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German Pages 156 Year 2000
EVA DREWES
Entstehen und Entwicklung des Rechtsschutzes vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften am Beispiel der Nichtigkeitsklage
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg
Band 33
Entstehen und Entwicklung des Rechtsschutzes vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften am Beispiel der Nichtigkeitsklage
Von Eva Drewes
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Drewes, Eva: Entstehen und Entwicklung des Rechtsschutzes vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften: am Beispiel der Nichtigkeitsklage / von Eva Drewes. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 33) Zug!.: Trier, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09818-8 .
Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-09818-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 43
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation angenommen. Diese Arbeit wird zu einer Zeit veröffentlicht, da die Herren (und Damen) der Verträge erneut Hand an dieselben legen, um vor allem Institutionen und Verfahrensregeln den politischen Bedingungen und Wünschen der zu Mitgliedern einer Union gereiften Vertragsstaaten anzupassen. Wie diese Gesetzgebungsarbeit in den Anfangen der Gemeinschaft funktionierte, nämlich als ein Zusammenspiel von herausragenden Persönlichkeiten und der durch sie verkörperten Rechtstraditionen, zeigt diese Arbeit an einem kleinen Ausschnitt. Besagten Personen, die diesen Prozeß in vielen Gesprächen nacherzählt haben, gebührt daher der Hauptdank der Verfasserin. Daß und in welcher Weise die Entstehungsgeschichte eines verfahrensrechtlichen Instruments Gegenstand einer zeitgeschichtlichen juristischen Arbeit sein kann, ist ein Gedanke, der von meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. (H) Reiner Schulze, formuliert und verfolgt wurde - welchem mein Dank hierfür ohnehin sicher ist. Zum Schluß möchte ich hier auf die Reihe Dokumente zum Europäischen Recht aufmerksam machen. Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Zitierweise konnte leider nicht mehr dieser Dokumentensammlung angepaßt werden, deshalb hier nur der Hinweis auf Reiner Schulze/Thomas Roeren (Hg.), Band 1: Gründungsverträge, Band 2: Justiz (bis 1957) und Band 3: Kartellrecht (bis 1961), Springer Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1999/2000. Eva Drewes
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . .. . .. .. . . .. . . .. .. . . . .. . . .. . . . .. .. . . . . .. . .. . .. . .. . .. . . . . . .. .. . . . .. . .
15
1. Te i I
Entstehen des Rechtsschutzes vor den Europäischen Gerichten
23
Kapitell
Der Rechtsschutzgedanke in den Griindungsverhandlungen
23
A. Die europäische Idee ...............................................................
23
B. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl .........
25
I. Schuman-Plan-Konferenz .....................................................
25
1. Erste Phase der Delegiertenkonferenz 20. Juni - 10. August 1950 ...........
28
2. Zweite Phase der Delegiertenkonferenz 31. August - 28. September 1950 ..
36
3. Dritte Phase der Delegiertenkonferenz bis 19. März 1951 ...................
37
11. Die Außenministerkonferenz ..................................................
45
III. Inkrafttreten des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
IV. Einrichtung des Gerichtshofes .................................................
48
C. Europäische Wirtschafts gemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft .........
50
I. Der neue Anfang ..................................... . ........................
50
11. Fusionsabkommen und Fusionsvertrag ........................................
53
III. Erweiterung der Gemeinschaften ..............................................
54
IV. Gericht erster Instanz .........................................................
54
D. Vertrag über die Europäische Union
55
E. Vertrag von Amsterdam ............................................................
57
10
Inhaltsverzeichnis 2. Tei I
Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschartsrecht
58
Kapitel 2 Recht der Europäischen Gemeinschaft f"lir Kohle und Stahl
59
A. Klagegegenstand ...................................................................
59
I. Maßnahmen der Hohen Behörde ............................................ . .
59
II. Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates .......................
61
B. Klagebefugnis ..... . ............... . . . ........ . ................ . . . ..... . ............
61
I. Überblick...... . ..............................................................
61
II. Mitgliedsstaaten ..............................................................
63
III. Rat............. . ...... . ........ . . . ........ . . . ................ . ..... . . . ........
64
IV. Hohe Behörde ................... '.' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
V. Versammlung .................................................................
64
VI. Unternehmen und Verbände...................................................
65
VII. Art. 66 § 5 EGKSV, Art. 63 § 2 EGKSV ................ ;. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .
66
C. Klagefrist ..........................................................................
67
D. Wirkung der Klageerhebung ........................................................
67
E. Klagegrunde ................................................................ . ......
68
I. Übernahme der cas d' ouverture ........................................ . ......
68
11. Bedeutung der Klagegrunde ...................................................
70
F. Umfang des richterlichen Nachprüfungsrechts ......................................
70
I. Art. 33 Abs. I S. 2 EGKSV ...................................................
70
11. Ausnahmen ...................................................................
72
l. Ermessensmißbrauch ............................................... .. ......
72
2. Offensichtliche Rechtsverletzung ...........................................
72
3. Stellungnahme ..................................................... .. ......
73
Inhaltsverzeichnis G. Rechtsfolgen
11 73
I. Zurückverweisung ............................................................
73
11. Wiedergutmachungspflicht ....................................................
74
III. Rechtskraft ...................................................................
74
Kapitel 3 Die Nichtigkeitsklage in den Römischen Verträgen
74
A. Klagegegenstand ...................................................................
75
B. Klagebefugnis .......................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
I. Klagen gegen die Kommission ................................................
77
11. Klagen gegen den Rat .........................................................
78
III. Klagebefugnis Privater ........................................................
78
IV. Klagen des Parlaments
82
c.
Klagefrist ..........................................................................
82
D. Klagegründe .......................................................................
83
E. Umfang der richterlichen Prüfungsbefugnis .........................................
83
F. Rechtsfolge ........................................................................
85
Kapitel 4 Untätigkeitsklage
86
A. Art. 35 EGKSV ..................... . .......... . . . .................................
86
I. Notwendiges Vorverfahren ....................................................
86
1. Befassungsberechtigung ....................................................
87
2. Befassungsgründe ..........................................................
87
11. Klagegegenstand .... . ................................................... . . . ...
87
12
Inhaltsverzeichnis III. Klageberechtigung ........................................ . ................ . ..
88
IV. Klagefrist ..... . ............... . . . .......... . ... . .............. . ...............
88
V. Klagegründe ..................................................................
89
B. Untätigkeitsklage in den Römischen Verträgen......................................
89
3. Te i 1 Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
91
KapitelS Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Verwaltung in Frankreich
92
A. Verwaltungsgerichtsbarkeit .........................................................
92
B. Verwaltungsrechtsschutz ...........................................................
95
C. Klagen wegen exces de pouvoir ....................................................
97
I. Zulässigkeit der Klage .................................•......................
97
1. Klagegegenstand ...........................................................
97
2. Rechtsschutzinteresse ......................................................
98
3. Vorverfahren ...............................................................
99
4. Form und Frist .............................................................
99
5. Absence de recours paraltele ............................................... 1()() 6. Einstweiliger Rechtsschutz ................................................. 1()() H. Begründetheit der Klage ................. . .................................... 1()()
I. lncompitence .............................................................. 101
2. Vice de forme et vice de procidure .................. . ....................... 102 3. Violation de La loi .......................................................... 103 4. Ditournement de pouvoir................................................... 104 III. Umfang der Nachprüfung ..................................................... 107 IV. Urteils wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107
Inhaltsverzeichnis
13
Kapitel 6
Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen in Deutschland
108
A. Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz ..................................... 108 B. Anfechtungsklage .................................................................. 110 I. Zulässigkeit ........... . . . . .. . .. .. . . . . .. . .. .. . .. . . . . .. .. .. . . .. . . .. . . . . . . .. .. .. . 111 1. Klagegegenstand ........... .. .............................................. 111
2. Klagebefugnis .............................................................. 111 3. Vorverfalu:en ............................................................... 112 4. Klagefrist .................................................................. 112 H. Begründetheit ......... . .. . .. . . . .. . .. . .. . .. .. . .. . . . .. .. .. . . . . .. . .. . . . .. . . . .. .. . 113 I. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ...................................... 113 2. Individual-Rechtsverletzung ................................................ 113 3. Umfang der gerichtlichen Kontrolle (Kontrolldichte) ....................... 113
4. Teil Europäische Rechtsanwendung
115
Kapitel 7
Die Nichtigkeitsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver RechtskontroUe
115
A. Zur Klagebefugnis .. . . . .. . . . ... . . . . . . .. . . . . ... .. ...... . . . ... . . . . . .... . .. . . ... . . .. . . . 116 I. Mitgliedsstaaten und Gemeinschaftsorgane ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
H. Klagen Privater............................................................... 118 I. Einzelfallentscheidungen ................................................... 118 2. Als Verordnung ergangene Entscheidungen ... .. ............................ 118 3. An Dritte gerichtete Entscheidungen........................................ 122 4. Stellungnahme............................................................. 122
14
Inhaltsverzeichnis
B. Zum Suspensiveffekt der Klageerhebung ........................................... 123 1. § 80 VwGO ................................................................ 123
2. Sursis aexecution .......................................................... 124 3. Art. 39 EGKSV, Art. 185 EGV ............................................. 124 4. Stellungnahme
126
Kapitel 8
Ermessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
127
A. Bedeutung der Klagegründe ........................................................ 127 B. Ermessenskontrolle ................................................................. 129 I. Frankreich .................................................................... 130 11. Deutschland................................................................... 132 III. Gemeinschaftsregelung ....................................................... 133 IV. Europäischer Gerichtshof ..................................................... 134
Schlußbetrachtung ................................................................... 138 Literatur- und Quellenverzeichnis ................................................... 140 I. Literatur ...................................................................... 140 11. Nichteditierte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152 1. Archive .................................................................... 152 2. Interviews .................................................................. 154
Personenregister...................................................................... 155
Einleitung Am 10. Dezember 1952 wurden die Richter des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vereidigt. Der Gerichtshof nahm am gleichen Tag seine amtliche Tatigkeit auf. Ein wichtiges Organ der europäischen Integration war geschaffen und der Grundstein für ein "Europäisches Recht" gelegt. 1 Die erste Sitzung des Gerichtshofes war - so der damalige Präsident der Hohen Behörde Jean Monnet in seiner Eröffnungsansprache - ein "historisches Ereignis. ( ... ) Zum ersten Mal (trete) ein souveräner Europäischer Gerichtshof zusammen ( ... ), nicht nur der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sondern verbunden damit auch die Hoffnung auf einen obersten europäischen Gerichtshof.,,2 Dabei war es "fast selbstverständlich, daß in einer Gemeinschaft, die als Rechtsgemeinschaft verstanden wird, ihrem Gerichtshof wesentliche Aufgaben zufallen,,3; manche hielten den Gerichtshof sogar für das einzige Gemeinschaftsorgan, das perfekt funktioniere und sich vertragsgemäß als supranationale, unabhängige dritte Gewalt behaupte. 4 1 Dazu Gi! Carlos Rodriguez Iglesias, Gedanken zum Entstehen einer Europäischen Rechtsordnung, in: NJW 1999, S. I ff. Zur Geschichte der europäischen Integration: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa: Ein Anfang. Von der Messina- Konferenz zu den Römischen Verträgen 19551957, Ausstellungskatalog, bearbeitet von den Generalarchiven der Kommission, Brüssel 1985; Klaus-Dieter Borchardt, Die europäische Einigung. Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Brüssel 1990; Hans von der Groeben, The European Community. The formative years (1958-1966), Brüssel 1987; ders., Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaften. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union (1958-1966), Baden-Baden 1982; Ludolph Herbst, Optionen für den Westen. Vom Marshall-Plan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989; ders., Vom Marshall-Plan zur EWG, München 1990; Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990; ders., Die Anfange der europäischen Integration 1945 -1950, Bonn 1990; Hans Küsters, Die Gründung der EWG, Baden-Baden 1982; ders., Von der EVG zur EWG, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1983, Nr. 12, S. 3 ff.; Raymond Poidevin, Histoire des debuts de la construction europ€enne (1948 - 1950), Brüssel 1984; Gilbert Trausch (Hrsg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom, Baden-Baden 1993. 2 Jean Monnet, Ansprache anläßlich der ersten Sitzung des Gerichtshofes am 10. 12. 1952, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), Sekretariat für Fragen des SchumanPlans (Abt. 11), Band 53, S. 2. 3 Hans Kutscher, Über den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1981, S. 392 f. 4 Siehe Walter Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung, Bonn 1986, S. 515.
16
Einleitung
Die einzigartige Stellung des Europäischen Gerichtshofes im System der Gemeinschaft beruhte zunächst vor allem auf der - insbesondere im Vergleich zu den mitgliedsstaatlichen Verfassungskonzeptionen 5 - schwach ausgebildeten demokratischen Mitwirkung und Kontrolle des Europäischen Parlaments6 sowie auf der Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens, dem Nonndefizit des Gemeinschaftsrechts7 und dem noch relativ schwachen Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten innerhalb der Gemeinschafts. Schließlich unterlag allein der Gerichtshof nicht dem Konsensprinzip, das die Europäischen Gemeinschaften lähmte: Während der Meinungsbildungsprozeß in den übrigen Gemeinschaftsorganen oftmals unter dem Vorzeichen politischer und nationaler Interessen steht, entschied der Gerichtshof von Anfang an autonom, unabhängig von den Mitgliedsstaaten und den von ihnen verfochtenen Interessen. Seine Mitglieder waren und sind in jeder Beziehung frei und vertreten keine nationalen Belange. Er entscheidet entsprechend seinen internen Regeln, erforderlichenfalls mit Mehrheit. 9 Der Gerichtshof entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer Art ,Jntegrationsmotor"lO. Die einzelnen Rechtsbehelfsmöglichkeiten vennitteln dem EuGH neben ihrer Rechtsschutzfunktion ,,Mittel und Wege zur Stabilisierung als Rechtsgemeinschaft".l1 Dabei wurde der Gerichtshof von den Gemeinschaftsverträgen mit AufS Allgemein zur Problematik der Kompatibilität nationalen Verfassungsverständnisses mit dem Gemeinschaftsrecht vgl. Christoph BaU, Eine Verfassung für die Europäische Union, in: EuZW 1994, S. 257 ff., Roland Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Rudolf Wildemann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine europäische Union, Baden-Baden 1991, S. 393 ff.; Roland Bieber/Jürgen Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1984; Peter Haeberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: EuGRZ 1991, S. 261 ff.; lan Harden, The constitution of the European Union, in: Public Law 1994, S. 609 ff.; Thomas Läufer, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, München 1995, S. 355 ff.; Manfred Zuleeg, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, in: BB 1994, S. 581 ff. 6 Zum Demokratiedefizit Armin von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, im Erscheinen; Werner von Simson, Aus der Anfangszeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Eckart Klein (Hrsg.), Festschrift für Ernst Benda, Heidelberg 1995, S. 335 ff. Kritisch auch Paul Kirchhof' "Die EWG trennt nicht strikt zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung, sondern toleriert Grenzüberschreitungen ihrer Gerichtsbarkeit zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsetzung", Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, Goldbach 1995, S. 280; Wolfgang Denzer-Vanotti, Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs, in: RIW 1992, S. 733 ff. 7 Charles Uon Hammes, Gedanken zu Funktion und Verfahren des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1968, S. 1,7 ff. S Pernice, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf, Kommentar zur Europäischen Union (Grabitz-Kom.), München 1995, Art. 164, Rn. 41. 9 Ulrich Everling, Europäische Politik durch Europäisches Recht?, in: EG-Magazin 2/84, S. 3 ff. 10 Torsten Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, in: Festschrift der Universität Heidelberg, Heidelberg 1986, S. 619.
Einleitung
17
gaben bedacht, deren Umfang und Schwierigkeit ohne Beispiel sind. Den von ihren nationalen Rechtsordnungen geprägten Richtern oblag es von Beginn an, trotz sprachlicher Unterschiede 12, in ihren wirtschaftlichen Zusammenhängen oft höchst komplexe Rechtsstreitigkeiten in einer Weise zu judizieren, die dem Integrationsziel der Vergemeinschaftung verpflichtet ist, gleichwohl aber begründete individuelle und nationale Interessen respektiert und schützt. 13 Rechtswahrung und Rechtsschutzgewährung als Aufgaben des Gerichtshofes, die dieser zunächst nur im eng begrenzten Montanbereich wahrnehmen konnte, erweiterten sich mit der Häufung der anhängigen Rechtssachen. Ihm erwuchs zunehmend die Aufgabe, im lückenhaften und uneinheitlichen Komplex des Gemeinschaftsrechts rechtsschöpferisch tätig zu werden. 14 Dabei hat er das Gemeinschaftsinteresse an der Integration zu fördern und nationale Interessen zu begrenzen, aber auch den Marktbürger und die Marktunternehmen gegenüber der Exekutive zu schützen gesucht. 15 Im Jahre 1957 ebnete die Gründung der beiden neuen Gemeinschaften den Weg zu einer verstärkten wirtschaftlichen und sozialen Integration. Der Gerichtshof der 11 Hans- Werner Rengeling / Andreas Middeke / Martin GeIlermann. Rechtsschutz in der Europäischen Union, München 1994, S. 3. 12 Zum Sprachenproblem vgl. Reiner Schulze. Das Entstehen des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Eine Forschungsaufgabe der juristischen Zeitgeschichte, in: ZNR 1994. S. 297 ff. Allgemein zum Problem des "Terminologietransfers" Klaus Armbrüster; Rechtliche Folgen von Übersetzungsfehlern oder Unrichtigkeiten in EG-Dokumenten, in: EuZW 1990, S. 246 ff.; Albert Bachrach. La traduction mailIon indispensable dans la chaine de la communication, in: CIREEL (Hrsg.). Langues et cooperation europeenne, 1980, S. 181 ff.; Petra Braselmann. Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachenproblemen in EuGH-UrteiIen, in: EuR 1992, S. 55 ff.; Hans Dölle. Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 1961, S. 41 ff.; Herman Kusterer; Das Sprachenproblem in den Europäischen Gemeinschaften, Europa-Archiv 1990, S. 693 ff.; Hans Maier, Das Problem der Mehrsprachigkeit in einem politisch zusammenwachsenden Europa. in: M. Hättisch/P' D. Pfitzner (Hrsg.), Nationalsprachen und die Europäische Gemeinschaft, Baden-Baden 1989, S. 87 ff.; Wolfgang Mincke. Die Problematik von Recht und Sprache in der Übersetzung von Rechtstexten, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1991, S. 446 ff. 13 "Der Gerichtshof hat sich nicht gescheut, die von den Vertragsschöpfern offengelassenen und häufig nicht durch sekundäres Gemeinschaftsrecht ausgefüllten Lücken des Gemeinschaftsrechts durch kühn konzipiertes Richterrecht zu schließen." Ernst- Werner Fuß. Einleitung in: ders. (Hrsg.), Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes, Baden-Baden 1981, S. 7. Zu leeg weist darauf hin, daß der Gerichtshof rechtsschöpferisch tätig werden muß, "um Lücken im Gemeinschaftsrecht zu füllen und den BedeutungsgehaIt von Normen des Gemeinschaftsrechts abzustecken", Manfred Zuleeg. Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft, in: Wolfgang Blomeyer I Karl Albrecht Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Berlin 1995, S. 9 ff., 18. 14 Zur Differenzierung zwischen der rechtsfortbildenden und der rechtsschöpferischen Spruchtätigkeit des EuGH vgl. Klaus-Dieter Borchardt. Richterrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. in: Randelzhofer, Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. S. 29 ff. IS Hans Peter Ipsen. Europäisches Gemeinschaftsrecht. Tübingen 1972. S. 373. 2 Drewes
18
Einleitung
Montangemeinschaft fusionierte auf Grund der Artikel 3 und 4 des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften 16 mit den neugegründeten Gerichtshöfen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft. Mit Wirkung vom 1. Januar 1958 trat ein gemeinsamer Gerichtshof an die Stelle der drei in den Gründungsverträgen vorgesehenen Gerichtshöfe und nahm die den abgelösten Organen übertragenen Zuständigkeiten nach Maßgabe des jeweiligen Gemeinschaftsvertrags wahr. 17 Daß der Gerichtshof seit der Ausdehnung der Vergemeinschaftung über den Montanbereich hinaus als gemeinsames Organ der drei Gemeinschaften fungieren konnte, hatte für die einheitliche Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts, seine Auslegung und Anwendung wesentliche Bedeutung. 18 Die wichtigsten Ergänzungen und Änderungen der Gründungsverträge 19 erfolgten in der Einheitlichen Europäischen Akte 20, im Unionsvertrag von Maastricht 21 und in dem noch nicht in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam 22 • Die EEA versteht sich in ihrer Präambel als Weiterführung der Gemeinschaftswerke und gleichzeitig als Bekundung des Willens, die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten in den damaligen Gemeinschaften umzuwandeln. Der Unionsvertrag änderte die Verträge der drei Gemeinschaften und ersetzte Teile der Verträge durch gemeinsame Vorschriften. 23 Der Vertrag von Amsterdam betrifft vor allem die Verfassungsprinzipien der Gemeinschaft. 24
Fusionsabkommen vom 25. 3. 1957, abgedruckt in Sartorius 11, Nr. 220. Dazu auch Hans Kutscher. Abschied vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1981, S. I ff. Die Rechtsprechungstätigkeit seit 1953 ist beachtlich: Bis zum Jahr 1994 wurden 8641 Rechtssachen beim Gerichtshof anhängig gemacht, die bis Ende 1994 zu 3920 Urteilen geführt haben. Aus: Gerichtshof der EG (Hrsg.), Tätigkeitsbericht 1992 - 1994, Überblick über die Tätigkeit des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1995, S. 268. 18 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 366. 19 In dieser Arbeit werden bezeichnet: der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl als EGKSV (auch Montanvertrag bzw. Montanunion), der Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als EWGV (seit dem Vertrag von Maastricht - EUV: Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EGV), der Vertrag über die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft als EAGY. 20 Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) wurde am 17./28.2. 1986 unterzeichnet und trat im Juli 1987 in Kraft, abgedruckt im BGBL. 11 1986, S. 11 02; ABI. 1987, L 169/1 oder Sartorius 11 unter Nr. 151, siehe auch unten, Kapitel I, Punkt B.III. 21 Vertrag über die Europäische Union (auch Maastricht-Vertrag) vom 7. 2. 1992, abgedruckt in BGBI. 11 1992, S. 1253, Sartorius 11, Nr. 152. 22 Vertragstext in: ABlEG 1997, Nr. C 340, S. I. Die Texte des EU- und des EG-Vertrages in der Fassung des Amsterdamer Vertrages sind in der NJW-Beilage zu Heft 11, 1998 abgedruckt. 2J Siehe dazu unten Kapitel I, Punkt D. 24 Siehe dazu unten Kapitel I, Punkt E. 16 17
Einleitung
19
Der Rechtsschutz hat im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl seine erste Prägung erhalten. Die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft haben ihn in seinen Grundzügen übernommen, ihn in manchen Einzelfragen aber weiterentwickelt und umgestaltet. So manche Eigentümlichkeit, die in den Montanvertrag eingegangen ist, ist in den späteren Verträgen zum Teil erhalten, zum Teil durch andere Vorschriften ersetzt worden. 25 Bereits im Rahmen der Pariser Konferenz zur Montanunion betonte der deutsche Delegationsleiter Walter Hallstein, "daß sich die Bestimmungen für den Gerichtshof nicht einseitig nach dem Verwaltungsrecht eines der Mitgliedsstaaten richten könnten. Man müsse ein der Natur der Sache entsprechendes System von Verwaltungsnormen finden und entsprechend dem supranationalen Charakter der Organe der Gemeinschaft einen ersten Schritt zur Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Rechts tun.,,26 Es scheint nach nunmehr fast fünf Jahrzehnten deutlich zu werden, daß der EuGH diese gründungsvertraglichen Vorgaben in seiner Judikatur einlösen konnte. Dabei wird zu zeigen sein, daß dieser Prozeß nicht statisch verlief, sondern an unterschiedlichen Parametern ausgerichtet war. Die vorliegende Arbeit wird diese Dynamik anhand der Nichtigkeitsklage, wie sie heute in Art. 173 EGV normiert ist, nachzeichnen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Verhandlungen zu den Gründungsverträgen, die einerseits ein Forum für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Rechtstraditionen boten, andererseits aber den Grundstein für die Schaffung jenes Rechts legten, das sich heute als "Träger eines europäischen Geistes,,27 darstellt. Die Entwicklung der Nichtigkeitsklage 28 verdient dabei besondere Aufmerksamkeit, da diese eine wichtige Schnittstelle zwischen den Bürgern und Behörden der Mitgliedsstaaten und der supranationalen Autorität bildet. 29 Den Mitgliedsstaaten sowie ihren Angehörigen wurde mit der Nichtigkeitsklage ein Mittel in die Hand gegeben, gegen Entscheidungen der GeSiehe dazu unten Kapitel 3 und 4. Aus: Kurzprotokoll über die deutsch-französische Juristensitzung im französischen Planungsamt am 21. 11. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 359. 27 Bernhard Groß/eid/Karen Bi/da, Europäische Rechtsangleichung, in: ZfRV 1992, S. 412 ff. 28 Die in den Art. 33 EGKSV, Art. 173 E(W)GV und Art. 146 EAGV vorgesehenen Klagen zielen auf die Nichtigkeitserklärung der betroffenen Handlung. Sie werden i. d. R. als Nichtigkeitsklagen bezeichnet, die verschiedentlich anzutreffenden Bezeichnungen "Anfechtungs-" oder "Aufhebungsklage" sollen hier nicht verwandt werden. 29 Mosler bezeichnet die Nichtigkeitsklage als Normaltyp des Verfahrens vor dem Gerichtshof, vgl. Hennann Mosler, Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Entstehung und Qualifizierung, in: ZaöRV XIV (1951), S. 42. Nach Verfahrensarten aufgeschlüsselt stellt sich dies in der Praxis des Gerichtshofes jedoch anders dar: In den Jahren 1992-1994 wurden 569 Vorabentscheidungssachen beim Gerichtshof anhängig gemacht und nur 164 Nichtigkeitsklagen. Insgesamt wurden bis Ende 1994 2893 Ersuchen auf Vorabentscheidung an den Gerichtshof gerichtet (davon mit Abstand die meisten von deutschen Gerichten). Vgl. Gerichtshof der EG (Hrsg.), Tlitigkeitsbericht 19921994, S. 262, 272. 25
26
2'
20
Einleitung
meinschaftsorgane vorzugehen. Die hier normierte Klage stellt damit auch eine bedeutsame Möglichkeit direkter Verfahrensbeteiligung durch Einzelpersonen dar. Durch sie kann der einzelne ihn belastende Gemeinschaftsrechtsakte vor einer richterlichen Instanz angreifen und deren gerichtliche Überprüfung verlangen. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, die Entscheidungen der Hohen Behörde bzw. der Kommission zu kontrollieren, und ein wesentlicher Beitrag zu der rechtsstaatlich notwendigen Gewaltenteilung geleistet. Ihr Vorbild hat die Nichtigkeitsklage nicht im internationalen Recht, in dem sie ein Novum darstellt, sondern im nationalen Recht der Staaten. 30 Da die Rechtsordnungen der an der Gründung der Gemeinschaft beteiligten europäischen Staaten ihre verwaltungsrechtlichen Grundprinzipien dem französischen und deutschen Recht entlehnten, läßt sich vermuten, daß das Verfahren vor allem französische und deutsche Rechtselemente aufweist. Insbesondere der französische recours pourexces de pouvoir soll bei der Gemeinschaftsregelung Pate gestanden haben. 31 Auffällig ist, daß sich die Terminologie bestimmter Rechtsbegriffe und Regelungen des französischen Verwaltungsrechts in den Rechtsordnungen der Gemeinschaften wiederfindet. 32 Bereits 1951 wies jedoch Paul Reuter darauf hin 33 , daß die Annahme französischen Vokabulars nicht notwendig eine "sklavische" Unterwerfung unter französische Vorbilder bedeute. Die vorliegende Arbeit belegt anhand eines Beispiels, daß sich die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts trotz der französischen Vormachtstellung nicht in der bloßen Übernahme des französischen Systems erschöpfte. Die Auslegung vollzog sich von Anfang an nach den Bedürfnissen der Gemeinschaft und war nicht an französische Vorstellungen gebunden: Es galt nicht das französische oder deutsche Recht oder das Recht irgendeines anderen Staates anzuwenden, sondern das Recht der Verträge. Die judizielle Herausarbeitung dieses Rechts wird im folgenden darzustellen sein. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird die Entstehung der Gemeinschaftsverträge und des Gemeinschaftrechts nachgezeichnet. Als Untersuchungsgrundlage dienen vornehmlich die Protokolle der in Paris und Rom geführten Gründungsverhandlungen, die sich in den nationalen Archiven befinden. 34 Diese zeigen nicht nur die 30 Zur Herkunft der Nichtigkeitsklage (Iat.: quaerel(l)a nullitatis) siehe Wolfgang Sellert, Artikel Nichtigkeitsklage, Nichtigkeitsbeschwerde, in: Adalbert Erler I Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1984, S. 974 ff. 31 Thomas Oppermann, Europarecht, München 1991, S. 240, Rn. 640; Wenig in: GrabitzKom., Art. 173, Rn. 20; G. Vandersandenl A. Barav, Contentieux Communautaire, Brüssel 1977, Kapitel 2, S. 127. 32 Recours de pleine juridiction. incompitence, violation des formes substantielles, ditournement de pouvoir, faute personelle und faute de service. Dazu siehe Sigrid Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze - Begriffsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte, Berlin 1997. 33 Paul Reuter, Quelques aspects institutionnels du Plan Schuman, in: RDP 1951, S. 105124. 34 Die vorliegende Arbeit beruht auf Recherchen in den folgenden Archiven: Archiv de Conseil Central in Brüssel (ACC), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn
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rechtlichen Schwierigkeiten, sondern auch die politischen Erwägungen, die hinter einzelnen in die Verträge eingegangenen Regelungen stehen. 35 Neben den historisch-protokollarischen Quellen, die Einsicht in den Verhandlungsgang zu einzelnen Regelungen unter dem Angebot verschiedener nationaler Modelle geben, lassen sich aus der Darstellung der Regeln im EGKSV einerseits und E(W)GV und (PAAA), Bundesarchiv in Koblenz (BA), Archives Nationales (ANP) und Archives Diplomatiques (ADP) in Paris, Archives Historiques des Communautis Europeennes in Florenz (AHCE), Archives Nationales in Luxemburg (ANLUX) und Fondation Jean Monnet pour l'Europe in Lausanne (FJM). Für die Grundungsphase sind die Archive der Gemeinschaftsorgane (Archiv des Europäischen Gerichtshofs (AGH) und Historisches Archiv des Europäischen Parlaments (AEP) in Luxemburg, Historisches Archiv des Rates und Historisches Archiv der Kommission in BrusseI) wenig ergiebig. Interessanter sind hier die nationalen Archive der Mitgliedsstaaten, in denen die Berichte der nationalen Delegationen und Protokolle der internen Beratungen zu finden sind. 3S Für diese Arbeit konnten mit einigen Protagonisten der Anfangszeit ausführliche Gespräche geführt werden. An dieser Stelle möchte ich für ihre Unterstützung danken: Herrn Dr. Hans- Wolfram Daig, Herrn Albert van Houtte, Herrn Prof Dr. Dr. h. c. Hans Kutscher und Herrn Prof Dr. Hermann Mosler. Darüber hinaus haben die Beteiligten ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in den frühen 50er Jahren in zahlreichen Aufsätzen verarbeitet, so daß ein fast lückenloses Bild der Entwicklungen der Gemeinschaftsidee nachgezeichnet werden konnte: Carl Bilfinger; Vom politischen und nichtpolitischen Recht in organisatorischen Kollektivverträgen, Schuman-Plan und die Organisation der Welt, in: ZaöRV XIII (1950151), S. 615 ff.; Walter Hallstein, Der Schuman-Plan, Frankfurter Universitätsreden, Heft 5 (1951); Maurice Lagrange, La Cour de Justice de la Communaute Europeenne du Charbon et de I' Acier, in: RDP 1954, S. 417 ff.; ders .• La Cour de Justice de la Communaute Europeenne du Plan Schuman, in: Melanges Fernand Dehouses. La construction europeenne. Paris. Brussel 1979, Bd. 2. S. 127 ff.; Hermann Mosler; ZaöRV XIV (1951/52), S. 1 ff.; ders., Die Entstehung des Modells supranationaler und gewaltenteilender Staatenverbindungen in den Verhandlungen über den Schuman-Plan, in: Ernst von Caemmerer 1 Hans-J ürgen Schlochauer 1Ernst Steindorff (Hrsg.), Probleme des Europäischen Rechts, Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1966, S. 355 ff.; später ders., Die europäische Integration aus der Sicht der Grundungsphase, in: Oie Duel Marcus Lutter 1Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band I, Baden-Baden 1995, S. 911 ff.; Carl-Friedrich Ophüls. Juristische Grundgedanken des Schumanplans, in: NJW 1951, S. 289 ff.; ders., Das Wirtschaftsrecht des Schumanplans. in: NJW 1951, S. 381 ff.; ders., Zur ideengeschichtlichen Herkunft der Gemeinschaftsverfassung, in: Festschrift für Hallstein, S. 387 ff.; Paul Reuter; Quelques aspects institutionnels du Plan Schuman; ders., Aux origines du Plan Schuman, in: Melanges Fernand Dehouses, La construction europeenne, Band 2, S. 65 ff.; Ulrich Sahm, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: Europa-Archiv 1951, I, S. 3977 ff.; Hans-Jürgen Schlochauer; Der übernationale Charakter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: JZ 1951, S. 289 ff.; Ernst Steindorff, Schuman-Plan und europäischer Bundesstaat, in: Europa-Archiv 1951, I, S. 3955 ff. Vergleiche auch die Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, insbes. Band 2, Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Anfange des Schuman-Plans 1950151, in: Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Band 2, Baden-Baden 1988, und die Dokumentensammlung des Forschungsinstituts der deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Europa - Dokumente zur Frage der europäischen Einigung (in drei Teilbänden), München 1962.
