren, kann zunächst allgemein auf obige Ausführungen verwiesen werden; gleiches gilt für die wiederum zuvor angesprochenen Gesichtspunkte, namentlich betreffend a) den Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters sowie b) die Erteilung von Auskünften hieraus.1068 a) Zweck und Inhalt des Bundeszentralregisters Speziell enthalten die Regelungen einen Kompromiss zwischen den Interessen der Öffentlichkeit an einer funktionierenden Strafrechtspflege einer1063 Eisenberg, JGG, § 54 Rn. 51a; Eisenberg/Haeseler, in: StraFo 2005, S. 224 f.; jeweils mit ausf. Begründung; vgl. dazu auch Meyer-Goßner, StPO, § 354 Rn. 28. 1064 Eisenberg a. a. O.; Eisenberg/Haeseler, in: StraFo 2005, S. 225; jeweils unter Angabe von Gründen; vgl. dazu auch Meyer-Goßner a. a. O. 1065 Siehe oben bei und in Fn. 870. 1066 Arg. e contr. aus § 4 Nr. 1 BZRG, wonach eine Eintragung nur dann erfolgt, wenn „auf Strafe erkannt“ wurde. 1067 Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel werden von dem Strafbegriff des § 4 Nr. 1 BZRG nicht umfasst, vgl. § 3 Nr. 1 i. V. m. § 5 Abs. 2 BZRG. 1068 Siehe insg. oben B. IV. 4. c), a) und b).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
seits und der Wiedereingliederung des straffällig gewordenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden andererseits.1069 Bezüglich des Inhalts des Registers gilt, dass bei strafgerichtlichen Verurteilungen Jugendlicher bzw. Heranwachsender gemäß § 3 Nr. 1 i. V. m. § 5 Abs. 2 BZRG (nur) im Falle der Verbindung mit einem Schuldspruch nach § 27 JGG, einer Verurteilung zu Jugendstrafe oder der Anordnung einer Maßnahme nach § 7 JGG i. V. m. § 61 ff. StGB auch die Anordnung von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln in das Bundeszentralregister einzutragen ist. b) Auskunftserteilung Hinsichtlich der in ein sog. Führungszeugnis1070 aufzunehmenden Eintragungen gelten zwecks einer erleichterten (Wieder-)Eingliederung gerade des jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen in Beruf und Gesellschaft1071 einige den Umfang der Auskunftserteilung beschränkende Besonderheiten. So sind etwa Verurteilungen zu Jugendstrafe gemäß § 32 Abs. 2 Nr. 4 BZRG dann nicht einzutragen, wenn der Strafmakel gerichtlich (vgl. §§ 97, 100 JGG1072) oder im Gnadenwege als beseitigt erklärt und die Beseitigung nicht widerrufen worden ist.1073 Desgleichen sind derartige Verurteilungen auch bei der Erteilung sog. unbeschränkter Auskunft1074 grundsätzlich1075 nicht mitzuteilen, vgl. § 41 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 BZRG.
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Vgl. oben Fn. 874 und speziell Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 413; Laubenthal/Baier, Rn. 883 f.; Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 33 f.; Schaffstein/Beulke, S. 307; vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, Vor § 94 Rn. 1, 7. 1070 Dazu oben B. IV. 4. b) aa). 1071 Götz/Tolzmann, BZRG, § 32 Rn. 26 i. V. m. Rn. 20; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 32 Rn. 28; vgl. auch Hase, BZRG, § 32 Rn. 1. 1072 Gemäß § 111 JGG gelten die genannten Vorschriften für Heranwachsende entsprechend. 1073 Dazu ausf. Götz/Tolzmann, BZRG, § 32 Rn. 26 f. 1074 Siehe oben B. IV. 4. b) bb). 1075 Nur ausnahmsweise wird hierüber gemäß § 41 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 BZRG Auskunft erteilt, und zwar den Strafgerichten und Staatsanwaltschaften und diesen zudem ausschließlich für ein Strafverfahren gegen den Betroffenen (beachte aber die Rück-Ausnahme in S. 2 der Vorschrift).
2. Kap.: Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung 231
c) Konsequenzen für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen Analog den obigen Ausführungen1076 haben Eintragungen im Bundeszentralregister auch für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen nachteilige Konsequenzen zur Folge. aa) Vorhalt und Verwertung sowie Offenbarungspflicht gemäß §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 BZRG So dürfen bestehende Eintragungen dem jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen im Rechtsleben vorgehalten und hieraus für ihn ungünstige Folgen abgeleitet werden, vgl. § 51 Abs. 1 BZRG. Im Falle eines neuerlichen Strafverfahrens etwa ist eine (negative) Berücksichtigung der Eintragung innerhalb der Zumessung der Strafe zulässig.1077 Aus § 53 Abs. 1 BZRG ergibt sich, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende im Falle einer im Bundeszentralregister eingetragenen Verurteilung, die in ein Führungszeugnis aufzunehmen und nicht zu tilgen ist, als „vorbestraft“ gilt und zudem das der Verurteilung zugrunde liegende konkrete Tatgeschehen nicht verschweigen darf.1078 bb) Stigmatisierende Wirkung des Bundeszentralregisters Die (Re-)Sozialisierung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden wird durch die Reaktion der auf diese Weise unterrichteten Gesellschaft mitunter mehr als nur behindert, indem nicht selten – etwa bei Bewerbungen um eine behördliche Ausbildungsstelle oder bei der Meldung zu staatlichen Prüfungen – schon die Aufnahme einer geregelten Ausbildungs- oder Arbeitstätigkeit gleichsam „im Keime erstickt“ und so manche den Fähigkeiten und Fertigkeiten des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden entsprechende berufliche Laufbahn von vorne herein ausgeschlossen ist.1079 Noch 1076
Siehe B. IV. 4. c). Vgl. schon oben bei und in Fn. 883 und dazu Nr. 16 Abs. 1 S. 1 RiStBV; vgl. speziell BGH/H MDR 1982, S. 972; Brunner/Dölling, JGG, Vor § 97 Rn. 3, § 97 Rn. 12; D/S/S/Schoreit, JGG, § 100 Rn. 1; Eisenberg, JGG, § 100 Rn. 3; Ostendorf, JGG, § 97 Rn. 12; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 415; vgl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 100 Rn. 10; Potrykus, JGG, § 95 Bem. 5, § 96 Bem. 1. 1078 Vgl. oben B. IV. 4. c) bb). 1079 Ähnl. Brunner/Dölling, JGG, Vor § 97 Rn. 3, § 97 Rn. 2; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 97–101 Rn. 3; Laubenthal/Baier, Rn. 884; Schaffstein/Beulke, S. 307; Streng, Jugendstrafrecht, § 14 Rn. 1; vgl. auch Rebmann/Uhlig, BZRG, § 59 Rn. 1; 1077
232
4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
erheblich verstärkt werden diese Effekte durch die gebräuchliche Praxis1080 einer Vielzahl privater Arbeitgeber, sich ihrerseits mittelbar Auskunft über einen etwaigen Registereintrag zu verschaffen, indem sie zusätzlich zu den sonstigen Bewerbungsunterlagen die Vorlage eines (eintragungsfreien) Führungszeugnisses verlangen1081. Doch auch bereits während der schulischen Ausbildung ist die Stigmatisierungsgefahr, insbesondere im Hinblick auf das Verhalten von und den Umgang mit Altersgenossen, ausnehmend groß.1082 Aus der Eintragung einer Verurteilung und entsprechender Auskunftserteilung resultieren folglich anhaltende stigmatisierende Auswirkungen auf den sozialen und beruflichen Bereich des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden, etwa schon während seiner Schulausbildung und bei der Ausbildungsund Arbeitsplatzsuche, ferner im Freizeitbereich sowie als Staatsbürger.1083 Hierdurch wird der Jugendliche bzw. Heranwachsende insgesamt mit einem einschneidenden Makel behaftet1084, der im Einzelfall schwere seelische Belastungen nach sich ziehen kann1085. vgl. ähnl. auch schon Dallinger/Lackner, JGG, Vor § 94 Rn. 1 bzw. Vor § 97 Rn. 2 („RegEintrag gerade für den Jgl., der an der Schwelle des Berufslebens steht, ein Hemmschuh, weil die durch das Reg. ermöglichte Kenntnisnahme von den Vorstrafen die Berufswahl und das Fortkommen in dem erwählten Beruf [. . .] sehr erschwert“ bzw. „die Aufrechterhaltung der mit der Strafe verbundenen Diffamierung [. . .] würde in vielen Fällen bewirken, daß der eben erst an der Schwelle des Berufslebens Stehende überall auf verschlossene Türen stieße und namentlich in der Erlangung einer seiner Eignung und Neigung entsprechenden beruflichen Ausbildung nicht wieder auszugleichende Nachteile erlitte“); Potrykus, JGG, § 94 Bem. 1 bzw. § 97 Bem. 1 („Dem Problem der Eintragung [. . .] im Strafregister [. . .] kommt wegen der weitreichenden Folgen, die eine solche Eintragung für das Fortkommen und die Zukunft des erst am Beginn seines Lebens stehenden Jugendlichen hat, eine ganz besondere Bedeutung zu.“ [Hervorhebungen im Original in Fettdruck] bzw. „Die durch den Strafregistereintrag und die Auskunftserteilung aus dem Strafregister [. . .] ausgelösten Fernwirkungen der Strafe [. . .] erschweren [. . .], besonders bei Jugendlichen, das berufliche Fortkommen des Verurteilten, der z. B. einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beamtenlaufbahn anstrebt, zu dieser aber wegen der nachteiligen Strafregistereintragung nicht zugelassen werden kann.“). 1080 Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 36; vgl. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 416; Böhm/Feuerhelm, S. 277; vgl. dazu auch schon Potrykus, JGG, § 95 Bem. 5. 1081 Siehe oben bei und in Fn. 876. 1082 Ebenso – wenngleich im Konjunktiv („dürfte“) und in anderem Zusammenhang verwendet – D/S/S/Schoreit, JGG, § 98 Rn. 5. 1083 Vgl. Ostendorf, JGG, § 68 Rn. 3, Grdl. zu §§ 97–101 Rn. 3; Laubenthal/ Baier, Rn. 884 i. V. m. Rn. 891 (im Widerspruch zu Rn. 883: „Durch diese Registrierung wird der Betroffene nicht mit einem zusätzlichen Makel versehen.“); Meier/ Rössner/Schöch, § 1 Rn. 37, § 14 Rn. 34; Streng, Jugendstrafrecht, § 14 Rn. 1; vgl. auch schon Potrykus, JGG, § 95 Bem. 1.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
233
IV. Ergebnis zum Jugendstrafrecht Eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung der infolge einer vorverurteilenden Medienberichterstattung seitens des Betroffenen erlittenen Beeinträchtigungen lässt sich im Jugendstrafrecht auf die dogmatische Grundlage § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG stützen. Drittes Kapitel
Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung Eine strafmildernde Berücksichtigung vorverurteilender Medienberichterstattung bzw. ein diesbezügliches Absehen von Strafe i. S. der bisherigen Ausführungen ist nur möglich, wenn das gerichtliche Verfahren bereits bis in das Stadium der Hauptverhandlung gelangt ist1086 und daraufhin ein Urteilsspruch ergehen soll. Medienöffentliche Vorverurteilungen erfolgen nach den Gesetzen des publizistischen Marktes aber nicht erst während der Dauer einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung, sondern oftmals gerade auch schon in deren Vorfeld. Die Beeinträchtigungen, die daraus für den Betroffenen – und etwaigen späteren Angeklagten – resultieren können, sind nicht von grundlegend anderer Natur als diejenigen, die sich erst mit Beginn der Hauptverhandlung ergeben1087. Dies hat nicht zuletzt der Fall des „Autobahnrasers“ gezeigt.1088 Die Frage, ob die aus einer vorverurteilenden Berichterstattung in den Medien sich ergebenden Beeinträchtigungen auch schon zu einem früheren Verfahrenszeitpunkt – und nicht erst im Urteilsspruch des Gerichts – zugunsten des Betroffenen berücksichtigt werden können oder gar müssen, ist hiernach zu bejahen. Beim Wie einer solchen Berücksichtigung ist im Er1084 Speziell für das Jugendstrafrecht geht hiervon schon das Gesetz aus, wenn es unter bestimmten Voraussetzungen die „Beseitigung des Strafmakels“ (krit. zu dieser Begrifflichkeit Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 97–101 Rn. 5: „Zumindest indirekt wird damit eine moralische Abqualifizierung eingestanden, die aber nicht Sinn und Zweck der Verurteilung ist [. . .]: Nur die Tat ist negativ abzustempeln, dem Täter aber zu helfen.“; es handele sich daher insgesamt um eine „antiquierte Bezeichnung“, die aufzugeben sei) ermöglicht, siehe §§ 97 ff. JGG und dabei insb. § 97 Abs. 1 S. 1 JGG. 1085 Ebenso Schaffstein/Beulke, S. 307. 1086 Dies ist gemäß § 243 Abs. 1 S. 1 StPO mit dem Aufruf der Sache der Fall. 1087 Vgl. dazu oben 1. Teil 2. Kap. B. I. 4. 1088 Dazu insg. oben 1. Teil 1. Kap.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
wachsenenrecht1089 zuvörderst an die den Opportunitätsgrundsatz zum Ausdruck bringenden1090 Vorschriften der §§ 153 ff. StPO zu denken.
A. § 153b StPO In Anbetracht der zuvor erfolgten Grundlegung einer Berücksichtigung medienöffentlicher Vorverurteilung im Urteilsspruch u. a. unter dem Gesichtspunkt eines „Absehens von Strafe“ gemäß § 60 StGB1091 liegt – zumindest dem Wortlaut nach – innerhalb der §§ 153 ff. StPO eine Heranziehung von § 153b StPO am nächsten. Diese Vorschrift lautet1092: „§ 153b. Absehen von Klage; Einstellung (1) Liegen die Voraussetzungen vor, unter denen das Gericht von Strafe absehen könnte, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts, das für die Hauptverhandlung zuständig wäre, von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen. (2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht bis zum Beginn der Hauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen.“
Sie ermöglicht einen möglichst frühzeitigen Abbruch der Ermittlungen und (weiterer) der Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung dienender Schritte in Fällen, in denen zu erwarten steht1093, dass das Gericht ohnehin auf Grund materiellen Strafrechts von Strafe absehen wird. Die Einleitung und Durchführung eines vollständigen Strafverfahrens würde der Sache insoweit nämlich unnötiges Gewicht verleihen.1094
1089
Betr. Jugendliche und Heranwachsende siehe unten E. Beulke, Rn. 320, 333; Hellmann, Rn. 22, 56, 542, 555; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 4 Rn. 20, § 5 Rn. 4, § 10 Rn. 11, § 16 Rn. 32; Kramer, Rn. 272; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 1, 6 ff., § 38 Rn. 2. 1091 Nach hier vorgenommener Prüfung bedarf es zu einem „Absehen von Strafe“ auf Grund der aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung für den Betroffenen resultierenden Beeinträchtigungen einer Verknüpfung mit § 46 Abs. 2 StGB, siehe oben 2. Kap. B. IV. 1. b). Auf diese genaue Zitierung soll im Dritten Kapitel aus Gründen einer vereinfachten Darstellung insgesamt verzichtet werden. 1092 § 153b StPO in seiner noch heute gültigen Fassung wurde durch das StÄG aus dem Jahre 1951 zunächst als § 153a StPO eingeführt (vgl. Dallinger, in: JZ 1951, S. 622 ff.). 1093 Zum diesbezüglich erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad siehe etwa KK/ Schoreit, StPO, § 153b Rn. 4. 1094 Jescheck/Weigend, S. 868. 1090
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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I. Allgemeine Voraussetzungen und Beschränkungen Zunächst bedarf es für eine Anwendung des § 153b StPO einer Norm, nach der das Gericht von Strafe absehen könnte. In Betracht kommt hier speziell § 60 StGB (dazu sogleich 1.). Sodann müssten deren Voraussetzungen im Einzelnen vorliegen (dazu unter 2.). Weiterhin sind allgemeine Beschränkungen in der Anwendung zu beachten, wobei auch die Anwendungshäufigkeit zu bestimmen sein wird (dazu 3.). 1. § 60 StGB als Norm i. S. d. § 153b StPO Gegen die Einschlägigkeit des § 60 StGB im Rahmen des § 153b StPO spricht jedenfalls nicht, dass letztgenannte Vorschrift sich ihrem tatbestandlichen Wortlaut nach nur auf solche Fälle bezieht, in denen das Gericht materiellrechtlich von Strafe absehen „könnte“, wohingegen im Falle des § 60 StGB bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen das Absehen von Strafe obligatorischer Natur ist („sieht von Strafe ab“).1095 Denn ist eine Heranziehung des § 153b StPO nach der gesetzlichen Regelung schon zulässig, wenn das Gericht von Strafe absehen könnte, so ist dies erst recht anzunehmen, wenn diesem ein Absehen von Strafe nach den konkreten Umständen des Falles zwingend vorgegeben wäre.1096 Eine Heranziehung von § 153b StPO ist in einer solchen Fallkonstellation sogar nachdrücklich geboten. Dass die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht gemäß § 153b Abs. 1 bzw. 2 StPO dem Rechtsfolgen-Wortlaut zufolge von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen bzw. das Verfahren einstellen „kann“, während ein Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB bei Vorliegen der normativen Voraussetzungen zwingender Natur ist, bedeutet ebenfalls keinen inhaltlichen Widerspruch; es ermöglicht vielmehr eine ganz auf den Einzelfall bezogene strafprozessuale (Ermessens-)Entscheidung1097, die insbesondere zu berücksichtigen hat, dass der Beschuldigte wegen § 60 StGB wahrscheinlich1098 nicht bestraft werden kann. Weitere Gesichtspunkte, die gegen die Einschlägigkeit des § 60 StGB im Rahmen des § 153b StPO sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. § 60 StGB stellt daher eine Norm i. S. dieser Vorschrift dar.1099 1095
Ebenso LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 49; MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 33. Wie hier MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 33. 1097 Ebenso MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 33 („keinerlei Friktion im Verhältnis zur zwingenden Vorschrift des § 60“). 1098 Vgl. zu diesem Begriff oben bei und in Fn. 1093. 1099 So auch die ganz h. M.: AK/Schöch, StPO, § 153b Rn. 3; AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 3; HK/Krehl, StPO, § 153b Rn. 2; KK/Schoreit, StPO, § 153b 1096
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
2. Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelnen Hinsichtlich der einzelnen Voraussetzungen des § 60 StGB kann allgemein auf obige Ausführungen1100 verwiesen werden. Eines besonderen Hinweises bedarf lediglich der Umstand, dass bei einer Beendigung des Verfahrens auf der Grundlage von § 153b StPO die – gemäß § 260 Abs. 4 S. 4 StPO im Falle eines § 60 StGB berücksichtigenden Urteilsspruchs stets vorzunehmende – formelle Feststellung der Schuld entfällt. Daher wird speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung neben der Prüfung, ob die Verhängung einer Strafe infolge der bereits erlittenen Beeinträchtigungen i. S. d. § 60 StGB „offensichtlich verfehlt“ wäre, besonders der Frage nachzugehen sein, ob die Durchführung eines Strafverfahrens sowie ein dieses etwaig abschließender formeller Schuldspruch tatsächlich entbehrlich sind oder aber ob diese oder jene strafzweckbezogene Erwägung1101 einen solchen Fortgang des Verfahrens erforderlich macht.1102 Die insoweit anzustellenden Überlegungen können ergeben, dass dem Betroffenen schon das häufig mit starken zusätzlichen Beeinträchtigungen verbundene1103 weitere Verfahren erspart bleiben muss.1104 Sie können aber auch zur Folge haben, dass im Zusammenhang mit einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung1105 zumindest ein formeller Schuldspruch erzielt und zu diesem Zweck zunächst die öffentliche Klage erhoben (vgl. § 153b Abs. 1 StPO) bzw. die Hauptverhandlung eröffnet (vgl. § 153b Abs. 2 StPO) werden soll. Da ein grundsätzlicher Ausschluss des § 153b StPO für strafrechtlich relevante Geschehensabläufe, die nach allgemeinem Recht VerbrechensRn. 2; KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 1 f.; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 1, 3; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 1; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 3; Kramer, Rn. 274; Ranft, Rn. 1174, 1176; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 7; vgl. Horstkotte, in: JZ 1970, S. 12; Wagner, in: GA 1972, S. 33, 50 (beide zu § 16 StGB a. F. = § 60 StGB, § 153a StPO a. F. = § 153b StPO); einschr. Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 1; krit. Schroeder, Rn. 7 („fragt sich [. . .], was dieser umständliche Umweg über das materielle Recht soll“). – Zu weiteren Anwendungsfällen des § 153b StPO vgl. oben Fn. 592. 1100 Siehe 2. Kap. B. III. 3. 1101 Vgl. dazu oben 2. Kap. B. III. 1. 1102 LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 49; vgl. Wagner, in: GA 1972, S. 34, 44 ff. 1103 Zu Nachw. siehe oben Fn. 89. 1104 Allgemein namentlich in Fällen, in denen schon die Durchführung eines Verfahrens gegen den in hohem Maße selbstgeschädigten Täter inadäquat erscheint, vgl. Horstkotte, in: JZ 1970, S. 128. – Krit. hinsichtlich der Möglichkeit, das Verfahren in Fällen des § 60 StGB bereits im Ermittlungsverfahren und damit ohne Anklageerhebung zu beenden, Jescheck/Weigend, S. 864; dagegen völlig zu Recht MK/Groß, StGB, § 60 Rn. 33. 1105 Siehe dazu oben 2. Kap.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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charakter i. S. d. § 12 Abs. 1 StGB aufweisen, dem Gesetzeswortlaut zufolge nicht besteht,1106 sind die Vorschriften des § 153b Abs. 1 und 2 StPO für alle denkbaren Fallkonstellationen vorverurteilender Medienberichterstattung1107 anwendungsgeeignet. Bei Vorliegen mehrerer Gesetzesverletzungen (vgl. §§ 52, 53 StGB) gelten die Ausführungen zu § 60 StGB1108 mutatis mutandis entsprechend. So bezieht sich § 153b StPO in derartigen Fällen nur dann auf sämtliche als einschlägig beurteilten Tatbestände – mit der Folge, dass insgesamt von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen (Abs. 1) bzw. das Verfahren eingestellt (Abs. 2) werden kann –, wenn die Voraussetzungen des § 153b StPO bezüglich jedes einzelnen dieser Tatbestände vorliegen.1109 Andernfalls muss jedenfalls hinsichtlich desjenigen Tatbestandes, bei dem dies nicht der Fall ist, das Verfahren weiter betrieben werden. 3. Allgemeine Beschränkungen in der Anwendung und Anwendungshäufigkeit Im Verhältnis zu der das Legalitätsprinzip ausprägenden1110 Vorschrift des § 170 Abs. 2 StPO gilt, dass § 153b Abs. 1 StPO nur dann in Betracht kommt, wenn das Verfahren nicht schon auf Grund jener Vorschrift von der Staatsanwaltschaft einzustellen ist.1111 Dies ist namentlich der Fall bei einem mangelnden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage.1112 Entsprechend der „Natur“ der Institute Absehen von Klage (Abs. 1) und Einstellung des Verfahrens (Abs. 2) ist die Entscheidung im Rahmen des § 153b StPO ferner nur gemäß dem Prinzip „Alles oder nichts“ möglich. 1106