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EAGVandererseits (Kapitel 2-4) die Motive für die gefundene Entscheidung herausfiltern. Im fünften und sechsten Kapitel wird in einem kurzen Abriß der entsprechende Rechtsschutz in den nationalen Rechtsordnungen dargestellt, um zu klären, ob und gegebenenfalls welche nationalen Vorstellungen von den nationalen Vertretern in die Verhandlungen zur Nichtigkeitsklage eingeführt wurden. In den beiden letzten Kapiteln werden anhandeiner eingehenden Untersuchung der Rechtsprechung der europäischen Gerichte die Schwierigkeiten der Anwendung dieses "multinationalen Rechts" und der eingeschlagenen Lösungswege aufgezeigt. Dabei wird der Blick sowohl auf den Gerichtshof als gemeinsames Organ der drei Gemeinschaften als auch auf das Gericht erster Instanz 36 gerichtet sein. Da sich im Rahmen der E(W)G über die Jahre hinweg das bei weitem reichhaltigste Material angesammelt hat, wird hier ein Schwerpunkt der Analyse liegen. Das Klagesystem des EAGV hat bisher kaum eine Rolle gespielt?7 Es entspricht weitgehend den Regelungen des E(W)GV, was sich schon aus dem zeitlichen Zusammenfallen der Entstehung der beiden Römischen Verträge erklärt. Die meisten Regelungen zum gerichtlichen Streitverfahren, insbesondere auch die zur Nichtigkeits- oder Untätigkeiisklage, stimmen wörtlich überein. 38
36 Das im Jahre 1989 eingerichtete Gericht erster Instanz ist seit 1993 zuständig für den Individualrechtsschutz. Siehe auch unten Kapitell, Punkt C.III. 37 In den Jahren 1992-1994 wurden nur drei beim Gerichtshof anhängig gemachte Klagen auf die Art. 141 und 151 EAGV gestützt. Gerichtshof der EG (Hrsg.), Tätigkeitsbericht 1992-1994, S. 263. 38 Unterschiede ergeben sich im Rahmen der aufschiebenden Wirkung einer Klage: Art. 157 EAGV verweist mit der einschränkenden Wendung "soweit sich aus diesem Vertrag nichts anderes ergibt" auf Art. 18 Abs. 2 EAGV für Rechtsmittel, die beim Gerichtshof gegen Entscheidungen eines Schiedsausschusses eingelegt werden, sowie auf Art. 83 Nr. 2 EAGV für Klagen, die gegen eine Entscheidung der Kommission über die Verhängung der in Art. 83 Nr. 1 EAGV vorgesehenen Zwangsmaßnahmen beim Gerichtshof erhoben werden. Siehe dazu Krück, in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 187, Rn. 44.
l.Teil
Entstehen des Rechtsschutzes vor den Europäischen Gerichten Kapitell
Der Rechtsschutzgedanke in den Gründungsverhandlungen Der Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane durch den Gerichtshof ist bereits in den Gründungsverträgen geregelt. Um die Entstehungsgeschichte der hier zu untersuchenden Bestimmungen zu verfolgen, ist es erforderlich, zu den Anfängen der Gemeinschaften zurückzugehen und sich zu vergegenwärtigen, weIche Vorschläge und Pläne diskutiert wurden, als die Montanunion als Modellgemeinschaft erdacht wurde und in langen Verhandlungen Wirklichkeit zu werden begann.
A. Die europäische Idee 1 Am 9. Mai 195rr verkündete Rohert Schuman den als "Schuman-Plan,,3 bekanntgewordenen Vorschlag der französischen Regierung, in dem die Idee eines 1 Der Schock der Weltkriege ließ die Idee eines vereinten Europa aufkommen. Einen Meilenstein setzte Winston Churchill mit seiner Rede vom 19.9. 1946 in Zürich, in der er anregte, etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen - a kind of United States of Europe, (Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band I, S. 113 ff.) und die Resolution des Haager Europa-Kongresses vom 10.5. 1948, in der gefordert wurde, daß die europäischen Nationen einen Teil ihrer Souveränitätsrechte übertragen und verschmelzen ... , um gemeinsames politisches und wirtschaftliches Handeln ... sicherzustellen, abgedruckt in: Walter Lipgens (Hrsg.), Ringen um die Europäische Verfassung, S. 240 ff. 2 Bis 1950 waren alle Anstrengungen eines Zusammenschlusses vor allem durch Großbritannien blockiert worden, daher reifte unter den kontinentalen Föderalisten und zum Zusammenschluß bereiten Politikern der Entschluß, das Werk einer europäischen Föderation in vorerst engerem Kreise, d. h. ohne Großbritannien (und Skandinavien), nochmals zu beginnen. Eine führende Rolle kam dabei Frankreich zu, das, um eines Durchbruchs sicher zu sein, eine sachlich überzeugende "erste Etappe" dorthin vorschlug. Frankreich suchte nach Garantien für ein friedliches Verhalten eines erstarkenden Deutschlands, dabei ging man davon aus, daß
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1. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
übergreifenden Marktes für die Montanindustrie und die Schaffung einer "gemeinsamen Obersten Aufsichtsbehörde - Haute Autorite" vorgesehen waren. Die Einrichtung einer "Obersten Behörde", deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein sollten, war das eigentlich Neue, das "Herz des Vertrages"4, und die Hohe Behörde die einzige Institution der späteren Gemeinschaft, die in dem französischen Vorschlag bereits vorgesehen war. Es sollte ein Organ geschaffen werden, welches zwar nicht über den Mitgliedern, also denjenigen, die diesen Vertrag schließen würden, stehen sollte, auf das aber eine Assoziation von Souveränitätsrechten der verschiedenen Länder übertragen werden sollte. 5 Daneben war im Schuman-Plan von einem Schiedsrichter (arbitre) die Rede, dessen Rolle aber nicht mit den Aufgaben des späteren Gerichtshofes der Gemeinschaft verglichen werden kann. Dieser Schiedsrichter sollte darüber wachen, daß die zur Ausführung des Vertrages notwendigen ,,Abkommen den Grundsätzen des Vertrags entsprechen und im Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung bestimmen, die dann angenommen werden wird".6 Darüber hinaus wurden "geeignete Vorkehrungen" gefordert, die Einspruchsmöglichkeiten gegen Entscheidungen der Obersten Behörde gewährleisten sollten. 7 Aufbauend auf dieser französischen Vorlage einigten sich die französische und die deutsche Regierung auf das folgende Kommunique, das den Regierungen Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Italiens am 25. Mai 1950 übermittelt wurde: ,,Die Regierungen ... haben hinsichtlich der Friedensziele, der europäischen Solidarität und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts ein gemeinsames Vorgehen durch die eine enge Verschmelzung der Schwerindustrien einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland auch materiell unmöglich machen würde. Aus der Notwendigkeit einer politischen und wirtschaftlichen Föderation entstand die Idee einer supranationalen Autorität und eines übergreifenden Marktes für die Montanindustrie, einer mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offenstehen sollte, die daran teilnehmen wollten. V gl. Reuter, Aux origines du Plan Schuman, S. 67. In Robert Schuman hatte Frankreich einen europäisch gesinnten Außenminister, der diese Initiative aufgriff, im Kabinett durchsetzte und am 9. 5. 1950 als Vorschlag der französischen Regierung verkündete, wobei er diesen wiederholt und ausdrücklich als "erste Etappe" bzw. "Grundstein" der "europäischen Föderation" bezeichnete. Zu der Entstehungsgeschichte des Vorschlags und dessen Annahme durch den französischen Außenminister siehe Jean Monnet. Erinnerungen eines Europäers, München, Wien 1978, S. 367 ff. 3 Deutsche Übersetzung abgedruckt in: Europa-Archiv vom 5. Juni 1950, Folge 11/1950, S. 3091 f.; französischer Originaltext in: ZaöRV XIII (1950/51), S. 651 ff. 4 Reuter, RDP 1951, S. 105 ff. S Adenauer auf der 68. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. 6. 1950, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode 1940, Stenographische Berichte, Band 4, Bonn 1950. 6 Europa-Archiv vom 5. Juni 1950, Folge 11/1950, S. 3091 f. 7 Ebenda, S. 3092.
l. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
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Zusammenlegung ihrer Kohle- und Stahlproduktion und die Einrichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für die beteiligten Länder verbindlich sind, beschlossen. Die Verhandlungen auf der Basis der Prinzipien und des grundsätzlichen Engagements, wie aus dem französischen Vorschlag vom 9. Mai ersichtlich, werden zu einem Zeitpunkt eröffnet, den die französische Regierung unverzüglich vorschlagen wird mit dem Ziel, einen Vertrag aufzusetzen, der den Parlamenten zur Ratifizierung unterbreitet wird."g
Am gleichen Tag sandte die französische Regierung den Entwurf nach London in der Hoffnung, daß Großbritannien an den Verhandlungen von Anfang an unter den gleichen Voraussetzungen teilnehmen werde. Da jedoch die Annahme der Deklaration vom 9. Mai die Voraussetzung für die Teilnahme an der Konferenz sein sollte und nicht Verhandlungsgegenstand, schloß sich Großbritannien dem Kommunique schließlich nicht an. 9 Die sechs Regierungen, die den Schuman-Plan als Verhandlungsbasis angenommen hatten, veröffentlichten am 3. Juni 1950 ein gemeinschaftliches Kommunique, das mit geringfügigen textlichen Änderungen dem vorangegangenen Entwurf entsprach, und einigten sich damit vorweg auf die Annahme der wichtigsten Kernpunkte des französischen Vorschlags. Die Übereinkunft war die politische Grundlage. Nun ging es darum, möglichst schnell einen Vertrag aufzubauen, der die Ziele des Schuman-Plans ausformulierte - einen Vertrag, der ohne Vorbild war und aus dem man noch lange institutionelle Modelle beziehen sollte.
B. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl I. Schuman-Plan-Konferenz Am 20. Juni 1950, nur sechs Wochen nach der französischen Erklärung, eröffnete Robert Schuman die Konferenz der "Sechs"IO, vertreten durch 60 Delegierte, im Salon l' Horloge in Paris. 11 Die Entwicklung des Plans innerhalb der vorgezeichneten Umrisse und die Schaffung von Institutionen für seine Realisierung waren das Arbeitsfeld dieser Konferenz. Die Delegationen wurden durch Sachverständige der beteiligten Wirtschaftskreise und der Arbeiterorganisationen unterstütztY Den Vorsitz der Delegiertenkonferenz 13 führte nicht zufällig der Chef der g Aus: Mannet, Erinnerungen, S. 396. 9 Der britisch-französische "Gedankenaustausch" über die französischen Vorschläge für die westeuropäische Kohlen-, Eisen- und Stahlindustrie (Mai, Juni 1950) endete mit getrennten Kommuniques der beiden Regierungen, in denen das Scheitern der Verhandlungen über die britische Teilnahme festgestellt wurde. Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band 2, S. 682-695. 10 Siehe oben S. 23. 11 Lagrange, Melanges Fernand Dehouses, S. 127.
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1. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
französischen Delegation Jean Monnet, der nicht nur als "Gastgeber" nach internationalem Brauch dazu prädestiniert war; die Leitung der Verhandlungen durch ihn hatte auch deshalb Gewicht, weil er der Hauptinitiator des Plans bei der französischen Regierung gewesen war. 14 Die Konferenz konstituierte sechs Arbeitsgruppen, die mit der Behandlung von Teilfragen beauftragt wurden: für institutionelle Angelegenheiten, Fragen für die Handelspolitik und die Zolltarife, für die Nomenklatur (Definition der Ausdrücke "Kohle" und "Stahl"), für Produktion, Preise und Investitionen, für Löhne und soziale Fragen und für Informationen. 15 In den Zusammenkünften der Delegationschefs wurden die Entscheidungen getroffen und Aufträge an die einzelnen Ausschüsse verteilt. Bereits in seiner ersten Verhandlungsphase setzte der Institutionenausschuß ein sogenanntes Juristenkomitee 16 ein, in dem die Ausgestaltung der Organe der Ge12 Die Bundesregierung hatte folgende Mitglieder des Deutschen Verhandlungsausschusses für die Konferenz über den Schuman-Plan ernannt: Prof Dr. WaLter Hallstein, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (Leiter), Ministerialdirektor Herbert Blankenhorn, Auswärtiges Amt, Dr. Hans Boden, Vorstandsmitglied der AEG, Dr. WaLter Bauer; ehemaliger deutscher Beobachter bei der Ruhrbehörde, Hans vom Hoff, Mitglied des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Als Generalsachverständige waren dem Verhandlungsausschuß beigeordnet: Dr. Hans Werner von Dewall (für Kohle), Max Carl Müller (für Stahl). Ständiger Berater in Rechtsfragen war Ministerialrat Prof Dr: CarL Friedrich OphüLs. Das Sekretariat des Verhandlungsausschusses wurde geleitet vom Legationsrat Dr. Hans Ulrich von Marchtaler: Außerdem wurden im großen Umfang Sachverständige der Behörden, Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände zu den Beratungen der Konferenz oder des Deutschen Verhandlungsausschusses hinzugezogen. Zur Verbindung zwischen den zuständigen StelIen der Bundesregierung und dem deutschen Verhandlungsausschuß und für die technischen Arbeiten diente das Sekretariat für Fragen des Schuman-Plans im Auswärtigen Amt (damals Abt. 11 - DienststelIe für Auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt), dessen Leiter Oberregierungsrat Dr. Ulrich Sahm war, aus: Sahm, Europa-Archiv 19511., S. 3985. 13 Die Delegationsleiter waren alle erfahrene Verhandlungspartner: Der belgisehe Vertreter war Suetens, Spierenberg vertrat die Niederlande, Wehrer Luxemburg und Taviani Italien. Auf Vorschlag Adenauers wurde Hallstein zum Leiter der deutschen Delegation ernannt. 14 Die französische Delegation wurde insbesondere durch Herve ALphand, Bernard Clappier; Etienne Hirsch, Pierre Uri und Desrousseaux, der für den Bergbau und die Metallindustrie verantwortlich war, vertreten. Maurice Lagrange, Prozeßberater am Conseil d'Etat und später Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, kam erst etwas später hinzu. Vgl. Monnet, Erinnerungen, S. 408, 445 f. 15 MosLer; ZaöRV XIV (1951), S. 14. 16 Deutsches Mitglied dieses Juristenkomitees war earl Friedrich Ophüls. Hermann Mosler; 1950 Professor an der Universität Frankfurt a. M. und FakultätskolIege von Walter HalIstein, wurde kurzfristig in die deutsche Delegation übernommen. Da MosLer weiterhin Lehrverpflichtungen in Frankfurt hatte, konnte er nicht durchgängig - oder jedenfal1s nicht bis zum Ende der Pariser Konferenz - teilnehmen. (In den Jahren 1951-1953 war MosLer Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes in Bonn.) Schließlich nahm auch Ernst Stein-
1. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
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meinschaft und alle mit der Einrichtung des neuen Verbandes zusammenhängenden Rechtsfragen vorberaten wurden. Die französische Delegation führte den Vorsitz in allen Gremien der Konferenz 17 , womit ihr die Supervision über die Gesamtheit der vielfältigen, weit ausgedehnten Verhandlungsgegenstände oblag. Die Verhandlungen trugen den Charakter eines offiziellen Meinungsaustauschs zur Vorbereitung eines Vertragstextes. Es gab keine Verfahrensordnung. Gemeinsame Protokolle über die Beratungen wurden nicht angefertigt. 18 Die französische Delegation arbeitete von Zeit zu Zeit zusammenfassende Übersichten über die Verhandlungsergebnisse aus, zunächst in Form von Memoranden, später in Form von Vertragsentwürfen, die dann als Grundlage für die weiteren Verhandlungen dienten. 19 Persönliche Aufzeichnungen der Beteiligten wurden gemäß einer Vereinbarung zwischen den Vertragsstaaten den Regierungen überlassen mit der Verpflichtung, diese nicht zu veröffentlichen. 2o Die Vertreter der Regierungen besaßen keine Abschlußvollmacht; ihnen oblag es, die Einigung auf der Basis des französischen Vorschlags vom 9. Mai soweit zu fördern, daß eine Ministerkonferenz der beteiligten Staaten die in das Gebiet der großen Politik fallenden Fragen klären und die Unterzeichnung vornehmen konnte. Die Interessengegensätze der Staaten zeigten sich sowohl in den wirtschaftspolitischen Ausschüssen der Konferenz als auch im luristenkomitee und im Institutionenausschuß; dem Interesse der einzelnen Mitgliedsstaaten entsprangen verschiedene Initiativen. 21 Zur Beratung aller mit den Verhandlungen über den Schuman-Plan zusammenhängenden Fragen wurde von der Bundesregierung ein Kabinettsausschuß bestimmt, der dem deutschen Verhandlungsausschuß die Richtlinien für die Führung der Verhandlungen erteilen sollte. 22 Stellte sich im Laufe der Konferenz heraus, dorf! an den Verhandlungen teil. Damals noch Rechtsreferendar und Mitarbeiter Hallsteins. machte er dies zum Thema seiner Dissertation: Die Nichtigkeitsklage im Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Frankfurt a. M. 1952. Für die französische Delegation wurden in dieses Komitee Pie"e Uri und Etienne Hirsch sowie später Maurice Lagrange berufen, die als Vertraute Monnets eine besondere Autorität genossen. Vgl. Lagrange. Melanges Fernand Dehouses. S. 127 ff. 17 Mosler. ZaöRV XIV (1951). S. 14. 18 Ebenda. S. 14. 19 Sahm. Europa-Archiv 1951 I .• S. 3985 f. 20 Die Aufzeichnungen der Mitglieder der deutschen Delegation finden sich jedoch nur teilweise in dem Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn, private Notizen verblieben im Privatbesitz. 21 Siehe dazu auch Mosler. Festschrift für Hallstein, S. 355, 362 f. 22 Dem Kabinettsausschuß gehörten an: der Bundeskanzler, der Stellvertreter des Bundeskanzlers sowie der Bundesminister für Angelegenheiten des Marshall-Plans, der Bundesminister für Wirtschaft und der Bundesminister für Finanzen. Zur Beratung des Kabinettsausschusses wurden Sachverständigenausschüsse gebildet, und zwar ein Koordinierungsausschuß, ein Ausschuß rlir wirtschaftlich-technische Fragen und ein juristischer Ausschuß. Zu Mitgliedern der Ausschüsse wurden sachverständige Persönlichkeiten aus allen Gebieten der
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I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
daß ein Problem nur auf der Stufe einer unmittelbaren Regelung durch die Vertreter der Regierungen gelöst werden konnte, wurde es zurückgestellt und der späteren Zusammenkunft der Außenminister vorbehalten. 23 Die offizielle Bezeichnung der Konferenz lautete "Conversations sur le Plan Schuman".24
1. Erste Phase der Delegiertenkonferenz 20. Juni - 10. August 1950
Die erste Phase der Delegiertenkonferenz dauerte bis zum 10. August 1950. Sie schloß mit einem Bericht der französischen Delegation. 25 Verhandlungsgegenstand waren vor allem die Organisation der Gemeinschaft und Fragen der Handels- und Zollpolitik gewesen, wobei die institutionellen Fragen weitgehender gefördert werden konnten als die wirtschaftlichen. 26 In der ersten Arbeitssitzung (am 21. Juni 1950) kommentierte Monnet noch einmal das Projekt und stellte ein Arbeitsdokument in Aussicht, das zwar nicht die endgültigen französischen Vorschläge enthalten, aber als Arbeitsgrundlage dienen sollte. Monnet schrieb später, daß er hier das Ziel, das es zu erreichen galt, zum ersten Mal ,,Europäische Gemeinschaft" nannte?7 In den Mittelpunkt der Organisation stellte er, wie schon im Schuman-Plan, die Hohe Behörde und bezeichnete diese als das "Symbol der zu gründenden Gemeinschaft".28 Sie sollte Träger eigener, unabhängiger Verantwortung sein, also nicht aus Regierungsvertretern bestehen; maximal sollten ihr neun Mitglieder angehören, die Amtszeit sollte sechs Jahre betragen. 29 In den Verhandlungen zeigte sich bald, daß die sachlichen Bedürfnisse des Vertrages eine umfangreichere Gestaltung der Organisation erforderten: Der laufende Einfluß der Mitgliedsstaaten bei den Maßnahmen erwies sich als unerläßlich. Der Wirtschaft berufen. Die Ausschüsse urnfaßten insgesamt 84 Mitglieder, siehe: Sahm, EuropaArchiv 1951 I., S. 3985. 23 Reuter; RDP 1951, S. 105 f. 24 Reuter; RDP 1951, S. 105. Monnet bestand auf dieser Bezeichnung, um den Begriff "Verhandlungen" zu vermeiden, vgl. Monnet. Erinnerungen. S. 409. 25 Memorandum vom 5. 8. 1950. vorgelegt am 10. 8. 1950: Rapport sur les travaux poursuivis aParis par les delegations des six pays du 20 juin au 10 aout 1950. 26 Am 15. 8. 1950 geriet das geplante Unternehmen noch einmal in Gefahr. Die beratende Versammlung schien einer Initiative Macmillans in Straßburg zustimmen zu wollen: Die Behörde sollte nur ein Komitee aus den Repräsentanten der beteiligten Industrien sein, ausgestattet mit Vollmachten, die proportional zur Produktion ihres Landes waren. Diese Einrichtung sollte im Rahmen des Europarates von einem ministeriellen Komitee flankiert werden, das das Recht zur Abstimmung hatte. Nur ein Eingehen auf den Vorschlag schien eine britische Beteiligung noch möglich zu machen. Monnet. Erinnerungen, S. 399 ff., 423 ff. 2? Monnet. Erinnerungen, S. 409; vgl. auch Lagrange. Melanges Femand Dehouses. S.127. 28 Moster, Festschrift für Hallstein, S. 355, 364. 29 Diese Anregungen finden sich im EGKSV in Art. 9 wieder.
1. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
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demokratische Gedanke verlangte nach parlamentarischen, der rechtsstaatliehe Gedanke nach gerichtsförmigen Einrichtungen. 3o Die institutionellen Fragen sowie das Verhältnis der Hohen Behörde zu den nationalen Regierungen und Industrien, sowohl in materiell- als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, standen in dieser Phase im Vordergrund der Gespräche. Dabei wurde eine Vertretung der Regierungen vor allem von den kleineren Staaten 31 , insbesondere den Niederlanden, gefordert, während von deutscher Seite den Kontrollmechanismen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde: Berufungsinstanz, Schiedsrichter und Parlament waren Begriffe, die in diesem Zusammenhang immer wieder fielen. 32 Von Anfang an bildete sich bei der deutschen Delegation die Vorstellung heraus, daß eine supranationale Gemeinschaft nur nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfaßt sein könne. 33 Am 22. Juni 1950 fand zwischen Monnet und den Mitgliedern der deutschen Delegation eine Aussprache statt. 34 Schon auf dieser ersten Zusammenkunft wurde von deutscher Seite die Frage aufgeworfen, welche Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Entscheidungen der Hohen Behörde vorgesehen seien. 35 Monnet verwies auf folgende Möglichkeiten: "a) Überschreitet die Hohe Behörde ihre aus dem Vertrag ihr zustehenden Befugnisse, so sind die Staaten berechtigt, ein Gericht anzurufen. b) Entscheidet die Hohe Behörde in einer Weise, die nach Auffassung einer Industrie berechtigte Interessen verletzt, so besteht für den Staat zunächst die Möglichkeit, Einspruch gegen die Entscheidung zu erheben, worauf die Hohe Behörde die Sachlage erneut prüfen und nur mit qualifizierter Mehrheit dieselbe Entscheidung wieder treffen kann. c) Den einzelnen Unternehmen sollte nur in besonderen Ausnahmefällen ein Rekursrecht gewährt werden, weil sonst mit einem Überhandnehmen von Rechtsmittelverfahren zu rechnen ist (Grenzfälle). Die Hohe Behörde wird sich bemühen, durch allgemeine Maßnahmen indirekt auf die Unternehmen zu wirken.,,36
30 Ophüls, Festschrift für Hallstein, S. 387, 391. 31 Zu der Haltung Luxemburgs: Memorandum sur les Institutions de la Proposition du 9 mai vom I. 8. 1950, Premier avant projet, ANLUX, Dok. 11349, S. 9. 32 Siehe auch Ophüls, NJW 1951, S. 289 ff. 33 Ophüls, Festschrift für Hallstein, S. 387, 396. Dazu auch der Vermerk des Referats 213 des Auswärtigen Amtes in Bonn vom 17. 1. 1956 zum Vortrag des Staatssekretärs in Bologna, PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 400 f. 34 Siehe das Kurzprotokoll der Aussprache zwischen Monnet und den Mitgliedern der deutschen Delegation am 22. 6. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 62, S. 5, 7 f. Auf dieser Unterredung soll das wirtschaftliche Ziel des Schuman-Plans von seiten Monnets mit dem Terminus march! commun definiert worden sein. Vgl. Mosler, Festschrift für Hallstein, S. 366. 35 Als Beispiel einer Entscheidung der Hohen Behörde wurde der Fall der Stillegung eines Unternehmens durch diese gewählt; schon hier wurden Durchgriffe der Hohen Behörde auf die einzelnen Unternehmen in Betracht gezogen. 36 Aus dem Kurzprotokoll der Aussprache vom 22. 6. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 62, S.5 ff.
I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
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Unter der sich aus dem letzten Satz ergebenden Prämisse schien ein Klagerecht Privater auch für die deutsche Seite nicht zwingend. Offen blieb aber, ob es sich um ein zwischenstaatliches Streitverfahren vor einer gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Instanz oder um einen Rekurs der betroffenen Unternehmen vor einem nationalen oder internationalen Gericht handeln sollte. 37 Auch das Verhältnis der anvisierten Gerichtsbarkeit zu den nationalen Gerichten bedurfte noch näherer Klärung. Das Treffen vom 22. Juni 1950 leitete eine Serie von auf wenige Teilnehmer begrenzten Sitzungen ein, in denen die Delegationsleiter mit ihren Beratern den Verlauf der Konferenz bestimmten und sich ausschließlich mit institutionellen Problemen befaßten. Am 24. Juni 1950 überreichte die französische Delegation das angekündigte Arbeitsdokument 38 , das einen in 40 Artikeln ge faßten Vertragsentwurf enthielt und die Grundlage für die Verhandlungen bildete. Damit steckte die französische Delegation den Rahmen der Erörterungen ab. Einen Gegenentwurf, der an die Stelle des französischen Dokuments hätte treten können, gab es auf der Konferenz nicht. Die Beiträge der anderen Delegationen, die auf Umgestaltung oder Ergänzung der französischen Vorschläge drängten, waren dennoch von nicht geringem Gewicht, wie später zu zeigen sein wird. In diesem ersten Vorschlag waren neben der Hohen Behörde eine unmittelbar von den Parlamenten der teilnehmenden Länder gewählte gemeinsame Versammlung sowie eine schiedsrichterliche Instanz vorgesehen. Die Hohe Behörde wurde als übernationale Einrichtung beschrieben; auch die von ihr zu treffenden Maßnahmen wurden bereits bezeichnet: Das französische Arbeitspapier sah Richtlinien und Empfehlungen (recommandations) vor?9 Unter dem Begriff ,,Empfehlung" war eine verpflichtende Maßnahme vorgesehen, die dem Adressat nur das Ziel, nicht aber die Wahl der Mittel vorschreiben sollte. Adressat der Maßnahmen der Hohen Behörde sollten nicht nur die Mitgliedsstaaten sein, sondern nunmehr auch einzelne Unternehmen. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen diese Maßnahmen der Hohen Behörde waren in der französischen Vorlage nur in eng begrenztem Rahmen vorgesehen: ,,Es wird vorgeschlagen, die allgemeine Verantwortlichkeit der Behörde durch eine Einspruchsregelung zu ergänzen, die normalerweise von den Staaten, gegebenenfalls auch Moster, Festschrift für Hallstein, S. 356, 360. Moster, ZaöRV XIV (1951), S. 13. Schon am 12.6. 1950 soll Monnet dieses von Uri und Hirsch erstellte Arbeitspapier, das die Unabhängigkeit der Hohen Behörde postulierte und die Beschwerdewege gegen ihre Entscheidungen umschrieb, dem französischen interministeriellen Rat vorgelegt haben. Vgl. Lagrange, Melanges Fernand Dehouses, S. 127. Zusammenfassung des französischen Arbeitsdokuments, die Monnet am 27. 6. 1950 der Presse überreichte, in: Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, Band 2, S. 698 ff. 39 Siehe dazu die amtliche Zusammenfassung, Europa - Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, Band 2, S. 698, 700 f. 37
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von den Unternehmen in solchen Ausnahmefällen in Anspruch genommen werden kann, in denen Beschlüsse sie individuell betreffen; zu dem Recht, eine zweite Prüfung zu verlangen 40 , käme noch die Möglichkeit, an ein Schiedsgericht zu appellieren, dessen Zuständigkeit nicht allein eine juristische wäre, sondern das, sofern durch einen Beschluß die wirtschaftliche Expansion und das Gleichgewicht eines Staates nach außen gefährdet schiene, von der Hohen Behörde verlangen könnte, diesen Beschluß abzuändern.,,41
Die Artikel des Arbeitsdokuments über den Rechtsschutz sind nicht in den Vertrag eingegangen. Sie geben die ursprüngliche Haltung Monnets wieder, der einer ständigen gerichtlichen Kontrolle ablehnend gegenüberstand. Dem Drängen der deutschen Delegation, insbesondere Hallsteins, nach einer Institutionalisierung des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Hohen Behörde sollte erst nachgegeben werden, als Lagrange42 in die französische Delegation berufen wurde. 43 Eine gewisse Abneigung der französischen Seite gegen die richterliche Kontrolle blieb jedoch bestehen, so daß Lagrange häufig "zwischen zwei Feuern stand".44 Zugunsten richterlicher Kontrolle wirkte sich eine Reaktion von dritter Seite aus: Anläßlich eines Zusammentreffens Monnets mit amerikanischen Beobachtern wurde diese "als beginnende Gewaltenteilung eines werdenden europäischen Staatswesens" gewürdigt und mit einem positiven Akzent versehen. 45 Nach einem Besuch ihrer Regierungen traten die Delegationen Anfang Juli 1950 erneut zusammen. 46 Noch vor dieser Zusammenkunft fand ein vertrauliches Gespräch zwischen der französischen und der deutschen Delegation statt. In den betreffenden Protokollen findet sich eine grundsätzliche Einlassung Monnets zu der Frage der Einrichtung eines permanenten Schiedsgerichts: ,,Einerseits solle ein permanentes Schiedsgericht nicht Träger der eigentlichen Autorität werden und damit die Hohe Behörde beschränken. Andererseits teilte Monnet die Auffassung Hallsteins, wonach ein permanentes Schiedsgericht Träger einer gesunden Rechtsentwicklung werden und gleichsam als ,Erzieher' der Hohen Behörde wirken könne, wenn es entsprechend zusammengesetzt und permanent sei. Das permanente Schiedsgericht müsse
40 Normalerweise würde die Beschlußfassung mit einfacher Mehrheit erfolgen, in zweiter Lesung mit Zweidrittelmehrheit. 41 Aus der amtlichen Zusammenfassung, Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, Band 2, S. 698 f. 42 Wie oben bereits erwähnt, kam Maurice Lagrange erst später hinzu. Monnet berichtet, daß Lagrange erst ,.Anfang des Sommers" hinzugezogen wurde. Monnet, Erinnerungen, S. 445 f. 43 Ophüls in einem Brief an Steindorff vom 15.9. 1951, BA, Nachlaß Hallstein 266, Band 240/241, S. I f. 44 Ebenda, S. I. 45 Monnet berichtet auf der Zusammenkunft mit der deutschen Delegation von der amerikanischen Reaktion auf das europäische Vorhaben, Kurzprotokoll der Zusammenkunft der deutschen Delegation mit Monnet in Houjarray am Sonntag, dem 2. 7. 1950 (vertraulich), PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 100 ff., 104. 46 Mosler, Festschrift für Hallstein, S. 370, gibt als Termin den 3. 7. 1950 an.
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I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten als ,gardien de l'objectivite de la Haute autoritC' gelten und zwei Aufgaben wahrnehmen: ,einmal die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, die sich aus dem Wirken der Hohen Behörde ergeben; zum anderen aber müsse der Gerichtshof in die Lage versetzt werden, sich mit Fragen des wirtschaftlich richtigen HandeIns der Hohen Behörde zu befassen. Zu diesem Zweck müsse es in der Lage sein nachzuprüfen, ob die Hohe Behörde alle ökonomisch wichtigen Gesichtspunkte ausreichend und im Sinne der Grundgedanken des Plans berücksichtigt habe'. ,,47
Damit rückten die Verhandlungsteilnehmer um Monnet von der ursprünglichen Richtung, die Hohe Behörde von einer gerichtlichen Kontrolle bei Entscheidungen wirtschaftlichen Charakters freizustellen, vorerst ab. Ein umständliches Berufungsverfahren, an dem der Internationale Gerichtshof (IGH) und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) beteiligt sein sollten, wurde nur als ein Beispiel zur Diskussion gestellt, ebenso wie die Einrichtung eines permanenten Schiedsgerichts im Sinne einer dauerhaften Gutachterinstanz. 48 Zuständigkeiten des Gerichtshofes im Bereich politischer Fragen49 lehnten die Delegationen einhellig ab, da die beteiligten Staaten die Fusion der Souveränitätsrechte auf dem Gebiet von Kohle und Stahl nicht durch die gerichtliche Geltendmachung eben dieser politischen Gesichtspunkte wieder unterlaufen sollten. Mannet formulierte seine Auffassung über den Stand der Verhandlungen zu der Frage der Gerichtsbarkeit folgendermaßen: "Das Schiedsgericht kann nur zuständig sein, wenn eine Interpretation der Rechtsgrundlage der Befugnisse der Hohen Behörde oder ein ,exces des pouvoirs' in Frage steht; dagegen nicht, wenn es sich um politische Fragen handelt."so In diesem Punkt müsse er das französische Arbeitsdokument korrigieren. Dies tendiere, indem es auch für die Verletzung von politischen Interessen der Mitgliedsstaaten ein Schiedsgericht für zuständig erkläre, dahin, ein Schiedsgericht letztlich an die Stelle der Hohen Behörde zu setzen. S1
Einmütigkeit bestand im übrigen auch hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung eines Rekurses; diese dürfe nur in Fällen von besonderer Bedeutung eintreten. s2 47 Kurzprotokoll der Zusammenkunft der deutschen Delegation mit Monnet in Houjarray am 2. 7. 1950 (vertraulich), PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 100 ff., 103. Von der französischen Delegation nahmen teil: Monnet, Hirsch, Uri, Clappier, Leroy-Beaulieu, Ripert. 48 So der Vorschlag von Clappier, Kurzprotokoll der Zusammenkunft der deutschen Delegation mit Monnet in Houjarray am Sonntag, dem 2. 7. 1950 (vertraulich), PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 100-104. Vgl. auch lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 366. 49 Leroy-Beaulieu nannte bei der Zusammenkunft am 2. 7. 1950 das Beispiel, daß eine Regierung geltend mache, die Entscheidung der Hohen Behörde habe auf die innenpolitischen Verhältnisse ungünstige Auswirkungen: etwa Belgien gegen eine Entscheidung der Hohen Behörde, in der das Verhältnis von Wallonen und Flamen nicht ausreichend berücksichtigt wurde, PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 100-105. so PAAA, Abt. II, Band 62, S. 96-97. Er betonte, daß er es nicht für richtig halte, diese Gedankengänge so früh schon in den Verhandlungen auszusprechen. Er bat nur, daß sie auch von der deutschen Seite überdacht würden. SI Ausschnitt aus dem von Hallstein geführten (undatierten) Protokoll der Zusammenkunft der deutschen und französischen Delegation. PAAA, Abt. II, Band 62, S. 96 f.
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Am 3. Juli 1950 erklärten die Delegationen die grundsätzliche Zustimmung aller Regierungen zu dem französischen Plan. 53 Jedoch wies die luxemburgische Delegation erneut und mit Nachdruck auf die ungeklärten Fragen des Rechtsschutzes hin. Auch die deutsche Delegation hob die Notwendigkeit eines Rekursrechts hervor. BaUstein betonte in seiner Ansprache vor der Konferenz nochmals, daß die Tätigkeit der Hohen Behörde kontrolliert werden müsse, wobei er noch keine Entscheidung zwischen Gericht oder Schiedsgericht getroffen habe. Wichtig sei die Funktion dieser Instanz als Hüter der Objektivität der Hohen Behörde. 54 Die Forderungen zielten auf eine Rechtsschutzeinrichtung, die nicht nur den Staaten eine Klagemöglichkeit einräumen sollte, sondern auch den Unternehmen, d. h., auch die in den Mitgliedsstaaten angesiedelten Unternehmen sollten als Klagebefugte in Betracht kommen. 55 In diesen Überlegungen kündigte sich erneut die Anerkennung unmittelbarer Rechtsbeziehungen zwischen der Organisation und den Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten an. Im Institutionenausschuß der Konferenz wurde am 20. Juli 1950 Einigkeit darüber erzielt, daß die Organe, die man schaffen wollte, supranationalen Charakter haben sollten. 56 Außerdem wurde das bereits erwähnte Juristenkomitee57 mit dem Auftrag betraut, die Zusammensetzung und die Funktionen der Organe nach den bisher erzielten politischen Ergebnissen zu formulieren. Diesem Komitee wurde am gleichen Tag der folgende Fragenkatalog zur Klärung vorgelegt: "I) Zur Stellung des Gerichts a) Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten auch für exces de pouvoir. b) Vielleicht vorentscheidende Instanz bei Interessenstreitigkeiten insoweit, als das Gericht darüber zu entscheiden hat, ob die Frage lebenswichtige Interessen berührt. (Die sachliche Entscheidung wäre dann von einer anderen Instanz zu treffen.) 2) Zusammensetzung des Gerichts Zur Entwaffnung der Kritik wäre vielleicht eine Zusammensetzung aus vier Juristen und drei Wirtschaftlern vorzusehen.
PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 100-104. Mosler. Festschrift für Hallstein, S. 370. 54 Ansprache vor der Konferenz am 3. 7. 1950, abgedruckt in: Die Entstehung der EGKS, Materialien zum Schuman-Plan, Heft I, S. 16 ff. 55 Die von dem für den Schuman-Plan gebildeten Kabinettsausschuß der Bundesregierung am 29. 6. 1950 festgelegten Richtlinien für die deutsche Delegation und die Stellungnahmen der Bundesregierung und des Sachverständigenausschusses (vgl. Protokoll des Kabinettsausschusses vom 29. 6. 1950) waren Thema der Zusammenkunft Monnets mit der deutschen Delegation am 2. 7. 1950. Die Marschroute für die deutsche Delegation war der französischen Seite damit bekannt. 56 Mosler. Festschrift für Hallstein, S. 374. Zum Begriff einer "supranationalen" Einrichtung siehe Reuter. RDP 1951, S. 105 ff. 57 Unter dem Vorsitz von Paul Reuter. Professor der Rechte aus Aix, vgl. Monnet, Erinnerungen, S. 375 ff. . 52 53
3 Drcwes
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3) Wirtschaftliche Schlichtungsverfahren a) Vorfrage Ist neben der rechtlichen Anfechtung eine auf rein wirtschaftliche Überlegungen gestützte Anfechtung der Entscheidung der Hohen Behörde vorzusehen? b) Abgeschwächte Fonn Ein betroffener Staat kann in jedem Fall gegenüber einer Entscheidung der Hohen Behörde wegen verletzter Interessen eine erneute Nachprüfung, eventuell mit schwach qualifizierter Mehrheit, verlangen. c) Stärkere Fonn Ein Staat kann sich wegen Verletzung lebenswichtiger Interessen mit dem Verlangen zur Wehr setzen, daß nur eine stark qualifizierte Mehrheit gegen ihn entscheide oder daß eine eigentliche Entscheidung unterbleibe und eine Empfehlung stattfinde. Die Bedenken, ob man dergleichen grundsätzlich zulassen sollte, treten hier verstärkt auf. Dazu das Bedenken, wer über das Vorliegen lebenswichtiger Interessen zu entscheiden hat: Wenn der einzelne Staat entscheidet, ist für ihn alles lebenswichtig. Wenn die Hohe Behörde entscheidet, kann sie umgekehrt in jedem Fall eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit vermeiden, indem sie die Frage für nicht lebenswichtig erklärt. Es bleibt also wohl nur die Vorentscheidung durch das Gericht, wie oben entwickelt. s8
Zu diesen Fragen erarbeitete der Juristenausschuß mehrere Alternativentwürfe. 59 Danach stand fest, daß ein Gerichtshof als ständiges Organ eingerichtet werden sollte. Die Schaffung des Ministerrates und damit einhergehend die Möglichkeit einer Kompetenzstreitigkeit, aber auch die Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten der Hohen Behörde in die wirtschaftliche Betätigung der Unternehmen in den Mitgliedsstaaten ließen nunmehr allen Beteiligten ein Rekursrecht notwendig erscheinen. 60 Eine internationale Schiedsgerichtbarkeit, wie sie anfänglich in Erwägung gezogen worden war, hätte den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt. Es wurde die Bezeichnung Cour de lustice festgelegt und damit deutlich gemacht, wie weit der Weg war, der seit dem ursprünglichen französischen Vorschlag, arbitres einzusetzen, zurückgelegt worden war. Es herrschte Einigkeit darüber, daß der Gerichtshof seine Entscheidungen nicht an die Stelle derjenigen der Hohen Behörde setzen, sondern jene nur für ungültig erklären und Schadensersatz zusprechen können sollte. 61 Am 18. August 1950 sandte die deutsche Delegation einen Bericht nach Bonn, um über den Stand der Verhandlungen zu informieren. Zu den hier interessierenden Fragen hieß es dort: ,,Einvernehmen besteht darüber, daß unter den vier Organen, die durch das Abkommen zu schaffen sind (Hohe Behörde, Assemblee, Cour und Ministerrat), supranationalen Charakter haben so lien: 58 59 60 61
PAAA, Abt. 11, Band 61, S. 88 ff. Siehe Mosler, Festschrift für Hallstein, S. 355, 376. Reuter, RDP 1951, S. 105 ff., 120. Mosler, Festschrift für Hallstein, S. 355, 377.
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a) Hohe Behörde; b) Cour de lustice . ..
Betreffend die Cour de lustice: ,,Eine ständige Einrichtung. a) Parteifähigkeit: aa) die Vertragsstaaten; bb) die durch das Abkornrnen geschaffenen Organe; cc) fraglich, ob Parteifähigkeit auch den von den Maßnahmen betroffenen Unternehmen zukornrnen soll. Deutschland: ja, denn das Grundgesetz gibt jedem das Recht, gegen ihn belastende Staatsakte vorzugehen. Eine Entscheidung staatlicher Gerichte über Akte der Hohen Behörde ist nicht möglich. Belgien: nein. Die Hohe Behörde soll den Unternehmen nicht unmittelbar Weisungen erteilen können; dann ist das Rekursrecht an die Cour auch nicht nötig. b) Zuständigkeit Zuständigkeit ist gegeben: aa) Schadensersatzklagen wegen Vertragsverletzung; bb) für Klagen auf Feststellung einer Vertragsverletzung; cc) für Kompetenzstreitigkeiten. Das Gericht kann für nichtig erklärte Akte nicht selbst ersetzen. Statt eines Urteils kann von dem Gericht auch ein acte consultatifbegehrt werden. GeneralklauseI nach belgischer Auffassung zum mindesten aus psychologischen Gründen erforderlich. Umgekehrt die deutsche Auffassung. Es ist in dieser Frage noch kein Einvernehmen darüber erzielt, ob eine hinreichende Erfassung aller zum Rekurs berechtigenden Fälle möglich ist (so Deutschland) und die GeneralklauseI überflüssig macht. Noch nicht geklärt: I) Welches Rechtsmittel, wenn die Hohe Behörde einen Staat anweist bzw. Empfehlungen an die Staaten richtet, durch Umlagen auf die Unternehmen die Ausgaben der Hohen Behörde zu finanzieren? 2) Soll in besonders wichtigen Fällen statt der Entscheidung des Gerichts die Entscheidung einer politischen Instanz herbeigeführt werden?
3) Wie sollen Sanktionen erfolgen?"62
Der Bericht zeigt, daß der Gerichtshof konkrete Fonnen anzunehmen begann. Man unterschied zwischen Streitfällen, in denen ein Mitgliedsstaat gegen die Hohe Behörde, die Hohe Behörde gegen einen Mitgliedsstaat oder die Mitgliedsstaaten untereinander im Falle einer Vertragsverletzung klagen. Die Frage, ob auch Einzelunternehmen gegen die Hohe Behörde vor dem Gericht vorgehen könnten, blieb 62 Übersicht über den Stand der Verhandlungen arn 18.8. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 53,
S.260-265. 3"
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offen, da noch keine Einigkeit darüber bestand, ob die Hohe Behörde Maßnahmen treffen könne, die sich unmittelbar an Einzelunternehmen innerhalb der Mitgliedsstaaten richten.
2. Zweite Phase der Delegiertenkonferenz 31. August- 28. September 1950 Nach einer dreiwöchigen Pause, die die Delegationen dazu nutzten, ihre Positionen zu überprüfen, wurden die Arbeiten am 31. August 1950 wiederaufgenommen. 63 Zunächst wurden jetzt institutionelle Fragen beiseite gelassen, und man befaßte sich mit wirtschaftlichen Problemen. Da historische Vorläufer, an denen man sich hätte orientieren können, nicht vorhanden waren, mußte die Vorstellung, wie die geplante "mise en commun des productions de charbon et d'acier,,64 aussehen könnte, erst erarbeitet werden. Die strukturellen Probleme, die juristisch-politischer Art waren, konnten dagegen von Anfang an behandelt werden. Sie spielten zwar in dieser zweiten Phase noch eine wichtige Rolle, traten aber bereits gegenüber den wirtschaftlichen Fragen zurück, die im Herbst 1950 und im Winter 1950/ 51 das Feld beherrschten. Die zweite Phase schloß mit einem französischen Memorandum vom 28. September 195ifs, in dem der Versuch gemacht wurde, die bisher erzielten Ergebnisse zusammenzufassen, um die noch offenen Punkte festzustellen und einer Klärung durch die Delegationschefs zuzuführen. Für die Gliederung der Hauptorgane hatte sich die Vierteilung durchgesetzt; es waren vorgesehen: eine Exekutive (Hohe Behörde! Haute Autoritel, ein Parlament (gemeinsame Versammlung! Assemblee commune), ein Träger der richterlichen Gewalt (Gerichtshofl Cour dejustice) und ein förderatives Organ (Besonderer Ministerrat! Conseil special des ministres).66 Für das Verfahren der Gemeinschaft, insbesondere die Gliederung ihrer Rechtsakte, unterschied man nach dem Grad ihrer rechtlichen Verbindlichkeit drei Handlungsformen: die Entscheidung (decision), deren Gesamtinhalt bindend sein sollte, die Empfehlung (recommandation), mit der Maßgabe, daß nur die Zielvorgabe bindend und in der Wahl der Mittel der Betroffene frei sein sollte, und schließlich die Stellungnahme (avis) ohne rechtliche Bindungswirkung. 67 Es wurde nicht differenziert zwischen Maßnahmen gegenüber den Mitgliedsstaaten und Maßnahmen gegenüber Unternehmen in den Mitgliedsstaaten. Individuelle und allgemeine Rechtsakte wurden gleichgestellt. 63 Mosler; ZaöRV XIV (1951), S. 16; Monnet schreibt in seinen Erinnerungen (S. 431): ,Jn den ersten Septembertagen ... " 64 Zum Sprachgebrauch auf der Konferenz (marche unique. marche commun) siehe Mosler; Festschrift für Hallstein, S. 355, 366. 65 Memorandum sur les institutions et les dispositions economiques et sociales permanentes du Plan Schuman sur la base des solutions adoptees au 27 septembre 1950, siehe Mosler; ZaöRV XIV (1951), S. 16, Fn. 33. 66 V gl. Le Monde vom 3. 10. 1950, abgedruckt in: ZaöRV XIII (1950/51), S. 653 ff. 67 Ebenda, S. 653 ff.
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Unter den Begriff Entscheidung wurden sowohl der individuelle exekutive Akt (der Verwaltungsakt des deutschen Rechts) wie auch der generelle Rechtsetzungsakt (vergleichbar der Verordnung) subsumiert. Die Empfehlung umfaßte zweierlei: zum einem die Ermächtigung und Beauftragung der Mitgliedsstaaten, im Sinne des in der Empfehlung formulierten Ziels tätig zu werden, zum anderen den an ein einzelnes Unternehmen gerichteten Rechtsakt, der diesem in seiner Ausführung eine gewisse Freiheit läßt. 68
3. Dritte Phase der DelegiertenkonJerenz bis 19. März 1951 69 In der dritten Phase der Konferenz begannen die Redaktionsarbeiten. Am 31. Oktober 1950 lag für den Bericht vor dem Ausschuß für Besatzungsstatut und Auswärtige Angelegenheiten und vor dem interministeriellen Ausschuß ein Vertragsentwurf vor. Stichwortartig waren hier unter Punkt VII die Aufgaben und Befugnisse des Gerichtshofes festgehalten: ,,1) Aufgaben
Art. 24 quater
a) Verwaltungsgerichtsbarkeit
Art. 30 quater + quinquies
b) Interpretation des Vertrages
Art. 30 bis
c) Schadensersatzprozesse wegen Amtspflichtsverletzungen
Art. 30 ter
d) Schiedsverfahren
2) Organisation Art. 25
a) Sieben Richter, die von den Regierungen der Vertragsstaaten für je 6 Jahre ernannt werden. Zahl kann auf Antrag des Gerichtshofes durch Beschluß des Ministerrates erhöht werden.
Art. 31 bis
b) Statut wird in einern Protokoll zum Vertrag enthalten sein.
Art. 26 I
a) die Vertragsstaaten;
3) Parteifähig vor dem Gerichtshof sind: Art. 26 11
b) die Unternehmungen;
Art. 26 11
c) die Verbände;
Art. 26 I
d) der Ministerrat.
Ophüls. Festschrift fUr Hallstein, S. 387. 399. In diese Zeit fallt der Ausbruch des Koreakrieges, der erneut zu internationalen Spannungen führte und die Frage der Remilitarisierung Deutschlands aufkommen ließ. Vor diesem Hintergrund schlug Frankreich die Gründung einer Verteidigungsgemeinschaft vor. Die institutionelle Struktur sollte derjenigen der EGKS entsprechen, siehe Erklärung der französischen Regierung (Pleven-Plan) in: Forschungsinstitut. Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band 2, S. 812 ff. 68
69
38
I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten 4) Befugnisse des Gerichtshofes
a) als Verwaltungsgericht: aa) bei Anfechtung eines von der Hohen Behörde angeordneten Zwangsmittels oder Festsetzung einer Strafe durch die Hohe Behörde: Art. 27 ter
Nachprüfung in vollem Umfang, einschließlich der Nachprüfung der Rechtrnäßigkeit der Maßnahmen, deren Durchführung erzwungen werden sollte oder wegen deren Nichtdurchführung eine Strafe verhängt worden ist. bb) bei Anfechtung von Verwaltungsakten der Hohen Behörde: i) Verwaltungsakte
Art. 26
(a) Tatbestände, die die Anfechtungsklage begründen: Unzuständigkeit, Formfehler, jede Verletzung des Vertrages oder Rechtsverletzung oder Ermessensmißbrauch. Die Subsumierung wirtschaftlicher Tatsachen oder Umstände kann nur nachgeprüft werden, wenn eine erhebliche Vertrags- oder Rechtsverletzung oder ein Ermessensmißbrauch der Hohen Behörde vorgeworfen wird.
Art. 27
Nichtigkeitserklärung und Rückverweisung an Hohe Behörde, evtl. Schadensersatzleistung durch Hohe Behörde bei Schadenszufügung durch erheblich fehlerhafte Akte der Hohen Behörde.
Art. 27 bis
ii) Gleichgestellt ist die pflichtwidrige Unterlassung der Vornahme von Verwaltungsakten.
Art. 27 quater
iii) Sonderfall: Wenn ein Staat die Hohe Behörde mit einem Fall der durch die Hohe Behörde hervorgerufenen Erschütterung seines Wirtschaftsgefüges befaßt hat, so kann der Gerichtshof auf Anfechtungsklage hin die daraufhin ergehende Entscheidung der Hohen Behörde aufheben und die Hohe Behörde damit zwingen, im Rahmen seines Urteils neue Maßnahmen zu treffen.
Art. 28
cc) Aufhebung von Maßnahmen der Gemeinsamen Versammlung und des Ministerrats durch den Gerichtshof nur wegen Unzuständigkeit oder Verletzung wesentlicher Formvorschriften.
Art. 30 bis
b) Schadensersatzklage vor dem Gerichtshof bei Schadensverursachung durch objektiv fehlerhafte Handlungen von Organen einer Institution der Gemeinschaft und Amtspflichtverletzungen. Passiv legitimiert: Die Gemeinschaft, bei Amtspflichtsverletzungen, subsidiär nach dem Organ.
Art. 30 ter
c) Schiedsverfahren auf Grund von Schiedsklauseln (öffentlichund privatrechtlich).
(b) Rechtsfolgen
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Art. 30 quater
d) Generalklausei
Art. 30 quinquies
e) Auslegungsstreitigkeiten zwischen Staaten werden, wenn sie nicht anders geregelt werden konnten, dem Gerichtshof zur Stellungnahme oder Entscheidung unterbreitet.
Art. 30
5) Wirkungen der Klageerhebung vor dem Gerichtshof" Kein Suspensiveffekt. Gerichtshof kann aber Vollstreckung aussetzen.
Art. 31, 56
6) Wirkung der Entscheidung des Gerichtshofes: Vollstreckungstitel auf dem Gebiet aller Vertragsstaaten ...70
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben legte die französische Delegation am 9. November 1950 - ein halbes Jahr nach der Erklärung von Robert Schuman - den im folgenden auszugsweise wiedergegebenen ersten Redaktionsentwurf vor: ,.Artikel 26: Der Gerichtshof ist zuständig für Entscheidungen über Anfechtungsklagen (recours en annulation) wegen Unzuständigkeit (incompetence), Verletzung wesentlicher Fonnvorschriften (violation des formes substantielles), Rechts- und Ennessensmißbrauch (abus du droit ou deroumement de pouvoir), die gegen Entscheidungen (decisions) und Empfehlungen (recommandations) der Hohen Behörde von einem der an diesem Vertrage beteiligten Staaten oder dem Rat eingelegt werden. Unter den gleichen Bedingungen können die Unternehmen eine Anfechtungsklage gegen die sie selbst betreffenden Entscheidungen erheben. Die Hohe Behörde kann im Einvernehmen mit dem Rat den Gerichtshof um Abgabe von Gutachten (avis consultatifs) über die Auslegung der Bestimmungen dieses Vertrages oder der Zusatzprotokolle ersuchen. Artikel 27: Die in den beiden ersten Absätzen des vorstehenden Artikels 26 vorgesehenen Anfechtungsklagen müssen innerhalb einer Frist von einem Monat eingelegt werden, die je nach Fall vom Zeitpunkt der Zustellung oder der Bekanntmachung der Entscheidung oder Empfehlung an rechnet. Im Falle der Aufhebung vetweist der Gerichtshof die Sache an die Hohe Behörde zurück. Diese hat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus der Durchführung der Entscheidung über die Aufhebung ergeben. Der Gerichtshof darf Schadensersatz nur dann zusprechen, wenn die Hohe Behörde es unterläßt, die Folgerungen zu ziehen, die sich aus der Aufhebung ergeben. Artikel 28: Der Gerichtshof kann auf Antrag eines der an diesem Vertrag beteiligten Staaten oder der Hohen Behörde die Beschlüsse der Versammlung oder des Rates aufheben, jedoch nur falls diese Organe die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschritten haben sollten. Der Antrag muß innerhalb der Frist von einem Monat seit der Bekanntmachung des Beschlusses gestellt werden:.?I
PAAA, Abt. 11, Band 54, S. 180-183. Deuxieme Partie Proposition fram.aise SUT les questions non encore reglees, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 118, 133-139. Übersetzung der französischen Fassung in die deutsche Sprache, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 277-283. 70 71
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Diese Artikel über den Gerichtshof sollen vor allem von dem französischen Delegierten Lagrange abgefaßt worden sein. 72 Daraus erklärt sich der französische ,,Akzent" des Wortlautes, wiewohl die Idee einer gerichtsförmigen Einrichtung, wie gezeigt, vor allem auf der Initiative der deutschen Delegation beruhte. 73 Der Redaktionsentwurf wurde in Verbindung mit dem folgenden "Statement" vorgelegt: ,,Die Vorschriften über die Zuständigkeit des Gerichtshofes gehen davon aus, daß es unerläßlich ist, eine Übereinstimmung herbeizuführen zwischen dem Bemühen, die Tätigkeit der Organe der Gemeinschaft in den Grenzen des Rechts zu halten, und der nicht weniger gebieterischen Notwendigkeit, die Tätigkeit der Hohen Behörde auf einem Gebiet nicht zu behindern, auf dem die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gesichtspunkte eine dauernde Bewertung von Tatumständen oder Zweckmäßigkeitserwägungen verlangen, die sich normalerweise der Zuständigkeit eines Richters entzieht. Diese letztere Überlegung hat dazu geführt: I) darauf zu verzichten, den Rechtsbehelf der, Vertragsverletzung • als Rechtsbehelf für die Nichtigkeitserklärung und die Kontrolle der Gesetzlichkeit vorzusehen, die in den meisten Fällen mit Rücksicht auf den Vertragsgegenstand selbst die Würdigung der Tatumstände mit sich bringen müßte; 2) das Rechtsmittel der Unternehmen auf sie selbst betreffende Entscheidungen zu beschränken; 3) grundsätzlich jede Zubilligung von Schadensersatz in Fällen der Nichtigkeitserklärung auszuschließen. Wenn man außer der Unzuständigkeit und der Verletzung wesentlicher Formen den Rechtsmißbrauch und die Überschreitung der Befugnisse als Rechtsbehelf für eine Nichtigkeitserklärung vorsieht, gibt man dem Gerichtshof die gleichen erforderlichen Möglichkeiten, im vollen gesetzlichen Umfange für die Beteiligten die Beachtung ihrer wesentlichen Rechte sicherzustellen ...74
Am 27. November 1950 wurde ein weiterer Entwurf vorgelegt. In diesem findet sich dann doch - entgegen der Bedenken der französischen Delegation - die Vertragsverletzung als weiterer Klagegrund: ,,Artikel 26: Der Gerichtshof ist für die Entscheidung über Anfechtungsklagen zuständig, die von einem Mitgliedsstaat oder von dem Rat gegen Entscheidungen und Empfehlungen der Hohen Behörde wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder jeder anderen auf seine Anwendung bezüglichen Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauch erhoben werden. Die Nachprüfung des Gerichtshofes darf sich jedoch nicht auf die Würdigung der sich aus wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebenden Verhältnisse erstrecken, auf denen die genannten EntscheiMonnet. Erinnerungen. S. 445 f. oder auch S. 486. Ernst Steindorff, Die Nichtigkeitsklage im Recht der Europäischen Gemeinschaften für Kohle und Stahl, Frankfurt a. M. 1952, S. 53. 74 Premiere Redaction du Projet de Traite vom 9. 11. 1950. Formulierungen und Statements der französischen Seite - Übersetzung aus dem Französischen. PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 162 f. 72 73
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dungen oder Empfehlungen beruhen, es sei denn, daß der Hohen Behörde der Vorwurf gemacht wird, ihr Ermessen mißbraucht oder die Vorschriften des Vertrages oder jede andere auf die Anwendung des Vertrages bezügliche Rechtsnorm offensichtlich verkannt zu haben. Die Unternehmen oder die in Artikel 32 a genannten Verbände können unter den gleichen Voraussetzungen Klage erheben gegen die sie allein betreffenden Entscheidungen und Empfehlungen oder gegen diejenigen allgemeinen Entscheidungen und Empfehlungen, die nach ihrer Ansicht einen Ermessensmißbrauch ihnen gegenüber darstellen. Die in diesem Artikel vorgesehenen Klagen müssen, je nach Lage des Falles, binnen eines Monats nach Zustellung oder nach Bekanntmachung der Entscheidung oder Empfehlung erhoben werden. Artikel 27: Im Falle der Aufhebung verweist der Gerichtshof die Sache an die Hohe Behörde zurück. Diese hat die zur Durchführung des Aufhebungsbescheids erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Hat ein Unternehmen oder eine Gruppe von Unternehmen einen unmittelbaren und besonderen Schaden infolge einer Entscheidung oder Empfehlung erlitten, die nach der Feststellung des Gerichtshofes einen groben Verstoß darstellt, so ist die Hohe Behörde verpflichtet, durch Ausübung der ihr in den Bestimmungen dieses Vertrages zuerkannten Befugnisse die Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, eine angemessene Wiedergutmachung des durch die aufgehobene Entscheidung unmittelbar entstandenen Schadens herbeizuführen und, soweit erforderlich, eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Ergreift die Hohe Behörde innerhalb einer angemessenen Frist nicht die zur Durchführung eines Aufhebungsentscheids erforderlichen Maßnahmen, so kann vor dem Gerichtshof auf Schadensersatz geklagt werden. Artikel 27 a: Ist die Hohe Behörde auf Grund dieses Vertrages oder der Durchführungsvorschriften verpflichtet, eine Entscheidung zu treffen oder eine Empfehlung auszusprechen, und kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach, so können je nach Lage des Falles die Staaten, der Rat oder die Unternehmen und Verbände bei ihr vorstellig werden. Das gleiche gilt, falls die Hohe Behörde auf Grund dieses Vertrages oder der Durchführungsvorschriften ermächtigt ist, eine Entscheidung zu treffen oder eine Empfehlung auszusprechen, dies aber unterläßt und diese Unterlassung einen Ermessensmißbrauch darstellt. Falls die Hohe Behörde nach Ablauf einer Frist von 15 Tagen keine Entscheidung getroffen oder keine Empfehlung ausgesprochen hat, kann bei dem Gericht innerhalb einer Frist von einem Monat gegen die ablehnende Entscheidung, die in diesem Schweigen zu sehen ist, Klage erhoben werden. Artikel 27 b: Die Hohe Behörde muß vor der Festsetzung einer Geldbuße oder eines Zwangsgeldes, wie sie in diesem Vertrage vorgesehen sind, dem betreffenden Unternehmen Gelegenheit geben, seine Einwendungen vorzubringen. Die auf Grund der Vorschriften dieses Vertrages ausgesprochenen Geldbußen und Zwangsgelder können Gegenstand einer Aufhebungsklage sein, wobei der Sachverhalt im vollen Umfang nachgeprüft werden kann. Die Unternehmen, die Klage erhoben haben, können zur Unterstützung dieser Klage unter den im Artikel 26 Absatz 1 dieses Vertrages vorgesehenen Bedingungen geltend machen, daß die Entscheidungen und Empfehlungen, deren Nichtbeachtung ihnen 'lorgeworfen wird, zu Unrecht ergangen sind.
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I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten Artikel 27 c: Ist ein Mitgliedsstaat der Ansicht, daß in einem bestimmten Falle ein Handeln oder Unterlassen der Hohen Behörde geeignet ist, in seinem Wirtschaftsleben grundlegende und anhaltende Störungen im Sinne des Artikels 2 dieses Vertrages hervorzurufen, so kann er bei der Hohen Behörde vorstellig werden. Diese stellt nach Stellungnahme des Rates gegebenenfalls das Vorliegen eines derartigen Sachverhaltes fest und entscheidet über die gemäß diesem Vertrage zu treffenden Maßnahmen, um diese Umstände unter Wahrung der wesentlichen Interessen der Gemeinschaft abzustellen. Wird diese Entscheidung oder eine Entscheidung, die ausdrücklich oder stillschweigend das Vorliegen eines der oben bezeichneten Sachverhalte verneint, im Wege einer auf die Vorschriften dieses Artikels gestützten Klage angefochten, so ist der Gerichtshof zuständig, den Sachverhalt in vollem Unfange nachzuprüfen. Im Falle der Aufhebung hat die Hohe Behörde im Rahmen der Entscheidung des Gerichtshofes neue Maßnahmen zu dem in Absatz 2 dieses Artikels genannten Zwecke zu ergreifen. Artikel 28: Der Gerichtshof kann auf Antrag eines der Mitgliedsstaaten oder der Hohen Behörde die Beschlüsse der Versammlung oder des Rates aufheben. Der Antrag ist innerhalb einer Frist von einem Monat nach Bekanntmachung des Beschlusses zu stellen. Eine solche Klage kann nur auf Unzuständigkeit oder Verletzung wesentlicher Formvorschriften gestützt werden. Artikel 29: ( ... ) Artikel 30: Die beim Gerichtshof erhobenen Klagen haben keine aufschiebende Wirkung. Der Gerichtshof kann jedoch, wenn es nach seiner Ansicht die Umstände erfordern, anordnen, daß die Vollstreckung der angefochtenen Entscheidung oder Empfehlung auszusetzen ist. Er kann jede andere erforderliche einstweilige Anordnung treffen. ( ... )
Artikel 31: Die Entscheidungen des Gerichtshofes sind auf dem Gebiete der Mitgliedsstaaten nach Artikel 56 vollstreckbar. Artikel 31 a: (Ehemaliger letzter Absatz des Artikel 25) Die Satzung des Gerichtshofes wird durch ein Zusatzprotokoll zu diesem Vertrag aufgestellt. ( ... ) .. 75
Die Entwicklung des Textes über die verschiedenen Entwürfe hinweg betraf nicht allein Detailfragen, sondern spiegelte das zähe Ringen wider, das es um den Umfang der Nachprüfungsbefugnis des Gerichtshofes gegeben hatte. Dieses spitzte sich in der Frage zu, ob die wirtschaftlichen Maßnahmen der Hohen Behörde der Kontrolle des Gerichtshofes entzogen seien. Die einzelnen Etappen der Verhandlungen wurden von Ophüls in einem Brief an Ernst SteindorfJ sehr übersichtlich skizziert:
75 PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 217 - 233; französische Fassung, ANP, Projet de traite, Al 81/152.