Arg. e contr. aus §§ 153, 153a StPO; im Ergebnis ebenso AK/Schöch, StPO, § 153b Rn. 1; AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 1, 3; KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 1; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 3. 1107 Zu solchen siehe oben 2. Kap. B. IV. 2. d) bb). 1108 Siehe oben 2. Kap. B. III. 4. c) am Anfang. 1109 Vgl. BayObLG NJW 1972, 696; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 1. 1110 Beulke, Rn. 17, 320; Hellmann, Rn. 56; Kramer, Rn. 267; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 5, § 38 Rn. 6; näher zum Legalitätsprinzip schon Geppert, in: Jura 1982, S. 139 ff.; Rieß, in: NStZ 1981, S. 2 ff.; krit. zu seiner Zurückdrängung angesichts einer knapper werdenden „Ressource des staatlichen Strafanspruchs“ siehe Herzog, Strafprozess, S. 29 f. 1111 HK/Krehl, StPO, § 153b Rn. 2; KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 3; KMR/ Plöd, StPO, § 153b Rn. 4; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 6; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 1; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 5. 1112 Ein „genügender“ Anlass in diesem Sinne besteht, wenn kein Verfahrenshindernis gegeben ist, das Verfahren nicht (anderweitig) gemäß §§ 153 ff. StPO einzustellen ist und darüber hinaus ein hinreichender Tatverdacht i. S. d. § 203 StPO besteht (siehe nur Meyer-Goßner, StPO, § 170 Rn. 1).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Nicht in Betracht kommt demgegenüber eine verfahrensrechtliche „Vorstufe“, wie sie materiellrechtlich im Rahmen dieser Arbeit für bestimmte Fallgestaltungen durch den möglichen Ausspruch auch einer bloßen Strafmilderung legitimiert worden ist1113. Denn ein lediglich partielles staatsanwaltschaftliches Absehen von Klage gemäß § 153b Abs. 1 StPO oder eine gerichtliche Einstellung des Verfahrens nach § 153b Abs. 2 StPO nur in Teilen sind insoweit1114 schon allgemeiner Denklogik zufolge nicht eröffnet. In solchen Fällen bedarf es vielmehr der staatsanwaltlichen bzw. richterlichen Einschätzung zufolge noch der Verhängung einer – wenngleich abgemilderten – („Rest“-)Freiheitsstrafe, die ausschließlich im Verfahren selbst ausgesprochen werden kann. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich daher lediglich auf diejenigen Fälle, in denen materiellrechtlich auf Grund der mit einer vorverurteilenden Medienberichterstattung einhergegangenen Beeinträchtigungen des Betroffenen ein völliges Absehen von Strafe zu erwarten wäre1115. Da dies nach den oben festgesetzten Maßstäben1116 nur in ganz besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt, hat auch eine Heranziehung des § 153b StPO insoweit die absolute Ausnahme zu bleiben1117. II. Besondere Voraussetzungen und Beschränkungen Nachdem zuvor die grundsätzliche Einschlägigkeit des § 153b StPO in (ganz besonderen Ausnahme-)Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung aufgezeigt, bestehende allgemeine Beschränkungen in der Anwendung dargetan und die Anwendungshäufigkeit bestimmt wurden, soll sich nun den besonderen Voraussetzungen und Beschränkungen der beiden Absätze dieser Norm zugewandt werden (nachfolgend 1. und 2.). Dabei wird insbesondere auch auf das genaue Verhältnis der Anwendung von Abs. 1 gegenüber derjenigen von Abs. 2 einzugehen sein (dazu abschließend 3.). 1. Absehen von Klage nach § 153b Abs. 1 StPO Während des Ermittlungsverfahrens ist allein § 153b Abs. 1 StPO einschlägig. Hiernach ist die Staatsanwaltschaft bei Vorliegen der allgemeinen 1113
Vgl. oben 2. Kap. B. IV. 1., 2. Hiervon strikt zu trennen ist die Frage nach der Handhabung der Vorschrift bei Vorliegen mehrerer Gesetzesverletzungen gemäß §§ 52 f. StGB, siehe dazu oben 2. am Ende. 1115 Siehe schon oben bei Fn. 1093. 1116 Siehe 2. Kap. B. IV. 2. d) aa). 1117 Zu denkbaren Fallgruppen vgl. oben 2. Kap. B. IV. 2. d) bb). 1114
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Voraussetzungen1118 dazu befugt, von der Erhebung der öffentlichen Klage (endgültig) abzusehen. Diese Ausnahme vom Legalitätsprinzip (vgl. § 152 Abs. 2 StPO) soll indes vom Gericht mitverantwortet werden.1119 Daher ist die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung nicht gänzlich ungebunden, vielmehr trifft sie diese im Zusammenwirken mit dem Gericht, „das für die Hauptverhandlung zuständig wäre“. Dieses Gericht, dessen Zustimmung es bedarf, ist wie in den Fällen der §§ 153 Abs. 1, 153a Abs. 1 StPO dasjenige, das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre.1120 Macht die Staatsanwaltschaft von § 153b Abs. 1 StPO Gebrauch, vermerkt sie dies in der sog. Abschlussverfügung.1121 Wie sich im Umkehrschluss aus § 464 Abs. 1 StPO ergibt, enthält diese Verfügung keine Entscheidung darüber, wer die Kosten des Verfahrens trägt. 2. Einstellung des Verfahrens gemäß § 153b Abs. 2 StPO Nach Klageerhebung und bis zum Beginn der Hauptverhandlung1122 – also im Zwischenverfahren und während der Vorbereitung der Hauptverhandlung – richtet sich das Verfahren dem Wortlaut des § 153b Abs. 2 StPO zufolge nach dieser Norm. Hiernach kann das Gericht bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen1123 das Verfahren (endgültig) einstellen. Spiegelbildlich zu § 153b Abs. 1 StPO bedarf das Gericht insoweit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, die dadurch in die Lage versetzt werden soll, ihren sich aus dem „Anklagemonopol“ ergebenden Verpflichtun1118
Siehe dazu oben I. Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 2 i. V. m. § 153 Rn. 10. 1120 AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 5; KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 5; KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 2; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 10. – Zu Einzelfragen betr. die Zustimmung des Gerichts siehe KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 5 i. V. m. § 153 Rn. 28 ff. 1121 LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 15; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 2. – Entgegen der allgemein in Fällen des § 153b StPO geltenden Richtschnur (siehe Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 2) ist eine Verfolgung von Straftaten durch den Verletzten im Wege der Privatklage (§ 374 ff. StPO) im vorliegenden Zusammenhang ausnahmsweise als unzulässig zu beurteilen, da andernfalls zu besorgen wäre, dass die der Verfahrenseinstellung speziell zugrunde liegenden Erwägungen einer vorverurteilenden Medienberichterstattung nachhaltig konterkariert würden. 1122 Insoweit in Abweichung etwa zu den §§ 153 Abs. 2 bzw. 153a Abs. 2 StPO („in jeder Lage des Verfahrens“ bzw. „bis zum Ende der Hauptverhandlung, in der die tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden können“). 1123 Dass die allgemeinen Voraussetzungen (siehe dazu oben I.) hier ebenfalls erfüllt sein müssen, ergibt sich zwar nicht aus dem Gesetzeswortlaut, aber aus dem Systemzusammenhang mit § 153b Abs. 1 StPO. 1119
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
gen nachzukommen1124. Auch hier erfolgt die Entscheidung letztlich also erst im Zusammenwirken der beiden Institutionen Staatsanwaltschaft und Gericht. Darüber hinaus muss dem Gesetzeswortlaut zufolge auch der Angeschuldigte mit dem Abbruch des Verfahrens einverstanden sein und diesbezüglich seine Zustimmung erteilen. Denn nach Erhebung der Anklage kann für den Betroffenen ein im Einzelfall gesteigertes Interesse daran bestehen, sich in einem förmlichen Strafverfahren verteidigen und im Ergebnis einen „Freispruch“ erwirken zu können1125, unbeschadet dessen er hierdurch zugleich das Risiko einer Verurteilung zu tragen hat. Speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung kann sich ein solches Interesse des Angeschuldigten insbesondere dann ergeben, wenn in der Öffentlichkeit wahrheitswidrig verbreitete, d.h. nur vermeintlich die Erfüllung von Straftatbeständen betreffende Informationen vor Gericht entkräftet werden sollen. Allerdings dürfte dieses Interesse des Angeschuldigten im vorliegenden Zusammenhang in aller Regel hinter den Umstand zurücktreten, infolge einer Einstellung des Verfahrens möglichst schnell aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gelangen zu können. In derartigen Fällen, in denen das Gericht unter Zustimmung des Angeschuldigten das Verfahren einzustellen beabsichtigt, wird man zugleich von einer regelmäßigen Pflicht der Staatsanwaltschaft ausgehen müssen, ihrerseits der Einstellung des Verfahrens zuzustimmen.1126 Die Einstellung des Verfahrens ergeht in entsprechender Anwendung der §§ 153 Abs. 2 S. 3, 153a Abs. 2 S. 3 StPO durch Beschluss. Dieser muss auch Bestimmungen über die Nebenentscheidungen treffen. So fallen gemäß § 467 Abs. 1 StPO die Kosten des Verfahrens grundsätzlich der Staatskasse zur Last. Das Gericht kann aber in Fällen des § 153b Abs. 2 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, vgl. § 467 Abs. 4 StPO.1127
1124 KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 50; vgl. BGHZ 64, 347 (350); Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rn. 26. 1125 Ebenso KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 52; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34 i. V. m. Rn. 27; Ranft, Rn. 1172; vgl. Dallinger, in: JZ 1951, S. 623 (zu § 153a Abs. 2 StPO a. F. = § 153b Abs. 2 StPO). 1126 Vgl. Kramer, Rn. 272 (zu Fällen überlanger Verfahrensdauer i. R. d. § 153 StPO); Terbach, in: NStZ 1998, S. 174 ff., 176 (zu §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO). 1127 Zu weiteren Ausnahmen siehe § 467 Abs. 2, 3 und 5 StPO.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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3. Anwendungsverhältnis nach dem Stand des Verfahrens Das Verhältnis der beiden Absätze des § 153b StPO bestimmt sich im Ergebnis wie folgt nach dem Verfahrensstand: Abs. 1 ist ausschließlich im Laufe des Ermittlungsverfahrens anwendbar und ermöglicht es der Staatsanwaltschaft, von der Erhebung der öffentlichen Klage abzusehen. Hingegen ist eine Einstellung des Verfahrens durch das Gericht gemäß Abs. 2 nur eröffnet, wenn zum einen die Klage bereits erhoben ist und zum anderen die Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat. Mit Beginn der Hauptverhandlung wird der Anwendungsbereich des § 153b StPO insgesamt verlassen. Bei Eintritt in dieses Verfahrensstadium ist aber eine Berücksichtigung vorverurteilender Gesichtspunkte in der Form einer Strafmilderung oder gar eines völligen Absehens von Strafe im Urteilsspruch möglich.1128 Alles in allem handelt es sich bei § 153b StPO um das prozessuale Korrelat der materiellrechtlichen Vorschrift des § 60 StGB, das eine Berücksichtigung in Rede stehender Umstände bereits in dessen Vorfeld ermöglicht. Zutreffend ist daher die Ansicht1129, wonach § 60 StGB durch § 153b StPO ergänzt wird.1130 III. Rechtsbehelfe des Betroffenen Ein gegen den ablehnenden Bescheid der Staatsanwaltschaft1131 gerichteter Antrag auf Erzwingung eines gerichtlichen Verfahrens (sog. Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 StPO1132) kommt nicht dem von der Vorverurteilung Betroffenen, sondern dem durch die mutmaßlich zugrunde 1128
Siehe insoweit die Ergebnisse des Zweiten Kapitels (dort unter B. IV. 1., 2.). Fischer, StGB, § 60 Rn. 2; LK/G. Hirsch, StGB, § 60 Rn. 49; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 1; vgl. SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 1. 1130 Nicht unerwartet teilt § 153b StPO deshalb das gleiche „Schicksal“ mit jener Norm (siehe oben bei und in Fn. 596), insoweit die Vorschrift in der staatsanwaltschaftlichen (Abs. 1) und strafgerichtlichen (Abs. 2) Praxis nur eher selten zur Anwendung gelangt und in den die Einstellung des Verfahrens betreffenden Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (Nrn. 88 ff. RiStBV) – mit Ausnahme der Nr. 89 Abs. 3 RiStBV – keine gesonderte Erwähnung findet. Dieser Umstand setzt sich fort in einer entsprechenden (Nicht-)Berücksichtigung durch die einschlägige Fachliteratur: In den Lehrbüchern zum Strafprozessrecht von Beulke bzw. Hellmann beispielsweise wird § 153b StPO nicht näher behandelt und lediglich unter „Weitere“ bzw. „Sonstige“ Einstellungsmöglichkeiten (Rn. 341 bzw. Rn. 575) aufgezählt, obwohl die Ausführungen zu den §§ 153 ff. StPO insgesamt mehr als sieben bzw. fünf Seiten (Rn. 334–341 bzw. Rn. 555–575) umfassen. 1131 Zur sog. Abschlussverfügung vgl. schon oben bei Fn. 1121. 1132 Dazu Beulke, Rn. 344 ff.; ferner schon Geppert, in: Jura 1982, S. 143 ff.; Rieß, in: NStZ 1981, S. 9; ausf. Küpper, in: Jura 1989, S. 281 ff. 1129
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
liegende Straftat Verletzten zugute und ist ohnehin gemäß § 172 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 Alt. 2 StPO in Fällen des § 153b Abs. 1 StPO ausnahmsweise nicht zulässig. Der bei § 153b Abs. 2 StPO erfolgende Einstellungsbeschluss des Gerichts1133 unterliegt nicht der Anfechtung seitens der Staatsanwaltschaft oder des Angeschuldigten.1134 Für den Fall eines gesetzmäßigen Verfahrens, das heißt bei Vorliegen sämtlicher Prozessvoraussetzungen, steht den Verfahrensbeteiligten auch die Beschwerde gemäß §§ 304 ff. StPO nicht zu.1135 So etwa, wenn im Rahmen des § 153b Abs. 1 StPO die gerichtliche Erteilung oder Versagung der Zustimmung an sich angegriffen werden soll.1136 Gleiches gilt, wenn ein an das Gericht gestellter Antrag auf Einstellung des Verfahrens gemäß § 153b Abs. 2 StPO keine Beachtung findet.1137 Anders liegt es, wenn in Fällen des § 153b Abs. 2 StPO die erforderliche Zustimmung von Staatsanwaltschaft oder Angeschuldigtem1138 nicht oder nicht wirksam erteilt und das Verfahren dessen ungeachtet beendet wurde.1139 In derartigen Fallkonstellationen kann Beschwerde erhoben werden. Die Revision schließlich kann nicht allein darauf gestützt werden, dass § 153b Abs. 2 StPO fälschlicherweise angewendet wurde bzw. dass dies irr1133
Vgl. oben II. 2. am Ende. Vgl. §§ 153 Abs. 2 S. 4, 153 Abs. 2 S. 4 StPO; ebenso AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 12; KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 9; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 20 i. V. m. § 153 Rn. 82; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 5 i. V. m. § 153 Rn. 10; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 16 i. V. m. § 153 Rn. 65; siehe auch schon Dallinger, in: JZ 1951, S. 623 bei und in Fn. 26 (zu § 153a Abs. 2 StPO a. F. = § 153b Abs. 2 StPO). 1135 Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 5 i. V. m. § 153 Rn. 10. 1136 Es handelt sich hierbei um eine bloße Prozesserklärung; siehe KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 5 i. V. m. § 153 Rn. 30 f.; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34 i. V. m. Rn. 11; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 16 i. V. m. § 153 Rn. 62. 1137 Ebenfalls (vgl. vorherige Fn. 1136) bloße Prozesserklärung; siehe KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 9 i. V. m. § 153 Rn. 61; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 35; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 16 i. V. m. § 153 Rn. 62. 1138 Dem Angeschuldigten steht hier das Beschwerderecht unbeschadet der Tatsache zu, dass ihn die Verfahrenseinstellung der Natur der Sache nach eigentlich nicht „beschwert“, da insoweit sein „verfahrensrechtliches Mitspracherecht“ verletzt ist (Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34). 1139 AK/Schöch, StPO, § 153b Rn. 11; AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 12; HK/ Krehl, StPO, § 153b Rn. 9; KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 9; KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 11; LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 20 i. V. m. § 153 Rn. 82; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 6 i. V. m. § 153 Rn. 34; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 5 i. V. m. § 153 Rn. 10; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 16 i. V. m. § 153 Rn. 65 f. 1134
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tümlich nicht geschehen ist; auf die Sachrüge hin kann das Revisionsgericht aber überprüfen, ob von Strafe hätte abgesehen werden müssen und das Verfahren sodann gegebenenfalls gemäß § 354 Abs. 1 StPO einstellen1140, andernfalls die Sache unter Aufhebung der Entscheidung zurückverweisen.1141 IV. Kein Registereintrag Wie sich im Umkehrschluss aus dem Nichtvorhandensein einer entsprechenden Regelung in den §§ 3 ff. BZRG ergibt, werden Entscheidungen nach § 153b Abs. 1 und 2 StPO nicht in das Bundeszentralregister eingetragen.1142 V. Zwischenergebnis zum Erwachsenenstrafverfahren Im Erwachsenenstrafverfahren können die sich aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung ergebenden Beeinträchtigungen des Betroffenen über § 153b Abs. 1 und 2 StPO bereits vor Beginn der Hauptverhandlung berücksichtigt werden.
B. §§ 153, 153a StPO Es stellt sich die Frage, ob speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung darüber hinaus auch die sonstigen Diversionsvorschriften, insbesondere diejenigen der §§ 153, 153a StPO, anwendbar sind. Dazu ist anzumerken, dass diese Normen schon von ihrem allgemeinen Wortlaut her nicht zu einer Berücksichtigung speziell vorverurteilender 1140
Zu den näheren Voraussetzungen siehe den Gesetzestext. LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 22; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 5. 1142 Im Ergebnis ebenso Götz/Tolzmann, BZRG, § 3 Rn. 4, 16; Rebmann/Uhlig, BZRG, (§ 60 Rn. 18 i. V. m.) § 3 Rn. 16; krit. betr. die Nichteintragung von Entscheidungen nach den §§ 153 ff. StPO in das Bundeszentralregister Rebmann/Uhlig, BZRG, Einl. Rn. 46, § 3 Rn. 16 ff. – Zur Streitfrage, ob das Verwertungsverbot des § 51 BZRG in Fällen nicht registerpflichtiger Verfahrensbeendigungen gemäß §§ 153 ff. StPO, bei denen das Tatgeschehen und die Verurteilung – etwa durch eine noch in den Akten befindliche Auskunft (vgl. dazu Nr. 13 Abs. 1 S. 4 RiStBV), Äußerungen des Betroffenen oder Mitteilungen von dritter Seite – dennoch öffentlich werden, entsprechende Anwendung finden muss, siehe Götz/Tolzmann a. a. O., § 51 Rn. 7, 40 i. V. m. Rn. 49; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 51 Rn. 8, 10; jeweils m. w. N. Umstritten ist ferner, ob das Verschweigerecht des § 53 BZRG in Fällen der §§ 153 ff. StPO analog anwendbar ist (siehe dazu Götz/Tolzmann a. a. O., § 53 Rn. 5 m. w. N.; Hase, BZRG, § 53 Rn. 2; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 53 Rn. 3). 1141
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Gesichtspunkte geeignet sind. Insbesondere ist die Frage danach, ob „die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre“ (§ 153 StPO) bzw. ob einem Abbruch des Verfahrens nicht „die Schwere der Schuld (. . .) entgegensteht“ (§ 153a StPO), letztlich völlig unabhängig davon zu beantworten, ob der Beschuldigte medienöffentlich vorverurteilt wurde.1143 Die inhaltlichen „Verrenkungen“, die Schulz1144 insoweit innerhalb der genannten Gesetzesmerkmale anstellt, um die Vorschriften dennoch zur Anwendung gelangen zu lassen, sind auf den ersten Blick daher nicht recht nachvollziehbar.1145 Sie werden es erst unter Berücksichtigung des Eindruckes, dass er § 153b StPO gänzlich übersehen zu haben scheint1146 und daher andere Vorschriften in Bezug nehmen musste, deren Anwendungsbereich er in der Folge (zu) sehr ausdehnt. Die §§ 153, 153a StPO können aber aus anderen als aus vorverurteilenden Gesichtspunkten in Betracht kommen. Um abschließend ihr Anwendungsverhältnis zu § 153b StPO bestimmen zu können (dazu unter III.), soll sich diesen Vorschriften hier zumindest kurz zugewendet werden (nachfolgend I. und II.). I. Inhaltliche Voraussetzungen Gemäß § 153 StPO können Staatsanwaltschaft (Abs. 1) bzw. Gericht (Abs. 2) endgültig von der Verfolgung eines Vergehens absehen bzw. das Verfahren diesbezüglich einstellen, „wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht“. Da es sich insoweit inhaltlich um allgemeine Fragestellungen des § 153 StPO handelt, bedarf es hierzu im Rahmen dieser Arbeit keiner weiteren Erörterungen.1147 1143 Auch die inhaltliche Beschränkung auf Vergehen i. S. d. § 12 Abs. 2 StGB macht die Vorschriften dem reinen Wortlaut zufolge bei einer nicht unerheblichen Zahl von Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung ungeeignet. – Ohne nähere Angabe von Gründen a. A. Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 430 („In geeigneten Fällen. . .“). Im Ergebnis wie hier Weiler, in: StraFo 2003, S. 190: „Das Verfahren soll aus Opportunitätsgründen wegen fehlenden oder abdingbaren öffentlichen Strafverfolgungsinteresses eingestellt werden, weil ein Zuviel an Medienöffentlichkeit sich im Verfahren schädlich ausgewirkt hat. Das wirkt paradox (. . .).“. 1144 Schulz, S. 126 ff., insb. S. 128 ff. 1145 Schulz, S. 128 räumt in diesem Zusammenhang selbst ein, bei der erforderlichen Bejahung einer geringen (§ 153 StPO) bzw. Verneinung einer schweren (§ 153a StPO) Schuld ergäben sich „größere Schwierigkeiten“, weshalb eine Anwendung der §§ 153, 153a StPO schon „im Hinblick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm schwierig“ erscheine. 1146 Schulz erwähnt § 153b StPO in seinen Ausführungen nicht ein einziges Mal. 1147 Es sei vielmehr auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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Nach § 153a StPO können Staatsanwaltschaft (Abs. 1) bzw. Gericht (Abs. 2) bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen bzw. das Verfahren diesbezüglich einstellen, wenn Auflagen oder Weisungen erteilt werden können, die „geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.“ Da auch insoweit allgemeine Fragestellungen, nunmehr solche im Rahmen des § 153a StPO, zu behandeln wären, sollen hierzu an dieser Stelle ebenfalls keine näheren Betrachtungen erfolgen.1148 II. Kein Registereintrag Entscheidungen nach den §§ 153, 153a StPO werden wie solche nach § 153b StPO1149 nicht in das Bundeszentralregister eingetragen.1150 III. Konkurrenzverhältnis: § 153b StPO und §§ 153 bzw. 153a StPO Die §§ 153 Abs. 1, 153a Abs. 1 und 153b Abs. 1 StPO schließen einander nicht grundsätzlich aus.1151 Gleiches wird für die gerichtliche Einstellung des Verfahrens nach dem jeweiligen Abs. 2 der genannten Vorschriften zu gelten haben. Speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung werden indes in aller Regel allein die Vorschriften des § 153b StPO in Bezug zu nehmen sein, sofern auch deren Voraussetzungen vorliegen. Denn nur auf diesem Wege können die besonderen Beeinträchtigungen des Betroffenen deutlich herausgestellt werden und kann zugleich eine staatliche „Missbilligung“ des konkreten Tätigwerdens der Medien zum Ausdruck gebracht werden. Dies gilt insbesondere im Verhältnis zu § 153 StPO. Soweit es in bestimmten Fallkonstellationen ausnahmsweise doch einmal zweckmäßig erscheinen mag, dem Beschuldigten bei einer von der Erhebung der öffentlichen Klage absehenden bzw. das Verfahren einstellenden Entscheidung zugleich Auflagen 1148 Auch hier ist daher lediglich auf die einschlägigen Kommentierungen zu verweisen. 1149 Siehe oben A. IV. 1150 Vgl. insoweit zunächst die Nachw. bei § 153b StPO (Fn. 1142). – Krit. betr. die Nichteintragung speziell von Entscheidungen nach § 153 StPO bzw. § 153a StPO im Bundeszentralregister zudem Rebmann/Uhlig, BZRG, § 3 Rn. 17 bzw. Götz/Tolzmann, BZRG, § 4 Rn. 15; Rebmann/Uhlig, BZRG, Vor § 30 Rn. 17. 1151 Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 2; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 2; ähnl. KK/ Schoreit, StPO, § 153b Rn. 3 und KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 4, wonach (fakultativ) nach § 153b StPO verfahren werden kann; teils a. A. LR/Beulke, StPO, § 153b Rn. 7.