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,,( 1) Zunächst verlangte die Richtung Planungsamt76 die völlige Freistellung der Hohen
Behörde (abgesehen von den Gesichtspunkten der Unzuständigkeit, der Formverletzung und des detournement de pouvoir) bei Entscheidungen wirtschaftlichen Charakters. (2) Die deutsche Gegenposition verlangte, daß auch diese Entscheidungen gerichtlich nachprüfbar sein müßten. (3) Die französischen Repliken formulierten sich dahin, daß bei einer derartigen Regelung der Hohen Behörde jegliche, auch die geringste, Ermessensfreiheit genommen werde. Man müßte fürchten, daß der Gerichthof der Praxis des Conseil d'Etat folgen werde, wie diese sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt habe. Danach prüfe der Conseil d'Etat alle Verwaltungsentscheidungen unbeschränkt nach, soweit das Tatbestandliche in Frage komme; lediglich die Fragen der opportunite, d. h. die Fragen, welche Maßnahmen die Verwaltungsbehörde ergreife, wenn ihr das Gesetz offenlasse, ob und in welcher Weise sie tätig werden wolle, beziehe er nicht in den Kreis seiner Prüfungen. Die Anwendung dieser Praxis auf die Montanunion werde, da die Hohe Behörde in den wichtigsten Fällen nicht die Entscheidung habe, ob sie tätig werden wolle oder nicht, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen tätig werden müsse, die Handlungsfreiheit der Hohen Behörde unerträglich einengen. (4) Auf deutsche Insistenz erfolgte nach langem Hin und Her der erste französische Kompromißvorschlag: a) Der Ausschluß der gerichtlichen Nachprüfung sollte sich nur auf die appriciation des faits ou circonstances economiques beziehen. Damit sollte im Anschluß an eine Unterscheidung des französischen Verwaltungsrechts die constatation des faits ou circonstances economiques der Prüfung unterworfen werden. D. h., die (wenn auch nur schätzungsmäßige) Feststellung wirtschaftlicher Tatsachen sollte nachprüfbar sein, nicht aber ihre wertende Würdigung. b) Auch auf dem Gebiet, das an sich der vollen Nachprüfung entzogen war, sollte neben den Gesichtspunkten der Unzuständigkeit, des Formverstoßes und des ditournement de pouvoir auch der Gesichtspunkt des Rechtsverstoßes nachgeprüft werden können, soweit es sich um einen offenkundigen (manifeste) Rechtsverstoß handelt. (5) Diese Komprornißformel wurde deutscherseits als noch nicht genügend angesehen. Sie
wurde schließlich nach schwierigen Verhandlungen in der Richtung der Erweiterung der Nachprüfung wie folgt verbessert: Es wurde daran festgehalten, daß ein Ausschluß der Nachprüfbarkeit nur für das wertende wirtschaftliche Ermessen (appriciation) überhaupt in Frage kommt, also die constatation in jedem Fall nachprüfbar sei. Darüber hinaus wurde aber Einigkeit erzielt, daß auch die appriciation in gewissem Umfang voll nachprüfbar sein müsse. Die Grenzlinie wurde hier zwischen der Würdigung der einzelnen wirtschaftlichen Tatsachen und der subsumierenden Würdigung der sich daraus ergebenden Gesamtsituation gezogen. Diese einzelnen wirtschaftlichen Tatsachen und Verhältnisse sollten unbeschränkt nachprüfbar sein, nur bei der zusammenfügenden Wertung durch die Hohe Behörde sollte die Einschränkung des letzten Absatzes des Art. 33 Abs. 177 eingreifen.',78
Mit der schließlich gefundenen Fonnel hatte sich im wesentlichen der deutsche Standpunkt durchgesetzt. 79 Der Hohen Behörde war ein gewisser, auch nach deut76 Gemeint ist hier "von französischer Seite". 77 In dem oben zitierten Vertragsentwurf vom 27. 11. 1950 noch Art. 26. 78 Aus dem Brief Ophüls an Steindorff vom 15. 9. 1951, BA, Nachlaß Hallstein 266, Band 240/241, S. 2 ff. 79 Dieser Komprorniß hatte noch ein Nachspiel: Ophüls berichtet in seinem Brief an Steindorff(BA, Nachlaß Hallstein 266, Band 240/241, S. 6 f.), daß die ,,Leute vom Plan" mit Unterstützung des damaligen französischen Justizministers Rene Maier versuchten, Lagrange
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I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
scher Auffassung erforderlicher Ermessensspielraum gewährt, "durch den sie zu raschen Entscheidungen instand gesetzt wurde, ohne daß die Gefahr langwieriger gerichtlicher Streitigkeiten über Punkte, die so oder so nach wirtschaftlichem Ermessen entschieden werden müssen, entsteht. Im übrigen war jedoch der Nachprüfung des Gerichtshofes eine beherrschende Stellung zugewiesen. ,,80 Zur Frage des Schadensersatzanspruchs und der Fristenregelung bestanden zu diesem Zeitpunkt noch Differenzen. 81 So verlangte der italienische Vertreter die Streichung der Adjektivs "grob" in Artikel 27 (im französischen Text: "faute lourde"). In den deutschen Übersetzungen der Vertragsentwürfe finden sich die Formeln "wesentlicher Mangel,,82 oder "infolge groben Verschuldens".83 In der französischen Vorlage wurde an dem Begriff "faute lourde" bis zum letzten Vorentwurf festgehalten. 84 Im endgültigen Vertragsentwurf wurde dann die Formulierung "ein die Haftung der Gemeinschaft begründender Fehler - une Jaute de nature cl engager La responsabilite de La Communaure" gewählt. Die Klagefrist wurde von dem italienischen Vertreter für zu kurz gehalten. 85 Hier war jedoch das Komitee der Auffassung, daß die Klagefrist kurz sein müsse: " ... ihre Bestimmung, die mit den in das Statut des Gerichtshofes aufzunehmenden Verfahrensvorschriften über die Fristen bei verschiedenen Entfernungen und bei Stellung von summarischen Anträgen zusammenhängt, (kann) endgültig erst nach Annahme dieser Vorschriften erfolgen.,,86 Die Frist des Tätigwerdens der Hohen Behörde in Artikel 27 a Absatz 3 (später Art. 35 Abs. 3) wurde auf zwei Monate festgelegt. Im übrigen entsprach der Entwurf vom 27. November 1950 in den hier untersuchten Artikeln, einige sprachliche Veränderungen ausgenommen, dem schließlich unterzeichneten Vertragstext. 87 zu veranlassen, die Vereinbarung wieder umzuwerfen. Die Formel gehe in der Beschränkung des Ermessens der Hohen Behörde zu weit. Lagrange. der sich mit der gefundenen Formel grundsätzlich einverstanden erklärt hatte, trug diese Einwände Ophüls vor. Die Unterredung führte aber nicht zu einer Änderung des umstrittenen Artikels. 80 Aus dem Brief Ophüls an Steindorffvom 15.9. 1951, BA, Nachlaß Hallstein 266, Band 240/241, S. 7. Für die Haltung Luxemburgs siehe Voies de Recours. ANLUX, eote 11349, S.I-4. 81 Stellungnahmen der nationalen Vertreter zu den einzelnen Vertragsartikeln vom 30. 11. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 177. 82 Übersetzung des Vertragsentwurfs vom 2.2. 1951, PAAA, Abt. 11, Band 169, S. 201. 83 Übersetzung des Vertragsentwurfs vom 22.2.1951, PAAA, Abt. 11, Band 172, S. 46. 84 Siehe den vom Auswärtigen Amt. Sekretariat für Fragen des Schuman-Plans am 19. 3. 1951 herausgegebenen Entwurf des Vertrages. der den paraphierten Text der Delegiertenkonferenz enthält. In der deutschen Übersetzung liest man auch hier "infolge groben Verschuldens", PAAA, Abt. 11, Band 174, S. 16,22 ff. 85 Stellungnahmen der nationalen Vertreter zu den einzelnen Vertragsartikeln vom 30.11. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 177. 86 Stellungnahmen der nationalen Vertreter zu den Artikeln 24-54 (wahrscheinlich) mit Datum vom 2.2.1951, PAAA, Abt. 11, Band 169, S. 12.
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Die Delegationen hatten sich durch die politischen Schwierigkeiten, die ein so neuartiger und enger Zusammenschluß der künftigen Vertragsstaaten mit sich brachte, nicht in ihrem Eifer hemmen lassen. 88 Die wirtschaftliche Durchführung des Schuman-Plans und die Aufgaben der Organe wurden auf der Delegiertenkonferenz vollständig ausgearbeitet und später nicht mehr geändert. Die institutionellen Lösungen wurden von allen Beteiligten begrüßt oder wenigstens als Schritt auf dem Weg zu einer "idealen" Lösung angesehen. 89 Die Konferenz schloß mit der Paraphierung der von ihr ausgearbeiteten Vertragsentwürfe 90 durch die Chefs der Delegationen am 19. März 1951. 91
11. Die Außenministerkonferenz Die erste Konferenz der Außenminister der sechs Länder fand vom 12. -19. April 1951 ebenfalls in Paris statt. 92 Ihr Zweck war die Klärung der in den Ver-
handlungen der Delegierten zurückgestellten politischen Fragen und die Unterzeichnung des Vertrages und seiner Nebenabkommen. Dabei handelte es sich um Fragen, zu denen entweder divergierende Auffassungen vertreten wurden oder die - weil von herausgehobener politischer Bedeutung - von den national verantwortlichen Ministern selbst geklärt werden mußten. Die Stellung des Gerichtshofes war in dem Entwurf der Delegiertenkonferenz .bereits festgeschrieben und wurde in dieser Form auch in den endgültigen Vertragstext übernommen. Der AußenmiDie Abfassung soll im wesentlichen das Werk von Uri und Lagrange gewesen sein. Die bei den letzten offengebliebenen Artikel zur Antitrustgesetzgebung wurden von dem amerikanischen Universitätslehrer Robert Bowie verfaßt. Monnet, Erinnerungen, S. 445 ff. 88 Mosler; ZaöRV XIV (1950, S. 14. 89 Mosler; Festschrift für Hallstein, S. 355, 363. 90 (I) Entwurf eines Vertrages über die Gründung der EGKS nebst Protokollen über die Privilegien und Immunitäten der Gemeinschaft und über die Beziehungen zum Europarat. PAAA, Abt. 11, Band 174, S. 16 ff. (2) Entwurf eines Abkommens über die Übergangsbestimmungen. PAAA, Abt. 11, Band 174, S. 48 ff. Abgedruckt in: Entstehung der EGKS, Materialien des Sekretariats für Fragen des Schuman-Plans. 91 Monnet und Hallstein hielten an läßlich der Paraphierung des Vertrages vor der Schuman-Plan-Konferenz eine Ansprache, abgedruckt in: Entstehung der EGKS, Materialien zum Schuman-Plan, S. 22 - 25. Hier findet man auch einen Abdruck der Ansprachen des Bundeskanzlers über den deutschen Rundfunk (S. 27 f.) und Hallsteins über den nordwestdeutschen Rundfunk (S. 28 ff.) am 19.3. 1951. 92 An der Außenministerkonferenz nahmen teil: für Deutschland Konrad Adenauer; Bundeskanzler und Bundesminister des Auswärtigen; für Belgien Paul van Zeeland, Minister des Auswärtigen, und Joseph Meurice, Minister für Außenhandel; für Frankreich Robert Schuman, Minister des Auswärtigen; für Italien Graf Carlo Sfona, Minister des Auswärtigen; für Luxemburg Joseph Bech, Minister des Auswärtigen; für die Niederlande Dirk Udo Stikker; Minister des Auswärtigen, und Johannes R. M. van den Brink, Wirtschaftsminister; aus: Sahm, Europa-Archiv vom 20. 5. 1951, S. 3985. 87
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nisterkonferenz oblag lediglich noch die Ernennung der Richter (Artikel 32 EGKSV).93 Am 18. April 1951 94 schließlich unterzeichneten die Außenminister der sechs westeuropäischen Staaten, die dem Schuman-Plan zugestimmt hatten, den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKSV), der in nur zehnmonatiger Verhandlung unter dem Vorsitz von Jean Monnet ausgearbeitet worden war. 95 Gemäß Art. 100 EGKSV96 ist der Vertrag in einem einzigen Exemplar verfaßt, das in den Archiven der Regierung der Französischen Republik hinterlegt ist. 97 Dieses Exemplar ist nur in französischer Sprache abgefaßt. Der Vertrag enthält keine Bestimmung, die den Wortlaut der Übersetzungen des Vertrags in den Sprachen der übrigen Mitgliedsstaaten für gleichermaßen verbindlich erklärt, daher ist für den EGKSV die französische Fassung maßgebend. 98 Es soll an anderer Stelle dieser Arbeit dargelegt werden, inwieweit dies die spätere Auslegung des Vertrags beeinflußt hat. 99 Gemäß Art. 97 EGKSV gilt der Vertrag für die Dauer von 50 Jahren. 93 Der Ministerkonferenz waren im Hinblick auf die Gemeinschaftsorgane die folgenden Fragen vorbehalten: Hohe Behörde: Festsetzung der Zahl der Mitglieder (Art. 9); Verfahren zur Ernennung des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Mitglieder (Art. 10 und 11); Beschlußflihigkeit (Art. 13). Gemeinsame Versammlung: Mitgliederzahl und Verteilung der Mitglieder auf die Staaten (Art. 21); Selbstversammlungsrecht (Art. 22). Ministerrat: Beschlußflihigkeit, Mehrheitsbildung, ausschlaggebende Stimme des Präsidenten, Wechsel der Präsidentenschaft (Art. 28); Beratender Ausschuß: Verteilung der Mitglieder auf die Staaten (Art. 18). Aus: Mosler, Festschrift für Hallstein, S. 355, 363. 94 Siehe Erklärung des deutschen Bundeskanzlers in der FAZ vom 19.4.1951. 95 Am 18.4. 1951 unterzeichneten die Vertreter der sechs am Schuman-Plan beteiligten Länder folgende Dokumente: I. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 2. Protokoll über die Privilegien und Immunitäten der Gemeinschaft 3. Protokoll über die Satzung des Gerichtshofes 4. Protokoll über die Beziehungen zum Europa-Rat 5. Abkommen über die Übergangsbestimmungen 6. Protokoll über die Interims-Konferenz 7. Europäische Deklaration (Sechs-Mächte-Erklärung) aus: Sahm. Europa-Archiv von 20. 5. 1951. S. 3986. 96 Man hatte während der Redaktionsarbeiten darauf hingewirkt. den Vertrag in nur 100 Artikeln abzufassen. weshalb etwa der Artikel 66 besonders umfangreich geriet. 97 Die Ausfertigung des Vertrags war ebenfalls ein Gemeinschaftswerk: holländisches Papier, deutsche Tinte. der Einband ein Geschenk Belgiens und Luxemburgs und seidene Lesezeichen aus Italien. Vgl. Monnet. Erinnerungen. S. 451. Heute kann man dieses schöne Werk in den Archives Diplomatiques in Paris bewundern. 98 GA Roemer, Schlußanträge Rs. 36- 38/58. 40 und 41/58, FER.RO und Acciaierie, San MicheIe 1Hohe Behörde. Slg. 1958/59, S. 375, 385. Die Texte sind im Auftrag des deutschen Auswärtigen Amtes in französischer und deutscher Sprache im deutschen Bundesverlag veröffentlicht worden.
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Walter Hallstein hatte kurz nach der Unterzeichnung des EGKSV in einem Vortrag an der Universität in Frankfurt a. M. Gelegenheit, die Gemeinschaft vorzustellen. Dabei ging er insbesondere auch auf die "sogenannten institutionellen, man könnte auch sagen konstitutionellen Fragen, die Verfassungsfragen"l00 ein: "Von den Analogien, die man sucht, um dieses neuartige Werk zu begreifen, ist die brauchbarste immer noch das Bild der bundesstaatlichen Verfassung. Die Hohe Behörde, das unitarische Organ, ist etwa vergleichbar mit einem Bundesministerium. ( ... ) Das zweite Organ ist der Ministerrat, der etwa dem Bundesrat eines Bundesstaates entspricht. ( ... ) Das dritte Organ ist die gemeinsame Versammmlung, ein Ansatz zu einem europäischen Parlament; eine Volksvertretung jedenfaUs mit der Befugnis eines Parlaments. ( ... ) Schließlich ist der Gerichtshof zu nennen. Er hat eine dreifache Funktion. Er ist ein Verfassungsgericht, das die Einhaltung der verfassungsmäßigen Schranken bei der Betätigung der verschiedenen Organe gewährleistet. Er ist Verwaltungsgericht des traditioneUen Typus, indem er bei Mißbrauch der Befugnisse der europäischen Verwaltungs behörden den Betroffenen - das sind die Produzenten und die Staaten - die Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage gegen Entscheidungen gibt. Er ist schließlich ein Schiedsgerichtshof für den FaU einer Interessenstreitigkeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedsstaaten."IOI
Für die Gerichtsverfassung und das Verfahren schien die Einheit der richterlichen Gewalt von vornherein als selbstverständlich. 102 Es wurde nie erwogen, sie nach Rechtszweigen aufzugliedern 103 oder neben die gewöhnliche Gerichtsbarkeit eine institutionell getrennte Verfassungsgerichtsbarkeit zu setzen. 104 Als einheitliSiehe dazu unten, Kapitel 7 und 8. Nachschrift des am 28. 4. 1951 in der Aula der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität gehaltenen Vortrags, Frankfurter Universitätsreden, Heft 5, S. 7 ff., 18 - 22. 101 Ebenda, S. 18 - 22. 102 Kritisch dazu Günter Geisseler, Empfiehlt es sich, die Bestimmungen über den Rechtsschutz zu ändern?, in: KSE, Band I, Köln, Berlin, Bonn, München 1965, S. 599 ff. 103 Schon in der materieUen Rechtsordnung hatte sich eine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht, wie sie in den Mitgliedsstaaten vorherrscht, nicht durchführen lassen: Weder gab es ein in den Mitgliedsstaaten übereinstimmendes Kriterium der Abgrenzung, noch war diese bei den ineinandergreifenden Verhältnissen des Rechts der Gemeinschaft überhaupt praktikabel. So sind nach deutschem Recht auch öffentlich-rechtliche Streitigkeiten den ordentlichen Gerichten zugewiesen (vgl. § 40 Abs. 2 VwGO). Nach französischer Auffassung untersagt der Grundsatz der Gewaltentrennung zwischen Exekutive und richterlicher Gewalt der ordentlichen Gerichtsbarkeit, das Verwaltungshandeln zu kontrollieren: Nur die Verwaltungsgerichtsbarkeit darf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns nachprüfen. Dazu Jean Chevallier/ Louis Bach, Droit civil, 11. Auflage, Paris 1993, S. 103 ff. (siehe unten Kapitel 5). 104 Die Behandlung von Verfassungsstreitigkeiten blieb auch bei der institutioneUen Ausgestaltung der EWG in der Diskussion: Vermerk betreffend der ArbeitsunterJage über den Gerichtshof von Dr. von Puttkammer vom 24. 6. 1954, PAAA, Band 54, S. 154 ff. Interessant dazu auch: Note sur la Cour de Justice dans la Communite Politique vom 18. 3. 1954, PAAA, Band 54, S. I ff. 99
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ches Ganzes wurde die richterliche Gewalt den anderen obersten Gewalten, insbesondere der Exekutive, gleichgestellt. 105
111. Inkrafttreten des Vertrags Nachdem die letzte Ratifikationsurkunde am 23. Juli 1952 durch Frankreich hinterlegt worden und damit der Vertrag am gleichen Tag in Kraft getreten war, fand am 23./24. Juli 1952 eine weitere Außenministerkonferenz im Spiegelsaal in Paris statt. Hier wurden die letzten noch offenen Fragen erörtert, insbesondere die Sitzfrage galt es noch zu klären. 106 Schließlich nahmen die Hohe Behörde am 10_ August lO7 und der Rat am 8. September in Luxemburg, die Versammlung am 10. September in Straßburg und der Gerichtshof am 10. Dezember 1952 108 ebenfalls in Luxemburg ihre Tätigkeit auf. 109
IV. Einrichtung des Gerichtshofes Nach Artikel 32 EGKSV wurden die Richter im gemeinsamen Einvernehmen von den Regierungen der Mitgliedsstaaten ernannt. 110 Das gleiche galt gemäß Artikel 12 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes ftir die Ernennung der Generalanwälte. Im Vertrag findet sich keine Regelung bezüglich der Staatsangehörigkeit der Mitglieder des Gerichtshofes; es galt der Grundsatz, daß die Nationalität keine Rolle spielen sollte. 1I1 Trotzdem wurde auf Ausgeglichenheit geachtet. Als Richter ll2 des Gerichtshofes der EGKS wurden am 10. Dezember 1952 vereiOphüls, Festschrift für Hallstein, S. 397. Teilnehmer dieser Sitzung schildern diese als besonders unangenehm und aggressiv; noch einmal flackerten nationale Vorbehalte auf, denen nur mit äußerstem diplomatischen Geschick entgegengewirkt werden konnte. 101 Siehe dazu Monnet, Erinnerungen, S. 471 ff. 108 Die Einrichtung des Gerichtshofes verzögerte sich. Monnet beunruhigte dies so sehr, daß er in einem Schreiben vom 17. 10. 1952 Adenauer dringend um Unterstützung bat. ACC, MF40/52. 109 Zu den Reaktionen in den Mitgliedsstaaten auf die Einrichtung des Gerichtshofes siehe: Die Debatten über den EGKS-Vertrag in den nationalen Parlamenten, EGKS - Gemeinsame Versammlung, Luxemburg Februar 1958. 110 Dazu Christian Pennera, The Beginnings of the Court of Justice and its Role as a driving Force in European Integration, in: Journal of European History 2195, S. 111 ff.; kritisch zu dieser Form der Ernennung der Richter Konrad Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bestimmungen über den Rechtsschutz zu ändern?, KSE, Band I, S. 580 f. 111 Siehe auch die Aufzeichnungen des Sekretariats für Fragen des Schuman-Plans bezüglich der Kritik am Gerichtssystem der Montan-Union vom 19.9. 1951, PAAA, Abt. 11, Band 64, S. 44. 112 In Brüssel sind die Kopien der Ernennungsurkunden und Lebensläufe der ersten Mitglieder des Gerichtshofes aufbewahrt (ACC, MF 1953) sowie die Sitzungsprotokolle der ersten Zusammenkünfte der Institutionen der neugegründeten Gemeinschaft. lOS
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digt (mit Angabe des bis dahin bekleideten Amtes)ll3: Louis Delvaux ll \ Präsident des Sequesteramtes; Charles-Uon Hammes llS , Rat am Obersten Gerichtshof; Massimo Pilotti 1l6 , Ehrenpräsident des Kassationshofs; Otto Riese ll7 , Senatspräsident am Bundesgerichtshof1l8 ; Jacques Rueffl9, Professor der Nationalökonomie; Petrus Josephus Servatius Serrarens l20 , Sekretär der I.C.V. I2I ; Adrianus van Kleffens 122 , Ge!1eraldirektor und juristischer Berater im Wirtschaftsministerium. Daneben wurde Maurice Lagrange l23 , Mitglied des Staatsrates, zum Generalanwalt ernannt. Die Ernennung des zweiten Generalanwaltes befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Schwebe. Der Rechtsanwalt Karl Roemer l24 kam erst im Januar 1953 als zweiter Generalanwalt an den Gerichtshof. Somit entsandte jeder Mitgliedsstaat nicht nur einen Richter an den Gerichtshof, auch eine gleichmäßige Verteilung der übrigen Posten wurde gewährleistet l2s : Die Niederlande stellten zwei Richter, der italienische Richter wurde zum Präsidenten des Gerichtshofes ernannt l26 , Frankreich und später auch Deutschland wurde je113 Die Eröffnungssitzung litt etwas unter choreographischen Mißplanungen, siehe dazu den Bericht der Gesandtschaft der Bundesrepublik vom 15. 12. 1952 an das Auswärtige Amt in Bonn, PAAA, Abt. 11, Band 53. 114 Belgien. l1S Luxemburg. 116 Italien. 117 Deutschland. 118 Das Bundesjustizministerium schlug Riese rur den Gerichtshof vor, Hallstein unterbreitete diesen Vorschlag Adenauer. Schreiben des Justizministeriums an Hallstein vom 25.5. 1952, PAAA, Abt. 11, Band 307. Zu seinen Erfahrungen am Gerichtshof: Otto Riese. Über den Rechtsschutz innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1966. S. 24 ff., sowie ders., Das Sprachenproblem in der Praxis des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften. in: Ernst von Caemmerer I Arthur Nikisch I Konrad Zweigert, Vom deutschen zum europäischen Recht, Festschrift für Hans Dölle. Tübingen 1963, S. 507 ff. 119 Frankreich. 120 Niederlande. 121 Zu dieser Zeit wurden auch Nichtjuristen als Mitglieder des Gerichtshofes zugelassen: so war Serrarrms Gewerkschafter ohne juristische Ausbildung und RueffProfessor der Nationalökonomie. 122 Niederlande. 123 Frankreich. 124 Deutschland. 125 Siehe dazu auch Hans-Ulrich Bächle. Die Rechtsstellung der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1961, S. 28 ff. und insbes. S. 41. 126 Pilotti war ursprünglich von den Regierungen der Mitgliedsstaaten für die Dauer von drei Jahren zum Präsidenten ernannt worden. Am 1. 12. 1955 wurde er einstimmig für weitere drei Jahre durch die Richter des Gerichtshofes gewählt (ABI. vom 23. 12. 1955, S. 935). Für das Geschäftsjahr 1953 wurden die Richter Riese und Rueffzu Präsidenten der beiden Kammern gewählt (ABI. vom 4. 5. 1953, S. 123), damit oblag ihnen gemäß der Verfahrensordnung die Vertretung des Präsidenten. Für das Geschäftsjahr 1954 wurden die Richter Serra rens und Hammes in dieses Amt gewählt (ABI. vom 24.3. 1954, S. 28).
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weils die Stelle eines Generalanwaltes angetragen, und in Luxemburg sollte der vorerst vorläufige - Sitz des Gerichtshofes sein. 127 Nur Belgien war bisher ausgespart worden und bestand daher auf der Stellung des Kanzlers (Greffier). Am 17. März 1953 ernannte der Gerichtshof Albert van Houtte für die Dauer von sechs Jahren zum Kanzler. 128 So kam es, daß dieser in der ersten Phase des Gerichtshofes so wichtige Posten als letzter besetzt wurde. 129
c. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft I. Der neue Anfang Nach dem massiven Einschnitt in die europäischen Einigungsbestrebungen, den das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen Politischen Gemeinschaft 130 gebracht hatte, rückte die Frage nach einer erneuten Initiative im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den Vordergrund. 127 Vorerst wurde der Gerichtshof in der Villa Vauban eingerichtet. Erst am 12. 12. 1992 bestimmten die Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 77 EGKSV, 216 EGV, 189 EAGV mit einvernehmlichem Beschluß Luxemburg (nunmehr auf dem Kirchberg) zum definitiven Sitz des Gerichtshofes. 128 ABI. vom 4.5. 1953, S. 123. 129 Vor allem organisatorische Fragen galt es in der Anfangszeit zu lösen, so daß die Bestellung des Kanzlers dringend notwendig wurde. Sein Aufgabenbereich, der nicht unumstritten war, wurde jedoch erst in der am 4. 3. 1953 erlassenen Verfahrensordnung des Gerichtshofes festgeschrieben. Art. 10, 11 der Verfahrensordnung, abgedruckt im ABI. vom 7. 3. 1953, S. 37 ff. 130 Der Vertrag zur GlÜndung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vom 27.5. 1952 (Text abgedruckt in: Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band 2, S. 836 ff.) scheiterte am 30. 8. 1954 an der Ablehnung der französischen Nationalversammlung. Mit ihm scheiterte auch die geplante Europäische Politische Gemeinschaft, die nicht nur die EGKS und EVG zusammenfassen sollte, sondern auch Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Außenpolitik, der Menschenrechte und der wirtschaftlichen und sozialen Integration vorsah. Dazu Monnet, Erinnerungen, S. 501 ff. Im Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Politischen Gemeinschaft vom 10. 3. 1953 findet sich die folgende Regelung: (Art. 43) Der Gerichtshof ist zur Entscheidung über Anfechtungsklagen zuständig, die von irgendeinem Beteiligten gegen Entscheidungen oder Empfehlungen des Europäischen Exekutivrates oder der ihm nachgeordneten Verwaltungsstellen wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Satzung oder irgendeiner bei ihrer Durchflihrung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhoben werden. Sammlung der institutionellen Dokumente der Gemeinschaft von 1950 bis 1982, AEP, Com. 44.433, S. 51 ff., 59. Der Rechtsschutz schien damit großzügiger ausgestaltet als im EGKS-Recht. Teilweise wurde erwogen, neben dem Gerichtshof, der weiterhin nur für Rechtsfragen zuständig sein sollte, ein weiteres gerichtsähnliches Organ einzurichten, welches auch Sachfragen zu beurteilen hätte. Zu den weitgehenden Garantien im EVGV siehe Ophüls, Festschrift rur Hallstein, S. 387,402.
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Die Regierungen der sechs Vertragsstaaten und die Parlamentarier der Montanversammlung gaben den Anstoß dazu. l31 Am 1./2. Juni 1955 traten die Außenminister der "Sechs" in Messina zusammen und beschlossen, zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet ,,Europa" aufzubauen. Es wurde ein Ausschuß unter dem Vorsitz des belgischen Außenministers PaulHenri Spaak eingesetzt, der die Möglichkeiten einer Wirtschaftsunion sowie einer Union im Bereich der Kernenergie prüfen sollte. l32 Am 21. April 1956 wurde ein zusammenfassender Bericht vorgelegt, der sogenannte "Spaak-Bericht".133 Diesen machten die Außenminister der Sechs auf einer Konferenz vom 29. /30. Mai 1956 in Venedig zur Grundlage der eigentlichen Vertragsverhandlungen. Auf Grund der Beschlüsse von Venedig l34 wurde eine Regierungskonferenz gebildet, die ihre Arbeiten noch im Juni 1956 in Brüssel aufnahm. 135 Dabei gab das organisatorische Modell der Montanunion den Maßstab vor. l36 Um nicht erneut Widerstände wachzurufen, wurde weitgehend auf eine Veränderung des institutionellen Gebäudes der Gemeinschaft verzichtet. 137 Eine wichtige Neuerung in den Verträgen war die Stär131 Die nunmehr Verantwortlichen aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten hatten teilweise schon an den Verhandlungen zur EGKS teilgenommen. Auf der Konferenz der Außenminister vom 11. und 12. 2. 1956 in Brüssel kamen zusammen: für Deutschland: Heinrich von Brentano. Bundesminister des Auswärtigen, und Prof Dr. Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt; für Belgien: Paul-Henri Spaak. Außenminister; für Frankreich: Christian Pineau, Außenminister, und Maurice Faure. Staatssekretär des Außenministeriums; für Italien: G. Matino, Außenminister; für Luxemburg: Joseph Bech. Außenminister, und für die Niederlande: J. W. Beyen, Außenminister. Entwurf des Protokolls der Konferenz der Außenminister der Mitgliedsstaaten der EGKS vom 28.2. 1956, ACC, M 30/0010; in diese Teilnehmerliste hat sich ein Fehler eingeschlichen: der Vorname Pineaus wird hier mit ,,A." abgekürzt. 132 Schlußkommunique der Konferenz in Messina vom 3. 6. 1955, Forschungsinstitut, Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band 3, S. 1240 ff. 133 Text bei Siegier; Dokumentation der Europäischen Integration, Band I, S. 90 f. Der Spaak-Bericht wurde von Pierre Uri und Hans von der Groeben, damals Beamter im Bundeswirtschaftsministerium, redigiert. Uri, der schon an der Ausgestaltung der EGKS großen Anteil gehabt hatte, wurde nicht als Vertreter der französischen Regierung, sondern nunmehr als Direktor der Hohen Behörde der Montanunion tätig. 134 Kommunique der Konferenz der Außenminister der Mitgliedsstaaten der EGKS in Venedig vom 30. 5. 1956, Forschungsinstitut. Europa - Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Band 3, S. 1244 f. 135 In Brüssel wurden drei Sachverständigenausschüsse gebildet: (I) Gemeinsamer Markt unter der Leitung von Hans von der Groeben, (2) Euratom und schließlich (3) die Juristengruppe, der auch Pierre Pescatore angehörte. 136 Siehe dazu auch Heinrich Matthies. Die Bedeutung des Montanvertrages für das Gemeinschaftsrecht, in: Jürgen Baur / Peter-Christian Müller-Graff / Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht - Energierecht - Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag, Köln. Berlin, Bonn, München, S. 233 ff. 137 Zu den taktischen Erwägungen in den Verhandlungen siehe Ophüls. Festschrift für Hallstein, S. 387,403 f.
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1. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
kung des Rates, der mit wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet wurde, während er in der EGKS eine überwiegend beratende Funktion innehatte. 138 Im Hinblick auf das Ausmaß der zu übertragenden Souveränitätsrechte wurde eine Gewichtsverlagerung zugunsten des Rates, der sich aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, notwendig. Insoweit ähneln die neuen Gemeinschaften anderen internationalen Organisationen. 139 Für die Fragen des Rechtsschutzes wurden die Regelungen der Montangemeinschaft bis auf einzelne Punkte, die im dritten Kapitel dieser Arbeit dargestellt werden sollen, übernommen. 140 Im Vordergrund der Verhandlungen stand das Bedürfnis, Rechtsgrundlagen für die neu zu erschließenden Regelungsgebiete (über die Montanindustrie hinaus) zu schaffen. Der deutschen Delegation, die von earl Friedrich Ophüls und Alfred Müller-Armack geführt wurde, gelang es hier in enger Zusammenarbeit mit Hans von der Groeben als Vorsitzendem des Ausschusses "Gemeinsamer Markt", ihre vergleichsweise weitreichenden Vorstellungen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit durchzusetzen und institutionell abzusichern. 141 Dabei wurde sie von den Delegationen Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Italiens tatkräftig unterstützt. Dagegen verhielt sich die französische Delegation zunächst abwartend. Die Idee eines gemeinsamen Marktes wurde in Frankreich nur zögerlich aufgenommen. Hier war eine grundsätzliche Zustimmung vorerst nur für die Europäische Atomgemeinschaft zu erlangen, schließlich akzeptierte Frankreich jedoch auch die Texte des EWG-Vertrages. Am 19.120. Februar 1957 trat eine "Gipfelkonferenz der Sechs" zusammen, um den Weg für die Unterzeichnung vorzubereiten. Die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (auch Gemeinsamer Markt) und der Europäischen Atomgemeinschaft (auch Euratom) wurden in Rom unterschrieben. Beide 138 Zu den institutionellen Unterschieden zwischen den Europäischen Gemeinschaften siehe Hamier, in: GTE-Kom., 4. Aufl., Vorbemerkung zum Fünften Teil, S. 4075 ff.; zu der Frage des institutionellen Gleichgewichts Uonrin-Jean Constantinesco, Die Institutionen der Gemeinschaft an der Schwelle der 80er Jahre - auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht, in: EuR 1981, S. 209 ff.; dazu auch Günther Jaenicke, Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: ZaöRV XIV (1951/52), S. 727 ff. 139 Vgl. dazu D. W. Bowett, Tbe Law of InternationalInstitutions, London 1982; Marcel Alfons Gi/ben van Meerhaerghe, International Economic Institutions, Dordrecht, Boston, Lancaster 1985; W. J. Ganshofvan der Meerseh, Organisations Europeennes, Band I, Paris 1966. Eine vergleichende Analyse und zugleich eine Untersuchung der Rechtsnatur des Rechts der Europäischen Gemeinschaften bietet Wemer Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts, Baden-Baden 1979. 140 Vgl. Lagrange, Melanges Fernand Dehouses, S. 127, 133; siehe dazu auch S. Neril H. Sperl, Traite instituant la Communaute Economique Europeenne, Travaux preparatoires, Declarations interpretatives des six Gouvernements, Documents parlementaires, Luxemburg 1960, Art. 173, S. 372 f. 141 Interessant dazu der Entwurf des Berichts des Ausschusses für den Gemeinsamen Markt vom 11. 10. 1955, BA, Bestand B 102/22/55.
1. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
53
Verträge (auch Römische Verträge genannt) sind am 1. Januar 1958 in Kraft getreten.
11. Fusionsabkommen und Fusionsvertrag Die drei Europäischen Gemeinschaften hatten nach ihren Gründungsverträgen ursprünglich vier selbständige Organe: Besonderer Ministerrat, Hohe Behörde, Gemeinsame Versammlung und Gerichtshof 142 für die EGKS (Art. 7 S. 1 EGKSV), Europäisches Parlament, Rat, Kommission und Gerichtshof für EWG und EAG. 143 Durch das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25. März 195i 44 und den Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission vom 8. April 1965 145 wurden die jeweils zusammengehörigen Organe unter Übernahme der Befugnisse fusioniert. 146 Dabei darf nicht übersehen werden, daß die getrennt eingesetzten Organe fusioniert wurden, ohne daß die Verträge selbst miteinander rechtlich verbunden worden wären. Die Fusion der Organe der Gemeinschaften führte nicht zur Fusion der Gemeinschaften selbst. 147 Die Organe übten die Befugnisse aus, die ihnen in den jeweiligen Gründungsverträgen zugewiesen worden waren. Aus völkerrechtlicher Sicht entstand durch die Fusionierung eine Organunion der drei Rechtspersönlichkeiten EGKS, EWG und EAG, in der identischen Organen Wahrnehmungszuständigkeiten verschiedener juristischer Personen übertragen wurden. 148 Praktisch wird nunmehr eine einzige Organisation tätig, deren Entscheidungsträger trotz vielfaItiger Ausdifferenzierungen eine normative und reale Einheit bilden und unter einer Rechtsordnung handeln, ihre Aufgaben und Befugnisse aber aus unterschiedlichen Verträgen ableiten. 149 Der Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane stellt sich ebenfalls "vertragsübergreifend" dar: Eine z. B. im Rahmen des Art. 173 Abs. 1 EGV 142 Nachdem die Finanzmittel der Gemeinschaft ein Volumen angenommen hatten, das von dem vorgesehenen Kontrollausschuß nicht mehr wirksam geprüft werden konnte, wurde der Rechnungshof durch Art. 15 ff. des Vertrages vom 22.7. 1975 (BGB!. 197611, S. 1332) eingerichtet. Am 25. 10. 1977 konstituierte sich der Rechnungshof; durch den EUV wurde dieser zu einem Hauptorgan der Gemeinschaften (Art. G EUV). Dazu Emile Noel, So funktioniert Europa, Baden-Baden 1978, S. 50. 143 Art. 4 Abs. 1 S. 1 E(W)GV und Art. 3 Abs. 1 S. 1 EAGV. 144 Fusionsabkommen, BGB!. 195711, S. 1156; Sartorius 11, Nr. 220. 145 Fusionsvertrag, BGB!. 196511, S. 1454; Sartorius 11, Nr. 220 a. 146 Art. 1 und 3 Fusionsabkommen und Art. 1 und 9 Fusionsvertrag. 147 Siehe dazu: Bengt Beutler/Roland Bieber / Jörn Pipknrn/ Jochen Streil, Die Europäische Union - Rechtsordnung und Politik, Baden-Baden 1993, S. 45. 148 Albert Bleckmann, Europarecht - Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, Köln, Berlin, Bonn, München 1990, S. 13, Rn. 14; Nettesheim in: Grabitz-Kom., Art. 4, Rn. 5. 149 Nettesheim, ebenda, Art. 4, Rn. 5; zur völkerrechtlichen Stellung der Gemeinschaften und ihrer Organe siehe Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 182 ff.
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1. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
erhobene Klage gegen eine auf Vorschriften dieses Vertrages gestützte Maßnahme umfaßt gleichzeitig die Zuständigkeit zur Überprüfung einer Verletzung der beiden anderen Verträge. 150
111. Erweiterung der Gemeinschaften Am 1. Januar 1973 sind Dänemark, Großbritannien und Irland l5l , am 1. Januar 1981 Griechenland l52 , am 1. Januar 1986 Portugal und Spanien l53 und schließlich am 1. Januar 1995 Österreich, Schweden und Finnland in die Gemeinschaften eingetreten, so daß die Europäischen Gemeinschaften von der ursprünglichen Sechser- zur 15er-Gemeinschaft ausgeweitet wurden. Am 17. und 18. Februar 1986 wurde die Einheitliche Europäische Akte l54 unterzeichnet und damit die erste große Änderung der Verträge. 155 In ihr wurden die Vollendung des Binnenmarktes bis 1992 festgeschrieben, der Anwendungsbereich von Mehrheitsbeschlüssen im Ministerrat erweitert, dem Europäischen Parlament verstärkte Mitwirkungsrechte gegeben und eine vertragliche Grundlage für die gemeinschaftliche Struktur-, Umwelt-, Forschungs- und Technologiepolitik sowie die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) geschaffen. Wegen der Verzögerungen der Ratifikation durch die Mitgliedsstaaten trat die EEA erst am 1. Juli 1987 in Kraft.
IV. Gericht erster Instanz Im Jahre 1989 wurde das Gericht erster Instanz (EuG) eingerichtet. 156 Mit der Schaffung des EuG wurde dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein eigenständiISO EuGH, Rs. C-62/88 (Griechenland/Rat), Slg. 1990 I, S. 1545, 1548, Rn. 8; Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 68, Rn. 128. 151 Akte über die Bedingungen des Beitritts zur Anpassung der Verträge vom 22. I. 1972 - ABI. 1972, L 73, S. 14 ff. 152 Akte über die Bedingungen des Beitritts und die Anpassung der Verträge vom 28.5.1979 - ABI. 1979, L 291, S. 17 ff. 153 Akte über die Bedingungen des Beitritts und die Anpassung der Verträge vom 12.6.1985 - ABI. 1985, L 302, S. 23 ff. 154 Siehe BGBL 198611, S. 1102, AbI. 1987, Nr. L 169/1; Sartorius 11, Nr. 151. 155 Dazu Pierre Pescatore, Die Einheitliche Europäische Akte - Eine ernste Gefahr für den Gemeinsamen Markt, in: EuR 1986, S. 153 ff. 156 Durch die EEA wurde in alle drei Gründungsverträge eine gleichlautende Bestimmung aufgenommen, die den Rat ermächtigt, auf Antrag des Gerichtshofes und nach Anhörung der Kommission und des Parlaments durch einstimmigen Beschluß dem EuGH ein Gericht erster Instanz beizuordnen. Mit dem Beschluß 88/5911EGKS/EG/EAG des Rats vom 24. 10. 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften wurde von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
1. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
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ger Spruchkörper an die Seite gestellt und nicht ein zusätzliches Gemeinschaftsorgan geschaffen. Die sachliche Zuständigkeit wurde auf Grund des Ratsbeschlusses 88/591 zwischen den beiden europäischen Gerichten aufgeteilt. Dem EuG wurden ursprünglich "nur" die sogenannten Beamtenklagen, bestimmte Klagen von Unternehmen und Verbänden aus dem EGKS-Vertrag und Direktklagen in Wettbewerbssachen übertragen. Mit Ratsbeschluß vom 8. Juni 1993 157 wurde der Zuständigkeitsbereich des EuG erheblich erweitert; das Gericht ist seit dem 1. August 1993 zuständig für alle Klagen natürlicher und juristischer Personen gegen Gemeinschaftsorgane. 158 Die Zuständigkeit gilt unabhängig von der Rechtsnatur und der Form der Maßnahme: Die Klage kann sich gegen Verordnungen, Richtlinien oder Entscheidungen richten. Für handelspolitische Schutzmaßnahmen, wie Antidumping- oder Antisubventionsmaßnahmen, ist seit dem Ratsbeschluß vom 15. März 1994 159 ebenfalls das EuG zuständig. Für alle übrigen Klagen, insbesondere für diejenigen, die seitens eines Mitgliedsstaates oder der Gemeinschaftsorgane erhoben werden, ist weiterhin der Europäische Gerichtshof das sachlich zuständige Gericht. 160 . Eine grundlegende Neuerung im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem stellt die Möglichkeit dar, gegen Entscheidungen des EuG Rechtsmittel beim EuGH einzulegen, der in diesen Fällen als zweite Instanz tätig wird. Gemäß Art. 32 d EGKSV, 168 a EGV, 140 a EAGV i. V. m. Art. 51 der jeweiligen Satzung des EuGH ist die Einbringung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des EuG auf Rechtsfragen beschränkt. 161
D. Vertrag über die Europäische Union Eine weitere wichtige Reform erfuhr das Recht der Europäischen Gemeinschaften durch den Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992. 162 Der EWGV wurde wegen der seit der EEA und dem Unionsvertrag über den wirtschaftlichen Bereich hinausgehenden Regelungsmaterien durch Art. G EUV in Ratsbeschluß 93/3501 Euratom 1EGKS 1EWG. Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 67, Rn. 127; siehe zur Erweiterung der Zuständigkeiten des EuG: Hans Jörg Niemeyer, Erweiterte Zuständigkeit für das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, in: EuZW 1993, S. 529 ff. 159 Ratsbeschluß 94/148, AB!. 1994, Nr. L 66/29. 160 Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 68, Rn. 128. 161 Das Rechtsmittel kann daher nur auf Unzuständigkeit des EuG, Verfahrensfehler oder Verletzung des Gemeinschaftsrechts gestützt werden; die vom EuG vorgenommene Tatsachenwürdigung kann nicht in Frage gestellt werden. Siehe EuGH, Rs. C-241/91P und C242/91P (Radio Telefis Eireann und Independent Television Publication Ltd./ Kommission), EuZW 1993, S. 339 ff. 162 Maastricht- oder Unionsvertrag (EUV), BGB!. II 1992, S. 1253; Sartorius II, Nr. 152, in Kraft getreten am 1. 11. 1993. 157
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I. Teil: Rechtsschutz vor den Europäischen Gerichten
"Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EGV" umbenannt, die EWG in EG. 163 Diese Europäische Gemeinschaft darf nicht verwechselt werden mit den Europäischen Gemeinschaften: die drei Gemeinschaften existieren getrennt fort und sind weiterhin rechtlich selbständig. l64 Zu der in Art. 32 Abs. 1 FusV geplanten Fusion der Gemeinschaften ist es nicht gekommen, auch der Unionsvertrag führte sie nicht herbei. 165 Die wichtigsten Neuerungen sind: die Einführung der Unionsbürgerschaft (Art. 8-8 e EGV), die Grundsteinlegung für die Wirtschafts- und Währungsunion einschließlich ihrer institutionellen Grundlagen (Art. 102 a - 109 m EGV), die Neuordnung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik, die Ausgestaltung der Politiken der Gemeinschaft (Art. 130 a - 130 t EGV), die Verankerung neuer Gemeinschaftspolitiken (Art. 126-130 und 130 u - 130 Y EGV) sowie einer gemeinsamen Visapolitik (Art. 100 c EGV), die Neuordnung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. J - J .11 EUV) und die Regelungen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Art. K - K.9 EUV). Art. L EUV schließlich regelt die Frage der Zuständigkeit und der Kompetenzen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften in bezug auf den Unionsvertrag. l66 Einige institutionelle und verfahrensrechtliche Änderungen finden sich in den Art. 137 ff., bes. Art. 189 b EGY. Gemäß Art. E EUV üben das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und der Gerichtshof nunmehr ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der einzelnen Gründungsverträge aus sowie darüber hinaus im Sinne der Bestimmungen des Unionsvertrags. 167 Die offizielle Bezeichnung der Organe 168 lautet entsprechend der Entscheidung des Parlaments vom 30. März 1962 169, des Beschlusses des Rates vom 8. November 1993 170 und 163 Zur Entstehung des Vertrages vgl. Wemer Weidenjeld (Hrsg.), Maastricht in der Analyse: Materialien zur Europäischen Union, Gütersloh 1994. 164 Blecknumn, Europarecht, S. 13, Rn. 13; RudolJStreinz, Europarecht, Heidelberg 1995, S. 22, Rn. 65. 165 Art. 32 Abs. I FusV sieht den Abschluß eines Vertrags zur Gründung einer einzigen Europäischen Gemeinschaft vor. Diesem Auftrag ist bisher nicht entsprochen worden, die drei Europäischen Gemeinschaften bilden weiterhin die Grundlage einer Europäischen Union (Art. A EUV); dazu Armin von Bogdandy / Martin Nettesheim, Die Verschmelzung der Europäischen Gemeinschaften in der Europäischen Union, in: NJW 1995, S. 2324 ff. Gegen die "Verschmelzungstheorie" Oliver Dörr, Noch einmal: Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften, in: NJW 1995, S. 3162 ff. 166 Dazu Krück in: GTE-Kom., 5. Aufl., Art. L, Rn. 1. 167 Zur normativen Ausgestaltung der Gemeinschaftsorgane sei insbesondere hingewiesen auf die Kommentierung in Grabitz-Kom., Art. 137 - 209 a; siehe auch Michael Nentwich, Institutionelle und verfahrensrechtliche Neuerungen im Vertrag über die Europäische Union, in: EuZW 1992, S. 235 ff. 168 Da sie nicht unter der Rubrik "Organe" aufgeführt werden, sind der Beratende Ausschuß der EGKS, der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EG und EAG sowie der Ausschuß der Regionen (Art. 4 Abs 2 EGV) keine Organe. Die Organqualität ist bedeutsam sowohl für die Klagebefugnis als auch für die außervertragliche Haftung. 169 ABI. 1962, S. 1045. 170 AbI. 1993, Nr. L 281, S. 18; ber. AbI. 1993, Nr. L 285, S. 41.
1. Kap.: Rechtsschutz in den Gründungsverhandlungen
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der Entschließung der Kommission vom 17. November 1993 171 : Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union, Europäische Kommission 172, Rechnungshof und Europäischer Gerichtshof. 173 Der Sprachgebrauch ist jedoch - auch nach dem Unionsvertrag - nicht einheitlich. 174 Insbesondere im EGKS-Recht werden die Begriffe "Versammlung" und ,,Europäisches Parlament" sowie "Hohe Behörde" und "Kommission" synonym verwendet. 175
E. Vertrag von Amsterdam Am 2. Oktober 1997 wurde der Amsterdamer Vertrag (AV) unterzeichnet. Das wesentliche Ziel des AV ist es, die Gemeinschaft im Hinblick auf die Verfassungsstruktur fortzuentwickeln; die Verfassungsprinzipien Demokratie, Transparenz und Effizienz sollen mehr Gewicht bekommen. Gleichzeitig soll die Europäische Union auf die Osterweiterung vorbereitet werden. 176
EG-Nachrichten Nr. 46 vom 29. 11. 1993, S. 2. Die genaue Bezeichnung soll jedoch weiterhin "Kommission der Europäischen Gemeinschaften" sein, dazu EuZW 1994, S. 34. 173 Die amtliche Sammlung wird dennoch weiter von dem "Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften" herausgegeben. 174 Siehe dazu von Bogdandy/Nettesheim. NJW 1995, S. 2324. 175 Siehe z. B. Art. 8 und 9; Art. 14 und 33 EGKSV. 176 Siehe zu den wesentlichen Neuerungen durch den AV Meinhard Hilf/Eckhard Pache. Der Vertrag von Amsterdam, in: NJW 1998, S. 705 ff. 171
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2. Te i I
Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht In diesem Abschnitt sollen die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zur Nichtigkeitsklage näher untersucht werden. Für diese Betrachtung wird auf die oben dargestellte Entstehungsgeschichte der das Klagesystem der Verträge begründenden Regelungen ebenso zurückgegriffen wie auf die Rechtsprechung der europäischen Gerichte.
Durch die Entscheidung über Nichtigkeitsklagen erfüllt der Gerichtshof die ihm übertragene Aufgabe der Rechtskontrolle der Verwaltung. Vor einer Befassung ist stets zu prüfen, ob die angefochtene Handlung einem Gemeinschaftsorgan zugerechnet werden kann. Nicht mit der Nichtigkeitsklage überprüfbar sind primärrechtliche Bestimmungen 1, die nur nach den rlir die Revision der ursprünglichen Verträge vorgesehenen Verfahren ausgesetzt, geändert oder aufgehoben werden können? Die Möglichkeit dieses selbständigen Rechtsbehelfs zu den europäischen Gerichten schließt die Klage vor einem innerstaatlichen Gericht, mit der ein Rechtsakt einer nationalen Behörde zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts angefochten wird, nicht aus. 3
1 Das Recht der Europäischen Gemeinschaften unterteilt sich in das sogenannte primäre und das sekundäre bzw. abgeleitete Gemeinschaftsrecht. Als primäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet man die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften einschließlich Anlagen, Anhängen und Protokollen. Verordnungen, Richtlinien usw. fallen unter den Begriff sekundäres Gemeinschaftsrecht. Die Gemeinschaftsverträge und weiteres primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht findet man in den gängigen Sammlungen, insbesondere Sartorius 11, Internationale Verträge, Europarecht. Das vollständige sekundäre Gemeinschaftsrecht ist im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Reihe L (leges) abgedruckt. 2 Problematisch kann hier die Frage der Zuordnung zu Primär- oder Sekundärrecht werden, siehe dazu EuGH. Rs. 31 und 35/86 (LAISA und CPC Espaiia SA 1Rat), Slg. 1988, S. 2285 ff.: Klage auf Nichtigerklärung einiger Vorschriften des Anhangs I der Beitrittsakte Spanien 1Portugal. 3 EuGH. Rs. 133-136/85 (Rau u. a./BALM). Slg. 1987, S. 2334, 2338.
2. Kap.: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
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Kapitel 2
Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl A. Klagegegenstand J. Maßnahmen der Hohen Behörde Gemäß Art. 33 EGKSV können Maßnahmen der Hohen Behörde mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Die Hohe Behörde4 erläßt zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben Entscheidungen (dicisions), spricht Empfehlungen (recommandßtions) aus oder gibt Stellungnahmen (avis) ab. Dabei sind Entscheidungen laut Art. 14 Abs. 2 EGKSV in allen Teilen verbindlich, Empfehlungen hinsichtlich der von ihnen bestimmten Ziele (Art. 14 Abs. 3 EGKSV); in der Wahl der für die Erreichung dieser Ziele geeigneten Mittel ist der Adressat frei. Entscheidungen und Empfehlungen rufen Rechtswirkungen hervor, die für die Betroffenen eine Beschwer bilden können. 5 Diese Maßnahmen können mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Stellungnahmen dagegen sind lediglich richtungweisender Natur6 (Art. 14 Abs. 4 EGKSV) und können keine Rechtswirkungen hervorrufen, die mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden könnten. 7 Kein tauglicher Klagegegenstand sind außerdem Maßnahmen des inneren Geschäftsbetriebs oder privatrechtliche Akte der Hohen Behörde. Die Verordnung wird in Art. 14 EGKSV nicht als Handlungsform aufgeführt, obwohl der Begriff "Verordnung" in verschiedenen Vorschriften verwendet wird. 8 Für das Gemeinschaftsrecht besteht zwischen allgemeiner Entscheidung und Verordnung kein rechtlich relevanter Unterschied. 9 Sowohl allgemeine Entscheidungen als auch Verordnungen haben im Gemeinschaftsrecht allgemeine (d. h. auf eine Vielzahl von Adressaten bezogene) und unmittelbare (d. h. keines nationalen
4 An deren Stelle ist nunmehr gemäß Art. 9 FusV die Kommission der Europäischen Gemeinschaften getreten. Der Wortlaut des Art. 14 EGKSV wurde aber auch durch den EUV nicht geändert. S Zu beachten ist ferner, daß sich Empfehlungen nicht nur an die einzelnen Mitgliedsstaaten richten; dazu genauer unten, Punkt B.VI. und B.VII. 6 EuGH. Rs. 1 und 14/57 (Societe des usines a tubes de la Sarre/Hohe Behörde), Slg. 1957, S. 213, 236. 7 EuGH. Rs. 1 und 14/57 (Societe des usines a tubes de la Sarre/Hohe Behörde), Slg. 1957, S. 213, 236; GA Lagrange. Schlußantrag in der Rs. 1 und 14/57, Slg. 1957, S. 243 f.. unterscheidet die Verwaltungsakte des Art. 14 EGKSV schlicht nach Verbindlichkeit in allen Teilen (Entscheidungen), Verbindlichkeit hinsichtlich der bestimmten Ziele (Empfehlungen) und keine Verbindlichkeit (Stellungnahmen). 8 Art. 65 § 3, Art. 66 § 1 EGKSV. 9 So auch Daig in: GTE-Kom., 3. Aufl., Art. 189, Rn. 54.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
Transfonnationsaktes bedürfende) Geltung und sind in allen ihren Teilen verbindlich. Die Unterscheidung zwischen individueller und allgemeiner Entscheidung (Art. 33 Abs. 2 EGKSV) hat im Rahmen der Zulässigkeit nicht die grundsätzliche Bedeutung, wie sie etwa im deutschen Verwaltungsrecht der Unterscheidung zwischen Verwaltungsakten und Rechtsverordnungen zukommt. 10 Während die Anfechtungsklage nach § 42 VwGO sich prinzipiell nur gegen Einzelfallregelungen (ggf. in Fonn der Allgemeinverfügung) richten kann, sind im Gemeinschaftsrecht die individuellen und die allgemeinen Entscheidungen (bzw. Verordnungen) sowie die Empfehlungen gleichennaßen anfechtbar. 11 Die Bedeutung dieser Unterscheidung liegt zum einen in der Frage der Bekanntmachung und der Klagefristen, zum anderen wirkt sie sich auf das Kiagerecht der Unternehmen und Verbände aus, Art. 15 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 2 und 3 EGKSV. 12 Auf die Bezeichnung der Maßnahmen kommt es allerdings nicht an. Der Gerichtshof betonte bereits in dem Urteil FEDECHAR 13, daß eine nur "als allgemeine Entscheidung getarnte" individuelle Entscheidung ihren individuellen Charakter behielte, und stellte damit klar, daß die Natur der Handlung der Hohen Behörde nicht von der äußeren Fonn, sondern von ihrem Inhalt abhängig sei. Dabei sollte jedoch nicht allein die unterschiedliche Auswirkung einer Entscheidung auf die verschiedenen Betroffenen eine Einordnung als individuelle Entscheidung begründen. In demselben Urteil 14 hat der Gerichtshof entschieden, daß die allgemeine Natur einer Entscheidung nicht allein durch den Umstand beseitigt würde, daß sie auf ein einziges Land der Montanunion begrenzt ist oder alle von der Entscheidung betroffenen Unternehmen in dem klagenden Verband zusammengefaßt seien. Mit der Nichtigkeitsklage kann auch gegen einzelne Bestimmungen einer Gesamtentscheidung vorgegangen werden. Art. 34 EGKSV steht dem nicht entgegen. 15 Auch mehrere Entscheidungen, die miteinander in Zusammenhang stehen, können mit einer einzigen Klage angegriffen werden. 16
Siehe dazu Kapitel 6, Punkt EIl. Vgl. auch die Ausführungen des GA Roemer; Rs. 7 und 9154 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises/Hohe Behörde), Sig. 1955156, S. 105, 122. 12 Siehe dazu ausführlich unten, Punkt 2.B.VI. 13 Rs. 8/55, Slg. 1955156, S. 197,225. 14 Ebenda, S. 224. 15 EuGH, Rs. 2156 (Geitling/Hohe Behörde), Sig. 1957, S. 9 ff.; GA Roemer; Schlußantrag Rs. 2156, Slg. 1957, S. 51, 54. 16 EuGH, Rs. 1/54 (Frankreich I Hohe Behörde), Slg. 1954155, S. 7, 11. 10
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2. Kap.: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
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11. Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates Der EGKSV stellt nur für die Hohe Behörde/Kommission l7 eine Typologie der Handlungsformen auf. Soweit der Rat oder die Versammlung / das Europäische Parlament im Montanbereich tätig werden, werden ihre Verlautbarungen - eher beiläufig und ohne genauere Definition - als Beschlüsse bezeichnet. Offenbar sollen damit sämtliche Maßnahmen des Rates oder der Versammlung abgedeckt werden, die geeignet sind, Rechtswirkungen zu entfalten. 18 Gegen diese Beschlüsse ist gemäß Art. 38 EGKSV die Klage zulässig.
B. Klagebefugnis I. Überblick Von Anfang an war ein wesentliches Merkmal der Europäischen Gemeinschaften, daß ihre Hoheitsakte nicht nur für die Mitgliedsstaaten, sondern auch für einzelne (natürliche und juristische) Personen verbindlich sind. 19 Der Gedanke, auch diesen (Unternehmen und ihren Verbänden) den Zugang zu dem Gerichtshof zu eröffnen, hat sich indes nur zögernd und schließlich mit starken Einschränkungen durchsetzen können. Wie aus den Protokollen zu den Verhandlungen zum Schuman-Plan hervorgeht, war die Aktivlegitimation der eigentliche Streitpunkt zwischen den nationalen Delegierten. Die in den Vertrag eingegangene Regelung ist nicht zufälliger Art, sondern von den Vertragsparteien mit Bedacht gewählt: Zunächst war man sich darin einig, daß ein Klagerecht den Vertragsstaaten und den durch das Abkommen geschaffenen Organen zustehen sollte. Fraglich blieb, ob ein solches auch den von den Maßnahmen betroffenen Unternehmen zukommen sollte. 2o Von deutscher Seite wurde dies mit der Begründung gefordert, daß das Grundgesetz jedem das Recht gibt, gegen ihn belastende staatliche Akte vorzugehen. Da aber eine Entscheidung nationaler Gerichte über Akte der Hohen Behörde nicht vorgesehen sei, sei nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ein Rekursrecht auch der Unternehmen notwendig. Belgien lehnte ein solches Klagerecht ab. Die Hohe Behörde solle den Unternehmen nicht unmittelbar Weisungen erteilen können. Dadurch erübrige sich auch die Notwendigkeit eines Rechtswegs zu einem europäischen Gericht. Gegen die nationalen Transformationsakte könnten die Unternehmen vor den Gerichten des jeweiligen Mitgliedsstaates klagen?1 Zum Sprachgebrauch siehe oben unter Kapitel I, Punkt D. Daig in: GTE-Kom., 3. Aufl., Art. 173, Rn. 99. 19 Siehe dazu auch Ulrich Everling, Die Stellung des Bürgers in der Europäischen Gemeinschaft, in: ZfRV 1992, S. 241 ff. 20 Übersicht über den Stand der Verhandlungen am 18.8. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 53, S.264. 17 18
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
In dem Vertragsentwurf vom 31. Oktober 1950 war dennoch neben der Parteifahigkeit der Mitgliedsstaaten und des Rates auch die von "Unternehmungen" und "Verbänden,,22 vorgesehen.
Der Vertragsentwurf vom 9. November 1950, in welchem der Montangerichtsbarkeit zum ersten Mal klare Gestalt gegeben wurde und der, besonders auf Drängen der deutschen Delegation, ein verwaltungsgerichtliches Anfechtungsverfahren vorsah, beschränkte die Klagebefugnis der Unternehmen auf die "sie selbst betreffende(n) Entscheidungen,,23 der Hohen Behörde. Die Ablehnung der Möglichkeit einer Anfechtung von allgemeinen Entscheidungen (und Empfehlungen) wurde von der französischen Seite damit begründet, daß ein einzelnes Unternehmen nicht berechtigt sein sollte, Maßnahmen, die für die Gesamtheit der Gemeinschaft getroffen werden, im Wege der Klage zu beseitigen. 24 Die Anfechtung allgemeiner Entscheidungen sollte daher ausschließlich den Mitgliedsstaaten und dem Rat vorbehalten bleiben. Erst auf weiteres Drängen der anderen Delegationen wurde im darauffolgenden Entwurf vom 27. November 195(P die Möglichkeit geschaffen, allgemeine Entscheidungen im Falle des Ermessensmißbrauchs auch durch Unternehmen anfechten zu lassen, unter der Voraussetzung, daß der behauptete Mißbrauch sich gerade gegen das anfechtende Unternehmen richtet. In allseitigem Einvernehmen wurde der Text dahingehend präzisiert, daß nur die produzierenden Unternehmen ein solches Anfechtungsrecht haben sollten (vgl. Art. 80 EGKSV). Dasselbe Recht wurde auch den Verbänden zuerkannt. In diesem Zusammenhang wurden auch etwaige Klagemöglichkeiten "Dritter" behandelt. Die Verhandlungspartner verfolgten dabei einmütig die Linie, ein solches Klagerecht nur ausnahmsweise und nur in denjenigen Fällen zuzugestehen, in denen sich die Hohe Behörde direkt mit ihren hoheitlichen Maßnahmen an Außenstehende wenden kann. Solche Ausnahmebestimmungen wurden vor allem in Art. 63 § 2 und 66 § 5 Abs. 2 i. V. m. Art. 80, 2. Halbsatz EGKSV vorgesehen. Der Umfang der Klagebefugnis der natürlichen und juristischen Personen ist schließlich im EGKSV doch erheblich eingeschränkt worden. Nur eine Gruppe unter ihnen, die Unternehmen und ihre Verbände, kann in begrenzten Fällen unter teilweise erschwerten Voraussetzungen Klage erheben. Für diese kann man vereinfachend feststellen: Das Klagerecht ergibt sich aus der Interventionsbefugnis der Gemeinschaft. Es steht nur den Privatrechtssubjekten zu, in deren Rechts- und In21 Übersicht über den Stand der Verhandlungen am 18.8. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 53, S.264. 22 PAAA, Abt. 11, Band 54, S. 181; siehe oben Kapitell, S. 37. 23 Übersetzung der französischen Fassung, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 279; siehe oben Kapitel I, S. 39. 24 Premiere Redaction du Projet de Traite vom 9. 11. 1950, Formulierungen und Statements von der französischen Seite in deutscher Sprache, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 162 f. 25 PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 220; siehe oben Kapitell, S. 39.
2. Kap.: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
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teressenkreis die Organe der EGKS einzugreifen berechtigt sind. Nach der Konzeption des Montanvertrags konnten der Gemeinschaft hoheitliche Befugnisse nur gegenüber Personen eingeräumt werden, deren wirtschaftliche Tätigkeit sich auf Montangüter bezieht. Daraus ergibt sich die Einschränkung des Art. 80 EGKSv. 26 Es wird also unterschieden zwischen privilegierten Klägern mit Klagerecht für alle im EGKSV vorgesehenen Klagen und Klägern, denen nur in bestimmten Fällen eine Klage offensteht?7 In den unten unter Punkt A.Ill- A. V. behandelten Fällen ermöglicht der Vertrag den Gemeinschaftsorganen, von einem anderen Organ getroffene Maßnahmen anzufechten. Obwohl der Vertrag hier auch die Nichtigkeitsklage nach Art. 33, 38 EGKSV vorsieht, übt der Gerichtshof hier Aufgaben aus, die außerhalb des Rechtsschutzes gegen hoheitliche Maßnahmen liegen.
11. Mitgliedsstaaten Die Mitgliedsstaaten haben ein unbeschränktes Klagerecht, Art. 33 Abs. 1 EGKSV. Sie können Nichtigkeitsklagen gegen alle anfechtbaren Rechtshandlungen erheben und sich auf alle Anfechtungsgründe stützen?S Im Gegensatz zu den Unternehmen brauchen die Mitgliedsstaaten nicht den Nachweis eines besonderen Interesses für die Klageerhebung darzulegen. 29 Jeder Mitgliedsstaat ist berechtigt,
26 Zum Kreis der klageberechtigten Unternehmen und Verbände im EGKS-Recht auch Hans- Wolfram Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1985, S. 278. 27 Art. 36 EGKSV, der die Klage gegen die von der Hohen Behörde festgesetzten finanzieHen Sanktionen und Zwangsgelder eröffnet, macht im Umfang der Klagebefugnis keinen Unterschied zwischen Mitgliedsstaat, Rat, Unternehmen und Unternehmensverband. Der Kläger kann zur Begründung dieser Klage die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung geltend machen, wegen deren Nichtbeachtung ihm eine Sanktion oder ein Zwangsgeld auferlegt wurde. Er kann sich auf aUe Anfechtungsgründe des Art. 33 Abs. I EGKSV berufen. Dabei spielt es keine RoUe, ob die nicht beachtete Entscheidung individueU oder aHgemein ist. Nicht nur die Klagebefugnis des Art. 36 EGKSV ist anders geregelt, auch sind dem Gerichtshof in diesem Rahmen weitergehende Nachprüfungbefugnisse eingeräumt und schließlich folgen auch die Eingriffsmöglichkeiten des Gerichts ihren eigenen Regeln: Der Gerichtshof kann die angefochtene Entscheidung nicht nur aufheben, sondern auch abändern, er ist also befugt, die Verwaltung sowohl unter rechtlichen als auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu überprüfen. Der recours de pleine juridiction des Art. 36 EGKSV ist eine Klage besonderer Art. Trotz ihrer Nähe zur Nichtigkeitsklage soU hier auf eine gemeinsame Betrachtung verzichtet werden, da diese den hier gesteckten Rahmen sprengen würde. 28 Riese, EuR 1966, S. 24, 39 ff. 29 GA Lagrange, Schlußanträge Rs. 2 und 3/60 (Niederrheinische Bergwerks AG 1 Hohe Behörde), Sig. 1961, S. 315, 329; dazu auch Albert Bleckmann, Zur Klagebefugnis für die Individualklage vor dem Europäischen Gerichtshof, in: Hans-Uwe Erichsen/Werner HoppeI Albert von Mutius (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
die allgemeinen Interessen der Gemeinschaft, an deren Gründung er mitgewirkt hat und der er angehört, geltend zu machen?O Die insoweit privilegierten Mitgliedsstaaten sind kraft ihrer Stellung im Gemeinschaftssystem befugt, jeden verbindlichen Gemeinschaftsakt überprüfen zu lassen.