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und/oder Weisungen gemäß § 153a Abs. 1 bzw. Abs. 2 StPO zu erteilen – deren Nichtbefolgung die Fortsetzung des Verfahrens zur Folge hätte –, um in dieser oder jener Hinsicht auf den Beschuldigten einzuwirken, ist dennoch ebenfalls von einem grundsätzlichen Vorrang des § 153b StPO auszugehen. Denn in derartigen Fällen wird es auf Grund der bereits erfolgten Vorverurteilung zumeist gleichermaßen geboten sein, das Verfahren im Ganzen und endgültig abzubrechen und diese Entscheidung nicht etwa davon abhängig zu machen, ob der Beschuldigte erteilten Auflagen und/oder Weisungen innerhalb einer hierzu gesetzten Frist nachkommt (so aber die gesetzliche Regelung in § 153a Abs. 1 S. 3 und 5, Abs. 2 S. 2 StPO).
C. Weitere Vorschriften Die §§ 153c-f, 154, 154a-e StPO sind inhaltlich ebenfalls nicht zu einer Einbeziehung speziell vorverurteilender Gesichtspunkte geeignet und auf Grund ihres ohnehin bestehenden besonderen Normcharakters daher separat zu beurteilen.1152 § 153b StPO wird aus den zuvor zum Verhältnis gegenüber §§ 153, 153a StPO genannten Gründen auch insoweit vorrangig heranzuziehen sein.
D. Ergebnis zum Erwachsenenstrafverfahren Eine strafprozessuale Berücksichtigung der sich aus einer vorverurteilenden Berichterstattung in den Medien für den Betroffenen ergebenden Beeinträchtigungen ist im Erwachsenenstrafverfahren über § 153b Abs. 1 und 2 StPO möglich.
E. Im Speziellen: Jugendliche und heranwachsende Beschuldigte Auch bei Jugendlichen sowie Heranwachsenden – genauer: Heranwachsenden, auf die gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 105 Abs. 1 JGG formelles Jugendstrafrecht zur Anwendung gelangt1153 – können sich aus einer vorverurteilenden Medienberichterstattung nachhaltige Beeinträchtigungen bereits im Vorfeld einer gerichtlichen Hauptverhandlung ergeben haben. 1152 Auch diesbezüglich soll auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen werden. 1153 Hinsichtlich derjenigen heranwachsenden Beschuldigten, die gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG i. V. m. § 105 Abs. 1 JGG nach formellem Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen sind, gelten die voranstehenden Ausführungen zum Erwachsenenrecht entsprechend.
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Für diesen Personenkreis muss die Frage, ob derartige Beeinträchtigungen nicht bereits früher als erst im Urteilsspruch berücksichtigt werden können oder gar müssen, ebenfalls bejaht werden. Hinsichtlich des Wie einer solchen Berücksichtigung durch eine vorzeitige Beendigung des Verfahrens sind – über die zuvor für das Erwachsenenstrafverfahren geprüften Normen hinaus – möglicherweise die jugendstrafrechtlichen (Sonder-)Vorschriften der §§ 45, 47 JGG1154 relevant. Die §§ 45, 47 JGG sind Ausdruck des sog. Subsidiaritätsprinzips1155, wonach zum einen eine Anklageerhebung nur dann in Betracht kommt, wenn die informelle Erledigung der Sache seitens der Staatsanwaltschaft nicht ausreicht,1156 und das zum anderen die Verhängung formeller Sanktionen durch das Gericht nur in solchen Fällen erlaubt, in denen dies zwingend erforderlich ist.1157 Die Vorschriften bezwecken1158 – und bewirken auch tatsächlich1159 – eine erhebliche Verkürzung der Dauer jugendstrafrechtlicher Verfahren und dienen somit dem Grundsatz der Beschleunigung1160; zu1154 Sog. Diversion (= „Ablenkung“, „Umleitung“ oder „Wegführung“; von engl. to divert), das heißt Beendigung eines Strafverfahrens ohne eine mittels Urteilsspruchs erfolgende förmliche Sanktionierung des Täters (siehe dazu etwa Brunner/ Dölling, JGG, § 45 Rn. 4; Heinz, in: DVJJ-J 1998, S. 245; Sessar/Hering, S. 372; ausf. Nix/Rzepka, JGG, Vor §§ 45, 47 Rn. 1 ff.; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 25 ff.; Walter, in: ZStW 95 [1983], S. 33 ff.; mit umfassender Statistik zur Anwendungspraxis Heinz, in: ZStW 104 [1992], S. 591 ff. und ders., in: DVJJ-J 1998, S. 247 ff.). Gemäß § 109 Abs. 2 S. 1 JGG finden die Vorschriften unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG auf Heranwachsende entsprechende Anwendung (vgl. auch § 45 Nr. 5 RLJGG). Dies gilt hinsichtlich § 45 JGG unbeschadet dessen, dass § 109 Abs. 2 S. 1 JGG sich seinem Wortlaut nach nur an den Richter wendet (Eisenberg, JGG, § 109 Rn. 15; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 1; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 1, § 109 Rn. 5; siehe auch Brunner/Dölling, JGG, § 109 Rn. 5 und § 109 Nr. 5 RLJGG; a. A. Böhm/Feuerhelm, S. 47, 105). Für § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 JGG (fehlende Reife i. S. d. § 3 S. 1 JGG) gilt dies naturgemäß nicht (daher in § 109 Abs. 2 S. 1 JGG auch nicht in Bezug genommen). 1155 Dazu Brunner/Dölling, JGG, Einf. II Rn. 18 ff., § 45 Rn. 4; Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 6; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 9; Schaffstein/Beulke, S. 236; Nothacker, in: JZ 1982, S. 58; Ostendorf, in: StV 2002, S. 441. 1156 Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 6: „Der Vorrang des Erziehungsgedankens führt zur Subsidiarität des Strafverfahrens.“; nahezu gleichlautend Peters, S. 600. 1157 Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 34; ähnl. Bohnert, in: NJW 1980, S. 1928; Nothacker, in: JZ 1982, S. 59, 60. 1158 Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 592; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 11; vgl. auch Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 34. 1159 Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 17a; Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 625; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 18; vgl. Hering/Sessar, S. 99 ff., 112; Sessar/Hering, S. 392 ff. 1160 Sog. Beschleunigungsgebot; dazu und zu Weiterentwicklungsbestrebungen der 2. Jugendstrafrechtsreformkommission der DVJJ siehe Ostendorf, in: StV 2002, S. 442.
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gleich zielen sie ab auf eine Minimierung der insbesondere auch mit der Einleitung und Durchführung eines förmlichen Verfahrens stets einhergehenden Stigmatisierungs-1161 und Entsozialisierungseffekte1162, weshalb etwaige Möglichkeiten ihrer Anwendung insgesamt einer besonders intensiven Prüfung bedürfen.1163 Bei der Frage danach, welche konkrete Bestimmung innerhalb der §§ 45, 47 JGG im vorliegenden Zusammenhang geeignet sein könnte, fällt zunächst auf, dass die §§ 45 Abs. 1 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG jeweils auf § 153 StPO verweisen, jene Vorschrift also, die schon ihrem allgemeinen Wortgehalt nach nicht zu einer Berücksichtigung speziell vorverurteilender Gesichtspunkte geeignet erscheint1164. Und auch die die Erteilung einer Ermahnung, bestimmter Weisungen oder von Auflagen1165 gegen einen geständigen Jugendlichen oder Heranwachsenden regelnden §§ 45 Abs. 3 S. 1 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 JGG lassen sich nicht speziell auf Aspekte vorverurteilender Medienberichterstattung beziehen. Die mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung einhergehenden Beeinträchtigungen des Jugendlichen oder Heranwachsenden könnten aber unter bestimmten Voraussetzungen als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG zu qualifizieren sein (dazu sogleich). I. §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG Zu prüfen ist eine Verfahrensbeendigung gemäß § 45 Abs. 2 S. 1 JGG bzw. § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG. Beide Vorschriften setzen zunächst die Durchführung oder Einleitung einer „erzieherischen Maßnahme“ voraus. 1. Medienöffentliche Vorverurteilung als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG? Nachfolgend soll untersucht werden, ob – und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen – eine medienöffentliche Vorverurteilung sich all1161
Siehe nur Nix/Rzepka, JGG, Vor §§ 45, 47 Rn. 2 m. w. N.; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 4; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 26, 133; Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 592, 595, 636; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 11; Walter, in: ZStW 95 (1983), S. 44; vgl. auch Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 34; weitergehend Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 4 („vermeidet Stigmatisierung“). 1162 Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 595, 636; Walter, in: ZStW 95 (1983), S. 44. 1163 Indes soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die §§ 45, 47 JGG darüber hinaus zumindest auch der Entlastung der Justiz und ferner der Kostenersparnis dienen. 1164 Siehe oben bei und in Fn. 1143 ff. 1165 Zum Verhältnis der beiden letztgenannten Sanktionsarten ausf. Itzel.
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gemein als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG verstehen lässt. Daran soll sich zunächst mit grundlegenden Erwägungen zum Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ angenähert werden. a) Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG Der Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG ist nicht auf die nach Jugendstrafrecht vorgesehenen förmlichen Rechtsfolgen und dabei insbesondere nicht auf die Erziehungsmaßregeln der §§ 9–12 JGG begrenzt.1166 Er umfasst vielmehr bereits jedes mit präventiv-erzieherischer Wirkung verbundene Tätigwerden,1167 unabhängig davon, ob der erzieherische Effekt beabsichtigt oder unbeabsichtigt oder auch nur zufällige Nebenfolge gewesen ist.1168 Zudem darf es angesichts identischer Einwirkung auf den Betroffenen keinen Unterschied machen, ob das Tätigwerden im Rahmen etwaiger gesetzlicher Befugnisse erfolgte oder nicht, auch rechtswidriges Handeln kann somit grundsätzlich unter den Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ fallen,1169 wenn und soweit dieses rein faktisch eine erzieherische Wirkung auf den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden entfalten konnte. Unerheblich ist fer1166
So schon Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15; Nothacker, in: JZ 1982, S. 58 Fn. 23; Rautenberg, in: ZfJ 1984, S. 507 (alle zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); ferner D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13; Eisenberg, JGG, § 9 Rn. 4, 6, § 45 Rn. 19; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 22; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 9; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 43. 1167 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 12; vgl. auch Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7 (beide zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.). Nach § 45 Nr. 3 S. 1 RLJGG ist auf die Eignung der Maßnahme abzustellen, „die Einsicht des Jugendlichen in das Unrecht der Tat und deren Folgen zu fördern.“ Nicht umfasst sind somit die nicht (ausschließlich) eine erzieherische Funktion erfüllenden, vielmehr (auch) ahndenden Charakter aufweisenden Auflagen i. S. der §§ 13 Abs. 1, 15 JGG (Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 19, vgl. auch Rn. 17c und 21; a. A. Itzel, S. 41 f. [zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.]). 1168 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13. 1169 So auch D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13 (etwa dann, wenn der Urheber einer mutwilligen Sachbeschädigung von dem Geschädigten „eine Tracht Prügel bezogen“ hat); ähnl. Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23: „Sanktionen, die demütigen oder die Grenzen des Züchtigungsrechts überschreiten, (. . .), müssen (. . .) zugunsten des Jugendlichen (ne bis in idem) zu Buche schlagen“; vgl. auch Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 12. – Vgl. hierzu etwa die Entscheidung BGHSt 32, 357 (mit Einverständnis der Betroffenen und teilweise demjenigen ihrer Eltern erteilte Schläge des Jugendstaatsanwalts auf das nackte Gesäß der jugendlichen und heranwachsenden Delinquenten).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
ner, ob die Maßnahme einen hoheitlichen Charakter aufweist oder nicht, sie kann mit anderen Worten sowohl von privater als auch von öffentlicher Stelle aus erfolgt sein.1170 Auch außerhalb des Justizwesens getroffene Maßnahmen können hier folglich Berücksichtigung finden.1171 Als handelnde Personen kommen daher neben Mitarbeitern des Jugendamts1172, Polizeibeamten1173, Lehrern1174 und dem Ausbilder oder Ausbildungsleiter1175 insbesondere auch die Erziehungsberechtigten1176 bzw. El1170 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13, § 47 Rn. 8 („Wer die Maßnahme eingeleitet oder durchgeführt hat, ist unerheblich.“); Eisenberg, JGG, § 9 Rn. 6, § 45 Rn. 19; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 22; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 9; vgl. auch LG Berlin NStZ 1987, 560 (561); Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7; Bohnert, in: NJW 1980, S. 1927; Eisenberg, in: NStZ 1987, S. 561 (die Zuletztgenannten alle zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.). 1171 So schon LG Berlin NStZ 1987, 560 (561); Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7 (beide zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); ferner Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18. – Nach Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 8 hat § 45 Abs. 2 JGG sogar „primär ein Einstellungsgrund (. . .) für außerstrafjustizielle Maßregelung“ zu bleiben. 1172 Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 17 und vgl. Rautenberg, in: ZfJ 1984, S. 508 (beide zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 13; so auch § 45 Nr. 3 S. 2 RLJGG. – Vgl. dazu auch § 52 Abs. 2 S. 2 SGB VIII: „(. . .) ist eine geeignete Maßnahme bereits eingeleitet oder gewährt worden, so hat das Jugendamt den Staatsanwalt oder den Richter umgehend davon zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob diese Leistung ein Absehen von der Verfolgung (§ 45 JGG) oder eine Einstellung des Verfahrens (§ 47 JGG) ermöglicht.“. 1173 So schon Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 17; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7; Rautenberg, in: ZfJ 1984, S. 508 (alle zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); ebenso KK/ Schoreit, StPO, § 153 Rn. 10; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Meier/Rössner/ Schöch, § 7 Rn. 13 f.; Schaffstein/Beulke, S. 240, 247; Streng, Jugendstrafrecht, § 6 Rn. 36, § 7 Rn. 43; ferner Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18 i. V. m. Rn. 12, D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13 und Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 16 f., jeweils mit dem Beispiel einer Aufforderung der Polizei an den Betroffenen, ein verbotswidrig präpariertes Fahrzeug wieder in einen ordnungsgemäßen Zustand zu versetzen und sodann vorzuführen; krit. Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20e. Auf Grund der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) und des Gewaltenteilungsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 2 GG) verbietet sich demgegenüber die allgemeine Erlaubnis sog. Polizeidiversion (ausf. dazu Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 16 m. w. N.; siehe auch Rzepka, S. 341 ff.). 1174 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 18; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Schaffstein/Beulke, S. 250; siehe auch § 45 Nr. 3 S. 2 RLJGG; vgl. auch Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); Böhm/Feuerhelm, S. 89, 101, 108; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 10; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 39, 43. 1175 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 10; Schaffstein/Beulke, S. 247, 250; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 39; vgl. auch Böhm/Feuerhelm, S. 101; so auch § 45 Nr. 3 S. 2 RLJGG.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
251
tern1177 und (sonstigen) Verwandten1178 sowie Freunde1179 und Mitschüler1180 in Betracht.1181 Im Rahmen des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG darf der Staatsanwalt auch selbst derartige Maßnahmen anregen oder ergreifen (nicht aber: anordnen),1182 allerdings nur dann, wenn der Jugendliche bzw. Heranwachsende und seine Erziehungsberechtigten ihre Zustimmung erteilen1183 und wenn – wie sich 1176 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 12; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 7 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 10; Schaffstein/ Beulke, S. 250; so auch § 45 Nr. 3 S. 2 RLJGG. 1177 LG Berlin NStZ 1987, 560 (561) [zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.]; Brunner/ Dölling, JGG, § 45 Rn. 18; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 12; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Böhm/ Feuerhelm, S. 89, 101, 108; Schaffstein/Beulke, S. 247, 250; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 39, 43; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BTDrs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24. 1178 Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24. 1179 Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 22; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990 a. a. O., S. 24. 1180 Krit. Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20. 1181 Ferner: Der Bewährungshelfer, die Jugendgerichtshilfe, der Erziehungsbeistand, der Familien- oder Vormundschaftsrichter und weitere (nahe) Bezugspersonen (Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18); siehe zum Ganzen auch schon Dallinger/ Lackner, JGG, § 45 Rn. 15, 17; Peters, S. 600 (beide zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23, 25. 1182 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 21, 26; Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15, 17 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20, 20b, 21; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 26; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 6, § 45 Rn. 13; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 124; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 15; Schaffstein/Beulke, S. 248 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 39 ff.; Böttcher/Weber, in: NStZ 1990, S. 563; Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 629 f.; ders., in: MKrim 1993, S. 368; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 136 f.; Nothacker, in: JZ 1982, S. 57 Fn. 5; Hering/Sessar, S. 28; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BTDrs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24; Eisenberg, in: NStZ 1987, S. 561 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.); vgl. auch § 45 Nr. 3 S. 3 und 4 RLJGG; einschr. Böhm, in: NJW 1991, S. 534 f.; krit. Bohnert, in: NJW 1980, S. 1927 Fn. 1; a. A. D/S/S/ Diemer, JGG, § 45 Rn. 14; Böhm/Feuerhelm, S. 88, 103, 105. 1183 Vgl. hierzu § 45 Nr. 3 S. 3 und 4 RLJGG und RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24. Eine formale Zustimmung des bzw. der Erziehungsberechtigten wird ebenfalls zwingend vorausgesetzt von Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 25; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 21; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 26 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 42. Nach Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 13 bzw. Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 629 f. ist eine Zustimmung lediglich „anzustreben“ bzw. nur „gegebenenfalls“ erforderlich. Heinz, in: MKrim 1993, S. 368 hält es für ausreichend, wenn den Erziehungsberechtigten die „Gelegenheit zur Ablehnung“ gegeben wird, gleiches gelte für den Beschuldigten.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
aus dem Systemzusammenhang mit § 45 Abs. 3 S. 1 JGG ergibt – die Maßnahmen nicht die dortige Eingriffsschwere erreichen1184 und nicht ausschließlich eine Ahndung der Tat zur Folge haben.1185 Entsprechende Möglichkeiten eigener Anregung erzieherischer Maßnahmen1186 mit einer (Ober-)Begrenzung hinsichtlich der Eingriffsschwere1187 hat der Richter im Zusammenhang mit einer Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG. „Tatnahe“ erzieherische Maßnahmen, die zudem aus dem sozialen Umfeld des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden stammen1188, werden in aller Regel allerdings größere erzieherische Wirkungen erzielen können – und werden daher besonders geeignet sein, die Einsicht des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden in das Unrecht der Tat und deren Folgen zu fördern – als solche, die jedweden Zusammenhang mit der Tat vermissen lassen und von dritter, gleichsam „entfernterer“ Seite vorgenommen werden.1189 Zu den denkbaren Maßnahmen zählen beispielsweise freizeitrelevante Verbote seitens der Eltern – wie Taschengeldkürzungen oder -entzug, Hausarrest und eine allgemeine Verhaltenskontrolle des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden1190 –, der Erziehung dienende Disziplinarmaßnahmen der Schule oder der erzieherisch wirkende „Schock“ einer polizeilichen Verneh1184 Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 21; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 29; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 13; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 16 ff.; Zieger, Jugendstrafsachen, Rn. 151; vgl. Böhm, in: NJW 1991, S. 535; weiter (auch die in § 45 Abs. 3 JGG genannten richterlichen Maßnahmen, nicht aber darüber hinaus) Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 26; Schaffstein/Beulke, S. 249 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 41; Heinz, in: ZStW 104 (1992), S. 630 f.; ders., in: MKrim 1993, S. 368, 370; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 137. 1185 Siehe zu (teils sehr strittigen) Einzelfragen etwa Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 21 ff. 1186 RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 26; Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 8; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 14; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 130; Schaffstein/Beulke, S. 253 Fn. 48. 1187 Namentlich auch hier unterhalb der Maßnahmen des § 45 Abs. 3 S. 1 JGG (Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 130; vgl. auch Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 16). 1188 So etwa Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.): „die Angelegenheit mit den im Lebenskreis des Jgl. wirkenden erzieherischen Kräften wieder in Ordnung zu bringen (. . .) ist (. . .) dem Eingreifen des Justizapparates vorzuziehen“; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 20: „Erzieherische Maßnahmen im privaten Lebenskreis des Jugendlichen gehen (. . .) dem Eingriff justitieller Organe vor (. . .).“ (im Original teilw. in Fettdruck); Böttcher/Weber, in: NStZ 1990, S. 563: „Reaktionen aus dem familiären und sozialen Umfeld des Beschuldigten“ stehen „im Vordergrund“; siehe ferner Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 19 und 23; Nothacker, in: JZ 1982, S. 58 Fn. 23, S. 63 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.). 1189 So insg. die RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24; ebenso Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18. 1190 Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 23.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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mung.1191 Auch in gleicher Sache verhängte und sodann verbüßte Untersuchungshaft wird unter der Bedingung einer tatsächlich erzielten erzieherischen Einwirkung1192 im Einzelfall als „erzieherische Maßnahme“ zu qualifizieren sein, in deren Folge sich das Verhängen weiterer Maßnahmen erübrigen kann.1193 Speziell bei § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG kommen ferner insbesondere auch diejenigen auf den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden erzieherisch einwirkenden Umstände in Betracht, die sich erst auf Grund des gerichtlichen Verfahrens an sich ergeben, beispielsweise infolge der Ladung zur Hauptverhandlung oder ihrer zumindest partiellen Durchführung.1194 Insgesamt betrachtet beinhaltet der Begriff der „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG damit ein weites Feld zu berücksichtigender Einwirkungen auf den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen.1195 b) Anwendung des ermittelten Begriffsinhalts auf Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung Wendet man die vorstehende allgemeine Inhaltsbestimmung der „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG auf Fälle medienöffentlicher Vorverurteilung an, ergibt sich nachfolgendes Bild: Die mit einem mutmaßlich strafrechtlich relevanten Tatgeschehen gegebenenfalls einhergehende vorverurteilende Medienberichterstattung stellt eine besonders „tatnahe“ Reaktion mit teils weit reichenden Konsequenzen insbesondere im sozialen Umfeld des Betroffenen dar. Zwar handelt es sich 1191 Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 10, 13 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 43; vgl. zum Ganzen Rzepka, S. 398 (zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.). – Gemäß § 45 Abs. 2 S. 2 JGG kommt etwa auch das Bemühen um einen Täter-Opfer-Ausgleich in Betracht. 1192 A. A. Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 19 („unabhängig von einem etwaigen erzieherischen Erfolg“); ohne diese Weiterung ders. a. a. O., § 45 Rn. 20h. 1193 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 25. – Unbeschadet dessen ist der in der Praxis durch sog. apokryphe Haftgründe gezeigten Tendenz zum Missbrauch der Untersuchungshaft als „Erziehungsmaßnahme besonderer Art“ unter Aufweichung ihrer eigentlichen Funktion der Sicherung der Hauptverhandlung entschieden entgegenzutreten (vgl. allg. zu apokryphen Haftgründen etwa Eisenberg, Kriminologie, § 29 Rn. 38, 45). 1194 Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 14; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 16; vgl. auch Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 10. 1195 Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 32; Rautenberg, in: ZfJ 1984, S. 508 („extensive Auslegung des Begriffes“); Böhm, in: FS Spendel, S. 788 („weit zu interpretieren“).