111. Rat Für den Rat gilt das gleiche; er ist ebenfalls privilegiert klagebefuge 1 und kann wie ein Mitgliedsstaat alle individuellen oder allgemeinen Entscheidungen oder Empfehlungen der Hohen Behörde angreifen, Art. 33 Abs. 1 EGKSV.
IV. Hohe Behörde Die Hohe Behörde selbst kann die Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates anfechten, Art. 38 Abs. 1 EGKSV. V. Versammlung Die Versammlung konnte den Gerichtshof ursprünglich nicht anrufen, da ihre Aufgabe in der politischen Kontrolle der supranationalen Autorität besteht. Mit der Reform der Gründungsverträge durch den EUV wurde nun auch dem Parlament ein Klagerecht eingeräumt. 32 Aus Anlaß der Entscheidung über eine vom Parlament eingereichte Nichtigkeitsklage führte der EuGH schon vor der entsprechenden Änderung der Gründungsverträge aus, daß die Klage zulässig sei, soweit sie auf die Wahrung der Rechte des Parlaments abziele. 33 Aus diesem Grund erlangte die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage zum Erlaß von Gemeinschaftsakten und dem dabei einzuhaltenden Verfahren besondere Bedeutung, da sich danach die Mitwirkungsrechte des Parlaments bestimmen. 34
für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, Köln, Berlin, Bonn, München 1985, s. 871 f. 30 GA Lagrange, a. a. 0., Sig. 1961, S. 329. 31 Ebenda, S. 329. 32 Art. 33 Abs. 4 EGKSV. 33 EuGH, Rs. C-295/90 (Parlament/Rat), EuZW 1992, S. 676. 34 Ebenda, S. 676; siehe auch die Besprechung des Urteils von Moritz Röttinge" Die Bedeutung der Rechtsgrundlage einer EG-Richtlinie und die Folgen einer Nichtigkeit, in: EuZW 1993, S. 117, und EuGH, Rs. C-70/88 (Parlament/Rat), Sig. 1991 I, S. 4529, 4563 ff.
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VI. Unternehmen und Verbände Unternehmen (mit der Einschränkung des Art. 80 EGKSV 35 ) und die in Art. 48 EGKSV genannten Verbände 36 haben ein uneingeschränktes Klagerecht gegen "decisions individuelles les concernant"; der deutsche Text des Art. 33 EGKSV "wegen der sie individuell betreffenden Entscheidungen" ist hier ungenau. Der Gerichtshof hat schon in einer frühen Entscheidung37 in Anwendung des verbindlichen französischen Textes festgestellt, daß es auf den individuellen Charakter der Entscheidung und die Betroffenheit des Klägers ankomme und nicht, wie es der deutsche Text vermuten lassen könne, darauf, daß die Entscheidung einen individuellen Charakter im Verhältnis zum Kläger aufweise. Der Kläger muß also nicht Adressat der angegriffenen Entscheidung sein, Klagegegenstand können auch die an einen Dritten gerichteten Entscheidungen sein, die den Kläger betreffen. 38 Auf dem Gebiet allgemeiner Entscheidungen und Empfehlungen ist die Klagebefugnis der Unternehmen und Verbände stark eingeschränkt. 39 Angreifbar sind nur allgemeine Entscheidungen oder Empfehlungen, die nach Ansicht der Kläger einen Ermessensmißbrauch ihnen gegenüber darstellen. Die Feststellung, daß die angegriffene Entscheidung oder Empfehlung allgemeinen Charakters ist, hat somit zur Folge, daß dem Kläger lediglich das moyen des derournement de pouvoir leur egard zur Seite steht. 4o Hier bindet der Vertrag die Zulässigkeit der Klage an den Anfechtungsgrund des Ermessensmißbrauchs. Obwohl nach den Vorstellungen der Delegierten der Mitgliedsstaaten die Klagemöglichkeit Privater beschränkt werden sollte41 , hat der Gerichtshof von Anfang an versucht, diese auszuweiten. Bereits in seinen ersten Urteilen 42 führte er aus, daß es für die Zulässigkeit der Klage ausrei-
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35 Die in Art. 33 EGKSV genannten Verbände können nur Unternehmensverbände i. d. S. sein, den Art. 80 des Vertrages definiert, obwohl Art. 33 EGKSV nicht ausdrucklich auf Art. 80 EGKSV verweist. Art. 80 EGKSV definiert den Begriff "Unternehmen" für den ganzen Vertrag, EuGH, Rs. 7 und 9154 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises/Hohe Behörde), Slg. 1955156, S. 53, 84. 36 Zur Frage des Klagerechts "montanfremder" oder "außenstehender" Verbände siehe Ernst Steindorff, Montanfremde Unternehmen in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: JZ 1953, S. 718 ff. 37 Rs. 7 und 9154 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises 1 Hohe Behörde), Slg. 1955/56, S. 52, 58. 38 EuGH, Rs. 30/59 (Gezamenlijke Steenkolemijnen / Hohe Behörde), Sig. 1961, S. I, 38 ff.; GA RouneT; Schlußantrag Rs. 7 und 9/54 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises / Hohe Behörde), Slg. 1955/56, S. 108, 124; vgl. auch Maurice Lagrange, Est-il recommander d'amender les regles concernant la protection juridique?, in: KSE, Band I, S. 606 ff.; Manfred Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1976, S. 35 ff. 39 EuGH, Rs. 36 - 38/58, 40 und 41/58 (SIMET u. a./ Hohe Behörde), Sig. 1958/59, S. 347 ff. 40 Siehe dazu auch Lagrange, RDP 1954, S. 417; Riese, EuR 1966, S. 24,35 ff. 41 Siehe oben Kapitel I.
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chend sei, wenn der Kläger ausdrücklich einen Ermessensmißbrauch ihm gegenüber behaupte, ebenso wie es für die Zulässigkeit der Klage eines Staates genügen soll, daß dieser sich auf einen der vier in Art. 33 Abs. 1 der Vertrages aufgeführten Klagegründe berufe. 43 In der Rs. FEDECHA~ geht der Gerichtshof davon aus, daß für die Zulässigkeit der Klage das schlüssige Vorbringen der Gründe, aus denen sich nach Ansicht der Klägerin dieser Ermessensmißbrauch ihr gegenüber ergeben soll, genüge. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Klagebefugnis mithin zu bejahen. Ob ein Ermessensmißbrauch tatsächlich vorliegt, prüft der Gerichtshof dann im Rahmen der Hauptsache und nicht schon bei der Frage nach der Zulässigkeit der Klage. 45 Die Behauptung des Ermessensmißbrauchs genügt jedoch nicht, auch die übrigen Klagegründe in das Verfahren einzuführen. 46 In der Rs. Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises47 war dies noch umstritten. Der Generalanwalt Roemer trägt in seinem Schlußantrag vor, daß der Nachweis eines solchen Fehlers den Kläger berechtigen müsse, auch sonstige Mängel zu rügen. Dem Wunsch der Vertragsschließenden, das Klagerecht der Industrie einzudämmen, sei so durchaus Rechnung getragen, da für die Mitgliedsstaaten eine solche Einschränkung nicht gelte. 48 Der Gerichtshof hat dies schließlich abgelehnt: Die Unternehmen sollten sich nicht durch den "Trick" der bloßen Behauptung eines sie betreffenden Ermessensmißbrauchs sämtliche Klagegründe erschließen können. Die Regelung des Art. 33 EGKSV habe eine klare Unterscheidung zwischen individuellen und allgemeinen Entscheidungen eingeführt und im Falle der Klage von Unternehmen die Nichtigkeitserklärung der allgemeinen Entscheidungen auf das Vorliegen eines dem Unternehmen gegenüber begangenen Ermessensmißbrauchs beschränkt. Der Zusatz "unter denselben Bedingungen" könne nicht dazu führen, daß die Unternehmen berechtigt seien, auch die anderen Klagegründe geltend zu machen. 49
VII. Art. 66 § 5 EGKSV, Art. 63 § 2 EGKSV Außer den Mitgliedsstaaten, dem Rat, den Unternehmen und Unternehmens verbänden können in eng begrenzten Sonderfallen andere Beteiligte Klage erheben. 42 EuGH, Rs. 3/54 (ASSIDER/Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 131 ff. und Rs. 4/54 (lSA/Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 198 ff. 43 EuGH, Rs 3/54, (ASSIDERI Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 131, 146. 44 Rs. 8/55, Sig. 1955156, S. 197, 225. 4~ Dieses Prüfungsschema entspricht insoweit dem Vorgehen eines deutschen Verwaltungsgerichts gemäß § 42 Abs. 2 VwGO bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. 46 GA Roemer. Schlußanträge Rs. 36-38/58,40 und 41/58 (SIMET u. a. I Hohe Behörde), Slg. 1958/59, S. 375, 385. 47 Rs. 7 und 9/54, Sig. 1955156, S. 52 ff. 48 GA Roemer. Schlußanträge Rs. 7 und 9/54, Sig. 1955156, S. 105, 116. 49 EuGH, Rs. 8/55 (FEDECHAR/Hohe Behörde), Slg. 1955156, S. 197,226.
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So räumt Art. 66 § 5 EGKSV jedem "unmittelbar Beteiligten" auf dem Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse eine Klagebefugnis ein; Art. 63 § 2 EGKSV gibt den Abnehmern von Montanprodukten (Käufern) in bestimmten Fällen die gleiche Befugnis.
C. Klagefrist Gemäß Art. 33 Abs. 3 ist die Klage einen Monat nach Zustellung oder nach Veröffentlichung der Entscheidung oder Empfehlung zu erheben. In Ergänzung zu Art. 33 Abs. 3 EGKSV ist die Verfahrensordnung des EuGH heranzuziehen 5o, sowie die Anlage II der Verfahrensordnung 51 : Den verschiedenen Klägern werden Entfernungszuschläge von zwei Tagen bis zu einem Monat gewährt. 52
D. Wirkung der Klageerhebung Schon bei der Aussprache am 2. Juli 195(f3 bestand Einigkeit hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung der Klage: Sie sollte nur in Fällen von besonderer Bedeutung zur Anwendung kommen. Dementsprechend wurde der Suspensiveffekt der Klageerhebung ausgeschlossen (Art. 39 Abs. 1 EGKSV), jedoch kann der Gerichtshof oder sein Präsident den Vollzug von Maßnahmen eines Gemeinschaftsorgans aussetzen oder sonstige einstweilige Anordnungen treffen. 54 Dabei ist für den einstweiligen Rechtsschutz die Klageerhebung in der Hauptsache erforderlich und ausreichend. Der Gerichtshof prüft in einem summarischen Verfahren die Zulässigkeit der Klage in der Hauptsache, die Frage der tatsächlichen Zu lässigkeit bleibt dem Endurteil vorbehalten. 55 Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission die Entflechtung eines Firmen-Zusammenschlusses angeordnet hat, haben aufschiebende Wirkung. 56
50 Verfahrensordnung des Gerichtshofes vorn 3. 3. 1959 (VerfO), gültig in der Fassung vorn 19.6.1991, AbI. 1991, Nr. L 176/7, ber. ABI. 1992, Nr. L 33/117, Sartorius 11 Nr. 250. 51 Beschluß über die Verlängerung der Verfahrensfristen mit Rücksicht auf die räumliche Entfernung auf Grund Art. 81 § 2 VerfO (abgedruckt in Sartorius 11, hinter VerfO). 52 Art. I der Anlage 11 der VerfO. 53 Kurzprotokoll der Zusammenkunft der deutschen Delegation mit Mannet in Houjarray am 2. 7. 1950, PAAA. Abt. 11, Band 53, S. 105. 54 Art. 39 Abs. 2 und 3 EGKSV, Art. 83-88 VerfO. 55 Siehe Beschluß in der Rs. 18/57 (Nold / Hohe Behörde), Sig. 1957, S. 247 ff. 56 Art. 66 § 5 Abs. 2 Satz 4 EGKSV.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
E. Klagegründe I. Übernahme der cas d'ouverture Die Mitgliedsstaaten oder der Rat können gemäß Art. 33 Abs. 1 Satz I EGKSV vier Klagegrunde geltend machen: Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm und Ermessensmißbrauch. Diese in Art. 33 EGKSV bezeichneten Fehlerquellen können ohne Schwierigkeiten den klassischen französischen Klagegrunden zugeordnet werden. In einer französischen Note vom 15. Januar 1951, in der der Vertragsentwurf erläutert wird, wurde noch einmal darauf hingewiesen, daß der Art. 33 EGKSV dem recours pour exces de pouvoir nachgebildet ist und die vier cas d'ouverture aus der Tradition des französischen Verwaltungsrechts entwickelt wurden. 57 Bis heute wird der Umfang der vom Conseil d'Etat ausgeübten Rechtskontrolle durch die Klagegründe incompitence, vice de tonne, violation de la loi und ditournement de pouvoir definiert. 58 Zwei der vier Anfechtungsgründe (Unzuständigkeit und Ermessensmißbrauch) tragen dieselbe Bezeichnung wie im französischen Verwaltungsrecht. Der Anfechtungsgrund des "vice de forme" des französischen Rechts und die "violation des formes substantielles" des Rechts der EGKS erfüllen die gleiche Funktion. Wesentliche Formvorschriften sind solche, die der Vertrag für den Erlaß von Entscheidungen vorsieht. 59 Nur der Anfechtungsgrund "Verletzung des Vertrages oder irgendeiner bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm" weicht in seiner Bezeichnung von dem entsprechenden Anfechtungsgrund des französischen Verwaltungsrechts, "violation de la loi", ab. Dies erklärt sich aus den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts: Im nationalen Rahmen bestimmt das Gesetz das Handeln der Verwaltung - für die Gemeinschaft bildet der Vertrag die Rechtsnorm, welche die Tätigkeit der Organe der Gemeinschaft beherrscht und regelt. 60 Der Vertrag ist selbständiges Recht und entspricht im Rahmen der Gemeinschaft den Gesetzen auf inS7 Documents relatifs aux observations des Ministres, Note sur la competence de la Cour de Justice, FJM, Dossier 117, AMG 11/3/1, S. 63. Siehe dazu auch Rapport de la Delegation Fran~aise sur le Traite instituant la CECA, hrsg. vom Ministere des Affaires etrangeres, Paris 1951, S. 35. S8 Andri de Laubadere/Jean-Claude Venezia/l'Ves Gaudemet, Traite de droit administratif, Band I, Paris 1992, S. 470, Rn. 705. S9 EuGH, Rs. 6/54 (Niederlande/ Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 213, 232 f. 60 Die Gründungsverträge werden auch als Verfassung der Europäischen Gemeinschaften bezeichnet: Bleckmann, Europarecht, S. 122, Rn. 243. Richtungweisend EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Sig. 1963, S. I ff.; vgl. dazu Pierre Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, in: Wilhelm Grewe/Hans Rupp/ Hans Schneider (Hrsg.), Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher, Baden-Baden 1981, S. 319 ff.
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nerstaatlicher Ebene. 61 Wie im französischen Verwaltungsrecht die violation de la loi auch die Verletzung von Rechtsverordnungen umfaßt, so kommt die Verletzung irgendeiner bei der Durchführung des Vertrages anzuwendenden Rechtsnorm der Vertrags verletzung gleich. 62 Die Übernahme der vier cas d'ouverture war nicht selbstverständlich. Im Hinblick auf die ursprünglich ablehnende Haltung Frankreichs kann sie als Zugeständnis der übrigen Verhandlungs partner gesehen werden. In der ersten Fassung des Vertragsentwurfs vom 9. November 195(/'3 ist unter Art. 26 die violation de la loi nicht aufgeführt. Schwierigkeiten ergaben sich aus der Definition des Begriffs "loi".64 Ein europäisches Recht im Sinne einer Kodifikation, wie man sie aus den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten kannte, gab es in der Gemeinschaft nicht, als rechtliche Grundlage mußten somit der Gründungsvertrag' selbst und die auf ihm beruhenden Rechtsverordnungen gelten. Ein Rechtsverstoß stellte sich im Gemeinschaftsrecht als Verstoß hiergegen dar. Der Anfechtungsgrund der Vertragsverletzung oder der Verletzung irgendeiner bei der Durchführung des Vertrages anzuwendenden Rechtsnorm sollte dem Anfechtungsgrund der violation de la loi des französischen Verwaltungsrechts entsprechen und wurde terminologisch den Gegebenheiten der Gemeinschaft angepaßt. 65 In der Erörterung des Vertragsentwurfs vom 9. November 1950 gab die französische Delegation zu bedenken, daß der Klagegrund der Vertragsverletzung in den meisten Fällen die "Würdigung der Tatumstände" mit sich bringen müsse. Dies stelle eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Hohen Behörde dar, die das Handeln der Hohen Behörde zu sehr beeinträchtigen würde. 66 Diese Bedenken konnten sich nicht durchsetzen; bereits in dem Vertragsentwurf vom 27. November 1950 wurde die Vertragsverletzung eingeführt. 67
61 Vgl. dazu Heinrich Matthies, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die nationalen Gerichte der Mitgliedsstaaten, in: JZ 1954, S. 305 ff. 62 In der französischen Literatur findet sich immer häufiger der Begriff "violation de regle de droit", da auch Verstöße gegen Verordnungen und gewohnheitsrechtlich oder von der Rechtsprechung entwickelte allgemeine Rechtsgrundsätze von diesem Klagegrund erfaßt werden und sich der Begriff "violation de la loi" als zu eng erweist. Jean Marie Auby/Roland Drago, Traite de contentieux administratif III, Paris 1984, S. 3. 63 Deuxieme Partie Proposition franrraise sur les questions non encore reglees, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 135; Übersetzung der französischen Fassung in die deutsche Sprache, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 279; siehe oben Kapitel I, S. 39. 64 Documents relatifs aux observations des Ministres, Note sur la competence de la Cour deJusticevom 15. 1. 1951, FJM, Dossier 117, AMG 11/3/1, S. 63. 65 Siehe auch Lagrange, RDP 1954, S. 417, 424. 66 Premiere Redaction du Projet de Traite vom 9. 11. 1950, Formulierungen und Statements der französischen Seite - Übersetzung aus dem Französischen, PAAA, Abt. 11, Band 160, S. 163; siehe oben Kapitell, S. 37 f. 67 PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 220.
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11. Bedeutung der Klagegriinde Die vier Fehlertatbestände sind nicht nur im EGKSV die Grundlage der Nichtigkeitsklage, auch in die Römischen Verträge sind sie in dieser Form aufgenommen worden. 68 Die Grenzlinien zwischen den einzelnen Klagegründen sind fließend. 69 Der Vertrag stellt etwa die Kontrolle des Ermessensmißbrauchs als selbständigen Klagegrund neben die Kontrolle der Verfahrens- und Kompetenzbestimmungen und der Einhaltung des materiellen Rechts, doch können auch innerhalb dieser Bestimmungen Ermessensspielräume auftreten, die dann auch einen Mißbrauch dieses Ermessens möglich machen. 7o Die Klagegründe können einzeln oder kumulativ gerügt werden. Der EGKSV schränkt jedoch ihre Geltendmachung (teilweise) ein. Die Unternehmen und Verbände können die allgemeinen Entscheidungen und Empfehlungen nur wegen Ermessensmißbrauch ihnen gegenüber angreifen (Art. 33 Abs. 2 EGKSV).71 Die Beschlüsse der Versammlung und des Rates sind nur wegen Unzuständigkeit oder Verletzung wesentlicher Formvorschriften anfechtbar (Art. 38 Abs. 3 EGKSV).
F. Umfang des richterlichen Nachprüfungsrechts I. Art. 33 Abs. 1 S. 2 EGKSV
Das Bestreben nach einer institutionellen Teilung der Gewalten führte dazu, daß die richterliche Kontrolle durch den Gerichtshof beschränkt wurde. Dies kommt bereits in Art. 31 EGKSV zum Ausdruck, der die Aufgaben des Gerichtshofes auf die Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags und der Durchführungsvorschriften beschränkt; der Gerichtshof als "gardien de l'objectivite".72 Was dies bedeutet, wurde in Art. 33 Abs. 1 Satz 2 EGKSV festgeschrieben. Danach darf der Gerichtshof seine Würdigung auf die sich aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebende Gesamtlage nur in dem Maße erstrecken, wie der Hohen Behörde ein Ermessensmißbrauch vorgeworfen wird oder sie die Bestimmungen des Vertrags offensichtlich verkennt. Der EGKSV unterscheidet zwischen der Feststellung wirtschaftlicher Tatsachen und Umstände 68
Art. 173 E(W)GV; Art. 146 EAGY.
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Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 20.
70 Albert Bleckmann, Zum Ermessensmißbrauch im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Wilhelm Greve / Hans Rupp / Hans Schneider (Hrsg.), Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher, BadenBaden 1981, S. 25 ff. 71 Zu der Ausweitung siehe Riese, EuR 1966, S. 24, 32. 72 Monnet auf dem Treffen mit der deutschen Delegation am 2. 7. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 53, S. 103; siehe oben Kapitell, S. 25.
2. Kap.: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
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und den Schlußfolgerungen, die die Hohe Behörde bei der Würdigung der Gesamtlage zieht. 73 Diese Konstruktion folgt dem gedanklichen Prozeß, den die Hohe Behörde bei Entscheidung über von ihr zu treffende Maßnahmen vollzieht: ,,(al Zunächst trifft sie gewisse tatsächliche Feststellungen auf wirtschaftlichem Gebiet. Etwa im Fall einer Mangellage, daß die Aufträge sich häufen. (b) Sie wertet daraufhin diese wirtschaftlichen Tatsachen nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutsamkeit. Im zitierten Beispiel: Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die Häufung der Aufträge für sich betrachtet ein beachtliches Indiz für das Herannahen einer Mangellage darstellt und nicht nur als Indiz einer bloßen spekulativen Tendenz zu werten ist. (c) Sie fügt die so gewonnene Würdigung der einzelnen Elemente zu einem Gesamtbild zusammen, indem sie die aus den einzelnen wirtschaftlichen Tatsachen und Verhältnissen gezogenen Schlußfolgerungen gegeneinander abwägt. Im obigen Beispiel der Mangellage kommt sie bei der Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis, daß die an sich als beachtliches Indiz zu wertende Auftragshäufung angesichts anderer Erwägungen, etwa ständiger Kapitalausnutzung, trotzdem den Schluß auf eine bevorstehende Mangellage nicht rechtfertigt. Nach der getroffenen Regelung sind die Punkte a) und b) unbegrenzt nachprüfbar; der Punkt c) unterliegt hingegen nur der begrenzten Nachprüfung.,,74
Der Gerichtshof kann also das objektive Vorliegen der die Entscheidung tragenden Tatsachen, die Beurteilung einzelner tatsächlicher Elemente, die von dem beklagten Organ als feststehend angesehen wurden, überprüfen. Dagegen ist ihm die Würdigung der zusammenfassenden Schlüsse, die sich als komplexe ökonomische Werturteile oder häufig auch als Prognose darstellen, verwehrt. 75 Art. 33 Abs. 1 S. 2 EGKSV stellt somit klar, daß der Gerichtshof nicht eine von ihm vorgenommene Beurteilung an die Stelle derjenigen setzen kann, welche die Hohe Behörde vorgenommen hat. Er hat deren Beurteilungen als vorgegebene Tatsache hinzunehmen. 76 Ob eine tatsächliche Annahme, auf welcher der angefochtene Akt beruht, zutrifft, läßt sich notfalls im Wege der Beweisaufnahme verifizieren. Entsprechende Nachprüfungen kann das Gericht vornehmen, da es auch als Tatsacheninstanz tätig werden kann. Die der Hohen Behörde gestellte Aufgabe, aus einer Fülle von Einzeldaten im gegebenen Fall zusammenfassende Schlüsse zu ziehen und auf deren Grundlage lenkend und korrigierend in den Geschehensablauf einzugreifen, soll ihr aus zwei Gründen vorbehalten bleiben: Erstens ist die Hohe Behörde auf Grund der Vorbildung ihrer Mitglieder, der beruflichen Ausrichtung ihres Personals und 73 "Gesamtlage" ist die sachlich durchaus treffende Übersetzung des französischen Wortes "situation". Teilweise findet sich in den deutschen Übersetzungen auch die Formulierung "der auf wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen beruhenden Verhältnisse". Siehe dazu Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, S. 162 f. 74 Ophüls in seinem Brief an Steindorff vom 15. 9. 1951, BA, Nachlaß Hallstein 266, Band 240/241, S. 4. 7S Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 106. 76 Zu den Gründen dieser Regelung siehe Schlußantrag des GA Roemer, Rs. 6/54 (Niederlande/Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 241,258 f.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
des ihr zur Verfügung stehenden Apparats hierzu im allgemeinen befähigter als ein Gericht; zweitens wäre der auch das Gemeinschaftsrecht beherrschende Grundsatz der Gewaltenteilung aufgehoben, wenn der Gerichtshof im breiten Umfang als "Höhere Instanz" fungierte. 77 Setzt der Gerichtshof sich hierüber hinweg, sind aus der Sicht des Vertrages die Grenzen der Rechtskontrolle überschritten. Art. 33 EGKSV versucht dies abzusichern, indem er die oben beispielhaft skizzierten wertenden Erwägungen, die nicht schon selbst vertragswidrigen Inhalts sind, von der richterlichen Nachprüfung ausnimmt. 78
ß. Ausnahmen
Der Grundsatz, daß die Würdigung der Gesamtlage nicht überprüft werden kann, wird in zwei Fällen eingeschränkt:
1. Ermessensmißbrauch
Der Gerichtshof kann die Würdigung der aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage nachprüfen, wenn der Hohen Behörde der Vorwurf gemacht wird, sie habe ihr Ennessen mißbraucht (Art. 33 Abs. 1 EGKSV). Das entspricht der Regelung des französischen Verwaltungsrechts, in welchem ein Gericht im Falle des deroumement de pouvoir unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis hat. 79
2. Offensichtliche Rechtsverletzung
Der Gerichtshof kann die Würdigung der Gesamtlage weiterhin unbeschränkt nachprüfen, wenn in Frage steht, ob die Hohe Behörde die Bestimmungen des Vertrages oder irgendeine bei seiner Durchführung anzuwendende Rechtsnonn offensichtlich verkannt hat (Art. 33 Abs. 1 S. 2 am Ende EGKSV); d. h., die betroffene Nonn gewährt zwar einen gerichtsfreien Beurteilungs- und Handlungsspielraum, dieser wurde aber so eindeutig überschritten, daß es für eine entsprechende Feststellung keiner schwierigen wirtschaftlichen Wertung bedarf. 77 Eine Ausnahmeregelung findet sich in Art. 66 § 5 Abs. 2 S. 3 EGKSV, wonach der EuGH im Rahmen der in dieser Vorschrift vorgesehenen Klagen ,Jm vollen Umfang" darüber zu urteilen hat, ob der erfolgte Zusammenschluß den Charakter eines Zusammenschlusses i. S. d. § 1 des Art. 66 hat. Der EuGH kann hier auch die von der Kommission vorgenommene wirtschaftliche Würdigung überprüfen. 78 Vgl. dazu EuGH, Rs. 15 und 29/59 (Societe Metallurgique de Knutange/Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 9, 28; GA Roemer, Schlußantrag Rs. 6/54 (Niederlande/Hohe Behörde), Slg. 1954/55, S. 244 f.; Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, S. 161. 79 Siehe dazu unten Kapitel 5, Punkt C.I1.
2. Kap.: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
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3. Stellungnahme
Die Rüge des Ennessensmißbrauchs oder der offensichtlichen Verkennung des anwendbaren Rechts erweitert die Nachprüfungsbefugnis des Gerichts in der Regel nicht. Auch hier wird, wie in den anderen in Art. 33 EGKSV vorgesehenen Angriffsmitteln, auf die Feststellung einer Rechtswidrigkeit gezielt. Der Gerichtshof darf den angegriffenen Akt nur aufheben, wenn er ihn für rechtswidrig hält und nicht etwa auch, wenn er ihn für nur unzweckmäßig hält.
G. Rechtsfolgen I. Zurückverweisung
Erklärt der Gerichtshof eine Entscheidung oder Empfehlung der Hohen Behörde für nichtig, so verweist er die Sache an diese zurück (Art. 34 Abs. 1 S. 1 EGKSV). Diese hat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil ergeben (Art. 34 Abs. 1 S. 2 EGKSV). Die Nichtigkeitsklage ist eine Gestaltungs-, keine Feststellungsklage. Das stattgebende Urteil konstatiert nicht eine ohnehin bestehende Nichtigkeit, sondern beseitigt ex tune die Geltung, die auch einem rechtswidrigen Akt zukommt, solange dieser nicht von seinem Urheber oder von dem Gerichtshof aus der Welt geschafft wurde. Fehlerhafte Rechtsakte der Gemeinschaft haben mithin grundsätzlich die Vennutung ihrer Rechtmäßigkeit für sich. sO Dem Gerichtshof wird in der Regel die Befugnis zugestanden, bestimmte Wirkungen einer für nichtig erklärten Entscheidung als fortgeltend zu bezeichnen. Dies insbesondere auch deshalb, weil eine praktische Notwendigkeit für Teilnichtigkeitsurteile besteht. SI Ergreift die Hohe Behörde die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen nicht in angemessener Frist, so kann wegen der Verletzung der in Art. 34 Abs. 1 S. 2 EGKSV festgelegten Verpflichtung gemäß Art. 34 Abs. 2 EGKSVauf Schadensersatz gegen die Hohe Behörde geklagt werden. Der Gerichtshof kann jedoch nicht an Stelle der Hohen Behörde die erforderlichen Entscheidungen treffen, er kann diese auch nicht verpflichten, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen.
80 EuGH, Rs. 7/56 und 3-7/57 (Algera u. a./Hohe Behörde), Slg. 1957, S. 83,126; Ausnahmen sind jedoch denkbar: Im Leitsatz der zitierten Entscheidung stellt das Gericht fest, daß die Rechtswidrigkeit eines begünstigenden Verwaltungsaktes dessen absolute Nichtigkeit nur in außergewöhnlichen Fällen zur Folge hat (S. 83). 81 Siehe dazu Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, S. 302, Rn. 412 f. Daig leitet diese Befugnis auch für das Montanrecht aus der ausdrücklichen Regelung der· Römischen Verträge ab.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
11. Wiedergutmachungspflicht
In Art. 34 EGKSV wird eine Schadensersatzpflicht der Hohen Behörde als Bestandteil einer allgemeinen Folgenbeseitigungspflicht konstituiert. Die Anwendung anderer Bestimmungen über Schadensersatz, insbesondere Art. 40 EGKSV, ist ausgeschlossen. 82
111. Rechtskraft
Gemäß Art. 65 Verfahrensordnung sind Nichtigkeitsurteile des EuGH mit dem Tag der Verkündung unwiderruflich, unanfechtbar und materiell rechtskräftig. Etwas anderes ergibt sich für die Urteile des Gerichts erster Instanz. Hier steht der Rechtsweg an den EuGH offen, soweit es um die Überprüfung von Rechtsfragen geht. 83 Die Aufhebung der Maßnahme wirkt erga omnes. 84 Dies ergibt sich zwingend aus der Tatsache, daß der Gerichtshof den Akt bei Stattgabe aufhebt; ein aufgehobener, nicht mehr existierender Akt kann auch keine Rechtswirkung mehr haben. Eine zweite gegen den aufgehobenen Verwaltungsakt gerichtete Klage wird gegenstandslos. 85 Zu beachten ist, daß die Hohe Behörde, deren Maßnahme der Gerichtshof für nichtig erklärt hat, durch das Nichtigkeitsurteil nicht daran gehindert ist, die gleiche Maßnahme noch einmal zu erlassen. 86
Kapitel 3
Die Nichtigkeitsklage in den Römischen Verträgen Die dem Art. 33 EGKSV nachgebildete Klage ist im EGV in Art. 173, im EAGV in Art. 146 geregelt. Die Klage wird dort nicht als "Nichtigkeitsklage - recours en annulation" bezeichnet, doch herrscht Einvernehmen darüber, daß es sich um den gleichen Klagetypus handelt. Den Art. 174 Abs. 1 EGV und Art. 147 Abs. 1 EAGV wird entnommen, daß diese Klagen die gleiche Funktion wie die in Art. 33 Vgl. dazu Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, S. 303, Rn. 425. Art. 110-123 VerfO i. V. m. Art. 49, 50 EGKS-Satzung; siehe zu den typischen Problembereichen im Rechtsmittelverfahren Bertrand Wägenbaur, Die Prüfungskompetenz des Europäischen Gerichtshofes im Rechtsmittelverfahren, in: EuZW 1995, S. 19 ff. 84 EuGH, Rs. 3/54 (ASSIDER/Hohe Behörde), Slg. 1954/55, S. 131,147. 8S Ebenda, S. 147. 86 Zur materiel1en Rechtskraft siehe: Martin Gutsehe, Die Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Baden-Baden 1985, S. 66 ff. 82
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3. Kap.: Römische Verträge
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EGKSV geregelte Klage erfüllen. 87 Jedoch ergeben sich gegenüber Art. 33 EGKSV einige teils äußerliche, teils substantielle Unterschiede, die hier in einem kurzen Überblick dargestellt werden sollen. Im Gegensatz zum EGKSV, dessen französische Fassung maßgebend ist, sind der EGV und der EAGV in deutscher, französischer, italienischer und niederländischer Sprache abgefaßt, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist (Art. 248 EGV, 225 EAGV). Dadurch verringerte sich das Gewicht der französischen Sprache bei der Auslegung dieser Verträge, was auch auf den Einfluß des französischen Rechts bei der Anwendung der Verträge zurückwirkte. 88
A. Klagegegenstand Die Klage ist zulässig gegen alle Handlungen, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen. 89 Dies bedeutet eine Erweiterung im Vergleich zum Recht der EGKS: Nach dem Montanvertrag kann sich die Nichtigkeitsklage nur gegen Maßnahmen der Kommission richten, die sich als allgemeine Entscheidungen oder individuelle Entscheidungen oder Empfehlungen einordnen lassen (Art. 33 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 EGKSV). Im Art. 189 EGV werden die Handlungsformen aufgezählt, die den Exekutivorganen der Europäischen Gemeinschaften bei der Erfüllung der ihnen vom Vertrag zugewiesenen Aufgaben zur Verfügung stehen: Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen. Art. 189 EGV benennt ihre wesentlichen Merkmale und erkennt die Befugnis, die dort genannten Akte vorzunehmen, dem Rat und der Kommission zu. 90 Art. 173 EGV nimmt jedoch ganz allgemein auf das "Handeln der Kommission" Bezug und ermöglicht damit Nichtigkeitsklagen auch gegen solche Akte, die sich unter keine dieser Kategorien subsumieren lassen.91 87 Da die Regelungen in EG- und EAGV übereinstimmen, soll hier auf die doppelte Zitierweise verzichtet werden. Schon wegen seiner besonderen Bedeutung wird das EG-Recht vorrangig behandelt, auf Vorschriften des EAGV soll nur in Ausnahmefällen verwiesen werden. 88 Dazu genauer unten, Kapitel 7 und 8. 89 EuGH, Rs. 22170 (Kommission/Rat), Sig. 1971, S. 263, 277. 90 Anders der EGKSV, der in Art. 14 nur für die Hohe Behörde eine Typologie der Handlungsformen aufstellt. 91 Verhaltenskodex ist kein zulässiger Klagegegenstand, EuGH, Rs. C-58 /94 (Königreich der Niederlande/Rat), Sig. 1996 I, S. 2169, 2195 f. Nicht mit der Anfechtungsklage angreifbar sind auch Empfehlungen oder Stellungnahmen; zuletzt zur Zulässigkeit der Klage des Vereinigten Königreichs gegen die Ankündigung der Kommission, sie beabsichtige die Aufhebung eines Ausfuhrverbotes, EuGH, Rs. C-180 / 96 (Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland / Kommission), Sig. 1998 I, S. 2265, 2279 f. Siehe zu dieser Frage auch Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 8. Gleichfalls nicht zulässig sind Klagen gegen die Gründungsverträge: zuletzt EuGH, Rs. C264/94P (Bonnamy/Rat), EuZW 1995, S. 253 und EuGH, Rs. C-253/94P (Roujansky/
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
Was die Klage gegen den Rat betrifft, so stimmen alle drei Verträge insofern überein, als sowohl der Begriff "Beschlüsse" (Art. 38 EGKSV) als auch der Ausdruck "Handeln" (Art. 173 EGV, Art. 146 EAGV) offenbar sämtliche rechtlich bindenden Maßnahmen des Rates abdecken sollen. 92 Für die Frage, ob einer Maßnahme Rechtswirkungen zukommen, ist nicht auf die formelle Bezeichnung abzustellen, sondern vielmehr auf die nach außen gerichtete Verbindlichkeit der Maßnahme 93 : Erfaßt sind damit Willensbekundungen von einer gewissen Selbständigkeit, Förmlichkeit und Endgültigkeit. 94 Umstritten ist die Wirksamkeit solcher Handlungen, für deren Vornahme dem Handelnden die Zuständigkeit95 oder sonstige Befugnis fehlt. 96 Nach Auffassung des EuGH ist nur ein Rechtsakt, der mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet ist, als rechtlich nicht existent zu betrachten. 97 Die rechtliche Inexistenz führt dann zur Abweisung der Klage als unzulässig, da rechtlich keine rekursfahige Entscheidung vorliegt. Der Beklagte hat jedoch die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 98
Rat), EuZW 1995, S. 588. Der EuGH bestätigt hier die Argumentation des EuG, daß der EUV keine Handlung ist, deren Rechtsmäßigkeit gerichtlich überprüft werden kann. Jedoch hat der EuGH die Nichtigkeitsklage der Französischen Republik gegen die Handlung, mit der die Kommission der EG das Abkommen mit den USA über die Anwendung der Wettbewerbsgesetze schließen wollte, für zulässig und begründet erachtet und die Handlung für nichtig erklärt, EuGH, Rs. C-327 / 91 (Frankreich / Kommission), EuZW 1994, S. 566 ff. In der Rs. C-122195 (Bundesrepublik Deutschland/Rat), Slg. 1998 I, S. 973 ff., Rn. 41 f. hat der Gerichtshof die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen den Beschluß des Rates, ein völkerrechtliches Abkommen zu schließen, noch einmal ausdrücklich betont. 92 EuGH, Rs. 22/70 (Kommission/Rat), Slg. 1971, S. 263, 277; EuGH, Rs. C-213/88 (Großherzogtum Luxemburg/Europäisches Parlament), Slg. 1991 I, S. 5643, 5696; Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 74, Rn. 140. Siehe zur Zuständigkeit des Gerichtshofes auch EuGH, Rs. C-170 / 96 (Kommission / Rat), Slg. 1998 I, S. 2763, 2787 f., Rn. 12-18. 93 Wenig in: Grabitz-Kom., Art. 173, Rn. 12; GA Lenz, Schlußantrag Rs. 114/86 (Vereinigtes Königreich / Kommission), Slg. 1988, S. 5300, 5302 ff. Siehe auch EuGH, Rs. C-57/ 95 (Französische Republik/Kommission), Slg. 1997 I, S. 1627 ff., 1647. 94 Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 75, Rn. 143 ff.; zu der Frage, ob ein Rechtsakt des Rates vorliegt oder ein von den Mitgliedsstaaten kollektiv erlassener Rechtsakt, der nicht mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar ist, siehe EuGH, Rs. C-181 und C248/91 (Parlament/Rat) in: Waldemar Hummer/Bruno Simma/Christoph Vedder/Frank Emmert, Europarecht in Fällen, Baden-Baden 1994, S. 273. 9S Grundsätzlich können die Gemeinschaftsorgane ihre Handlungsvollmachten auch delegieren, vgl. Hummer in: Grabitz-Kom., Art. 155, Rn. 46. 96 Siehe dazu Wenig in: Grabitz-Kom., Art. 173, Rn. 8. 97 EuGH, Rs. 15/85 (Consorzio Cooperative d'Abruzzo/Kommission), Slg. 1987, S. 1005, 1036; vgl. dazu auch EuG, Rs. T-79, 84 -86,89,91 f., 94, 96, 98, 102 und 104/89 (BASF u. a./ Kommission), EuZW 1992, S. 607 ff. 98 Ebenda, S. 607 ff., siehe dazu auch Claudia Annacker, Die Inexistenz als Angriffs- und Verteidigungsmittel vor dem Europäischen Gerichtshof, in: EuZW 1995, S. 755 ff.
3. Kap.: Römische Verträge
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Ursprünglich war die Nichtigkeitsklage im EWGV nur gegen Handlungen des Rates oder der Kommission und - anders als nach Art. 38 EGKSV - nicht gegen Akte anderer Gemeinschaftsorgane eröffnet. Bereits im Jahre 1986 hat der EuGH in der Sache Les verts die Passivlegitimation des Europäischen Parlaments auch im Rahmen des Art. 173 EWGV bejaht. 99 Der EuGH begründete dies mit der Systematik der Verträge unter Hinweis auf den EGKSV und der Ausweitung der Befugnisse des Parlaments: Ursprünglich nur als Beratungs- und Kontrollorgan eingerichtet, habe das Europäische Parlament inzwischen so weitgehende Befugnisse, etwa im Haushaltsrecht, daß eine dementsprechende Kontrolle des Handeins des Parlaments gewährleistet sein müsse. 1OO Inzwischen wurde die Passivlegitimation des Parlaments im Rahmen der Änderungen durch den EUV in die Römischen Verträge aufgenommen.
B. Klagebefugnis I. Klagen gegen die Kommission Klagen gegen die Kommission können nach dem EGKS- wie nach dem EGRecht vom Rat und von den Mitgliedsstaaten erhoben werden. 101 Für die übrigen Klageberechtigten wird differenziert: Art. 33 EGKSV nennt ausschließlich Unternehmen und Unternehmensverbände, während Art. 173 EGV von "natürlichen und juristischen Personen" spricht. 102 Der Begriff der juristischen Person hat im Gemeinschaftsrecht eigenständige Bedeutung, die nicht notwendigerweise mit den Begriffen übereinstimmt, die in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten verwendet werden. 103 Juristische Personen i. S. d. Gemeinschaftsrechts sind diejenigen Körperschaften, Verbände, Kapitalgesellschaften usw. des öffentlichen und privaten Rechts, denen die nationale Rechtsordnung, der sie unterstehen, den Status der Rechtspersönlichkeit verliehen hat. 104 Somit kann nur Rs. 294/83, Slg. 1986, S. 1339, 1366. Siehe Schlußantrag des GA Mancini, Slg. 1986, S. 1339, 1351 und EuGH, Rs. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, S. 2155, 2202. 101 Der EuGH ist nicht zuständig für Klagen von Gliedstaaten: EuGH, Rs. C-95/97 (Wallonische Region / Kommission), Slg. 1997 I, S. 1787 ff., 1790 - 1794. 102 Unklar bleibt, ob die Aktivlegitimation durch diese allgemeine Formulierung erweitert werden sollte oder ob davon ausgegangen wurde, daß hier, wie im EGKS-Recht, aus dem Kreis der "Privaten" praktisch nur Unternehmen und Unternehmensverbände von den Entscheidungen der Kommission in der Weise betroffen werden, die ein Klagerecht auslöst. Inzwischen hat sich gezeigt, daß auch "sonstige" Privatpersonen von Akten der Kommission "unmittelbar und individuell" betroffen sein können und es faktisch zu einer Erweiterung der Klagebefugnis gekommen ist. 103 EuGH, Rs. 135/81 (Groupement des Agences de Voyages/Kommission), Slg. 1982, S. 3799, 3808. 104 Wenig in: Grabitz-Kom., Art. 173, Rn. 52. 99
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
derjenige als Kläger auftreten, der nach den Bestimmungen seines Heimatstaates rechts- oder jedenfalls partei fähig ist. 105 Das Klagerecht hängt nicht davon ab, ob der Kläger seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat hat. 106
11. Klagen gegen den Rat Klagen gegen den Rat können nach EGKS-Recht nur von den Mitgliedsstaaten 107 und der Kommission erhoben werden, gemäß Art. 173 EGV hingegen auch von natürlichen und juristischen Personen. Die EGKS ist, wie es auch aus dem durch den Fusionsvertrag gestrichenen Art. 9 a zum Ausdruck kam, supranational in dem Sinne, daß die Hohe Behörde bzw. Kommission das Hauptrechtssetzungsorgan der Gemeinschaft ist. EAG und EG weichen von diesem institutionellen Vorbild ab. Hier ist das Hauptrechtssetzungsorgan der Rat, während der Kommission neben Durchführungsbefugnissen das sogenannte Initiativrecht zukommt. 108
111. Klagebefugnis Privater Die Klagebefugnis Privater ist gegenüber derjenigen der Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaftsorgane bei nichtindividuellen Entscheidungen schon im EGKSRecht begrenzt: ,.Allgemeine Entscheidungen" können gemäß Art. 33 Abs. 2 EGKSV von Privatpersonen nur dann erfolgreich angefochten werden, wenn sie "ihnen gegenüber einen Ermessensmißbrauch darstellen". Gemäß Art. 173 Abs. 2 EGV haben natürliche und juristische Personen gegen Verordnungen prinzipiell kein Klagerecht 109 ; sie können lediglich eine "als Verordnung ergangene" Ent105 Siehe dazu auch Klaus Koch, Die Klagebefugnis Privater gegenüber Europäischen Entscheidungen gemäß Art. 173 Abs. 2 EWG-Vertrag, Frankfurt a. M., Bern 1990, S. 221 ff. 106 2 Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 39; dies ist insbesondere im Wettbewerbsrecht von Bedeutung. 107 Die Klagebefugnis des Mitgliedsstaates hängt nicht von der Haltung ab, die die im Rat versammelten Vertreter des Staates bei der Annahme der fraglichen Maßnahme eingenommen haben, EuGH, Rs. 166/78 (Italien/Rat), Sig. 1979, S. 2575, 2596. Zur Abstimmung im Rat als Klagegegenstand, EuGH, Rs. C-25/94 (Kommission/Rat), Sig. 1996 I, S. 1469 ff., 1504-1508. 108 Streinz. Europarecht, S. 8. 109 Ausdrücklich EuGH, Rs. C-15/91 und 108/91 (Geflügelschlachterei/Kommission), EuZW 1993, S. 415. Zu den Ausnahmen im Antidumpingverfahren siehe die Entscheidungen des EuGH in den Rs. C-171 f., 174-178/87. In einer Serie von neun Urteilen hat der Gerichtshof die Klagen japanischer Ausfuhrunternehmen gegen die Antidumpingverordnung des Rates bzw. die Entscheidung der Kommission abgewiesen. Zu der Zulässigkeit wiederholt der Gerichtshof seine Auffassung, wonach Unternehmen Antidumpingverordnungen nur hinsichtlich des sie unmittelbar betreffenden Teils und nicht in ihrer Gesamtheit anfechten können. Siehe Be-
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scheidung angreifen, wenn diese sie unmittelbar und individuell betrifft. 110 Wie bereits festgestellt 111 , hat die Bezeichnung einer Rechtshandlung für ihre Anfechtbarkeit keine Bedeutung. Die Wahl der Form kann die Rechtsnatur einer Handlung nicht ändern. Dadurch wird verhindert, daß ein Gemeinschaftsorgan allein durch die Formwahl die Klage eines einzelnen ausschließt. 112 Eine Entscheidung, die als Verordnung ergangen ist, bleibt eine Entscheidung. l13 Die in einem solchen Fall zulässige Klage eröffnet daher nicht den Rechtsschutz gegen Verordnungen. Eine Verordnung verliert ihren allgemeinen Charakter jedoch nicht schon dadurch, daß sich der Personenkreis, auf den sie zu einem bestimmten Zeitpunkt anwendbar ist, der Zahl nach oder sogar namentlich bestimmen läßt. 114 Auch Art. 33 EGKSVenthält eine weitreichende Beschränkung des Klagerechts von Privatpersonen. Durch den Ausschluß der drei Klagegründe Unzuständigkeit, Formverletzung, Verletzung des Vertrags ll5 beschränkt Art. 33 EGKSV die Klagebefugnis auf die Geltendmachung des Ermessensmißbrauches, einen Fehlertatbestand, der im Gemeinschaftsrecht ein besonders enges Anwendungsfeld hat und in der Regel am schwersten zu beweisen iSt. 116 Eine zusätzliche Beschränkung ergibt sich daraus, daß der Ermessensmißbrauch dem Kläger gegenüber vorliegen muß. Teilweise wird angenommen, daß ein solcher nur dann vorliegt, wenn die Hohe Behörde (Kommission) das Ziel verfolgte, dem Kläger einen Nachteil zuzufügen, es sich also im Grunde um eine getarnte individuelle Entscheidung handelt. 117 Dieser Sachverhalt würde nach EG-Recht unter den Tatbestand der als Verordnung ergangenen, den Kläger unmittelbar und individuell betreffenden Entscheidung fallen und somit hier ebenfalls ein Klagerecht begründen. Ein solches Recht entsteht gemäß Art. 173 EGVauch dann, wenn der als Verordnung deklarierte Akt gar nicht auf den einzelnen Marktbürger zielt, also nicht mit Ermessensmißbrauch ihm gegenüber behaftet ist, sondern sich unabhängig von der Intention des handelnden Organs ergibt, daß dieser Bürger von dem Akt oder von einzelnen seiner Bestimmungen individuell und unmittelbar betroffen ist. Folglich gestattet Art. 173 EGV dem Kläger die Berufung auf alle vier Klagegründe und erweist sich in diesem Punkt als großzügiger als das EGKS-Recht. 118 sprechung der Urteile von Fritz-Harald Wenig, Neue Entwicklungen in der Antidumpingrechtsprechung, in: EuZW 1992, S. 279 ff. 110 Zur Abgrenzung siehe EuCH, Rs. C-87/95 P (CNPAAP/Rat), Slg. 1996 I, S. 2003 ff., 2015 ff. 111 Siehe dazu oben, Punkt 3.A. 112 Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, S. 94, Rn. 119; dazu auch Bleckmann, Festschrift für Menger, S. 871, 873. 113 EuCH, Rs. 100174 (CAM/ Kommission), Slg. 1975, S. 1393,1403. 114 EuCH, Rs. C-15/91 und 108/91 (Getlügelschlachterei/Kommission), EuZW 1993, S.415ff. 115 EuCH, Rs. 8/55 (FEDECHAR/Kommission), Slg. 1955156, S. 197,226. 116 Daig in: GTE-Kom., 3. Autl., Art. 173, Rn. 6. 117 Ebenda, Rn. 6.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
Im Montanrecht ist dagegen die Anfechtung eines Individualakts einfacher. Wie sich aus dem französischen Text von Art. 33 Abs. 2 EGKSV ergibt, der von "Ies decisions et recommandations individuelles les concemant" spricht, hängt das Klagerecht der Unternehmen und Verbände gegen Handlungen der Kommission davon ab, ob der private Kläger von der individuellen Entscheidung überhaupt betroffen ist. Die deutsche Übersetzung "gegen die sie individuell betreffende Entscheidung und Empfehlungen" wird von einigen Seiten als falsch angesehen 1l9, da es im Gegensatz zu Art. 173 Abs. 2 EGV nur auf die individuelle Natur des Rechtsaktes, nicht auf individuelles Betroffensein ankomme. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß der EGV, über die entsprechende Formulierung im EGKSV hinaus, ein unmittelbares Betroffensein fordert. Richtet sich die "individuelle Entscheidung" des EGKS-Rechts oder die ,,Entscheidung" des EG- bzw. EAG-Rechts direkt an einen Privaten, so sind die Rechtsschutzmöglichkeiten in den Verträgen gleich: Der Betroffene hat ein Klagerecht. Die Klagebefugnis ergibt sich uneingeschränkt aus seiner AdressatensteIlung. 120 Anders ist es in dem Fall, in dem ein Privater einen individuellen Rechtsakt angreifen will, der sich an eine andere Person wendet. 121 Der Kläger muß für eine Klagebefugnis nach Art. 173 Abs. 2 EGV schlüssig darlegen, daß er durch die angegriffene Maßnahme unmittelbar und individuell betroffen ist. 122 Es kommt demnach darauf an, ob die Beeinträchtigung durch den Erlaß der Entscheidung ohne Dazwischentreten von weiteren Durchführungsmaßnahmen eingetreten ist 123 und ob sie den Kläger speziell oder lediglich in seiner Eigenschaft als Angehöriger einer bestimmten Gruppe trifft. 124 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist deIjenige, der nicht Adressat einer Maßnahme ist, nur dann von ihr individuell betroffen, wenn die Maßnahme ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten. 125 Krück in: GlE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 44. Siehe dazu bereits oben Punkt 2.B.VI. 120 EuGH, Rs. 193 und 194/87 (Maurissen u. a.lRechnungshof), Slg. 1989, S. 1045, 1078; anders das Urteil des Gerichtshofes in der Rs. C-180/96 (Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Kommission), Sig. 1998 I, S. 2265. 121 Die Frage der Zulässigkeit von Konkurrentenklagen im Beihilfeverfahren wurde im Cofaz-Urteil von 1986 grundSätzlich bejaht, EuGH, Rs. 169/84, Slg. 1986, S. 391,414 ff. 122 Zuerst EuGH, Rs. 25/62 (Plaumannl Kommission), Sig. 1963, S. 211, 238. 123 Krück in: GlE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 48 ff.; Wenig in: Grabitz-Kom., Art. 173, Rn. 58. 124 Dazu Krück in: GlE-Kom., 4. Aufl., Art. 173, Rn. 57. 125 EuGH, Rs. 25/62 (Plaumann 1 Kommission), Sig. 1963, S. 213, 238; Rs. 11/82 (Piraiki-Patraiki 1Kommission), Sig. 1985, S. 207, 242 f. In dem Beschluß vom 21. 6. 1993 hat der EuGH die Nichtigkeitsklage gegen die Bananenverordnung mehrerer betroffener Bananenimporteure mangels unmittelbarer und individueller Betroffenheit als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung führte er aus, daß allein der Umstand, daß sich diejenigen Personen, auf die die Maßnahme anwendbar ist, mehr oder weniger genau der Zahl nach oder namentlich 118
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3. Kap.: Römische Verträge
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Im EGKS-Recht ist es ausreichend, wenn der Kläger durch die Entscheidung irgendwie in seinen Rechten oder Interessen beeinträchtigt wird oder werden kann. Dementsprechend gab der Gerichtshof der Klage eines niederländischen Bergbauunternehmers wegen der Weigerung der Hohen Behörde statt, gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Einführung und Aufrechterhaltung einer verbotenen Subventionierung des deutschen Bergbaus vorzugehen. 126 Im EG-Bereich würde eine vergleichbare Klage schon daran scheitern, daß der Kläger nicht individuell betroffen ist, sondern als einer von mehreren im Wettbewerb mit den Begünstigten stehenden Produzenten. Großzügig ist der Gerichtshof bei der Frage der unmittelbaren Betroffenheit. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein einzelner unmittelbar betroffen, wenn die beanstandete Maßnahme der Gemeinschaft sich auf seine Rechtsstellung unmittelbar auswirkt oder ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum läßt, ihr Erlaß vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne daß weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden. 127 Das gleiche gilt, wenn für die Adressaten nur eine rein theoretische Möglichkeit besteht, dem Gemeinschaftsakt nicht nachzukommen, weil ihr Wille, diesem Akt zu folgen, keinem Zweifel unterliegt. 128 Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die Individualklage gegen Richtlinien allgemein als unzulässig erachtet wird. Der Rechtsschutz des einzelnen gegen Richtlinienbestimmungen ist von den nationalen Gerichten zu sichern, die die Umsetzung der Richtlinien in das innerstaatliche Recht kontrollieren. 129 bestimmen lassen, für die Bejahung einer individuellen Betroffenheit nicht ausreichen kann (Rs. C-286/93, EuZW 1993, S. 486 f.). Zur Klagebefugnis von Arbeitnehmervertretem gegen Fusionskontrollentscheidungen siehe EuG, Rs. T-12/93 (CCE Vittel u. a./Kommission), EuZW 1995, S. 677 ff. 126 EuGH, Rs. 30/59 (Gezarnenlijke Steenkolenmijnen / Hohe Behörde), Sig. 1961, S. I, 39. Da die angefochtene Entscheidung somit individuell ist und den Kläger betrifft, ist dieser zur Klageerhebung befugt. 127 Dazu EuGH, Rs. C-404/96 P (Glencore Grain Ltd./Kommission), Sig. 1998 I, S. 2435,2454 ff.; Rs. C-403/96 P (Glencore Grain Ltd./Kommission), Sig. 1998 I, S. 2405, 2428 ff.; Rs. C-391/96 P (Companie Continentale SA/Kommission), Sig. 1998 I, S. 2377, 2497 ff. und Rs. C-386/96 P (Societe Louis Dreyfus&Cie./ Kommission), Sig. 1998 I, S. 2309, 2370 ff. In diesem Sinne insbesondere auch die älteren Urteile des EuGH, siehe Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission), Sig. 1979, S. 777, Rn. 25 f. 128 EuGH, Verbundene Rs. C-68/94 und Rs. C-30 /95 (Französische Republik u. a./ Kommission), Sig. 1998 I, S. 1375 ff., Rn. 51 und Rs. C-404/96 P (Glencore Grain Ltd.! Kommission), Sig. 1998 I, S. 2435, 2454 ff., Rn. 42. Zur unmittelbaren Betroffenheit siehe auch die Urteile des Gerichtshofes aus dem Jahr 1996 in Rs. C-270/95 P (Christina Kik/Rat und Kommission), Sig. 1996 I, S. 1987, 19931995; Rs. C-209/94 P (Buralux SA u. a./Rat), Sig. 1996 I, S. 615, 646 sowie den Schlußantrag des Generalanwalts Lenz in dieser Rs., Sig. 1996 I, S. 615 f. 129 EuG, Rs. T-99/94 (Asocarne/Rat), EuZW 1995, S. 254 ff. 6 Drewes
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
IV. Klagen des Parlaments Die Befugnis des Europäischen Parlaments, vor dem EuGH zu klagen, hat dieser noch in einer Entscheidung aus dem Jahre 1988 verneint. 130 Er bezog sich dabei jedoch ausdrücklich auf den "gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts" und schloß eine Erweiterung der Klagebefugnis für die Zukunft nicht aus. Im Rahmen der Änderungen durch den EUV wurde als möglicher Kläger das Europäische Parlament unter der Voraussetzung des Klageziels "Wahrung seiner Rechte" ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen. 131
C. Klagefrist Die in Art. 173 EGV vorgesehenen Klagen sind gemäß Abs. 5 dieser Vorschrift binnen zwei Monaten zu erheben. Die Frist beginnt je nach Lage des Falls l32 entweder mit der Bekanntgabe des Rechtsakts 133 , seiner Mitteilung an den Betroffenen oder, soweit diese nicht erfolgte, mit Kenntniserlangung. 134 Die Klagefrist ist einen Monat länger als bei Nichtigkeitsklagen nach dem Montanrecht. Der Grund für diese unterschiedliche Regelung dürfte darin liegen, daß die kurze Monatsfrist von Anfang an kritisiert wurde. 135 Richtet sich eine Klage EuGH, Rs. 377/87 (Parlament/Rat), NJW 1989, S. 2188. Art. 173 Abs. 3 EGV, 146 Abs. 3 EAGY. Siehe zur Klagebefugnis des Parlaments wegen Verletzung seines Rechts auf Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren: EuGH, Rs. 21/94 130
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(Parlament/Rat), EuZW 1995, S. 767. 132 Zu der Rechtsprechung des Gerichthofs auf dem Gebiet der Klagefristen siehe C/ausMichael Happe, Lauf und Berechnung der Fristen bei Anfechtungen vor dem Europäischen Gerichtshof, in: EuZW 1992, S. 297 ff. 133 Art. 81 § I VerfO konkretisiert Art. 173 Abs. 5 EGV. Siehe auch EuGH, Rs. C-122/95 (Bundesrepublik Deutschland / Rat), Sig. 1998 I, S. 973, Rn. 34 - 39. 134 Z. B. eine Einzelfallentscheidung, die lediglich durch Zustellung an den Adressaten bekannt gemacht zu werden brauchte, aber auch Dritte betrifft und, wegen ihres individuellen Charakters, auch von dem Dritten angefochten werden kann. Im EGKS-Recht ist dieser Fall nicht ausdrücklich geregelt, i. d. R. wird eine analoge Anwendung des EG-Rechts bejaht. Siehe auch das Urteil des EuGH in der Rs. C-309/95 (Kommission / Rat), Sig. 1998 I, S. 655 ff., Rn. 13-23. l3S Schon bei den Verhandlungen zum Montanvertrag versuchte die italienische Delegation, eine längere Frist durchzusetzen: Stellungnahmen der nationalen Vertreter zu den einzelnen Vertragsartikeln vom 30.11. 1950, PAAA, Abt. 11, Band 162, S. 177; dazu oben Kapitel I. S. 45. Siehe auch 0110 Riese, Über den Rechtsschutz innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1966, S. 24, 40; Heinrich Mallhies, Empfiehlt es sich, die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts über den Rechtsschutz zu ändern oder zu ergänzen?, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I, Essen 1966, S. G 59; Carl-Hermann Ule, Empfiehlt es sich, die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts über den Rechtsschutz zu ändern oder zu ergänzen?, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I, Essen 1966, Teil 4, S. 1,22.
3. Kap.: Römische Verträge
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gegen einen Akt, der alle drei Verträge bzw. Gemeinschaften betrifft, so ist die für den Kläger günstigere Frist der Verträge von Rom zugrunde zu legen. In den sogenannten Reisebüro-Urteilen aus den Jahren 1992 136 hat der EuGH klargestellt, daß nach Ablauf der Zweimonatsfrist die Nichtigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht nicht mehr geltend gemacht werden kann. Eine Ausnahme besteht nur ftir Klagen "nichtprivilegierter" Klagebefugter, die mangels Kenntniserlangung nicht innerhalb der Frist klagen konnten. Es wird dem Kläger aber zugemutet, daß er binnen einer angemessenen Frist den vollständigen Wortlaut der fraglichen Maßnahme anfordert. 137
D. Klagegründe Ebenso wie im EGKS-Recht können nach EG- und EAG-Recht vier Klagegründe geltend gemacht werden, nämlich Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchftihrung anzuwendenden Rechtsnorm und Ermessensmißbrauch. Wie im EGKS-Recht haben diese Klagegründe über ihre prozessuale Bedeutung hinaus die Funktion materieller Kontrollrnaßstäbe der Rechtmäßigkeitsüberprüfung. Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn der angefochtene Akt mit einem oder mehreren Mängeln behaftet ist. 138
E. Umfang der richterlichen Prufungsbefugnis Im EG-Vertrag ist die Prüfungsbefugnis allgemein in Art. 164 geregelt, danach sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags. 139 Dem Gerichtshof kommen somit keine politischen Gestaltungsbefugnisse zu, sondern er hat lediglich die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die politischen Organe zu kontrollieren. 140 Daher muß er bei der Ausübung dieser Kontrollbefugnis eine gewisse Zurückhaltung üben, um 136 Rs. C 74/91 (Kommission / Bundesrepublik), in: Hummer / Simma, Europarecht, S.276. 137 EuGH, Rs. C-48/96 P (Windpark Groothusen GmbH & Co. Betriebs KG/Kommission), Sig. 1998 I, S. 2873, 2907 und Rs. C-309/95 (Kommission/Rat), Sig. 1998 I, S. 655 ff. 138 Eine Ausnahme gilt lediglich bei Klagen von Privaten gegen "allgemeine Entscheidungen" des EGKS-Rechts; siehe dazu oben Kapitel 2, Punkt 2.B.VI. 139 Diese Regelung entspricht Art. 31 EGKSV, der jedoch die Durchftihrungsvorschriften ausdrücklich einbezieht. 140 Dazu Michael Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Köln 1997, insbes. S. 321 ff.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
nicht in das ,,normausfüllende und damit interpretierende Gestaltungsermessen der hierzu berufenen Stellen" einzugreifen. 141 Art. 33 Abs. 1 EGKSV macht den Versuch, diese Grenzen ausdrücklich zu markieren. In den EG- und EAG-Verträgen hingegen fehlt eine entsprechende Vorschrift. Aus der Nichtaufnahme kann indes nicht gefolgert werden, daß die Überlegungen zu Art. 33 EGKSV keine Gültigkeit beanspruchen können. Dies um so weniger, als Art. 173 EGV betont, der EuGH habe (nur) die Rechtmäßigkeit des HandeIns von Rat und Kommission zu überwachen, und somit in Erinnerung ruft, daß er auch im EG-Bereich nur der Hüter des Rechts sein soll und nicht etwa die Zweckmäßigkeit oder die ökonomische Berechtigung einer Maßnahme überprüfen kann. 142 Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben oftmals komplexe Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte anzustellen hat, kommt die Rechtsprechung auch für die EG zu dem Schluß, daß die europäischen Gerichte derartige Wertungen nicht in Frage stellen dürfen. Sie hätten sich vielmehr auf die Prüfung der Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts zu beschränken. Der Richter dürfe nicht die Beurteilung, zu der die handelnde Behörde gekommen ist, durch seine eigene ersetzen. Die richterliche Nachprüfung dürfe sich nur auf die Begründung der Entscheidung erstrecken, aus der hervorgehen müsse, auf welche Tatsachen und Erwägungen sich jene Wertungen stützten. 143 Der EuGH hebt immer wieder den weiten Entscheidungsspielraum der Kommission hervor, von dem allerdings nach Maßgabe der Gemeinschaftsziele Gebrauch zu machen sei. 144 Nunmehr hat sich die folgende Formel durchgesetzt: Die Exekutive verfügt bei der Beurteilung eines komplexen wirtschaftlichen Sachverhalts über einen weiten Ermessensspielraum; der Richter kann insoweit nur nachprüfen, ob den handelnden Organen ein offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmißbrauch unterlaufen ist oder die Grenzen jenes Spielraums offensichtlich überschritten wurden. 14S Der Unterschied zu Art. 33 Abs. 1 EGKSV liegt vor allem darin, daß dem EuGH im Rahmen der allgemein anerkannten Aufgabenverteilung zwischen Exekutive 141 Brigitta Varadinek, Ermessen und gerichtliche Nachprütbarkeit im französischen und deutschen Verwaltungsrecht und im Recht der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 1993, S. 210. Siehe auch EuGH, Rs. C-303/96 P (Giorgio BemardilEuropäisches Parlament), Sig. 1997 I, S. 1239, 1256. 142 Dieses Zurückhaltungsgebot wird in der Regel damit umschrieben, daß der EuGH die Rechtmäßigkeit, nicht jedoch die Zweckmäßigkeit oder Billigkeit überprüfen darf. Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., An. 173, Rn. 107; siehe auch Varadinek. Ermessen und gerichtliche Nachprütbarkeit, S. 210 ff. 143 EuGH. Rs. 56 und 58/64 (Grundig 1Kommission), Sig. 1966, S. 321, 396. 144 EuGH. Rs. 1/69 (Italien 1 Kommission), Sig. 1969, S. 277. 284; Rs. 55/75 (BalkanImpon-Expon/Hauptzollamt Berlin) Sig. 1976, S. 19.30. 14' EuGH. Rs. 55/75 (Balkan-Impon-Expon/Hauptzollamt Berlin), Sig. 1976, S. 19,30; ähnlich schon EuGH. Rs. 7/75 (Deuka 1Einfuhr- und Vorratsstelle), Sig. 1975, S. 759, 770.