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
insoweit nicht um eine Maßnahme hoheitlicher Art, sondern vielmehr um ein Tätigwerden öffentlich-rechtlicher oder gar privater Medien, das sich außerhalb des Justizwesens bewegt. Die Maßnahme wird zudem mitunter als rechtswidrig zu beurteilen sein, etwa auf Grund einer Informationserlangung mit gesetzlich verbotenen Mitteln. Diese Umstände sind innerhalb der voranstehenden Begriffsbestimmung der „erzieherischen Maßnahme“ aber bereits als unerheblich eingestuft worden, da sie den Charakter der Maßnahme für den Betroffenen nicht verändern.1196 Ausschlaggebend ist nach obigen Maßstäben vielmehr allein, ob eine weitere strafjustizielle Reaktion in Folge dessen unterbleiben kann, dass die Maßnahme bereits eine erzieherische Wirkung gezeitigt hat und diese als Antwort auf das mutmaßliche Tatgeschehen ausreicht.1197 Eine derartige präventiv-erzieherische Wirkung von Berichterstattung im Allgemeinen und vorverurteilender Straftatenberichterstattung im Besonderen wird man im Einzelfall und hierbei je nach Konstitution des Betroffenen bejahen können.1198 Dass eine aus der Medienberichterstattung etwaig resultierende erzieherische Einwirkung auf den Betroffenen keine primär auf Erziehung gerichtete Maßnahme darstellt, sondern sich lediglich als unbeabsichtigte und in ihrer Intensität zudem zufallsabhängige Nebenfolge ausnimmt, ist ebenfalls nicht von Relevanz.1199 c) Ergebnis der Prüfung Eine medienöffentliche Vorverurteilung lässt sich – im Zuge einer „juristisches Neuland“ betretenden Einordnung – allgemein als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG qualifizieren. 2. Erzieherische Maßnahme „bereits durchgeführt oder eingeleitet“ Die erzieherische Maßnahme muss zum Zeitpunkt der staatsanwaltlichen (§ 45 Abs. 2 S. 1 JGG) bzw. richterlichen (§ 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG) Entscheidung „bereits durchgeführt oder eingeleitet“ worden sein. Den Erfolg einer erst „eingeleiteten“ Maßnahme müssen dabei weder der Jugend1196 1197 1198 1199
Zu Nachw. siehe oben Fn. 1169 ff. Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 17, 19b; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 12. Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. A., B. I. 4. Zu Nachw. siehe oben Fn. 1168.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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staatsanwalt1200 noch der Jugendrichter1201 abwarten, um von der Verfolgung absehen bzw. das Verfahren einstellen zu können. Erst in naher oder ferner Zukunft – und auch dann nur unter ganz bestimmten Umständen geschehende – Maßnahmen können indes bei dieser Entscheidung keine Berücksichtigung finden. Von der etwaigen Durchführung oder Einleitung erzieherischer Maßnahmen wird der Jugendstaatsanwalt im Allgemeinen in Ansehung der bereits vorgenommenen Erhebungen bzw. Ermittlungen von Jugendgerichtshilfe (vgl. § 43 Abs. 1 S. 4 i. V. m. § 38 Abs. 3 S. 1 JGG) und Polizei informiert.1202 Entsprechendes gilt für das Gericht. Speziell bei der hier in Rede stehenden Thematik einer gegebenenfalls eine erzieherische Wirkung auslösenden vorverurteilenden Medienberichterstattung sind die bisherige Berichterstattung und ihre konkreten Auswirkungen auf den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen zugrunde zu legen. Auch weitere, mit einiger Wahrscheinlichkeit eintretende Beeinträchtigungen können schon veranschlagt werden, wenn und soweit sie sich bereits konkret bestimmen lassen. Was die Art der Informationserlangung angeht, so werden die relevanten Umstände in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung zumeist schon aus der Presseberichterstattung zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts gelangen.1203 Darüber hinaus wird es aber gerade auch Aufgabe der Strafverteidigung sein, auf die relevanten Faktoren aufmerksam zu machen und diese gegebenenfalls entsprechend zu fundieren1204. Nachdem dargelegt worden ist, dass eine medienöffentliche Vorverurteilung im Einzelnen als „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG, die „bereits durchgeführt oder eingeleitet“ wurde, eingestuft werden kann, soll nun auf die weiteren inhaltlichen 1200
RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11. 1989, S. 24; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 21; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 125. 1201 D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 8. 1202 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 14; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 33 f.; Meier/ Rössner/Schöch, § 7 Rn. 12; vgl. auch Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 12, 18, 19a; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 19; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 15, 16a; einschr. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 126. 1203 Dies kann zunächst insbesondere infolge eigener informatorischer Wahrnehmung geschehen; zudem wird – jedenfalls am Landgericht Berlin – im Vorfeld eines Strafprozesses der mit der Sache befassten Kammer von der Gerichtspressestelle jeweils eine die Berichterstattung wiedergebende Übersicht in Form einer Pressemappe ausgehändigt (vgl. dazu schon Fn. 429). 1204 Zu Möglichkeiten der Einführung in den Prozess vgl. oben 2. Kap. A. I. am Ende; krit. angesichts des denkbaren Missbrauchs durch die Strafverteidigung Wagner, Strafprozessführung, S. 92.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Voraussetzungen der in Bezug genommenen Vorschriften eingegangen werden. Dabei soll auch ihre spezifische Anwendbarkeit je nach dem Verfahrensstand, ferner sollen die im Falle ihrer Anwendung sich einstellenden Rechtsfolgen und etwaige Rechtsbehelfe des Betroffenen behandelt werden (zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG siehe sogleich 3., zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG siehe sodann unter 4.). 3. § 45 Abs. 2 S. 1 JGG Ein Absehen von der Verfolgung eröffnet § 45 Abs. 2 S. 1 JGG. a) Erfordernis eines Anfangsverdachts Zunächst müssen überhaupt „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“1205 i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG, § 152 Abs. 2 StPO für eine strafbare Handlung vorliegen, da andernfalls die Staatsanwaltschaft nicht zum Einschreiten befugt und gemäß vorgenannter Normenverknüpfung hierzu auch nicht verpflichtet ist. Auf dieser Grundlage erfolgt gegebenenfalls die förmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Liegt hingegen ein solcher Anfangsverdacht nicht bzw. nicht mehr vor, wird ein Ermittlungsverfahren gar nicht erst eingeleitet bzw. ein bereits eingeleitetes gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 170 Abs. 2 S. 1 StPO wieder eingestellt. Eine Einstellung nach § 2 Abs. 2 JGG, § 170 Abs. 2 S. 1 StPO ist also vorrangig gegenüber einem Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 2 S. 1 JGG zu prüfen.1206 b) (Weitere) Voraussetzungen und Anwendungsbereich Adressat der Norm ist der (Jugend-)Staatsanwalt. Die Entscheidung über das Absehen von der Verfolgung obliegt ihm allein1207, und zwar auch 1205 Ein solcher Anfangsverdacht setzt voraus, dass nach den konkreten Umständen und auf Grund kriminalistischer Erfahrungswerte zumindest die Möglichkeit besteht, dass eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen worden ist (ganz h. M.; siehe etwa BVerfG NStZ 1982, 430; NJW 1994, 783; OLG München NStZ 1985, 549 [550]; Beulke, Rn. 111, 311; Hellmann, Rn. 57; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 4 Rn. 10; Kramer, Rn. 171; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rn. 13; restr. Schaefer, Staatsanwaltschaft, S. 78; zur Handhabung in der Praxis siehe Eisenberg/Conen, in: NJW 1998, S. 2241 ff.). 1206 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 1; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 8, 31; Nix/ Rzepka, JGG, § 45 Rn. 7; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 4; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 120; vgl. Heinz, in: MKrim 1993, S. 369; ders., in: DVJJ-J 1999, S. 134; so auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 10, 20; Bohnert, in: NJW 1980, S. 1929. 1207 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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dann, wenn das als „erzieherische Maßnahme“ zu berücksichtigende Geschehen1208 anderweitig – etwa von der Jugendgerichtshilfe oder der Polizei – vorgenommen wurde.1209 Inhaltlich vorausgesetzt ist speziell bei § 45 Abs. 2 S. 1 JGG, dass der Jugendstaatsanwalt „weder eine Beteiligung des Richters nach Abs. 3 noch die Erhebung der Anklage“ – einschließlich des Antrags auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren gemäß §§ 76 ff. JGG1210 – „für erforderlich hält“. Dies ist namentlich der Fall, wenn der Jugendstaatsanwalt der Ansicht ist, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende durch die bereits durchgeführte oder eingeleitete Maßnahme erzieherisch schon derart beeinflusst wurde oder noch wird1211, dass eine jugendrichterliche Entscheidung – sei es in Form von Maßnahmen nach § 45 Abs. 3 JGG1212, sei es in Gestalt der Durchführung einer Hauptverhandlung mit etwaig ergehendem Schuldspruch – unterbleiben kann.1213 Diesbezüglich steht dem Jugendstaatsanwalt ein Beurteilungsspielraum zu.1214 Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob der Jugendstaatsanwalt „eine Entscheidung/Anordnung durch den Richter für entbehrlich oder aber für erforderlich hält“1215. Aus dieser Formulierung folgt, dass die Vorschrift in verfahrenszeitlicher Hinsicht nur bis zur Anklageerhebung anwendbar ist. Weiterhin ergibt sich 1208
Vgl. dazu oben 1. a). D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13 i. V. m. Rn. 3; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24. 1210 RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990 a. a. O., S. 25; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 23; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 31; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 19; vgl. dazu § 76 S. 2 JGG; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 16. Gemäß § 109 JGG (arg. e contr.; so auch §§ 76 Nr. 3, 109 Nr. 3 RLJGG) finden die Vorschriften in Verfahren gegen Heranwachsende keine Anwendung. 1211 Eine Berücksichtigung bereits erfolgter Ahndung ist in diesem Zusammenhang demgegenüber nicht zulässig (vgl. Nothacker, in: JZ 1982, S. 58). 1212 Sog. formloses richterliches Erziehungsverfahren, siehe RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24 f.; ausf. dazu D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 18 ff. sowie Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 38 ff. 1213 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 16; Nix/ Rzepka, JGG, § 45 Rn. 19; vgl. RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990 a. a. O., S. 24. 1214 Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 20; Schaffstein/Beulke, S. 246 f.; ähnl. Nix/ Rzepka, JGG, § 45 Rn. 31. Strikt zu trennen ist diese Fragestellung von derjenigen, unter welchen Voraussetzungen der Jugendstaatsanwalt zwingend von der Verfolgung absehen muss, dazu im Anschluss unter c) aa). 1215 RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 25; zitierend Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 26; vgl. auch § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.: „Der Staatsanwalt kann (. . .) von der Verfolgung absehen, wenn 1. eine erzieherische Maßnahme, die eine Ahndung durch den Richter entbehrlich macht, bereits angeordnet ist (. . .).“ [Hervorhebung durch Verf.]. 1209
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
hieraus und aus der Stellung der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Vorbzw. Ermittlungsverfahrens“1216 als letzte Voraussetzung für eine Anwendung des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG, dass eine Zustimmung des Jugendrichters nicht erforderlich ist. Ein grundsätzlicher Ausschluss des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG für Taten, die nach allgemeinem Recht Verbrechen i. S. d. § 12 Abs. 1 StGB darstellen, besteht dem Gesetzeswortlaut zufolge nicht.1217 Daher ist § 45 Abs. 2 S. 1 JGG im Übrigen für alle denkbaren Konstellationen einer medienöffentlichen Vorverurteilung1218 anwendungsgeeignet. c) Rechtsfolgen aa) Norm-immanente Rechtsfolge Auf Rechtsfolgenseite ist das Absehen des Jugendstaatsanwalts von der Verfolgung obligatorisch („sieht von der Verfolgung ab“), wenn alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm gegeben sind.1219 Die insoweit zu treffende staatsanwaltschaftliche Abschlussverfügung enthält, wie sich im Umkehrschluss aus § 2 Abs. 2 JGG, § 464 Abs. 1 StPO ergibt, keine Entscheidung darüber, wer die Kosten des Verfahrens trägt.1220 bb) Registerrechtliche Folge Als weitere, sich mittelbar ergebende Rechtsfolge hat in Fällen des § 45 JGG, hier speziell des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG, gemäß § 59 S. 2 BZRG 1216 Beulke, Rn. 79, 312; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 4 Rn. 25, § 5 Rn. 1 f.; Kramer, Rn. 98; Eisenberg/Conen, in: NJW 1998, S. 2246; Krekeler, in: AnwBl 1985, S. 427; Neuling, S. 127 ff., 130, 170, 172; ähnl. Hellmann, Rn. 76; vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rn. 1 und allg. Nr. 1 RiStBV; einschr. Geppert, in: Jura 1982, S. 140. 1217 Arg. e contr. aus § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO; im Ergebnis ebenso Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 18; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 13; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 17, 19a; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 20; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 11; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 121; siehe auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 15; Nothacker, in: JZ 1982, S. 59 (beide zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.). 1218 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. III. 2. d) bb). 1219 Anders die alte Rechtslage (§ 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F.: „kann [. . .] von der Verfolgung absehen“); siehe dazu die RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 24; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 16; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 3, 31; Böttcher/Weber, in: NStZ 1990, S. 563. 1220 Vgl. zum allg. Recht oben bei Fn. 1121 (zu § 153b Abs. 1 StPO).
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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i. V. m. §§ 20 Abs. 1 S. 1, 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG zwingend eine Mitteilung an und Eintragung in das Erziehungsregister1221 – nicht aber das Bundeszentralregister – zu erfolgen. (1) Inhalt und Zweck des Erziehungsregisters In diese speziell für die Registrierung auf dem Gebiet der Jugendstrafrechtspflege angelegte „Sonderkartei“1222 werden nur die in § 60 Abs. 1 BZRG genannten Gesichtspunkte eingetragen, etwa die Anordnung von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 BZRG)1223 oder die hier in Rede stehenden Diversionsentscheidungen gemäß §§ 45, 47 JGG (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG)1224. Die Nicht-Aufnahme dieser gleichsam „leichten“ Verfahrensabschlüsse in das Bundeszentralregister soll unangemessene Stigmatisierungseffekte1225 vermeiden; durch die Eintragung im Erziehungsregister soll aber zumindest die Entwicklung des jeweiligen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden veranschaulicht und so gegebenenfalls eine betroffenenspezifische Sanktionierung ermöglicht werden.1226 Eintragungen im Erziehungsregister unterliegen im Gegensatz zu solchen im Bundeszentralregister einer nur begrenzten Auskunfts- und Offenbarungspflicht (dazu sogleich). (2) Auskunftserteilung Eine Auskunft aus dem Erziehungsregister erfolgt grundsätzlich1227 nur an den in § 61 Abs. 1 BZRG abschließend aufgezählten und eng umgrenzten Kreis von Behörden – nicht aber etwa an die Schule, die Ausbildungsoder Arbeitsstätte des Betroffenen sowie die Polizei – und dies auch nur zu 1221 Das Erziehungsregister wird gemäß § 59 S. 1 BZRG beim Bundeszentralregister geführt. 1222 Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 414; Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 41. 1223 Diese jedoch nur, soweit sie nicht nach § 5 Abs. 2 BZRG in das Bundeszentralregister einzutragen sind, § 60 Abs. 1 Hs. 2 BZRG. 1224 Hierbei sind zugleich jugendrichterliche Maßnahmen nach den §§ 45 Abs. 3 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 JGG einzutragen, § 60 Abs. 2 BZRG. 1225 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. III. 4. c) bb). 1226 Götz/Tolzmann, BZRG, § 59 Rn. 4; ähnl. Rebmann/Uhlig, BZRG, Vor § 59 Rn. 3, 5. 1227 Zu Ausnahmen (für wissenschaftliche Zwecke bzw. im Zusammenhang mit seitens der Registerbehörde angefertigten Protokollen) siehe § 42a bzw. § 42c BZRG.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
ganz bestimmten Zwecken. Zu nennen sind hier insbesondere Auskünfte an die Strafgerichte1228 und Staatsanwaltschaften für Zwecke der Rechtspflege (§ 61 Abs. 1 Nr. 1 BZRG). (3) Konsequenzen für den Betroffenen (a) Vorhalt, Verwertung und Offenbarungspflicht gemäß § 63 Abs. 4 i. V. m. § 51 Abs. 1 BZRG, § 64 Abs. 1 BZRG Nach § 63 Abs. 4 BZRG gelten die Vorhalte- und Verwertungsmöglichkeiten von Eintragungen gemäß § 51 Abs. 1 BZRG1229 entsprechend auch für Eintragungen im Erziehungsregister. Ebenso besteht gemäß § 64 Abs. 1 BZRG – insoweit in Übereinstimmung mit dem Verschweigerecht aus § 53 Abs. 1 BZRG1230 – grundsätzlich1231 keine Pflicht zur Offenbarung bestehender Eintragungen und der diesen zugrunde liegenden Sachverhalte. Angesichts des Umstandes, dass dem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden keine schlechtere Rechtsposition zuteil werden darf als dem (auch) im Bundeszentralregister Eingetragenen, kann sich der lediglich im Erziehungsregister erfasste Jugendliche bzw. Heranwachsende etwa in Einstellungsfragebögen und -gesprächen erst recht als „unbestraft“ oder umgangssprachlich „nicht vorbestraft“ bezeichnen, wenngleich dies in § 64 Abs. 1 BZRG – insoweit entgegen dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 BZRG – nicht ausdrücklich Erwähnung gefunden hat.1232
1228 Gegenüber der unbeschränkten Auskunft aus dem Zentralregister gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 1 BZRG, die alle Gerichte und Gerichtsvorstände beantragen können, ist die Auskunftserteilung durch die Begrenzung auf Strafgerichte weiter eingeschränkt. 1229 Siehe dazu oben 2. Kap. B. IV. 4. c) aa), C. III. 4. c) aa); im Speziellen hat die Staatsanwaltschaft bei jungen Beschuldigten in der Regel vor Erhebung der öffentlichen Klage auch eine personenspezifische Auskunft aus dem Erziehungsregister einzuholen (vgl. Nr. 16 Abs. 1 S. 1 RiStBV). 1230 Vgl. dazu oben bei und in Fn. 1009. 1231 Zur Ausnahme siehe § 64 Abs. 2 BZRG. 1232 Im Ergebnis ebenso Brunner/Dölling, JGG, Vor § 97 Rn. 11; ohne weitere Begründung auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 64 Rn. 4; Rebmann/Uhlig, BZRG, § 64 Rn. 1. – Vgl. aber zur insoweit schon hinsichtlich der früheren Gesetzeslage bestehenden Problematik Dallinger/Lackner, JGG, Vor § 94 Rn. 8 (unter Bezugnahme von dies., JGG, § 13 Rn. 4): „Allerdings haben in den letzten Jahren Einstellungsbehörden und andere Stellen mehrfach versucht, sich durch unmittelbare Befragung der Bewerber (zB Aufnahme der Frage nach strafgerichtlichen Verf. oder nach ErzMaßregeln und Zuchtmitteln in Bewerbungsbogen) Kenntnis von jgerichtlichen Entscheidungen zu verschaffen, die nur in der gerichtlichen ErzKartei vermerkt werden.“.
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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(b) Stigmatisierende Wirkung des Erziehungsregisters und Schlechterstellung Entsprechend den obigen Ausführungen1233 geht von einer Eintragung in das Erziehungsregister eine nachhaltige stigmatisierende Wirkung aus1234, wenngleich diese auf Grund der ausschließlich binnengerichteten1235 Nutzung gegenüber derjenigen einer Eintragung in das Bundeszentralregister deutlich gemindert sein wird.1236 Angesichts dessen stellt ein Absehen von der Verfolgung bzw. eine Einstellung des Verfahrens nach den §§ 45 bzw. 47 JGG insgesamt nicht etwa eine bloße „Wohltat“ für den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden dar.1237 Von nicht wenigen Autoren1238 wird daher de lege ferenda befürwortet, Entscheidungen nach § 45 JGG nicht (mehr) in das Erziehungsregister einzutragen. De lege lata aber wird angesichts ihres verbindlichen Charakters bis zu einer entsprechenden Änderung der gesetzlichen Regelung eine Eintragung zu erfolgen haben. Diese bedeutet eine Schlechterstellung des jugendlichen bzw. heranwachsenden Beschuldigten1239, die seine Zukunfts1233
Siehe 2. Kap. B. IV. 4. c) cc), C. III. 4. c) bb). Ostendorf, JGG, § 3 Rn. 16, § 47 Rn. 10, § 68 Rn. 3; abgeschwächt Rautenberg, in: ZfJ 1984, S. 509 (Erziehungsregistereintragung „mit einem gewissen Stigmatisierungsrisiko“ behaftet); vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 59 Rn. 4. 1235 Vgl. dazu nicht zuletzt etwa § 61 Abs. 3 BZRG. 1236 Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 41. 1237 Laubenthal/Baier, Rn. 279; vgl. auch D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 14; Götz/Tolzmann, BZRG, § 61 Rn. 4; dies., BZRG-Nachtrag, § 61 Rn. 1a. 1238 Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 56; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 9; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 126, 419; Nothacker, in: JZ 1982, S. 61, 63 f. (zu § 45 JGG a. F.); insg. für eine Streichung der Vorschriften über das Erziehungsregister spricht sich aus Albrecht a. a. O., S. 420; vgl. auch Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 39; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 39; Bohnert, in: NJW 1980, S. 1931; a. A. Meier/ Rössner/Schöch, § 14 Rn. 43; einen Kompromissvorschlag (Nichteintragung von Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 Abs. 1 JGG, in den übrigen Fällen Verkürzung der Tilgungsfristen) unterbreitet Heinz, in: MKrim 1993, S. 374. 1239 Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 126; Nothacker, in: JZ 1982, S. 61, 63 f.; vgl. Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 56; vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 60 Rn. 15; einschr. unter Bezugnahme auf das im Jahre 1994 in den §§ 474 ff. StPO (nunmehr §§ 492 ff. StPO) neu eingefügte sog. länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister (siehe näher dazu unten Fn. 1307) Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 10, 39, 47; Böhm/Feuerhelm, S. 276 Fn. 2; Laubenthal/Baier, Rn. 899; Streng, Jugendstrafrecht, § 14 Rn. 10. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass es bei einem recht hohen Prozentsatz der Fälle, in denen von der Verfolgung abgesehen wird, trotz der gesetzlichen Regelung (§ 59 S. 2 i. V. m. §§ 20 Abs. 1 S. 1, 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) dennoch nicht zu einer Eintragung in das Erziehungsregister kommt (nach einer stichprobenartigen Untersuchung aus den 80er Jahren betraf dies immerhin etwa 27 % der Entscheidun1234
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
perspektiven – nicht zuletzt infolge einer etwaigen Berücksichtigung der Eintragung in einem später gegebenenfalls erfolgenden anderen Strafverfahren1240 – negativ beeinflussen kann1241, zumal die registerrechtlichen Eintragungen gemäß § 63 Abs. 1 BZRG grundsätzlich1242 (erst) mit Vollendung des 24. Lebensjahres zu entfernen sind1243. d) Rechtsbehelfe des Betroffenen Ein förmlicher Rechtsbehelf des Betroffenen gegen Entscheidungen des Jugendstaatsanwalts nach § 45 JGG ist nicht gegeben.1244 Das auf die Erhebung der öffentlichen Klage gerichtete Verfahren der §§ 172 ff. StPO1245 scheidet gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 172 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 Alt. 2 StPO aus1246 und käme ohnehin nicht dem medienöffentlich Vorverurteilten, sondern dem durch die mutmaßlich zugrunde liegende Straftat Verletzten zugute. Somit verbleibt für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen nur die Einlegung einer allgemeinen Dienstaufsichtsbeschwerde1247 beim vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft.1248 gen nach § 45 JGG; in einer weiteren Untersuchung äußerte jeder Vierte befragte Staatsanwalt, bei „Bagatellen“ von einer Mitteilung abzusehen; zu Nachw. siehe Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 57). 1240 Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 47 unter Hinweis auf AG Freiburg v. 21.1.2003 – 18 Ds 24 Js 284/95 (unveröffentlicht); Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 41; Schaffstein/Beulke, S. 136, 311; a. A. LG Baden-Baden NStZ 2004, 513; Böhm/Feuerhelm, S. 276 Fn. 2. 1241 Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 5; vgl. auch Götz/Tolzmann, BZRG, § 61 Rn. 4; dies., BZRG-Nachtrag, § 61 Rn. 1a; Laubenthal/Baier, Rn. 898. 1242 Zu Ausnahmen siehe § 63 Abs. 2 und 3 BZRG. 1243 Vollendet der (in einem neuen Verfahren) Angeklagte das 24. Lebensjahr zu einem Zeitpunkt, in dem die Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat, so darf die aus dem früheren Verfahren stammende Eintragung bereits keine Berücksichtigung mehr finden (BGH StV 1991, 425; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 29). 1244 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 28; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 23; diesbezüglich krit. Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 53. 1245 Sog. Klageerzwingungsverfahren; siehe dazu schon oben bei und in Fn. 1132. 1246 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 28; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 44; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 53; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 23; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 129 f.; ferner Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 44; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 2 (beide zu § 45 JGG a. F.); einschr. (Befürwortung einer Ausnahme für den Fall, dass die Grenzen des § 45 JGG durch den Jugendstaatsanwalt verletzt wurden) Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 40. 1247 Diese weder an Frist noch Form gebundene Beschwerde enthält das an die vorgesetzte Behörde gerichtete Ersuchen um (dienst-)rechtliche Überprüfung des fraglichen, angeblich rechtswidrigen Verhaltens (Beulke, Rn. 349; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 8, § 28 Rn. 3; vgl. auch Kramer, Rn. 330).
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e) Verhältnis zu § 45 Abs. 1 JGG Unbeschadet der grundsätzlichen Nachrangigkeit des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG gegenüber § 45 Abs. 1 JGG1249 wird speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung nicht die zuletztgenannte Vorschrift heranzuziehen sein, wenn aus anderen Gründen zugleich deren tatbestandliche Voraussetzungen vorliegen. Denn die von § 45 Abs. 2 S. 1 JGG vorausgesetzte „erzieherische Maßnahme“ ist hier in aller Regel bereits erfolgt, so dass nicht etwa ein (zusätzlicher) Nachteil für den Betroffenen daraus entsteht, dass die erzieherische Maßnahme erst noch weiter „durchgeführt oder eingeleitet“ werden müsste. Im Folgenden soll nun gemäß obigem Verweis1250 auch auf die weiteren inhaltlichen Voraussetzungen der Vorschrift des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG nebst ihrer spezifischen Anwendbarkeit je nach dem Verfahrensstand sowie auf die im Anwendungsfall sich ergebenden Rechtsfolgen und etwaigen Rechtsbehelfe des Betroffenen näher eingegangen werden. 4. § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG Über § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG wird eine Einstellung des Verfahrens ermöglicht. a) Erfordernis eines hinreichenden Tatverdachts Zuerst muss der jugendliche bzw. heranwachsende Angeschuldigte allerdings überhaupt einer strafbaren Handlung i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG, § 203 StPO „hinreichend verdächtig“1251 sein, da andernfalls schon aus diesem 1248 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 40; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 28; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 44; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 53; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 23; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 129 f.; ferner Dallinger/Lackner, JGG, § 45 Rn. 43; Potrykus, JGG, § 45 Bem. 2, 9 (beide zu § 45 JGG a. F.). 1249 RegE-Begründung zum 1. JGGÄndG v. 30.8.1990, BT-Drs. 11/5829 v. 27.11.1989, S. 23 f.; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 16; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 18; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 4, 6; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 9; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 120; Böhm/Feuerhelm, S. 102; Schaffstein/Beulke, S. 246; Böttcher/Weber, in: NStZ 1990, S. 562 f.; vgl. auch D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 8. 1250 Siehe oben 2. am Ende. 1251 Dies ist – ebenso wie hinsichtlich eines „genügenden“ Anlasses zur Erhebung der öffentlichen Klage i. S. d. § 170 Abs. 1 StPO – der Fall, wenn bei vorläufiger Tatbewertung jedenfalls die Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Angeschuldigte eine strafbare Handlung begangen hat und diesbezüglich verurteilt werden wird
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Grunde das Zwischenverfahren durch einen gerichtlichen Nichteröffnungsbeschluss gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 204 StPO erledigt und hiernach das Hauptverfahren gar nicht erst eröffnet wird (vgl. auch § 2 Abs. 2 JGG, § 199 Abs. 1 StPO). Ein Nichteröffnungsbeschluss gemäß § 2 Abs. 2 JGG, §§ 203, 204 StPO hat also Vorrang gegenüber einer Einstellung nach § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG.1252 b) (Weitere) Voraussetzungen und Anwendungsbereich Die Vorschrift richtet sich ausschließlich an den (Jugend-)Richter. Hat der Jugendstaatsanwalt seinerzeit noch das Vorliegen einer entsprechenden erzieherischen Maßnahme1253 verneint, kann sich zwischenzeitlich die Sachlage dahingehend verändert haben, dass nunmehr von der Durchführung oder Einleitung einer solchen Maßnahme auszugehen ist.1254 Speziell in Fällen vorverurteilender Berichterstattung kann sich in der mitunter erheblichen Zeitspanne zwischen Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft und diesbezüglicher Prüfung durch das Gericht eine nachhaltige Wirkung auf den jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen ergeben haben, die eine Einstellung des Verfahrens erforderlich macht. Zudem kann das frühere Negieren einer erzieherischen Maßnahme auch auf einer staatsanwaltschaftlichen Anders-1255 bzw. Fehleinschätzung beruhen, die nun umso nachdrücklicher die Einstellung durch den Richter gebietet, auch um fortgesetzte Beeinträchtigungen möglichst zu unterbinden. In inhaltlicher Hinsicht ist bei § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG speziell erforderlich, dass die bereits durchgeführte oder eingeleitete erzieherische Maßnahme eine Entscheidung durch Urteil „entbehrlich“ macht. Dieses Merkmal ist erfüllt, wenn die Maßnahme nach Auffassung des Gerichts bereits (ganz h. M.; siehe etwa BVerfG NStZ 2002, 606; BGH NJW 1970, 1543 [1544]; 2000, 2672 [2673]; BayObLG NStZ 1983, 123; KG Berlin NJW 1997, 69; OLG Karlsruhe wistra 1985, 163 [164]; KK/Schmid bzw. Tolksdorf, StPO, § 170 Rn. 3 bzw. § 203 Rn. 2; Meyer-Goßner, StPO, § 170 Rn. 1, § 203 Rn. 2; Pfeiffer, StPO, § 170 Rn. 1, § 203 Rn. 2; Beulke, Rn. 114, 357; Hellmann, Rn. 24, 606; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 10 Rn. 2; Kramer, Rn. 67, 267; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rn. 13, § 40 Rn. 8). 1252 So schon Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 7 i. V. m. § 45 Rn. 10 i. V. m. Rn. 20; ferner Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 3 i. V. m. § 45 Rn. 1; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 5; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 7; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 6; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 120; vgl. Heinz, in: DVJJ-J 1999, S. 134. 1253 Siehe dazu oben 1. a). 1254 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 8; vgl. Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 15; Potrykus, JGG, § 47 Bem. 1; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 30; Schaffstein/ Beulke, S. 252; vgl. auch § 47 Nr. 1 S. 2 RLJGG. 1255 Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 11.
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eine ausreichende erzieherische Wirkung erreicht hat bzw. eine solche noch erzielen wird.1256 Was den verfahrenszeitlichen Anwendungsbereich anbelangt, so gilt die Vorschrift ihrem Wortlaut zufolge mit Einreichung der Anklage – bzw. Stellung des Antrags auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren nach §§ 76 ff. JGG1257 – und kann auch noch in der Hauptverhandlung herangezogen werden, siehe § 47 Abs. 2 S. 2 JGG. Sie gilt darüber hinaus in jeder Lage des Verfahrens und bis zum Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung, insgesamt also während des Zwischenverfahrens, nach Eröffnung des Hauptverfahrens sowohl vor als auch in der Hauptverhandlung erster Instanz, ferner im Rechtsmittelverfahren und dort bis in die Revisionsinstanz.1258 Bei einer Heranziehung der Norm ab Beginn der Hauptverhandlung wird ganz besonders darauf zu achten sein, dass nicht etwa bloße Beweisschwierigkeiten, die nach dem in dubio pro reo-Grundsatz realiter einen Freispruch erforderten1259, durch eine Verfahrenseinstellung umgangen werden (sollen). Die Voraussetzungen für ein freisprechendes Urteil mangels Tatnachweises sind mit anderen Worten vorrangig zu prüfen.1260 Als letzte Voraussetzung ist gemäß § 47 Abs. 2 S. 1 JGG grundsätzlich1261 die – in dessen pflichtgemäßem Ermessen liegende1262 – Zustimmung des Jugendstaatsanwalts erforderlich. Da ein grundsätzlicher Ausschluss des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG für Taten, die nach allgemeinem Recht Verbrechen i. S. d. § 12 Abs. 1 StGB 1256 D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 8. – Unbeschadet des geänderten Wortlauts des §§ 47 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F. gegenüber § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG (statt „Ahndung [. . .] entbehrlich“ nunmehr „Entscheidung durch Urteil entbehrlich“ [Hervorhebungen durch Verf.]; vgl. dazu Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 3) sind ahndende Gesichtspunkte auch hier (zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG siehe oben Fn. 1211) außer Betracht zu lassen (insoweit zumindest missverständlich D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 8). 1257 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 2; Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 4 (zu § 47 Abs. 1 JGG a. F.); D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 3; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 3; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 9; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 2; vgl. dazu § 76 S. 2 JGG. 1258 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 1, 5; Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 8 (zu § 47 JGG a. F.); D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 6; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 5 f.; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 10; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 3; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 130; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 5; Schaffstein/Beulke, S. 253; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 50; vgl. auch § 47 Nr. 1 S. 1 RLJGG. 1259 Vgl. zum allg. Recht Schroeder, Rn. 269, 283, 288. 1260 Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 8; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 120. 1261 Zur Ausnahme siehe Hs. 2 der Vorschrift. – Im vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) bedarf es gemäß § 78 Abs. 2 S. 2 JGG der Zustimmung des Jugendstaatsanwalts dann nicht, wenn er an der (Haupt-)Verhandlung nicht teilnimmt (siehe auch § 47 Nr. 2 RLJGG). 1262 D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 12.
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darstellen, wie schon im Hinblick auf § 45 Abs. 2 S. 1 JGG1263 nach dem Gesetzeswortlaut nicht besteht1264, ist § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG auch für alle denkbaren Konstellationen medienöffentlicher Vorverurteilung1265 anwendungsgeeignet. c) Rechtsfolgen aa) Norm-immanente Rechtsfolge Rechtsfolgend entscheidet der Jugendrichter nach pflichtgemäßem Ermessen über eine etwaige Beendigung des Verfahrens („kann [. . .] das Verfahren einstellen“). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss, vgl. § 47 Abs. 2 S. 2 JGG. Zugleich ist eine Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen zu treffen (§ 2 Abs. 2 JGG, § 464 Abs. 1, 2 StPO),1266 und zwar unabhängig davon, ob Gerichtsgebühren anfallen oder nicht.1267 Gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 467 Abs. 1 StPO fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeschuldigten bei einer Einstellung des Verfahrens grundsätzlich der Staatskasse zur Last; nach § 2 Abs. 2 JGG, § 467 Abs. 4 StPO kann jedoch davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen des jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn das Gericht das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, „die dies nach seinem Ermessen zulässt“ – also etwa bei einer Verfahrenseinstellung gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG.1268 Letztere Entscheidung hat nach Maßgabe des § 74 JGG1269 zu erfolgen.1270 1263
Siehe dazu oben 3. b) am Ende. Arg. e contr. aus § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO; zu Nachw. siehe oben bei und in Fn. 1217. 1265 Vgl. dazu oben 2. Kap. C. III. 2. d) bb). 1266 Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 21 (zu § 47 JGG a. F.); Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 13. 1267 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 14; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 22; Nix/ Rzepka, JGG, § 47 Rn. 26. 1268 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 14; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 22; ferner Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 26 bzw. Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 13, wonach bei Verfahrenseinstellungen gemäß § 47 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 JGG von der Möglichkeit des § 2 Abs. 2 JGG, § 467 Abs. 4 StPO nur in ganz wenigen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden sollte, und zwar mit Rücksicht „auf die regelmäßig schlechten finanziellen Verhältnisse von Jugendlichen, ihre zivilrechtlichen Schadensersatzpflichten und die sanktionsähnliche Wirkung, die von der Auferlegung der notwendigen Auslagen ausgeht“ bzw. im Hinblick „darauf, dass im Jugendstrafverfahren Kosten regelmäßig nicht zu einer Belastung für den/die Angeklagte(n) führen sollen“. 1264
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bb) Registerrechtliche Folge Mittelbar hat in Fällen des § 47 JGG – hier speziell des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG – wie bereits für § 45 Abs. 2 S. 1 JGG dargestellt wurde1271 gemäß § 59 S. 2 BZRG i. V. m. §§ 20 Abs. 1 S. 1, 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG als weitere Rechtsfolge zwingend eine Mitteilung an und Eintragung in das Erziehungsregister zu erfolgen. Wenngleich auch diesbezüglich von nicht wenigen Autoren1272 de lege ferenda befürwortet wird, eine Eintragung im Erziehungsregister nicht (mehr) vorzunehmen, wird sie auf Grund des obligatorischen Charakters der gesetzlichen Anordnung de lege lata auch weiterhin erfolgen müssen, wenn und solange keine entsprechende Neuregelung getroffen worden ist. Diese Eintragung bedeutet – wie schon diejenige einer Einstellung nach § 45 JGG1273 – eine Schlechterstellung des jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeschuldigten1274 mit den angesprochenen stigmatisierenden Auswirkungen. d) Rechtsbehelfe des Betroffenen Der Einstellungsbeschluss des Jugendgerichts – bzw. die in ihm enthaltene Ermessensentscheidung1275 – ist gemäß § 47 Abs. 2 S. 3 JGG nicht anfechtbar.1276 Jedoch ist eine Beschwerde nach § 2 Abs. 2 JGG, § 304 ff. StPO durch den Staatsanwalt zulässig, sofern die (prozessual-)rechtlichen 1269
Vgl. zu den insoweit geltenden Maßstäben oben 2. Kap. C. III. 3. a) am
Ende. 1270 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 14; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 22; vgl. auch Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 13. 1271 Siehe oben 3. c) bb). 1272 Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 29 i. V. m. § 45 Rn. 56; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 126, 419; insg. für eine Streichung der Vorschriften über das Erziehungsregister plädiert ders. a. a. O., S. 420; vgl. auch Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 15 i. V. m. § 45 Rn. 39; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 25 i. V. m. § 45 Rn. 39; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45 u. 47 Rn. 9. 1273 Siehe oben 3. c) bb) (3) (b) am Ende. 1274 Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 5. – Dies gilt auch hier (vgl. zu § 45 JGG oben Fn. 1239) unbeschadet der Tatsache, dass es bei einem recht hohen Prozentsatz der Fälle, in denen von der Verfolgung abgesehen wird, trotz der gesetzlichen Regelung (§ 59 S. 2 i. V. m. §§ 20 Abs. 1 S. 1, 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) dennoch nicht zu einer Eintragung im Erziehungsregister kommt (vgl. dazu Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 25 i. V. m. § 45 Rn. 39; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 29 i. V. m. § 45 Rn. 57; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 15 i. V. m. § 45 Rn. 22). 1275 Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 28; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 16. 1276 Das BVerfG, Beschl. v. 27.1.1983 – 2 BvR 92/83 (unveröffentlicht) hat diese Regelung als verfassungsgemäß beurteilt; krit. Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 28.
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Voraussetzungen der Einstellung nach § 47 JGG – speziell in Fällen des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG namentlich: die Zustimmung des Jugendstaatsanwalts1277, die Erhebung der Klage bzw. die Antragsstellung nach §§ 76 ff. JGG1278 sowie die Durchführung oder Einleitung einer erzieherischen Maßnahme1279 – nicht vorgelegen haben.1280 Zugunsten des jugendlichen bzw. heranwachsenden Betroffenen wirkt sich dies indes nicht aus. Letzterem steht folglich insgesamt kein Rechtsbehelf zur Verfügung. e) Verhältnis zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG Das Verhältnis des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG bestimmt sich in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung wie dasjenige des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG zu § 45 Abs. 1 JGG: Trotz grundsätzlicher Nachrangigkeit des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG1281 wird (gleichwohl) nicht § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG anzuwenden sein, wenn infolge entsprechender Gesichtspunkte zugleich die Voraussetzungen dieser Norm erfüllt sind. Grund hierfür ist wiederum, dass die für eine Anwendung jener Vorschrift erforderliche „erzieherische Maßnahme“ in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung zumeist bereits erfüllt ist.1282 5. Zwischenergebnis 1 Die §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG sind speziell in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung geeignet, das Verfahren aus erzieherischen Gesichtspunkten zu beenden. II. § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO Zu prüfen ist, ob eine Beendigung jugendstrafrechtlicher Verfahren speziell in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung auch wie im Erwachsenenrecht1283 gemäß § 153b StPO möglich ist. 1277 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 14; D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 13; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 26; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 28; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 16; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 131; vgl. auch Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 51. 1278 D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 13. 1279 D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 13. 1280 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rn. 14; D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 13; Eisenberg, JGG, § 47 Rn. 26; Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 28; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 16; vgl. LG Krefeld NJW 1976, 815. 1281 Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 4, 6; Ostendorf, JGG, § 47 Rn. 10. 1282 Vgl. zum Ganzen oben 3. e). 1283 Dazu oben A.
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1. Anwendbarkeit des § 153b StPO im Jugendstrafverfahren? Fraglich ist angesichts der spezifischen Vorschriften der §§ 45, 47 JGG zunächst, ob § 153b StPO allgemein in jugendstrafrechtlichen Verfahren anwendbar ist. Die Diversionsvorschriften der §§ 45 bzw. 47 JGG könnten namentlich einer Heranziehung von § 153b Abs. 1 bzw. 2 StPO entgegenstehen, wenn und soweit sie eine abschließende Regelung darstellen (vgl. § 2 Abs. 2 JGG). Die hierzu vertretenen Ansichten variieren im Detail – nicht nur der jeweils gewählten Formulierung nach – sehr stark: Teilweise wird davon ausgegangen, dass die §§ 45, 47 JGG sich schon vom Wortlaut her „nicht ohne weiteres“ für solche Fälle eignen, in denen die Voraussetzungen vorliegen, um im Urteil von Strafe abzusehen.1284 Andere Autoren sind weitergehend der Auffassung, eine ausdrückliche Regelung des dem § 153b StPO zugrunde liegenden Sachverhalts sei in den §§ 45, 47 JGG nicht getroffen worden1285, die auf anderen Gesichtspunkten fußende Nichtverfolgungsermächtigung des § 153b StPO werde daher von den §§ 45, 47 JGG nicht tangiert.1286 Wieder andere Autoren meinen, „alternativ“1287 zu § 153b StPO kämen §§ 45, 47 JGG bzw. „neben“1288 den §§ 45, 47 JGG käme § 153b StPO in Betracht. Schließlich wird vertreten, § 153b Abs. 1 StPO sei durch § 45 JGG „nicht1289 (bzw. „nicht völlig“1290) verdrängt“1291 bzw. „nicht ausgeschaltet“1292, desgleichen sei § 153b Abs. 2 StPO durch § 47 JGG „nicht verdrängt“1293. 1284
Laubenthal, Rn. 442. D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a i. V. m. § 47 Rn. 5. 1286 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a, § 47 Rn. 5; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 33; vgl. Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 9, 13, § 47 Rn. 9; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 58, 61, § 47 Rn. 30, 33; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 7; Laubenthal/Baier, Rn. 309; Nothacker, Erziehungsvorrang, S. 321; wohl auch Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 133. 1287 Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 15. 1288 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3, § 47 Rn. 4; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 58, 61; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 7, § 47 Rn. 7; a. A. Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 4; vgl. auch KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 13. 1289 D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a. 1290 KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 13; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 4; ähnl. AnwK/Walther, StPO, § 153b Rn. 13 (§ 45 JGG schließe die Anwendung von § 153b Abs. 1 StPO „nicht grundsätzlich aus“). 1291 Tendenziell a. A. bezüglich des Spezialfalles des § 153b StPO i. V. m. § 46a StGB Schaffstein/Beulke, S. 237 („dürfte. . .verdrängt werden“). 1292 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3. 1293 Nix/Rzepka, JGG, § 47 Rn. 33; in der Tendenz a. A. hinsichtlich eines Spezialfalles auch hier Schaffstein/Beulke, S. 237 (siehe näher Fn. 1291). 1285
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Unbeschadet dessen, dass vorliegend die beiden erstgenannten Auffassungen – ordnet man die mit einer medienöffentlichen Vorverurteilung etwaig einhergehenden Beeinträchtigungen wie ausgeführt als grundsätzlich denkbare „erzieherische Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG ein1294 – ausnahmsweise nicht zutreffend sind und trotz unterschiedlicher Nuancen in den Formulierungen der weiteren Standpunkte, haben die vorgenannten Ansichten jedenfalls eines gemeinsam: Nach ihnen ist § 153b StPO auch im Jugendstrafverfahren anwendbar.1295 Bevor sich unter 4. dem genauen Verhältnis von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 StPO gegenüber den speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung bereits als relevant beurteilten1296 Vorschriften der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG zugewendet wird, soll zuvor kurz auf die spezifische inhaltliche Ausgestaltung von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO im Jugendstrafverfahren eingegangen werden. 2. Voraussetzungen und Beschränkungen Hinsichtlich der allgemeinen Voraussetzungen und Beschränkungen des § 153b StPO speziell im jugendstrafrechtlichen Bereich kann auf die entsprechenden Ausführungen zum Erwachsenenstrafrecht1297 verwiesen werden.1298 1294
Siehe oben I. 1. Ganz h. M.: Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3, § 47 Rn. 4; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a, § 47 Rn. 5; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 13, § 47 Rn. 9; Nix/ Rzepka, JGG, § 45 Rn. 61; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 7, § 47 Rn. 7; Laubenthal, Rn. 309, 442; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 33; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 53, § 8 Rn. 15; so wohl auch Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 133 (danach sind die „übrigen Einstellungsmöglichkeiten“ der §§ 153c ff. StPO im Jugendstrafverfahren anwendbar; es ermangelt hier letztlich also nur an der – angesichts des Umstandes, dass entsprechende Ausführungen gänzlich fehlen, mutmaßlich: versehentlichen – expliziten Einbeziehung auch der Vorschrift des § 153b StPO); siehe (im Verhältnis zu § 47 JGG) auch schon Dallinger/Lackner, JGG, § 47 Rn. 1 (zu § 153a Abs. 2 StPO a. F. = § 153b Abs. 2 StPO); siehe ferner AK/Schöch, StPO, § 153b Rn. 3; einschr. KK/Schoreit, StPO, § 153b Rn. 13; KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 4; LR/ Beulke, StPO, § 153b Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 5; Pfeiffer, StPO, § 153b Rn. 4; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 8; tendenziell a. A. bezüglich des Spezialfalles des § 153b StPO i. V. m. § 46a StGB Schaffstein/Beulke, S. 237 (siehe schon oben Fn. 1291 und 1293). 1296 Siehe oben I. 1.–5. 1297 Siehe oben A. I. 1298 Gleiches gilt für die Auferlegung der Kosten des Verfahrens (vgl. dazu oben A. II. 1. am Ende, 2. am Ende und speziell § 74 JGG [siehe dazu oben I. 4. c) aa) am Ende]) sowie etwaige Rechtsbehelfe des Betroffenen (vgl. dazu oben A. III.; insoweit ist etwa bei einer Einstellung nach § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO ein Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 Alt. 2 StPO auch im 1295
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Insbesondere stellt in tatbestandlicher Hinsicht § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB1299 eine Norm i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO dar1300. Eine Besonderheit ergibt sich aber insoweit, als der Begriff der „Strafe“ in § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 bzw. Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 StPO – entsprechend der für den jugendstrafrechtlichen Bereich hinsichtlich des Merkmals „Strafe“ in § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB vorgenommenen Erstreckung (auch) auf ein Absehen von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln1301 – ebenfalls nicht nur auf „Jugendstrafe“ i. S. der §§ 17, 18 JGG zu beziehen ist; die Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO ist infolge dessen auch dann anwendbar, wenn nach Lage der Dinge lediglich eine Verhängung von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln in Betracht käme und diesbezüglich ein materiellrechtliches „Absehen von Strafe“ i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB zu erwarten wäre.1302 Auf Rechtsfolgenseite eröffnet § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO auch im jugendstrafrechtlichen Bereich eine Entscheidung nur nach dem „Alles oder nichts“-Prinzip, weshalb die Vorschrift lediglich in den (ganz wenigen) Fällen anwendbar ist, in denen auf Grund von Gesichtspunkten medienöffentlicher Vorverurteilung materiellrechtlich ein völliges Absehen von Strafe gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB zu erwarten wäre. Dies hat zur Folge, dass eine Heranziehung von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO die absolute Ausnahme zu bleiben hat. Im Verhältnis zum allgemeinen Recht wird das Verfahren aber – bei im Übrigen gleicher Sachlage – wegen der besonderen „Empfänglichkeit“ des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden für Beeinträchtigungen und einer insoweit allgemein erhöhten Schutzbedürftigkeit häufiger schon auf der „Vorebene“ des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO zu beenden sein, um dem JugendJugendstrafverfahren ausgeschlossen [vgl. Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 43; Nix/ Rzepka, JGG, § 45 Rn. 52] und kommt ohnehin nicht dem von der Vorverurteilung Betroffenen zugute). Ein Eintrag von Entscheidungen nach § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO in das BZRG erfolgt bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden ebenfalls nicht (vgl. näher oben A. IV.). 1299 Nach hier erfolgter Prüfung bedarf es zu einem „Absehen von Strafe“ infolge der aus einer medienöffentlichen Vorverurteilung für den Betroffenen resultierenden Beeinträchtigungen im jugendstrafrechtlichen Bereich einer Verknüpfung mit dem Erziehungsgedanken des JGG (siehe oben 2. Kap. C. III. 1.). Auf diese genaue Zitierung soll im Dritten Kapitel aus Gründen einer vereinfachten Darstellung insgesamt verzichtet werden. 1300 Speziell aus der jugendstrafrechtlichen Literatur D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a; Streng, Jugendstrafrecht, § 8 Rn. 15; vgl. auch Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 13; zu Nachw. für das allg. Recht siehe oben Fn. 1099. 1301 Siehe oben 2. Kap. C. I. 2. c) bb) (1) und (2). 1302 Im Ergebnis ebenso Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 13; a. A. KMR/Plöd, StPO, § 153b Rn. 4; Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rn. 5; SK/Weßlau, StPO, § 153b Rn. 8.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
lichen bzw. Heranwachsenden das in aller Regel mit zusätzlichen Beeinträchtigungen verbundene weitere Verfahren besonders in solchen Fallgestaltungen zu ersparen, in denen eine fortgesetzte Medienkampagne zu befürchten steht. Bezüglich der besonderen Voraussetzungen und Beschränkungen gelten die Ausführungen zum Erwachsenenstrafrecht1303 ebenfalls entsprechend. So bedarf es bei einem jugendstaatsanwaltlichen Absehen von Klage bzw. einer jugendrichterlichen Einstellung des Verfahrens nach § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 bzw. 2 StPO der Zustimmung des jeweils anderen Prozessbeteiligten.1304 Und hinsichtlich des verfahrenszeitlichen Anwendungsbereichs ist § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO während des Ermittlungsverfahrens, die Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO hingegen erst mit Erhebung der Klage und dann bis zum Beginn der Hauptverhandlung einschlägig.1305 3. Zwischenergebnis 2 Auch die Vorschriften des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 StPO eignen sich für eine Beendigung des Verfahrens speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung. 4. Verhältnisbestimmungen Das genaue Verhältnis der Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG bzw. dasjenige des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG wird nachfolgend gemäß den näheren Umständen des Einzelfalles zu bestimmen sein. Der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Erziehungsgedankens kommt insoweit zentrale Bedeutung zu.1306 Namentlich werden hierbei angesichts des in Fällen der §§ 45, 47 JGG – nicht aber bei § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 StPO – zwingend erfolgenden (Erziehungs-)Registereintrags1307 das Verbot 1303
Siehe oben A. II. Vgl. oben A. II. 1., 2. 1305 Vgl. zusammenfassend oben A. II. 3. 1306 So in allg. Betrachtung auch Nothacker, in: JZ 1982, S. 60 f. 1307 Siehe oben I. 3. c) bb) am Anfang, 4. c) bb) am Anfang. – Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO unterliegen gemäß § 492 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 StPO zwar ebenfalls einer Eintragungspflicht, und zwar im sog. länderübergreifenden staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister (siehe §§ 492 ff. StPO). In dieses Register sind aber – erstens – über § 2 Abs. 2 JGG auch Verfahrenseinstellungen gegen Jugendliche und Heranwachsende einzutragen (Brunner/Dölling, JGG, Vor § 97 Rn. 31a; Eisenberg, JGG, § 97 Rn. 7; Böhm/Feuerhelm, S. 276 Fn. 2; Laubenthal/ 1304
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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der Schlechterstellung sowie das in Fällen der § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 StPO; § 47 JGG – nicht aber bei § 45 JGG – bestehende Zustimmungserfordernis zu berücksichtigen sein. Gleichsam übergeordnet sind die inhaltliche Einschlägigkeit der Vorschriften einerseits sowie der jeweilige Stand des Verfahrens andererseits zu beachten. a) § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO im Verhältnis zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG Zunächst soll eine Bestimmung des Verhältnisses von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO zu § 45 Abs. 2 S. 1 JGG vorgenommen werden.1308 In dieser Hinsicht gilt: aa) Fallgruppe 1: Bereits erzielte erzieherische Wirkung Im Falle der Beendigung des Verfahrens auf Grund einer bei dem Betroffenen infolge der vorverurteilenden Medienberichterstattung bereits erzielBaier, Rn. 900; Meier/Rössner/Schöch, § 14 Rn. 44; Schaffstein/Beulke, S. 312). Außerdem dürfen – zweitens – die diesbezüglich erhobenen Daten lediglich für Strafverfahren gespeichert und verändert werden (§ 492 Abs. 2 S. 2 StPO), und Auskünfte aus dem Register dürfen nur den Strafverfolgungsbehörden und diesen auch nur für Zwecke der Verwendung in einem Strafverfahren erteilt werden (§ 492 Abs. 3 S. 2, Abs. 6 StPO). Das Register dient also lediglich dazu, insbesondere den Staatsanwaltschaften einen Überblick über gegebenenfalls bei anderen Staatsanwaltschaften gegen denselben Beschuldigten anhängige Strafverfahren zu verschaffen (Kramer, Rn. 103). Sobald sich aus dem Bundeszentralregister ergibt, dass eine nach § 20 BZRG mitteilungspflichtige gerichtliche Entscheidung oder Verfügung der Strafverfolgungsbehörde ergangen ist, sind die in dem Strafverfahren erhobenen Daten zu löschen (§ 494 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO). Es handelt sich folglich um ein dem Bundeszentralregister lediglich vorgelagertes Register (Brunner/ Dölling, JGG, Vor § 97 Rn. 31a). – Auch die speziell in Fällen des § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 6 bzw. Abs. 2 S. 1 i. V. m. Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StPO (vorläufiges Absehen von der Erhebung der öffentlichen Klage bzw. vorläufige Einstellung des Verfahrens bei Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 2b Abs. 2 S. 2 oder § 4 Abs. 8 S. 4 StVG) gemäß § 28 Abs. 3 Nr. 12 StVG erfolgende Eintragung im Verkehrszentralregister (§§ 28 ff. StVG) unterliegt gemäß § 30 Abs. 6, Abs. 7 S. 2 StVG einer nur beschränkten Verarbeitung und Nutzung (namentlich zulässig lediglich zu den größtenteils unmittelbar mit dem Straßenverkehr zusammenhängenden Zwecken der §§ 28 Abs. 2, 30 Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 StVG), und sie ist darüber hinaus nur bestimmten, überwiegend öffentlichen Stellen zugänglich (siehe die in § 30 Abs. 1–5, Abs. 7 S. 1 StVG genannten Einrichtungen). 1308 Vorweg folgender Hinweis zur Anwendbarkeit des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG bzw. § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO in Abhängigkeit vom Verfahrenszeitpunkt: Beide Vorschriften gelten nur, wenn die Anklage noch nicht eingereicht (§ 47 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 JGG) bzw. erhoben (§ 153b Abs. 2 Hs. 1 StPO) wurde.
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
ten erzieherischen Wirkung ist angesichts der bei einer Heranziehung des § 45 Abs. 2 S. 1 JGG zwingend erfolgenden Erziehungsregistereintragung und damit Schlechterstellung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden von einem Vorrang der keinen Registereintrag auslösenden Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO auszugehen.1309 Der Jugendstaatsanwalt ist insoweit gehalten, das hierfür erforderliche Einvernehmen mit dem Jugendrichter herzustellen. Verweigert dieser seine Zustimmung, richtet sich das Verfahren ausnahmsweise nach § 45 Abs. 2 S. 1 JGG. bb) Fallgruppe 2: Schon erfolgte ahndende Einwirkung Demgegenüber ist bei einer Verfahrensbeendigung wegen einer infolge der medienöffentlichen Vorverurteilung schon erfolgten ahndenden Einwirkung auf den Betroffenen stets § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 StPO heranzuziehen, da § 45 Abs. 2 S. 1 JGG insoweit nicht einschlägig ist1310. Der Jugendstaatsanwalt ist wiederum gehalten, das erforderliche Einvernehmen mit dem Jugendrichter herzustellen, da andernfalls eine Beendigung des Verfahrens auf Grund vorverurteilender Medienberichterstattung auf staatsanwaltschaftlicher Diversionsebene insgesamt auszuscheiden hat. cc) Klarstellender Hinweis Zur Klarstellung sei abschließend darauf hingewiesen, dass beide Vorschriften auf Grund ihrer verfahrensbeendenden Wirkung nicht zur Anwendung gelangen können, wenn der Jugendstaatsanwalt als Adressat der Regelung eine (weitere) Ahndung für erforderlich erachtet. b) § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO im Verhältnis zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG Des Weiteren ist eine Bestimmung des Verhältnisses von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO zu § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG erforderlich.1311 Diesbezüglich gilt: 1309
Im Ergebnis ebenso D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9a. Siehe oben Fn. 1211. 1311 Vorweg auch hier (vgl. Fn. 1308) ein Hinweis zur Anwendbarkeit der Vorschriften in Abhängigkeit vom Verfahrenszeitpunkt: § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG bzw. § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO gelten jeweils nur, sofern die Anklage bereits eingereicht (§ 47 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 JGG) bzw. erhoben (§ 153b Abs. 2 Hs. 1 StPO) wurde. 1310
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
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aa) Fallgruppe 1: Bereits erzielte erzieherische Wirkung Bei einer Einstellung des Verfahrens im Hinblick auf eine bei dem Betroffenen infolge der vorverurteilenden Medienberichterstattung bereits erzielte erzieherische Wirkung ist in Anbetracht der bei einer Anwendung des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG zwingend erfolgenden Erziehungsregistereintragung und somit Schlechterstellung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden stets die keinen Registereintrag herbeiführende Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO heranzuziehen1312, wenn die Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat.1313 Danach, das heißt während des Zeitraumes seit Beginn der Hauptverhandlung bis hin zu einer gerichtlichen Entscheidung, ist stets § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG heranzuziehen, da der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO nunmehr nach der gesetzlichen Regelung („bis zum Beginn der Hauptverhandlung“) ausdrücklich verlassen, derjenige von § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG wegen § 47 Abs. 2 S. 2 JGG („auch in der Hauptverhandlung“) aber weiterhin eröffnet ist. bb) Fallgruppe 2: Schon erfolgte ahndende Einwirkung Im Falle einer Einstellung des Verfahrens ob einer infolge der medienöffentlichen Vorverurteilung schon erfolgten ahndenden Einwirkung auf den Betroffenen ist § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG hingegen insgesamt nicht einschlägig.1314 Daher ist hier stets § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO heranzuziehen, jedenfalls dann, wenn die Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat. Ab diesem Zeitpunkt ist der gesetzlichen Regelung des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO zufolge („bis zum Beginn der Hauptverhandlung“) auch dessen Anwendungsbereich verlassen. Da es aber unbillig erschiene, einem von medienöffentlicher Vorverurteilung beeinträchtigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden die Möglichkeit einer Einstellung des Verfahrens lediglich in dieser einen besonderen Fallkonstellation von vorne herein gänzlich zu verweigern, ist hier § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO dergestalt entsprechend heranzuziehen, dass vorgenannte Vorschrift – entgegen ihrem gesetzlichen Wortlaut – zugunsten des jugendlichen bzw. heranwachsenden 1312
Vgl. im Ergebnis ebenso D/S/S/Diemer, JGG, § 47 Rn. 5. Die Zustimmung des Jugendstaatsanwalts ist hier (siehe § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO) wie dort (siehe § 47 Abs. 2 S. 1 JGG) erforderlich und daher bei der Bestimmung des Anwendungsverhältnisses an dieser Stelle nicht von Relevanz. 1314 Siehe oben Fn. 1256. 1313
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Beschuldigten über den Zeitpunkt des Beginns der Hauptverhandlung hinaus anwendbar bleibt. Dann ist mit Beginn der Hauptverhandlung und bis hin zu einer richterlichen Entscheidung durch Urteilsspruch1315 stets § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 2 StPO analog heranzuziehen. cc) Klarstellender Hinweis Auch hier sei zum Schluss klarstellend darauf hingewiesen, dass beide in Bezug genommenen Vorschriften angesichts ihres verfahrensbeendenden Charakters nicht zur Anwendung gelangen können, wenn der Adressat der Regelung, namentlich der Jugendrichter, eine (weitere) Ahndung für geboten hält. 5. Anwendungshäufigkeit Hinsichtlich der Anwendungshäufigkeit von § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 StPO gelten die Bemerkungen zum Erwachsenenstrafrecht1316 entsprechend. Danach wird die strafprozessuale Berücksichtigung einer vorverurteilenden Medienberichterstattung im Jugendstrafverfahren – bei im Übrigen vergleichbarer Sachlage – aus tatsächlicher Sicht infolge einer zu konstatierenden „Wenigerberichterstattung“ der Medien seltener als im Erwachsenenstrafverfahren in Betracht kommen, während sich aus rechtlicher Sicht im Einzelfall auf Grund der in § 48 Abs. 1 JGG getroffenen Grundentscheidung der Nichtöffentlichkeit des Verfahrens und der bei jungen Menschen nachhaltiger sich auswirkenden Beeinträchtigungen eine erhöhte Anwendungsnotwendigkeit ergibt. Hinzu treten Möglichkeiten der Einbeziehung einer bereits erfolgten erzieherischen Einwirkung im Rahmen der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG. Insgesamt dürfte sich hieraus eine gegenüber der Situation im Erwachsenenrecht dennoch geringere Anzahl einschlägiger Fälle ergeben. III. Zwischenergebnis zum Jugendstrafverfahren Sowohl die §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG als auch § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 (analog) StPO eröffnen im Jugendstrafverfahren eine Berücksichtigung der durch eine vorverurteilende Berichterstattung in den Medien erfolgenden Beeinträchtigungen des Betroffenen. 1315 Siehe dazu die Grundlegung einer strafzumessungsimmanenten Berücksichtigung im 2. Kap. C. 1316 Siehe oben A. I. 3. am Ende; vgl. auch oben 2. Kap. B. IV. 2. d) aa), C. III. 2. d) aa).
3. Kap.: Grundlegung einer strafprozessualen Berücksichtigung
277
Zum Verhältnis der Vorschriften im Einzelnen kann auf die obige Darstellung1317 verwiesen werden. IV. § 2 Abs. 2 JGG, §§ 153, 153a StPO Weiterhin könnte eine Beendigung jugendstrafrechtlicher Verfahren speziell in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung auch nach § 2 Abs. 2 JGG, §§ 153, 153a StPO eröffnet sein.1318 1. Verhältnis zu §§ 45, 47 JGG Das Verhältnis der §§ 153, 153a StPO zu den §§ 45, 47 JGG gemäß § 2 Abs. 2 JGG ist im Allgemeinen äußerst umstritten.1319, 1320 1317
Siehe II. 4. Zu den inhaltlichen Voraussetzungen der §§ 153, 153a StPO siehe oben B. I. 1319 Generalisierend können zwei Grundauffassungen (siehe ferner KK/Schoreit, StPO, § 153 Rn. 8; Pfeiffer, StPO, § 153 Rn. 1; Ranft, Rn. 1154 f.) bezüglich des Verhältnisses zu § 153 StPO unterschieden werden. Eine Ansicht geht von einer generellen Unanwendbarkeit des § 153 Abs. 1 bzw. 2 StPO aus, da die §§ 45 Abs. 1 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG diesbezüglich als leges speciales i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG anzusehen seien (LG Aachen NStZ 1991, 450 [nur zu § 153 Abs. 2 StPO]; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3, § 47 Rn. 4; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9, § 47 Rn. 5; LR/Beulke, StPO, § 153 Rn. 14; Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rn. 12; SK/Weßlau, StPO, § 153 Rn. 11; Böhm/Feuerhelm, S. 88, 103 ff.; Meier/Rössner/Schöch, § 7 Rn. 33; Schaffstein/Beulke, S. 236 f.; Böhm, in: FS Spendel, S. 778 ff., 783). Die Gegenansicht vertritt eine lediglich partielle Unanwendbarkeit des § 153 Abs. 1 bzw. 2 StPO, wobei das Verbot der Schlechterstellung diesbezüglich letztlich ausschlaggebend sein soll (LG Itzehoe StV 1993, 537 [538]; Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 9, 10 f., § 47 Rn. 9; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 6, 58 f., § 47 Rn. 6, 30 f.; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 5, § 47 Rn. 7; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 131 ff.; Laubenthal/Baier, Rn. 308; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 52; Eisenberg, in: NStZ 1991, S. 450 f.; Ostendorf, in: StV 1993, S. 538; ferner Nothacker, Erziehungsvorrang, (S. 321 Fn. 229 i. V. m.) S. 321 f. [zu § 45 Abs. 2 Nr. 2, §§ 47 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG a. F. = §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JGG]; Bohnert, in: NJW 1980, S. 1929 ff., 1931; Nothacker, in: JZ 1982, S. 60 f. [beide nur zu § 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG a. F. = § 45 Abs. 1 JGG]). 1320 Desgleichen (vgl. vorherige Fn. 1319) lassen sich im Großen und Ganzen (siehe ferner Nothacker, in: JZ 1982, S. 60 ff., 62 [zu § 45 JGG a. F.]; Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rn. 4; Pfeiffer, StPO, § 153a Rn. 1; Ranft, Rn. 1170) zwei Grundauffassungen hinsichtlich des Verhältnisses zu § 153a StPO unterscheiden. Eine Ansicht befürwortet eine generelle Unanwendbarkeit des § 153a Abs. 1 bzw. 2 StPO, da die §§ 45 Abs. 2 und 3 bzw. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 JGG insoweit leges speciales i. S. d. § 2 Abs. 2 JGG darstellten (LG Aachen NStZ 1991, 450 [nur zu § 153a Abs. 2 StPO]; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rn. 3, § 47 Rn. 4; D/S/S/Diemer, JGG, § 45 Rn. 9, § 47 Rn. 5; KK/Schoreit, StPO, § 153a Rn. 8; 1318
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4. Teil: Konzeption einer strafjustiziellen Berücksichtigung
Speziell beim Vorliegen einer „erzieherischen Maßnahme“ i. S. der §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG ist die Anwendung der §§ 153, 153a StPO im Jugendstrafverfahren gemäß § 2 Abs. 2 JGG jedenfalls ausgeschlossen, da Gesichtspunkte des etwaigen Bestehens eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung (vgl. § 153 StPO) in derartigen Fällen nicht (mehr) relevant sind bzw. ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung, das durch die Erfüllung von Auflagen beseitigt werden müsste (vgl. § 153a StPO), gerade nicht (mehr) besteht1321. 2. Verhältnis zu § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO Im Verhältnis von § 2 Abs. 2 JGG, §§ 153, 153a StPO gegenüber § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO gelten die zum Erwachsenenstrafverfahren gemachten Ausführungen1322 entsprechend. Danach ist speziell in Fällen vorverurteilender Medienberichterstattung von einem Vorrang der Vorschriften des § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO auszugehen, wenn zugleich deren Voraussetzungen vorliegen. V. Weitere Vorschriften Hinsichtlich der Sondervorschriften der §§ 153c-f, 154, 154a-c, e StPO kann ebenfalls auf die zum Erwachsenenstrafverfahren vorgenommenen Erläuterungen1323 verwiesen werden. § 2 Abs. 2 JGG, § 153b StPO ist demnach auch im Verhältnis zu diesen Vorschriften vorrangig heranzuziehen.
Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 131; Böhm/Feuerhelm, S. 88, 103 ff.; Meier/Rössner/ Schöch, § 7 Rn. 33; Schaffstein/Beulke, S. 236 f.; Böhm, in: FS Spendel, S. 778 ff., 783). Die Gegenansicht geht demgegenüber lediglich von einer partiellen Unanwendbarkeit des § 153a Abs. 1 bzw. 2 StPO aus, wobei das Verbot der Schlechterstellung wiederum letztlich den Ausschlag geben soll (Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 9, 11 f., § 47 Rn. 9; LR/Beulke, StPO, § 153a Rn. 19; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 6, 58, 60, § 47 Rn. 6, 30, 32; Ostendorf, JGG, § 45 Rn. 6, § 47 Rn. 7; Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 131 ff.; Laubenthal/Baier, Rn. 308; Eisenberg, in: NStZ 1991, S. 450 f.; Zieger, Jugendstrafsachen, Rn. 147; ferner Nothacker, Erziehungsvorrang, (S. 321 Fn. 229 i. V. m.) S. 321 f. [zu §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG a. F.]; Bohnert, in: NJW 1980, S. 1929 ff., 1931 [nur zu § 45 Abs. 1 JGG a. F.]; wohl auch Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rn. 53. 1321 Ebenso Eisenberg, JGG, § 45 Rn. 11, § 47 Rn. 9; Nix/Rzepka, JGG, § 45 Rn. 60, § 47 Rn. 32; Nothacker, in: JZ 1982, S. 61 (zum Verhältnis von § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG a. F. zu § 153a Abs. 1 StPO a. F.). 1322 Siehe oben B. III. 1323 Dazu oben C.
4. Kap.: Schlussbetrachtung zum Vierten Teil
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VI. Ergebnis zum Jugendstrafverfahren Im Jugendstrafverfahren eröffnen die §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG sowie § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 (analog) StPO eine Berücksichtigung der durch eine vorverurteilende Berichterstattung in den Medien erfolgenden Beeinträchtigungen des Betroffenen. Viertes Kapitel
Schlussbetrachtung zum Vierten Teil Das voranstehend entwickelte Konzept einer strafjustiziellen Berücksichtigung medienöffentlicher Vorverurteilung ermöglicht eine adäquate staatliche Reaktion auf etwaige Beeinträchtigungen, die sich für den jugendlichen, heranwachsenden oder erwachsenen Betroffenen ergeben haben. In Abhängigkeit vom jeweiligen Stand des Verfahrens können in Rede stehende Umstände eine bereits strafprozessuale oder aber erst strafzumessungsimmanente Berücksichtigung finden.
Fünfter Teil
Zusammenfassung und Ausblick I. Die Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung und die Belange der Strafjustiz befinden sich in einem problematischen Beeinflussungsverhältnis: In Anlehnung an die Aussage der Heisenberg’schen Unschärferelation („Der Beobachter verändert das Beobachtete“; W. Heisenberg 1927) verändert sich mit der Gegenwart von Medienvertretern im Gerichtssaal der Ablauf von Strafprozessen.1324 Art und Ausmaß der Berichterstattung sind dabei abhängig von den vermeintlichen oder tatsächlichen Interessen der Allgemeinheit. Die vor diesem Hintergrund festzustellenden Veränderungen äußern sich in zunehmendem Maße in Richtung einer vorverurteilenden Kommentierung von Gerichtsverfahren. II. Eine derartige vorverurteilende Medienberichterstattung geht mit entsprechenden Beeinträchtigungen insbesondere des Beschuldigten einher. Der zu definierende Begriff „medienöffentliche Vorverurteilung“ wurde hier daher ganz zentral speziell auf dessen Wirkungssphäre hin ausgerichtet. Eine medienöffentliche Vorverurteilung liegt danach vor, wenn der Beschuldigte entgegen der in rechtsstaatlicher Hinsicht allgemein zu seinen Gunsten sprechenden (Unschulds-)Vermutung bereits vor dem Nachweis seiner Schuld in einem gesetzlich geregelten, förmlichen und durch rechtskräftige Verurteilung abgeschlossenen Verfahren in der medial unterrichteten Gesellschaft als schuldiger Täter einer in der Vergangenheit begangenen strafbaren Handlung bezeichnet wird. Auf diese Perspektive bezogen sich auch die nachfolgenden dogmatischen Überlegungen.
1324
Vgl. Gerhardt, S. 29.
5. Teil: Zusammenfassung und Ausblick
281
III. Die im Arbeitstitel zum Ausdruck gebrachte Fragestellung konnte dahingehend beantwortet werden, dass angesichts der mitunter erheblichen Beeinträchtigungen des Betroffenen strafjustizielle Folgerungen medienöffentlicher Vorverurteilung für das Erwachsenen- wie auch für das Jugendstrafverfahren grundsätzlich in Betracht zu ziehen sind. IV. Das hier speziell vertretene Konzept einer solchen strafjustiziellen Berücksichtigung ermöglicht eine adäquate staatliche Reaktion auf die Beeinträchtigungen, die sich für den jugendlichen, heranwachsenden oder erwachsenen Betroffenen einer medienöffentlichen Vorverurteilung ergeben haben. In Abhängigkeit vom jeweiligen Stand des Verfahrens können in Rede stehende Umstände danach eine bereits – in Literatur und Rechtsprechung bislang nicht erwogene – strafprozessuale oder aber eine erst strafzumessungsimmanente Berücksichtigung finden. 1. Im Erwachsenenstrafverfahren lässt sich eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung der seitens des Beschuldigten erlittenen Beeinträchtigungen auf § 60 StGB i. V. m. § 46 Abs. 2 StGB stützen. Je nach Schwere der Beeinträchtigungen ist eine bloße Strafmilderung oder aber ganz ausnahmsweise auch ein vollumfängliches Absehen von Strafe („Strafmilderung auf Null“) geboten. Eine lediglich strafmildernde Berücksichtigung ist hierbei letztlich zwar nicht mehr als ein umfänglich begrenzter Ausgleich für erlittene Einbußen1325 – aber eben auch nicht weniger. Und im Falle eines völligen Absehens von Strafe ist es sogar mehr als das. Strafprozessual können derartige Beeinträchtigungen im Erwachsenenrecht über § 153b Abs. 1 bzw. 2 StPO berücksichtigt werden. Angesichts der „Natur“ der Institute Absehen von Klage bzw. Einstellung des Verfahrens hat die Entscheidung hierüber nach dem Prinzip „Alles oder nichts“ zu ergehen. Dies hat zur Folge, dass materiellrechtlich der sehr seltene Fall eines völligen Absehens von Strafe zu erwarten stehen muss, um die genannten Vorschriften zur Anwendung bringen zu können, weshalb eine Entscheidung nach § 153b Abs. 1 oder 2 StPO nur in ganz besonderen Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen ist. 1325
Roxin, in: NStZ 1991, S. 154 spricht gar von einem bloßen „Trostpflaster“.
282
5. Teil: Zusammenfassung und Ausblick
2. Gesonderter Erörterungen bedurfte der jugendstrafrechtliche Bereich. Hier bildet § 2 Abs. 2 JGG, § 60 StGB i. V. m. dem Erziehungsgedanken des JGG die dogmatische Grundlage für eine strafzumessungsimmanente Berücksichtigung der infolge einer vorverurteilenden Medienberichterstattung seitens des Betroffenen erlittenen Beeinträchtigungen. Eine strafprozessuale Berücksichtigung in Rede stehender Umstände ermöglichen im Jugendstrafverfahren unter dem Aspekt einer bereits durchgeführten oder eingeleiteten „erzieherischen Maßnahme“ die §§ 45 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JGG. Ferner eröffnen § 2 Abs. 2 JGG, § 153b Abs. 1 und 2 (analog) StPO wie im Erwachsenenrecht eine prozessuale Berücksichtigung. Von den genannten Gesichtspunkten hängt es ab, welche Vorschrift im Einzelnen zur Anwendung gelangt. V. Die Gesprächsinhalte der mit Richtern am Landgericht Berlin geführten insgesamt 33 Experteninterviews konnten der vorgenommenen rechtsdogmatischen Analyse zugrunde gelegt werden und diese vielfach noch ergänzen und vertiefen. Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung, deren Durchführung den intendierten interdisziplinären Ansatz der Arbeit begründet, waren darüber hinaus wichtiger Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Die begleitenden konzeptionellen Ausführungen zu Methodik und Praxis der Experteninterviews bezweckten insoweit eine Darstellung des der Arbeit zugrunde liegenden spezifischen Forschungsdesigns. VI. Dass dem eingangs ausführlich berichteten Fall des „Autobahnrasers“ und den in engem zeitlichen Zusammenhang hiermit ergangenen weiteren einschlägigen Entscheidungen1326 ein nicht bloß episodenhafter Charakter zukommt, zeigt sich nicht zuletzt an einem unlängst verhandelten Fall, in dem die „beispiellose Vorverurteilung“ des Beschuldigten ebenfalls strafmildernde Berücksichtigung gefunden hat1327.
1326
Siehe oben Fn. 96. Der Tagesspiegel vom 22. März 2007, S. 3 unter Bezugnahme auf die mündliche Urteilsverkündung vom Vortage betr. das Verfahren gegen K. Landowsky im sog. Berliner Bankenskandal (Az. 536 13/04; unveröffentlicht). 1327
5. Teil: Zusammenfassung und Ausblick
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1. Es bleibt abzuwarten, in welcher Häufigkeit und mit welchem Gewicht die Entscheidungsträger etwaige mit einer vorverurteilenden Medienberichterstattung für den Betroffenen einhergehende Beeinträchtigungen in Zukunft berücksichtigen werden. Angesichts der Zunahme von in der jüngeren Vergangenheit berichteten einschlägigen Fällen steht zumindest zu vermuten, dass derartige Gesichtspunkte – unbeschadet des konstatierten Ausnahmecharakters – eine vermehrte strafjustizielle Berücksichtigung finden werden.1328 Hierbei kann auf die im Rahmen dieser Arbeit erzielten Ergebnisse zurückgegriffen werden. 2. Abzuwarten bleibt auch, wann speziell für den jugendstrafrechtlichen Bereich eine entsprechende gerichtliche Entscheidung ergehen wird. In Anbetracht der Art und Weise medialer Berichterstattung im Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten auch jugendlicher und heranwachsender Beschuldigter ist dies wohl nur noch eine Frage der Zeit. Auch insoweit kann auf die im Rahmen dieser Arbeit – für den jugendstrafrechtlichen Bereich: erstmalig – angestellten dogmatischen Überlegungen zurückgegriffen werden. Die Ausführungen verstehen sich insoweit als ein erster Beitrag für die Anwendung in der Praxis.
1328
Eine aktuelle Entscheidung des LG Bochum, das im Verfahren gegen den ehemaligen Postchef K. Zumwinkel wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung neben anderen Gesichtspunkten auch die „Vorverurteilung“ des Angeklagten in den Medien strafmildernd berücksichtigt hat, lässt diese Vermutung als nicht ganz unbegründet erscheinen (Urt. v. 26.1.2009 – 12 Ls 350 Js 1/08; unveröffentlicht).
Anhang A. Interviewleitfäden I. Interviewleitfaden Erwachsenenrichter Interviewleitfaden Erwachsenenrichter Laufende Nr.: Am/Um/Ort: Mit: Tätigkeitsbereich bzw. -schwerpunkt: Dauer: Arbeitstitel: „Medienöffentliche Vorverurteilung als Strafmilderungsgrund im Jugend- und/oder Erwachsenenstrafverfahren?“ Vorbemerkungen – Arbeitstitel benennen und erläutern – Begriffsklärung: „Medienöffentliche Vorverurteilung“ – „Vorverurteilung“: Begriffsfindung in Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung, wonach „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, (. . .) bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“ (so die Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EMRK) zu gelten hat. – „medienöffentlich“: mediale Öffentlichkeit
– Ziel des Interviews verdeutlichen: persönliche Einschätzungen sowie evt. berufliche Erfahrungen des Interviewpartners zu dieser Thematik ermitteln – Wahrung der Anonymität sowie Schutz persönlicher Daten zusichern – noch Fragen seitens des Interviewpartners? I. Einführende Fragen 1. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage im Zusammenhang mit den Medien? 2. Haben Sie diesbezüglich in den letzten Jahren eine Veränderung feststellen können? Ggf.: Welche? Wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung?
Anhang
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II. Weiterführende Fragen 1. Wie stehen Sie ganz allgemein zu einer Strafmilderung im obigen Sinne? Ggf.: 2. Sehen Sie einen Weg der dogmatischen Herleitung für eine solche Strafmilderung? 3. Wie beurteilen Sie bei der Entscheidung für oder gegen eine solche Strafmilderung die Einhaltung der Anforderungen, die der rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz stellt? 4. Von welchen näheren Begebenheiten würden Sie eine Strafmilderung im obigen Sinne allgemein abhängig machen? 5. „Müsste man dann nicht jeden sog. ‚Kinderschänder‘ milder bestrafen, denn der wird noch viel stärker stigmatisiert?“ (zurückgehend auf H. Kury) 6. Sehen Sie andere Möglichkeiten, im Strafverfahren derartige Vorverurteilungen zu berücksichtigen? III. Konkrete Fälle (außerhalb Berlins) 1. Sind Ihnen Fälle außerhalb Berlins bekannt, in denen eine solche Strafmilderung eine Rolle gespielt hat? Ggf.: Welche Fälle sind das? 2. Hielten Sie eine Strafmilderung im obigen Sinne in den nachfolgend aufgeführten bundesdeutschen Fällen aus der jüngeren Vergangenheit für gerechtfertigt? (ggf.: jeweils kurze Sachverhaltsschilderung)
a) „Autobahn-Raser von Bruchsal bzw. Karlsruhe“/Mercedes-Testfahrer Rolf F. b) „Drogen-Partys“/Prof. Jörg Immendorff c) „Folter-Prozess“/Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner 3. In welchem der genannten drei Fälle hielten Sie eine Strafmilderung aus den genannten Gründen für am ehesten gerechtfertigt? In welchem für am wenigsten? Warum? IV. Eigene praktische Erfahrungen und (sonstige) Fälle innerhalb Berlins 1. Haben Sie selbst schon einmal . . . a) . . . aus diesem Grunde die Strafe gemildert? b) . . . in einem Verfahren zumindest konkret in Erwägung gezogen, eine solche Strafmilderung vorzunehmen? c) . . . eine derartige Vorverurteilung auf andere Art und Weise als durch Strafmilderung berücksichtigt? Ggf.: Wie oft jeweils? 2. Sind Ihnen Fälle bekannt, in denen eine/r Ihrer Berliner KollegInnen dies [Fragen 1. a)–c)] getan oder ernsthaft erwogen hat? Ggf.: Wie viele Fälle?
286
Anhang
V. Exkurs: Strafschärfung infolge „Vor-Freispruchs“? 1. Wie stehen Sie dazu, einen medienöffentlichen „Vor-Freispruch“ demgegenüber strafschärfend zu berücksichtigen? Ggf.: 2. Von welchen näheren Begebenheiten würden Sie eine solche Strafschärfung allgemein abhängig machen? VI. Erwachsenenstrafrecht/Jugendstrafrecht 1. Macht es Ihrer Ansicht nach einen Unterschied, ob der durch eine medienöffentliche Vorverurteilung beeinträchtigte Täter dem Erwachsenenstrafrecht unterliegt oder aber noch nach Jugendstrafrecht abgeurteilt wird? Ggf.: Welchen? Andere/zusätzliche Gesichtspunkte? 2. Wie verhält es sich ihrer Meinung nach demgegenüber bei einem medialen „VorFreispruch“ und diesbezüglicher etwaiger Strafschärfung? VII. Zum Abschluss noch einmal die Fragen vom Beginn 1. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage im Zusammenhang mit den Medien? 2. Haben Sie diesbezüglich in den letzten Jahren eine Veränderung feststellen können? Ggf.: Welche? Wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung? VIII. Abschließende Bemerkungen – nunmehr alle Fragen des Leitfadens gestellt – noch Anmerkungen bzw. Fragen seitens des Interviewpartners? – kurzes Feedback? – Dank!
Anhang
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II. Interviewleitfaden Jugendrichter Interviewleitfaden Jugendrichter Laufende Nr.: Am/Um/Ort: Mit: Tätigkeitsbereich bzw. -schwerpunkt: Dauer: Arbeitstitel: „Medienöffentliche Vorverurteilung als Strafmilderungsgrund im Jugend- und/oder Erwachsenenstrafverfahren?“ Vorbemerkungen – Arbeitstitel benennen und erläutern – Begriffsklärung: „Medienöffentliche Vorverurteilung“ – „Vorverurteilung“: Begriffsfindung in Anlehnung an den allgemeinen Aussagegehalt der Unschuldsvermutung, wonach „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, (. . .) bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“ (so die Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EMRK) zu gelten hat. – „medienöffentlich“: mediale Öffentlichkeit
– Ziel des Interviews verdeutlichen: persönliche Einschätzungen sowie evt. berufliche Erfahrungen des Interviewpartners zu dieser Thematik ermitteln – Wahrung der Anonymität sowie Schutz persönlicher Daten zusichern – noch Fragen seitens des Interviewpartners?
I. Einführende Fragen 1. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage im Zusammenhang mit den Medien? 2. Haben Sie diesbezüglich in den letzten Jahren eine Veränderung feststellen können? Ggf.: Welche? Wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung? II. Weiterführende Fragen 1. Wie stehen Sie ganz allgemein zu einer Strafmilderung im obigen Sinne? Ggf.: 2. Sehen Sie einen Weg der dogmatischen Herleitung für eine solche Strafmilderung?
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3. Wie beurteilen Sie bei der Entscheidung für oder gegen eine solche Strafmilderung die Einhaltung der Anforderungen, die der rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz stellt? 4. Von welchen näheren Begebenheiten würden Sie eine Strafmilderung im obigen Sinne allgemein abhängig machen? 5. „Müsste man dann nicht jeden sog. ‚Kinderschänder‘ milder bestrafen, denn der wird noch viel stärker stigmatisiert?“ (zurückgehend auf H. Kury) 6. Sehen Sie andere Möglichkeiten, im Strafverfahren derartige Vorverurteilungen zu berücksichtigen? III. Konkrete Fälle (außerhalb Berlins) 1. Sind Ihnen Fälle außerhalb Berlins bekannt, in denen eine solche Strafmilderung eine Rolle gespielt hat? Ggf.: Welche Fälle sind das? 2. Hielten Sie eine Strafmilderung im obigen Sinne in den nachfolgend aufgeführten bundesdeutschen Fällen aus der jüngeren Vergangenheit (Erwachsenenstrafrecht) für gerechtfertigt? (ggf.: jeweils kurze Sachverhaltsschilderung)
a) „Autobahn-Raser von Bruchsal bzw. Karlsruhe“/Mercedes-Testfahrer Rolf F. b) „Drogen-Partys“/Prof. Jörg Immendorff c) „Folter-Prozess“/Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner Und bei folgenden Fällen speziell aus dem jugendstrafrechtlichen Bereich? d) Fall „Mehmet“/Intensivtäter-Problematik (zur Tatzeit Jugendlicher) e) „Sasser-Wurm“-Erfinder/Sven J. (zur Tatzeit Jugendlicher) f) „Folter-Prozess“/Jura-Student Magnus Gäfgen (zur Tatzeit Heranwachsender) (Urteil: lebenslänglich – Strafmilderung letztlich nicht möglich!)
3. In welchem der genannten drei Fälle hielten Sie eine Strafmilderung aus den genannten Gründen für am ehesten gerechtfertigt? In welchem für am wenigsten? Warum? IV. Eigene praktische Erfahrungen und (sonstige) Fälle innerhalb Berlins 1. Haben Sie selbst schon einmal . . . a) . . . aus diesem Grunde die Strafe gemildert? b) . . . in einem Verfahren zumindest konkret in Erwägung gezogen, eine solche Strafmilderung vorzunehmen? c) . . . eine derartige Vorverurteilung auf andere Art und Weise als durch Strafmilderung berücksichtigt? Ggf.: Wie oft jeweils?
Anhang
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2. Sind Ihnen Fälle bekannt, in denen eine/r Ihrer Berliner KollegInnen dies [Fragen 1. a)–c)] getan oder ernsthaft erwogen hat? Ggf.: Wie viele Fälle? V. Exkurs: Strafschärfung infolge „Vor-Freispruchs“? 1. Wie stehen Sie dazu, einen medienöffentlichen „Vor-Freispruch“ demgegenüber strafschärfend zu berücksichtigen? Ggf.: 2. Von welchen näheren Begebenheiten würden Sie eine solche Strafschärfung allgemein abhängig machen? VI. Jugendstrafrecht/Erwachsenenstrafrecht 1. Macht es Ihrer Ansicht nach einen Unterschied, ob der durch eine medienöffentliche Vorverurteilung beeinträchtigte Täter nach Jugendstrafrecht abgeurteilt wird oder aber schon dem Erwachsenenstrafrecht unterliegt? Ggf.: Welchen? Andere/zusätzliche Gesichtspunkte? 2. Wie verhält es sich ihrer Meinung nach demgegenüber bei einem medialen „VorFreispruch“ und diesbezüglicher etwaiger Strafschärfung? VII. Zum Abschluss noch einmal die Fragen vom Beginn 1. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage im Zusammenhang mit den Medien? 2. Haben Sie diesbezüglich in den letzten Jahren eine Veränderung feststellen können? Ggf.: Welche? Wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung? VIII. Abschließende Bemerkungen – nunmehr alle Fragen des Leitfadens gestellt – noch Anmerkungen bzw. Fragen seitens des Interviewpartners? – kurzes Feedback? – Dank!
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Anhang
B. Interviewberichtsbogen Interviewberichtsbogen Laufende Nr.: Am/Um/Ort: Dauer: Mit: Tätigkeitsbereich bzw. -schwerpunkt: Zustandekommen des Interviews: konkrete Rahmenbedingungen/äußere Umstände: Interviewsituation/Gesprächsverlauf:
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Sachwortverzeichnis Abschreckung siehe Relative Straftheorien Absehen – vom Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung 200 – von Erziehungsmaßregeln 210 ff., 214 – von Jugendstrafe 200, 208, 209, 214, 218, 271 siehe auch Absehen von Strafe, im Jugendstrafrecht – von Klage bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen siehe dort – von Klage unter den Voraussetzungen eines Absehens von Strafe siehe dort – von Strafe siehe dort – von Verfolgung bei erzieherischer Maßnahme siehe dort – von Verfolgung wegen Geringfügigkeit siehe dort – von Zuchtmitteln 200, 210, 213, 214 Absehen von Klage bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen 234, 243 ff. – im Jugendstrafverfahren 277 f. Absehen von Klage unter den Voraussetzungen eines Absehens von Strafe 234 ff., 238 f., 281 – „Alles oder nichts“-Prinzip 237 f., 281 – Anwendungsbereich 234, 235, 237, 238 f., 241 – Anwendungshäufigkeit 238, 281, 283 – bei Tateinheit 237 – bei Tatmehrheit 237 – im Jugendstrafverfahren siehe dort
– – – –
Kostenentscheidung 239 Rechtsbehelfe 241 ff. Verhältnisbestimmungen 245 f., 246 Zustimmungserfordernisse 234, 239, 242 Absehen von Klage unter den Voraussetzungen eines Absehens von Strafe im Jugendstrafverfahren 268 ff., 282 – „Alles oder nichts“-Prinzip 271 – Anwendungsbereich 270 f., 272 – Anwendungshäufigkeit 271, 276, 283 – Kostenentscheidung 270 – Verhältnisbestimmungen 269 f., 272 f., 273 f., 278 – Zustimmungserfordernisse 272, 272 f. Absehen von Strafe 142 ff., 164 ff., 281 siehe auch Strafzumessung – „Alles oder nichts“-Prinzip 164 ff., 214 – als Bestandteil der Strafzumessung 142 – Anwendungshäufigkeit 143, 159, 165 f., 169 f., 184, 188, 210, 212, 224, 238, 281, 283 – bei Tateinheit 162 f., 164 f. – bei Tatmehrheit 162 f., 164 f. – Eintragung in das Bundeszentralregister 192, 229 – Ein-Jahres-Grenze 159 ff., 168 – Gesamtabwägung siehe dort – im Jugendstrafrecht 198 ff., 209 ff., 282 siehe auch Absehen, von Jugendstrafe – in der Revisionsinstanz 191 f., 228 – in der Tatsacheninstanz 188 f., 226
Sachwortverzeichnis – Kostenentscheidung 189, 227 – ratio legis 143 ff., 204 – Tatfolgen siehe dort – Verwirkung siehe dort Absehen von Verfolgung bei erzieherischer Maßnahme 248 ff., 256 ff., 282 – Anwendungsbereich 257 – Eintragung in das Erziehungsregister 258 ff., 272 f., 273 f. siehe auch Erziehungsregister – Kostenentscheidung 258 – Rechtsbehelfe 262 – Verhältnisbestimmungen 256, 263, 269 f., 272 f., 273 f., 277 f. – Zustimmungserfordernisse 257 f., 272 f. Absehen von Verfolgung wegen Geringfügigkeit 233 f., 243 ff. – im Jugendstrafverfahren 248, 263, 277 f. Absolute Straftheorien 132 f., 143 f., 146, 166, 203 siehe auch Strafzwecke Abwägung siehe Gesamtabwägung, siehe auch Strafzumessung, Abwägung Ackermann, J. 186 Anonymisierung 68, 80, 95, 97, 284, 287 Anrechnung 140 f., 143, 143 f., 168, 178, 198, 204 Auskunft aus dem Bundeszentralregister 193 ff., 230 – durch Führungszeugnis siehe Führungszeugnis – mittelbare ~ 193 f., 196 f., 231 f. – unbeschränkte ~ siehe dort Auslegung 55, 56 f., 72, 114, 127, 135, 136 f., 137 ff. Autobahnraser, sog. 25 ff., 36, 39, 43, 82, 165, 233 – Berichterstattung 26 f., 29, 30 f., 31 f.
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– Entscheidung in der Berufungsinstanz 29 ff. – Entscheidung in erster Instanz 28 f. – Sachverhalt 25 ff. – Strafzumessung 29, 30 f., 121 f., 186, 282, 285, 288 – Tatfolgen 30 f., 43 f., 122, 150, 186 – Titulierungen in den Medien 27, 30 f. – Umfang der Ermittlungen 26 f., 36 Bagatellstraftaten 159, 172, 184 f. Berichtsbogen siehe Interviewberichtsbogen Beschleunigungsgebot 228, 247 Bestimmtheitsgebot 49, 52, 127, 285, 288 Betäubungsmitteldelikte 45 f. Brandstiftungsdelikte 153 Bundeszentralregister 192 ff., 229 ff. – Auskunft aus dem ~ siehe dort – bei Jugendlichen und Heranwachsenden 229 ff. – Eintragung in das ~ 192, 229, 243, 245 – Führungszeugnis siehe dort – Inhalt 193, 230 – Offenbarungspflicht 196, 231 – Stigmatisierung 196 f., 231 f., 259, 261 – Verschweigerecht 196, 231 – Vorhalt und Verwertung 195, 231 – Zweck 192 f., 229 f. Daschner, W. 45, 82, 179, 186 f., 285, 288 Diversion 233 f., 234 ff., 243 ff., 246 – Begriff 247 – im Jugendstrafverfahren 247 f., 248 ff., 268 ff., 277 f., 278 Eigenständigkeit der Presse 117 f. Einstellung des Verfahrens
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Sachwortverzeichnis
– bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen siehe dort – bei erzieherischer Maßnahme siehe dort – unter den Voraussetzungen eines Absehens von Strafe siehe dort – wegen Geringfügigkeit siehe dort Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen 37, 233 f., 243 ff. – im Jugendstrafverfahren 277 f. Einstellung des Verfahrens bei erzieherischer Maßnahme 248, 248 ff., 263 ff., 282 – Anwendungsbereich 264 f. – Eintragung in das Erziehungsregister 267, 272 f., 275 f. siehe auch Erziehungsregister – Kostenentscheidung 266 – Rechtsbehelfe 267 f. – Verhältnisbestimmungen 263 f., 268, 269 ff., 272 f., 274 ff., 277 f. – Zustimmungserfordernisse 265, 272 f. Einstellung des Verfahrens unter den Voraussetzungen eines Absehens von Strafe 233 f., 234 ff., 239 f., 281 – „Alles oder nichts“-Prinzip 237 f., 281 – Anwendungsbereich 234, 235, 239, 241 – Anwendungshäufigkeit 238, 281, 283 – bei Tateinheit 237 – bei Tatmehrheit 237 – im Jugendstrafverfahren siehe dort – Kostenentscheidung 240 – Rechtsbehelfe 241 ff. – Verhältnisbestimmungen 245 f., 246 – Zustimmungserfordernisse 234, 239 f., 242 Einstellung des Verfahrens unter den Voraussetzungen eines Absehens von
Strafe im Jugendstrafverfahren 268 ff., 282 – „Alles oder nichts“-Prinzip 271 – Anwendungsbereich 270 f., 272 – Anwendungshäufigkeit 271 f., 276, 283 – Kostenentscheidung 270 f. – Verhältnisbestimmungen 269 ff., 272 f., 274 ff., 278 – Zustimmungserfordernisse 272 f. Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit 37, 233 f., 243 ff. – im Jugendstrafverfahren 248, 268, 277 f. Ein-Jahres-Grenze 159 ff., 168, 208 f., 217 Erzieherische Maßnahme – Begriff 249 ff. – Beispiele 252 f. – bei medienöffentlicher Vorverurteilung 248 f., 253 f., 255 f., 263, 264, 268, 270, 278, 282 – Durchführende 250 ff., 256 f. Erziehungsgedanke 202 f., 207 f., 210, 212 f., 215 f., 216 ff., 218, 228, 272 Erziehungsregister 258 ff., 267 – Auskunft aus dem ~ 259 f. – Eintragung in das ~ 258 f., 267, 272 f., 273 f., 275 f. – Inhalt 259 – Offenbarungspflicht 260 – Schlechterstellung 261 f., 267, 272 ff. – Stigmatisierung 261, 267 – Vorhalt und Verwertung 260 – Zweck 259 Experte – Abgrenzung 62, 63 ff., 66 – Begriff 61 ff., 66 ff., 100 – Relativität siehe Relativität des Expertenbegriffs Expertengespräch siehe Experteninterviews
Sachwortverzeichnis Experteninterviews 46, 60 f., 69 ff., 282 siehe auch Interviews – Begriff 100 – Forschungsstand 60 Expertenwissen 60, 63 f., 66 f., 68, 74, 76 Fahrlässigkeitsdelikte 28 f., 30, 153, 165, 184 f., 186, 204 f., 206, 211, 212 f. Fair trial 102, 104 Flexibilität, Prinzip der 76, 77, 84 f. Folgen der Tat siehe Tatfolgen Formeller Schuldspruch 156, 157, 188, 192, 236 Fragelisten siehe Interviewleitfaden Friedmann, M. 179, 180 Führungszeugnis 193 f., 230, 231 f. siehe auch Bundeszentralregister – Inhalt 194, 230 – zu eigener Verwendung siehe Privatführungszeugnis – zur Vorlage bei einer Behörde 193 Gedächtnisprotokoll 87, 94 Generalprävention 133 f., 145 f., 147, 157, 207, 212 siehe auch Strafzwecke Gesamtabwägung 169, 170 ff., 191, 217 f., 218 ff. – Art der Informationserlangung 175, 177 f., 220 – Aspekte der gesellschaftlichen Stellung 173 f., 176, 178, 179 ff., 181 f., 183, 184 f., 186, 219, 221 – Dauer und Intensität der Berichterstattung 172, 175 ff., 183, 184 f., 219 f. – Deliktskategorie 171 f., 173 f., 179, 183, 184 f., 218 f., 225 – Fallgruppen 184 ff., 225 – im Jugendstrafrecht 218 ff. – individuelle Verteidigungsfähigkeit 178, 181 f., 222
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– psychische und physische Belastungen 172, 178, 180, 182 f., 221, 222 f. – Stigmatisierung 172, 178, 182 f., 222 f. – Verdachtsgrad 171, 172 ff., 174 f., 179, 183, 219 – Verfahrensstand 171, 174 f., 219 Gewaltdelikte 33 f., 163 Graf, P. 45 Grundgesamtheit 92 f., 94, 97 siehe auch Repräsentativität Gruppe der Gleichaltrigen siehe PeerGroup Gütekriterien 90 ff. – Reliabilität siehe dort – Repräsentativität siehe dort – Validität siehe dort Hoyzer, R. 44 Identifizierende Berichterstattung 106 f., 176, 220, 224 Immendorff, J. 45 f., 82, 121 f., 179, 187, 285, 288 In dubio pro reo 158 f., 265 Instrumentalisierung der Medien 111 f., 140 f., 178, 220 Internet 34, 114, 120, 175, 219 f. siehe auch Neue Medien Interviewbericht 87, 94 ff. siehe auch Interviews – Inhalt 95 ff. – Interviewberichtsbogen siehe dort – Sinn und Zweck 95 Interviewberichtsbogen 95, 98, 99, 290 siehe auch Interviewbericht Interviewleitfaden 76 f., 77 ff., 87, 89 f., 92, 96, 98, 170 f., 218, 284 ff. – Anwendung 76 f., 84 f. – Begriff 76 f. – Erprobung siehe Probeinterviews – Flexibilität, Prinzip der siehe dort
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Sachwortverzeichnis
– für Erwachsenenrichter 80 ff., 284 ff. – für Jugendrichter 82, 287 ff. – Funktionen 77, 78 – Inhalt 80 ff., 284 ff. – Konstruktion und Struktur 79 ff. – Modifizierung 82, 83 f. – Prinzip der informierten Einwilligung siehe dort – Stellenwert 77 Interviews – Anonymisierung siehe dort – Anzahl 94 f., 95 – Begriff 72 f., 73 f., 100 – Bericht siehe Interviewbericht – Berichtsbogen siehe Interviewberichtsbogen – Datenauswertung 60, 75, 76, 86, 87 ff., 99, 100 – Datenerhebung 69 ff., 75 ff. – Dauer 98, 99 – Flexibilität, Prinzip der siehe dort – Gedächtnisprotokoll siehe dort – Klassifizierung 73 f., 74 ff., 100 – Leitfaden siehe Interviewleitfaden – mit Jugendrichtern 68, 69, 75, 82, 90, 94 f., 95 f., 97 f., 98, 99, 218, 287 ff. – Offenheit, Prinzip der siehe dort – Standardisierung 75 ff. – Störfaktoren 98, 99 – zur Probe siehe Probeinterviews Jugendstrafe 200 f., 208 f., 209 ff., 214, 215 f., 229, 230 siehe auch Absehen, von ~ Kindstötungen 172, 183, 185 Klageerzwingungsverfahren 241 f., 262, 270 f. Kompensation – der Schuld siehe Schuldkompensation – des staatlichen Strafanspruchs 147
– innerhalb der Strafzumessung siehe Strafzumessung, kompensatorische Kosten des Verfahrens siehe Verfahrenskosten Länderübergreifendes staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister 261, 272 f. Landowsky, K. 282 Legalitätsprinzip 237, 239 Leitfaden siehe Interviewleitfaden Massenmedien 33, 57, 113, 115 f., 118, 120, 171 f., 175 Medien siehe auch Presse – als „vierte Gewalt“ 34 f., 126 – Begriff 33 – Ermittlungstätigkeit 43, 116 f., 178 – Instrumentalisierung der ~ siehe dort – Kontrollfunktion 34 f., 118, 120, 121, 126 – Neue ~ siehe dort – Selektionsmacht 35 – Massen~ siehe dort – Titulierungen in den ~ siehe dort – Veränderungen 34, 113, 120 ff., 280, 284, 286, 287, 289 Medienfreiheiten 113 ff., 115, 125 f. Medienöffentliche Vorverurteilung siehe auch Öffentliche Vorverurteilung – als erzieherische Maßnahme 248 f., 253 f., 255, 282 – Begriff 48 ff., 54 ff., 280, 284, 287 Medienwirkungstheorien 33 f. Meinungsfreiheit 114, 177 Mikrokosmos der Strafzwecke 145, 156 f., 207 siehe auch Strafzwecke Modifizierung des Leitfadens siehe Interviewleitfaden, Modifizierung Neue Medien 120 siehe auch Internet Nichtöffentlichkeit des Verfahrens 224, 276 siehe auch Öffentlichkeit Nulla poena sine culpa 129, 146
Sachwortverzeichnis Öffentliche Vorverurteilung 48 ff., 54 ff., 102, 128 siehe auch Vorverurteilung Öffentlichkeit – Ausschluss 104 f. – Begriff 49, 56 f., 58 – Einfluss der ~ 36, 38 f., 280 – Missbrauch der ~ siehe Instrumentalisierung der Medien – Verhältnis zur Justiz 113, 120 ff., 280 Offenheit, Prinzip der 76, 82, 83 Opportunitätsgrundsatz 233 f. Parteispenden-Affäre, sog. 102 Peer-Group 219 f., 223 Poena civilis 143 f., 146 f., 190 Poena naturalis 143 f., 144 f., 146 f., 166, 168, 204, 208, 212, 236 Prangerwirkung 41, 43 f., 45, 105, 176, 220 siehe auch Stigmatisierung Presse siehe auch Medien – Begriff 114 – Eigenständigkeit der ~ siehe dort – Funktion 115, 117, 119 – Rechte 116 ff. – Sorgfaltspflichten 118 ff. – Wächteramt siehe dort Pressefreiheit 108 f., 113, 114, 115 ff., 177, 178 siehe auch Medienfreiheiten Pressekodex 103, 105 f., 107, 108 Pressemappen 111, 255 Presserat 45 f., 105 f., 108 Prinzip der informierten Einwilligung 79 Privatführungszeugnis 193, 196 siehe auch Führungszeugnis Privatklage 239 Probeinterviews 79, 84, 92, 94 f., 96 Prominente 173 f., 178, 179 ff., 181 f., 184 f., 186, 219, 221, 225 Qualitative Auswertungsmethoden – Arten 88 f.
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– Verknüpfung mit quantitativen Methoden 76, 89 f., 90 ff., 92 Qualitative Erhebungsmethoden – Abgrenzung zu quantitativen Methoden 70 ff. – Arten 72 f., 73 f. – Methodenstreit 70 ff. Raser-Urteil siehe Autobahnraser, sog. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung 141, 198 Relative Straftheorien 132, 133 f. siehe auch Strafzwecke Relativität des Expertenbegriffs 64 f., 66, 69 Reliabilität 90 ff. siehe auch Gütekriterien Repräsentativität 92 ff. siehe auch Gütekriterien – der Stichprobe 93 f. – Grundgesamtheit siehe dort Revision 58, 68, 109 ff., 265 – eigene Sachentscheidung 190 f., 191 f., 228 f., 242 f. – Überprüfung der Strafzumessung 189 ff., 191 f., 228 f. – Zurückverweisung an das Tatgericht 190 f., 191, 228 f., 242 f. Schlechterstellung 201 f., 261 f., 267, 272 ff. – relative ~ 122 – Verbot der ~ siehe dort Schuldkompensation 144, 204 Schuldprinzip siehe Nulla poena sine culpa Sexualstraftaten 39, 123 f., 161, 163, 171 f., 177, 182, 183, 185, 219, 225 Spezialprävention 133, 145, 147, 157, 202, 207 f. siehe auch Strafzwecke Stichprobe 92 f., 94, 97, 99 siehe auch Repräsentativität Stigmatisierung siehe auch Prangerwirkung
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Sachwortverzeichnis
– durch Auskunft aus dem Bundeszentralregister 196 f., 231 f., 259, 261 – durch Berichterstattung 32, 44, 123, 124, 172, 182 f., 222 f., 285, 288 – durch Eintragung in das Erziehungsregister 261 f., 267 – durch förmliches Verfahren 44, 247 f. Strafbedürfnis 144, 203, 204, 210 Strafbedürftigkeit 144, 204 Strafbegriff 211, 213 f., 226, 229, 271 Strafmilderung 29, 30 f., 108 f., 130 ff., 142, 164 ff., 168 ff., 170, 186, 192, 214, 217 f., 229, 237 f., 241, 281, 282 f., 284, 285, 287, 288 f. siehe auch Strafzumessung – Anwendungshäufigkeit 184, 188, 224, 227, 282 f. – Eintragung in das Bundeszentralregister 192, 195 ff., 229, 231 f. – Gesamtabwägung siehe dort – in der Revisionsinstanz 189 ff., 228 f. – in der Tatsacheninstanz 187 f., 226 f. Strafschärfung 30, 81, 131 f., 137, 195, 286, 289 siehe auch Strafzumessung Strafzumessung 29, 30 f., 45 f., 101, 109 ff., 128 ff., 142 f., 161, 168 f., 187 f., 197 ff., 201, 215, 281, 282 – Absehen von Strafe siehe dort – Abwägung 129, 130 ff., 135 – Ambivalenz 131 f. – Angabe der bestimmenden Umstände 187, 190, 226, 228 – benannte Umstände 130 f., 135 ff., 167 – Einzelfallentscheidung 134, 168 f., 169 f., 217 f. – Gesamtwürdigung 130 ff., 137 siehe auch Gesamtabwägung – Grundsatz 128, 129 f., 132 f., 134 – kompensatorische ~ 130, 168 f.
– – – – –
Spielraumtheorie 129 f. Strafmilderung siehe dort Strafschärfung siehe dort Strafzwecke siehe dort Überprüfung der ~ 189 ff., 191 f., 228 f. – unbenannte Umstände 130 f., 135, 139, 167 f., 169, 170 Strafzumessungserwägungen 129, 131 f., 187, 188, 201 Strafzumessungslösung 141 Strafzumessungstatsachen 129, 130 f., 187 f. Strafzwecke 132 ff., 143 ff., 156 f., 158, 166, 190, 207 f., 212 f., 228, 236 – absolute Straftheorien siehe dort – Generalprävention siehe dort – im Jugendstrafrecht 207 f., 212, 228, 236 – Mikrokosmos der ~ siehe dort – relative Straftheorien siehe dort – Spezialprävention siehe dort – Vereinigungstheorien siehe dort – Verteidigung der Rechtsordnung siehe dort Straßenverkehrsdelikte 25 ff., 45 f., 153 f., 161, 165, 212 f., 219 Subsidiaritätsprinzip 247 Sühne siehe Absolute Straftheorien Tatfolgen 30 f., 142, 143 ff., 147 ff. – Begrenzung auf Negativfolgen 147 f., 151, 152, 169, 204 – erzieherische Wirkung 207 f., 212 f., 214, 254, 271 f., 275, 282 – im Jugendstrafrecht 204 ff. – in Fällen medienöffentlicher Vorverurteilung 30 f., 40 ff., 43 f., 148, 150, 152, 155, 167 f., 182 f., 204 f., 205, 206, 222 f., 280, 281 – körperliche ~ 30 f., 148, 149, 150, 154 f., 167, 212
Sachwortverzeichnis – mittelbare ~ 30 f., 138, 148 ff., 154 f., 204 f., 206 – psychische ~ 30 f., 148, 149, 150, 155, 167, 205, 206, 212 – schwere ~ 152 ff., 206 – unmittelbare ~ 30 f., 138, 148 ff., 204 Titulierungen in den Medien 27, 30 f., 40, 41, 58, 106, 119 f., 123 f., 172 f., 174 f., 177, 185 f., 219, 220 Tötungsdelikte 25 f., 28 ff., 123, 138, 161, 163, 165, 212 f., 225 siehe auch Kindstötungen Türck, A. 122 f. Überlange Verfahrensdauer siehe Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung Umrechnung 140 siehe auch Anrechnung Unbeschränkte Auskunft aus dem Bundeszentralregister 194 f., 230, 260 Unschuldsvermutung 41, 43, 55 f., 58, 105, 106, 125 f., 173 f., 174 f., 177, 219, 250, 280, 284, 287 Validität 90 f. siehe auch Gütekriterien Verbot der Benachteiligung siehe Verbot der Schlechterstellung Verbot der Schlechterstellung 201 f., 211, 260, 272 f., 277, 278 siehe auch Schlechterstellung Verdachtsberichterstattung 44, 58, 105, 106, 119 f., 172 ff., 177, 179, 219 Vereinigungstheorien 134 siehe auch Strafzwecke Verfahrenshindernis 104 Verfahrenskosten – bei Absehen von Klage 239, 270
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– bei Absehen von Strafe 189, 227 – bei Absehen von Verfolgung 258 – bei Einstellung des Verfahrens 240, 266, 270 – bei Strafmilderung 188, 227 – gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden 227, 240, 266, 270 Vergeltung siehe Absolute Straftheorien Verstärkerkreislauf 35, 43, 107 Verteidigung der Rechtsordnung 133 f., 145, 147, 166 siehe auch Generalprävention Verwirkung – von Jugendstrafe 208 f. – von Strafe 142, 149, 159 ff., 165, 169, 170, 188 f. Vollstreckungslösung 141, 198 Vorfreispruch 81, 286, 289 Vorverurteilung 30 f., 45, 105, 282 siehe auch Medienöffentliche Vorverurteilung Wächteramt 118 Wirkmächtigkeit medialer Berichterstattung 32 ff., 185, 280 Wirkungssphären 35 ff., 43 – Beschuldigter 40 ff., 43 f., 48, 59, 280 – Ermittlungsbehörden 36 f. – Medien 42 – Öffentlichkeit 35 f. – Strafrechtspflege als Institution 42 – weitere Verfahrensbeteiligte 37 ff., 44 Wirtschaftsstraftaten 161, 185, 186, 219, 225 Zumwinkel, K. 283