3. Kap.: Römische Verträge
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und Rechtsprechung ein nicht näher determinierter Einschätzungsspielraum verbleibt, wo er die Scheidelinie zwischen überprüfbaren und unüberprüfbaren Entscheidungselementen ziehen will. Diese Grenzziehung wird nicht mehr generell davon abhängig gemacht, welcher Angriffsmittel sich der Kläger bedient. Dadurch wird eine stärkere Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls ermöglicht. Schließlich hängt der Umfang der Kontrollbefugnis des Gerichtshofes nicht mehr davon ab, ob der Kläger sich auf schlichte oder auf offensichtliche Vertragsverletzungen beruft; dies erscheint sinnvoll, da Anfechtungskläger ohnehin dazu neigen, die von ihnen gerügten Rechtsverstöße als offensichtlich hinzustellen.
F. Rechtsfolge Die Rechtsfolgen des Nichtigkeitsurteils nach Art. 173 EGVentsprechen denen des Art. 33 EGKSV. Gemäß Art. 174 EGV erklärt der Gerichtshof die angegriffene Maßnahme für nichtig. Die Römischen Verträge verzichten jedoch auf eine ausdrückliche Zurückverweisung. 146 Diese Vorschrift hat sich als überflüssig erwiesen, da die Tätigkeit des Gerichtshofes mit dem die Nichtigkeitserklärung enthaltenden Urteil beendet ist, und es nunmehr gemäß Art. 176 Abs. 1 EGV dem Organ, dessen Maßnahmen für nichtig erklärt wurden, obliegt, die sich aus dem Urteil des Gerichthofes ergebenden Maßn'ahmen zu ergreifen. 147 Das EuG hat kürzlich nochmals darauf hingewiesen, daß die europäischen Gerichte nicht befugt sind, anderen Gemeinschaftsorganen Anordnungen zu erteilen. 148 Das Urteil, mit dem die Nichtigkeit ausgesprochen wird, hat unbeschränkte Gültigkeit. 149 Gemäß Art. 174 Abs. 2 EGV kann der Gerichtshof, soweit er dies rur notwendig erachtet, die Wirkungen bezeichnen, die fortgelten sollen. Nach dem Wortlaut der Regelung ist dies auf Verordnungen beschränkt, doch hat der EuGH diese Bestimmung weit ausgelegt und auch auf Richtlinien 150, Entscheidungen 151 und Beschlüsse 152 angewandt.
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Siehe auch Art. 147 EAGV.
Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 174, Rn. 15. EuG, Rs. T-102/92 (Vino Europe/Kornmission), EuZW 1995, S. 583, 585. In der Rs.
C-21/94 (Parlament/Rat), EuZW 1995, S. 768, 770, hat der EuGH sogar den Antrag des Parlaments, dem Rat eine Frist für den Erlaß einer neuen Richtlinie zu setzen, abgelehnt, mit der Begründung, daß dies nicht in seine Befugnisse falle. 149 Besonders deutlich der französische Text des Art. 174 Abs. 1 EGV: ..Si le recours est fonde, la Cour de justice dec\are nul et non avenu l'acte conteste." 150 EuGH, Rs. C-295/90 (Parlament/Rat), EuZW 1992, S. 676; ähnlich schon in der Rs. 34/86 (Rat/Parlament), Slg. 1986, S. 2155, 2212, zur Frage der Beschränkung der Nichtigkeit des Haushaltsplanes. Siehe zu Rs. C-295/90 Röttinger, EuZW 1993, S. 117 ff. 151 EuGH, Rs. C-27 11 94 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1996 I, S. 1689, 1717. 152 EuGH, RS.C-360/93 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1996 I, S. 1195, 12131219.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
Für Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts erster Instanz gilt das gleiche wie im EGKS-Recht. 153
Kapitel 4
Untätigkeitsklage A. Art. 3S EGKSV Die Untätigkeitsklage wird in Art. 35 EGKSVals Unterfall der Nichtigkeitsklage konstruiert l54 : Das Schweigen der Hohen Behörde/Kommission auf eine Aufforderung zum Tätigwerden wird als stillschweigende ablehnende Entscheidung fingiert. 155 Wenn auch die einzelnen Voraussetzungen verschieden sind, so entspricht der Grundgedanke dieser Regelung dem vom französischen Conseil d'Etat entwickelten Grundsatz, nach welchem das Schweigen der Verwaltung auf einen Antrag eine ablehnende Entscheidung enthält, gegen die eine Klage zulässig sein soll. 156 Die Untätigkeitsklage setzt eine Pflicht des betroffenen Organs zum Tätigwerden voraus; nur dann kann Untätigkeit dem Vertrag zuwiderlaufen. Bei einem stattgebenden Urteil hebt der Gerichtshof die fingierte ablehnende Entscheidung auf. 157 Die Untätigkeitsklage des Montanrechts unterscheidet sich von der deutschen Verpflichtungsklage insofern, als der Gerichtshof das beklagte Organ nicht zum Erlaß der in Rede stehenden Maßnahme verurteilen kann.
I. Notwendiges Vorverfahren Die Untätigkeitsklage ist nur zulässig, wenn die Kommission zum Erlaß der Entscheidung oder zum Ausspruch der Empfehlung aufgefordert wurde (Befassung), Art. 35 Abs. 3 EGKSV. 158 Erläßt die Kommission innerhalb einer Frist von zwei Monaten keine Entscheidung oder spricht sie keine Empfehlung aus, so wird ihr
Siehe dazu oben Kapitel 2, Punkt G.II!. Siehe dazu auch EuGH, Rs. 7 und 9/54 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises/ Hohe Behörde), Sig. 1955/56, S. 53, 85 f. 155 Die Befassung der Kommisson ist als notwendiges Vorverfahren unverzichtbar. Nur das darauf folgende Schweigen der Kommission kann als ablehnende Entscheidung angesehen werden, die ein Klagerecht auslöst. Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 175, Rn. 34. 156 Dazu auch Hedda Czasche, Die Untätigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof, Göuingen 1969, S. 18 ff. 157 Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 175, Rn. 34. 158 Dazu Geiger-Kom., Art. 175, Rn. 11 ff.; Lenz-Kom., Art. 175, Rn. 9. 153
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4. Kap.: Untätigkeitsklage
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Schweigen als ablehnende Entscheidung ausgelegt, gegen welche Klage erhoben werden kann. Eine Frist für die Befassung schreibt der Vertrag nicht vor. Dennoch schließt das System der Art. 33, 35 EGKSVein, daß die Ausübung des Rechts, die Kommission zu befassen, aus Gründen der Rechtssicherheit und Kontinuität in der Tätigkeit der Gemeinschaft nicht unbegrenzt verzögert werden darf. 159
J. Bejassungsberechrigung
Die geforderte Maßnahme muß auf Grund ihrer Rechtsnatur und ihres Verhältnisses zur Lage des Befassenden zu denjenigen Rechtsakten gehören, die der Befassende - wenn sie ihn beschwerten - gemäß Art. 33 EGKSV anfechten könnte. 160 Art. 35 EGKSV nimmt hier eine spiegelbildliche Übertragung der Klagebefugnis des Art. 33 EGKSV vor. Die im Art. 35 EGKSV genannten Unternehmen und Verbände können die Hohe Behörde befassen, soweit sie ein Interesse an der Entscheidung oder Empfehlung haben, zu deren Erlaß die Hohe Behörde angeblich verpflichtet ist.
2. Bejassungsgründe Die Befassung ist nur wirksam und die Klage nur zulässig, wenn der Betroffene ein Tätigwerden fordert, auf das er einen Anspruch hat. Es muß geltend gemacht werden, daß die Hohe Behörde I Kommission zum Handeln verpflichtet ist (Art. 35 Abs. 1 EGKSV) oder daß sie zum Handeln befugt ist und ihre Untätigkeit einen Ermessensmißbrauch darstellt (Art. 35 Abs. 2 EGKSV).
11. Klagegegenstand Aus Art. 35 Abs. 1 EGKSV geht hervor, daß nur die Unterlassung einer Entscheidung oder Empfehlung, also eines verbindlichen Akts, gerügt werden kann; nicht etwa das Ausbleiben einer unverbindlichen Handlung. 161 Angreifbar ist die ablehnende Entscheidung, die der Vertrag aus dem Schweigen der Kommission liest, wenn diese binnen zwei Monaten nach der Befassung EuGH, Rs. 59/70 (Niederlande / Kommission), Sig. 1971, S. 639, 653. GA Dutheillet de Lamothe, Schlußantrag Rs. 15/79 (Chevalley / Kommission), Slg. 1970, S. 981, 985. 161 Siehe dazu GA Dutheillet de Lamothe, Schlußantrag Rs. 15/79 (Chevalley / Kommission), Slg. 1970, S. 981 ff. 159
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
keine Entscheidung oder Empfehlung erlassen hat (Art. 35 Abs. 3 EGKSV). Gegenstand der Klage ist jedoch nicht das Schweigen, sondern die Weigerung, eine Entscheidung i. S. d. Art. 14 EGKSV zu erlassen, die nach Auffassung des Klägers hätte erlassen werden müssen. Ein Schreiben, in dem die Hohe Behörde die Ablehnung des Erlasses der gewünschten Maßnahme begründet, berührt nicht die Tatsache dieser Ablehnung, die nach Ablauf der Zweimonatsfrist endgültig feststeht. Die Begründung verleiht dem Schweigen lediglich eine gewisse ,,Ausdrücklichkeit".162 Erfolgt jedoch innerhalb der Zweimonatsfrist eine explizite Ablehnung, ist ein Klagerecht nach Art. 35 EGKSV nicht mehr gegeben l63 , der Adressat muß dann die ausdrückliche Ablehnung nach Maßgabe des Art. 33 EGKSV anfechten. 1M In dem sogenannten Gejlügelschlachterei-Urteil l65 stellt der Gerichtshof ausdrücklich fest, daß eine Handlung, deren Nichtvornahme Gegenstand einer Untätigkeitsklage ist, die erst nach Klageerhebung vorgenommen wurde, den Rechtsstreit erledigt.
UI. Klageberechtigung Der Rat und die Mitgliedsstaaten können jede pflichtwidrige Untätigkeit der Hohen Behörde angreifen (Art. 35 Abs. 1 EGKSV), unabhängig davon, ob die angestrebte Entscheidung oder Empfehlung individueller oder allgemeiner Natur ist. Unternehmen und Verbände können nur dann klagen, wenn der Akt, deren Erlaß sie anstreben, eine individuelle Entscheidung ist oder entsprechend der Regelung in Art. 33 Abs. 1 EGKSV zwar eine allgemeine Entscheidung ist, deren Unterlassung jedoch einen Ermessenmißbrauch gegenüber dem Kläger darstellt. 166
IV. Klagefrist Die Klagefrist beginnt mit dem Ablauf der in Art. 35 Abs. 3 EGKSV festgelegten Untätigkeitsfrist. Sie beträgt einen Monat (Art. 35 Abs. 3, 2. Halbsatz).
162 EuGH, Rs. 7 und 9154 (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises 1 Hohe Behörde), Slg. 1955156, S. 53, 89. 163 Problematisch ist der Fall, in dem die Kommission eine Rechtshandlung vornimmt, die den Vorstellungen des Befassenden nicht im vollen Umfang entspricht. Art. 35 Abs. 3 EGKSV läßt die Untätigkeitsklage nur zu, wenn keine Entscheidung oder Empfehlung ausgesprochen wurde; siehe dazu EuGH, Rs. 8/71 (Komponistenverband/Kommission), Slg. 1971, S. 705, 711. 164 EuGH, Rs. 5 -11, 13 -15/62 (San Michelel Hohe Behörde), Slg. 1962, S. 917 ff.; siehe auch Geiger-Kom, Art. 175, Rn. 3. 16S Rs. C-15191 und 108/91, EuZW 1993, S. 415 f. 166 GA Roemer, Schlußantrag Rs. 7 und 9154, (Groupement des Industries Siderurgiques Luxembourgeoises/Hohe Behörde), Slg. 1955156, S. 105, 116.
4. Kap.: Untätigkeitsklage
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V. Klagegrunde Die Klage ist begründet, wenn die (fingierte) ablehnende Entscheidung mit einem der in Art. 33 EGKSV bezeichneten Rechtsmängel behaftet ist. Die Untätigkeitsklage kann demzufolge nur dann begründet sein, wenn die ursprüngliche Unterlassung und auch die Weigerung, dieser Untätigkeit ein Ende zu setzen, eine Rechtsverletzung darstellt oder mit einem Ermessensmißbrauch behaftet ist. 167
B. Untätigkeitsklage in den Römischen Verträgen Im Recht der E(W)G und EAG wurde die Untätigkeitsklage 168 abweichend von dem Modell der EGKS als Feststellungsklage normiert l69 , da sich die Fiktion einer stillschweigenden ablehnenden Entscheidung l70 als allzu gekünstelt darstellte und letztlich nicht durchsetzen konnte. Konstruiert Art. 35 EGKSV die Untätigkeitsklage als Unterart der Nichtigkeitsklage, indem er - nicht selten dem wirklichen Willen des betroffenen Organs zuwider - eine ablehnende Entscheidung fingiert, normiert Art. 175 EGVeine Feststellungsklage, deren Erfolg sich in einem die Rechtswidrigkeit der gerügten Unterlassung konstatierenden - die Rechtslage nicht umgestaltenden - Tenor widerspiegelt. Im Art. 35 EGKSV dagegen hebt der EuGH will er der Klage stattgeben - die "ablehnende Entscheidung" mit einem Gestaltungsurteil auf. 171 Während nach EGKS-Recht nur Unterlassungen der Hohen Behörde bzw. Kommission gerügt werden können, sind im EG-Recht Kommission und Rat denkbare Beklagte; dementsprechend kann auch die Kommission als Klägerin auftreten. Nach Art. 35 EGKSV kann - gleichgültig, wer der Kläger ist - nur das Unterbleiben einer "Entscheidung" oder einer "Empfehlung" beanstandet werden, also Maßnahmen, die in der einen oder anderen Weise bindend sind (vgl. Art. 14 EGKSV). Art. 175 EGV verwendet dagegen im Hinblick auf die Klagen von Staaten und Gemeinschaftsorganen den untechnischen Begriff "Beschluß" und bezieht damit auch unverbindliche sowie solche bindenden Handlungen ein, die im Typenkatalog des Art. 189 EGV nicht aufgeführt sind. 172 167 Dazu Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklage, S. 322, Rn. 453 und S. 211 ff., Rn. 294, insbes. 298 ff. 168 Siehe zu der Untätigkeitsklage im EG-Recht GA Lenz, SchluBantrag Rs. 13/83 (Parlament/Rat), Sig. 1985, S. 1515 ff. Weiterführend auch Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklage, S. 221 ff. 169 Geiger-Kom., Art. 175, Rn 1; Lenz-Kom., Art 175, Rn. 1. 170 EuGH, Rs. 59170 (Niederlande/Kommission), Sig. 1971, S. 639, 653. 171 Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 175, Rn. 34. 172 Ebenda, Rn. 11; Michael Schweitzer /Waldemar Hummer, Europarecht - Das Recht der Europäischen Gemeinschaften mit Schwerpunkt EWG, Frankfurt a. M. 1993, S. 145.
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2. Teil: Die Nichtigkeitsklage im europäischen Gemeinschaftsrecht
Privatpersonen können nach Art. 175 Abs. 3 geltend machen, daß das beklagte Organ "es unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder eine Stellungnahme an sie zu richten". 173 Damit scheinen Akte, die keinen Bezug zur individuellen Lage des Klägers haben, ausgeschlossen. Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß zur Vermeidung von Rechtsschutzdefiziten, parallel zur Klagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage, die Klagebefugnis auch zu bejahen sei, wenn ein an einen Dritten zu adressierender Rechtsakt den Kläger unmittelbar und individuell beträfe. 174 Im EGKS-Recht findet sich ein entsprechender Verweis auf die Nichtigkeitsklage: ,,Je nach Lage des Falles" in Art. 35 Abs. 1 EGKSV muß dahingehend verstanden werden, daß hinsichtlich des Umfangs des Klagerechts auf Art. 33 EGKSV verwiesen wird; nach dem maßgeblichen französischen Text dieser Vorschrift 175 hängt auch hier die Zulässigkeit einer von einem Privaten erhobenen Nichtigkeitsklage allein von dem individuellen Charakter der angegriffenen Entscheidung oder Empfehlung ab. 176 Art. 175 EGV nennt als Klagegrund der Untätigkeitsklage lediglich die Vertragsverletzung, jedoch wird in Anlehnung an Art. 35 EGKSVauch die Verletzung von Sekundärrecht als Klagegrund anerkannt. Die Rüge des Ermessensmißbrauchs kommt bei Untätigkeitsklagen nur in Betracht, wenn der Erlaß der begehrten Maßnahme im Ermessen des betroffenen Organs stand. Für den Fall, daß dieses Ermessen "mißbraucht" wurde, gewährt Art. 35 Abs. 2 EGKSV die Untätigkeitsklage, während Art. 175 EGV schweigt; allgemein wird jedoch angenommen, daß eine sachliche Abweichung nicht vorliegt. 177 Die Untätigkeitsklage wirft damit Probleme auf, die weiten Raum für eingehende Untersuchungen bieten, denen aber im Rahmen der hier untersuchten Fragestellung keine besondere Bedeutung zukommt. So orientieren sich die Regelungen zur Klagebefugnis und zum vorläufigen Rechtsschutz an den entsprechenden Regelungen der Nichtigkeitsklage. Auch hinsichtlich der Klagegründe kann weitgehend auf die Ausführungen zur Nichtigkeitsklage verwiesen werden, wobei mit Rücksicht auf die Natur der Sache die Untätigkeitsklage weder auf Unzuständigkeit noch auf die Verletzung wesentlicher Formvorschriften gestützt werden kann.
173 Zur "Stellungnahme" als Klagegegenstand einer Untätigkeitsklage siehe EuGH. Rs. 15/70 (Chevalley / Kommission). Slg. 1970, S. 975, 980. 174 Streinz. Europarecht, S. 172, Rn. 546. 175 Siehe dazu bereits Kapitel 3, Punkt B.III. 176 Siehe dazu EuG. Rs. T-32193 (Ladbroke Racing Limited/Komrnission), EuZW 1995, S. 186, 190. 177 Dazu Daig in: GTE-Kom., 3. Aufl., Art. 175, Rn. 3.
3. Te i I
Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage Im ersten Teil der Arbeit konnte gezeigt werden, daß der französische recours pour exces de pouvoir der europäischen Nichtigkeitsklage als Modell diente. Die Anlehnung fand auch auf deutscher Seite Zustimmung, da die deutsche Tradition des Rechtsschutzes gegen Handlungen der Verwaltung dem zu entsprechen schien. So heißt es in dem Bericht der französischen Delegation über den Vertrag zur Gründung der EGKS: ,,Drei von den vier klassischen Fällen des ,recours pour exd:s de pouvoir' (Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Ermessensmißbrauch) wurden ohne Schwierigkeit aufgenommen: Besonders der Begriff des Ermessensmißbrauchs wurde von unseren ausländischen Verhandlungsteilnehmern voll erfaßt und ohne Bedenken übernommen."l
In der Begründung des deutschen Gesetzes für die Ratifizierung des Vertrages 2 heißt es: ,,Die in Absatz I aufgezählten Klagegründe, die in ihrer Formulierung der französischen Lehre vom ,ex ces de pouvoir' entnommen sind, entsprechen im wesentlichen den Begriffselementen der deutschen Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt. ,,3
Durch diese in weiten Teilen gut begründbare Sichtweise wurden Gegensätze in der französischen und deutschen Tradition übersehen. Daß die Unterschiede zwischen den Rechtstraditionen so unbedeutend nicht sind, soll das Thema der folgenden Kapitel sein. Im Anschluß an die Darstellung der Nichtigkeitsklage in den Gemeinschaftsverträgen werden nun die verwaltungsgerichtIichen Rechtsbehelfe der französischen und deutschen Rechtsordnungen betrachtet4 ; in den letzten Kapiteln 1 Zitiert nach GA Lagrange, Schlußantrag in der Rs. 3/54 (ASSIDER 1Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 154, 159. 2 Gesetz betreffend den Vertrag vom 18. April 1951 über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 29. April 1952, abgedruckt im Bundesgesetzblatt 1952, Nr. 7 (ausgegeben zu Bonn am 6. Mai 1952), S. 445. 3 Begründung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 29. Juni 1951, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode 1949, Anlagen zu den stenographischen Berichten, Drucksache Nr. 2401, S. 15, Bonn 29. 6.1951. 4 Einen kurzen informativen Abriß über die Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnungen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt Jürgen Schwarze, Buropäisches Verwaltungsrecht, Entstehung und Entwicklung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaf-
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
wird dann eine genauere Analyse der tragenden Elemente des europäischen Rechtsschutzsystems versucht.
Kapitel 5
Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Verwaltung in Frankreich Dem französischen Verwaltungsrecht wird oft eine Modellfunktion zuerkannt. 5 Auch das französische System der Kontrolle des Verwaltungshandelns hat auf andere Rechtsordnungen ausgestrahlt. 6
A. Verwaltungsgerichtsbarkeit Den Ausgangspunkt für die Errichtung selbständiger Verwaltungskontrollorgane bildete die Entschlossenheit, mit der die französischen Könige allen Versuchen der ordentlichen Gerichte widerstanden, das Handeln der Exekutive in irgendeiner Form zu überprüfen. Die meisten Verordnungen enthielten eine Vorschrift, die den Gerichten verbot, sich mit Streitigkeiten zu befassen, die sich aus der Vollziehung der Verordnung ergaben. 7 In der Zeit des Ancien Regime nahmen zahlreiche Organe, wie der Conseil du Roi und die Intendanten als Vertreter des Königs, in den ten, Band I, Baden-Baden 1988. Zu den Klagen gegen Verwaltungsakte in den verschiedenen Mitgliedsstaaten siehe auch Jean-Marie Auby / Michel Fromont, Les recours contre les actes administratifs dans les pays de la Comrnunaute Economique Europeenne, Paris 1971; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 47 ff. S Der Begründer des modemen deutschen Verwaltungsrechts Otto Mayer hat vor der Abfassung seines "Deutschen Verwaltungsrechts" ein Buch über französisches Verwaltungsrecht (Theorie des französischen Verwaltungsrechts) geschrieben und französische Vorbilder für die deutsche Verwaltungsrechtsdoktrin nutzbar gemacht. Zur Bedeutung von OUo Mayer für das deutsche Verwaltungsrecht siehe: Michael Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre 1866-1914, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 3, Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1983, S. 85, 95 ff. 6 So wurde die erste Form einer Verwaltungs gerichtsbarkeit in Deutschland, die Administrativjustiz, nach dem französischen Modell des Conseil d'Etat als Eigenkontrolle der Verwaltung ausgeformt; dazu Ernst Forsthaff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Band, Allgemeiner Teil, München 1973, S. 52 ff. Die Ausstrahlungswirkung auf Justiz und Verwaltung in Italien und Deutschland ist das Thema der Beiträge in dem Tagungsband: Christoph Dipper I Wolfgang Schieder I Reiner Schulze (Hrsg.), Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien - Verwaltung und Justiz, Berlin 1995. 7 Dazu Rene Chapus, Droit administratif general, Band 1,7. Auflage, Paris 1993, S. 751 f., Rn. 989 f., m. w. N.
5. Kap.: Rechtsschutz in Frankreich
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Departements Aufgaben der Verwaltungsrechtspflege wahr. Die französischen Monarchen behielten damit die Entscheidung von Streitigkeiten, an denen ihre Verwaltung beteiligt war, möglichst lange und umfassend im eigenen Einflußbereich. Das Gesetz vom 16. - 24. August 1790 stellte den Grundsatz der Trennung von Verwaltung und juridiction auf. 8 Es wurde der ordentlichen Gerichtsbarkeit nunmehr generell - und unter Androhung von Strafe wegen Amtspflichtverletzung das Recht aberkannt, über Streitigkeiten zwischen Bürgern und Verwaltung zu entscheiden. 9 Es galt der Grundsatz: ,,Juger I'administration, c'est aussi administrer.,,10 Diese Maxime, gestützt auf das principe de la separation des autorites administratives et judiciaires 11 , fand insbesondere auch deshalb Anerkennung, weil der ordentlichen Gerichtsbarkeit, als Vertreterin aristokratischer Interessen, weitgehend mißtraut wurdeY Die Verfassung von 1790 schuf den Conseil d'EtatY Im Jahre 1800 folgte das sogenannte Pluviose-Gesetz Napoleons I, weIches die Organisation der gesamten staatlichen Verwaltung neu regelte. 14 In diesem Rahmen wurde ein Rechtsschutzsystem innerhalb der Verwaltung geschaffen: Man unterschied reine und streitentscheidende Verwaltung (administration pure und contentieux administratif). Der Conseil d'Etat übernahm im wesentlichen die Aufgaben des Conseil du Roi: Zuständig für sämtliche Streitigkeiten, die durch die Tatigkeit der Verwaltung entstanden 15 , beriet der Staatsrat die Regierung und bereitete die Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten vor, an denen die Exekutive beteiligt war. Der Conseil d'Etat, 8 Loi des 16 et 24 aout 1790, art. 13, in: Dalloz, Code administratif, 18. Aufl. 1985, S. 18; siehe dazu auch Laubadere, Droit administratif I, S. 266, Rn. 431. 9 E. Laferriere, Traite de 1a Juridiction administrative et des Recours contentieux, Paris, Nancy 1896, Band I, S. 212 ff.; zu der ..evolution historique" siehe auch Maurice Bourjol, Droit administratif, Paris 1973, Band 2, S. 51 ff. 10 Laubadere, Droit administratif I, S. 249., Rn. 432. Dazu auch Pierre Sandevoir. Etudes sur les recours de pleine juridiction, Paris 1964, S. 93 ff. 11 Bourjol, Droit administratif I, S. 24 ff.; Laubadere, Droit administratif I, S. 266, Rn. 431. 12 ClUJrles Debbasch, Institutions et droit administratifs, Paris 1992, Band I, S. 60, 86 f.; Laubadere, Droit adminstratif I, S. 266, Rn. 431. 13 Constitution de I' an VIII, art. 52. Zur Bedeutung der französischen Revolution für Verwaltung und Justiz siehe Reiner Schulze, Französisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.) Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 9 ff. 14 Pluviöse-Gesetz wegen des Datums 28. Pluviöse An VIII (17. 2. 1800), Pluviöse 5. Monat des Revolutionskalenders. Siehe auch Christian Rumpf, Das ..detournement de pouvoir" im ,,recours pour exces de pouvoir", in: JöR 1989 (Band 38), S. 217 ff. IS Erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beanspruchen die Zivilgerichte die Zuständigkeit bei Handeln der Verwaltung als Privatperson, so: Laubadere, Droit administratif I, S. 267, Rn. 432. Siehe zur Rechtswegfrage im französischen Recht Varadinek, Ermessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit, S. 13 ff.
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
obwohl ursprünglich als Beratungsorgan der Regierung in Gesetzgebungsfragen eingerichtet, entwickelte sich in der Folgezeit zu einem Verwaltungsgericht, das im Rahmen des contentieux administratiJ für den Rechtsweg gegen Entscheidungen der Präfekturräte zuständig war. 16 Dabei unterbreitete der Conseil d' Etat dem Staatschef lediglich Entscheidungsempfehlungen, den endgültigen Spruch behielt sich die Exekutive vor - systeme de La justice retenue. 17 Erst 1872 wurden die Entscheidungen des Conseil d'Etat verbindlich. 18 Die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der aktiven Verwaltung ist bis heute unvollständig: So sind die Verwaltungsrichter keine Beamten der Richterlaufbahn (magistrats) 19, sondern wechseln häufig aus der aktiven Verwaltung (als ehemalige Verwaltungsbeamte) zu den Verwaltungsgerichten. Von der durch Gesetz vom 6. Januar 1986 garantierten Unabhängigkeit der Richter am Verwaltungsgericht sind die Mitglieder des Conseil d'Etat nach wie vor ausgeschlossen. Präsident des Conseil d'Etat ist (allerdings lediglich formell) der Premier- und in seiner Abwesenheit der Justizminister. 20 Die rechtsprechende Funktion des Staatsrats21 war darauf beschränkt, angefochtene Verwaltungsentscheidungen, deren Gesetzwidrigkeit der betroffene Bürger bei der erlassenden Behörde und dem zuständigen Minister vergeblich gerügt hatte, einer rein formellen Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. 22 Erst mit dem Gesetz vom 24. Mai 1972 wurde dem Conseil d'Etat die Möglichkeit eingeräumt, Verwaltungsentscheidungen im größeren Umfang nachzuprüfen. Noch heute beschränkt sich der Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte im wesentlichen auf die Aufhebung der Verwaltungsakte bzw. auf die Verpflichtung zu Geldentschädigungen; anders als im deutschen Recht ist es den Gerichten unmöglich - von einigen Ausnahmen abgesehen -, die Verwaltung zu irgendeinem Tun oder Unterlassen zu verpflichten. 23 16 Noch heute übt der Conseil d'Etat beide Funktionen aus: die eines Gerichts und die eines Konsultativorgans. Außer der "Sektion für Streitsachen" besitzt er Verwaltungssektionen, die Stellungnahmen zu Gesetzes- und Verordnungsvorhaben abgeben und ganz allgemein die Regierung beraten, vgl. Hans Reinhard, Der Staatsrat in Frankreich, Funktionen als Gutachter und oberstes Verwaltungsgericht, in: Gerhard Leibholz (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 30, Tübingen 1981, S. 73 ff. 17 Laubadere, Droit administratif I, S. 267, Rn. 432. 18 ,,Le Conseil d'Etat, juge le droit commun, tranche seulles litiges administratifs" (L. 24 mai 1872). Zur ,justice retenue" siehe Tony Sauvel, La ,justice retenue" de 1806 a 1872, in: RDP 1970, S. 237; Bourjol, Droit administratif I, S. 32. 19 Laubadere, Droit administratif I, S. 283, Rn. 452. 20 Ebenda, S. 282, Rn. 451. 21 Dazu Michel Fromont, Le systeme fran\;ais de protection juridictionelle du citoyen contre administration, in: Hans-Uwe Erichsen!Werner Hoppe! Albert von Mutius (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, Köln, Berlin, Bonn, München 1985, S. 887, 890. 22 Bourjol, Droit administratif I, S. 32 f.; Georges VedellPierre Delvolve, Droit administratif 11, Paris 1992, S. 241 ff.
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Charakteristisch für das französische Verwaltungsrecht ist, daß es in großem Maße auf von den Gerichten geschaffenem Recht basiert. Zwar ist es kein reines Richterrecht mehr, aber die Rechtsprechung wird als besonders wichtige Rechtsquelle des Verwaltungsrechts angesehen: Gesetze und Verordnungen behandeln regelmäßig nur einzelne Probleme oder Problemgruppen24 oder kodifizieren die etablierte Rechtsprechung. 25 Auch die jährliche Neuausgabe des "Code Administratif' von Dalloz ist lediglich eine Sammlung verschiedener Verwaltungsrechtstexte?6 Die Verwaltungsrechtsprechung findet sich in den allgemeinen Sammlungen. 27
B. Verwaltungsrechtsschutz Der Schwerpunkt des französischen Verwaltungsrechtsschutzes liegt in der objektiven Kontrolle des VerwaltungshandeIns. 28 Die Spitze der Exekutive ist vor allem daran interessiert zu kontrollieren, ob ihre Weisungen und Rechtsnormen von den untergeordneten Behörden richtig ausgeführt wurden. Sie behält die Übersicht über die Lösung von Streitigkeiten, an denen Exekutivorgane beteiligt sind. 29 Daß diese Rechtsstreitigkeiten, anders als im deutschen Recht, in die Zuständigkeit der streitentscheidenden Verwaltung fallen, beruht auf der strikten Trennung zwischen Justiz und Verwaltung: ,.Juger I'administration c'est aussi administrer.,,3o Es werden zwei Hauptklagearten unterschieden: recours pour exces de pouvoir (Verfahren wegen Amtsüberschreitung) und recours de pleine juridiction (Verfahren mit voller Entscheidungskompetenz). Da die gemeinschaftsrechtliche Nichtigkeitsklage dem recours pour exces de pouvoir nachgebildet ist, soll diesem Rechtsbehelf hier eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Er gilt als Kernstück des französischen Verwaltungsrechts 31 und ist seit jeher die bei weitem häufigste 23 Laubadere, Droit administratif I, S. 488, Rn. 742 ff.; Framont, Festschrift für Menger, S. 887 f. 24 Z. B. Codeforestier. Code de mines, Code de l'urbanisme, Code de La raute. 25 Die fehlende Normierung macht eine raschere Anpassung an politische, wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen möglich; vgl. Rainer Grate, Ermessenslehre und Ermessenspraxis in Frankreich, in: NVwZ 1986, S. 269 f. 26 Dalloz, Code Administratif. Die amtliche Gesetzessammlung ist das ,)ournal officiel Lois et Decrets". 27 Insbesondere der "Recueil des decisions du Conseil d'Etat" (amtliche Entscheidungssammlung des Staatsrats, nachfolgend abgekürzt Rec., womit auf den jeweiligen Urteilsjahrgang verwiesen wird) enthält nahezu die gesamte Rechtsprechung des Conseil d'Etat (C. E.) seit Anfang des 19. Jahrhunderts, des Tribunal des conflits (T. C.) seit 1872 und auch die der Verwaltungsgerichte (T. A.) seit 1953. 28 L'interet d'une bonne administration de La justice. Zur objektiven Natur des recours pour exces de pouvoir: Laubadere, Droit administratif I, S. 443, Rn. 669. 29 Bis zum Ende der justice retenue behielt sie sich sogar den endgültigen Spruch vor. 30 Laubadere, Droit administratif I, S. 249., Rn. 432.
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Klage des französischen Verwaltungsprozeßrechts. 32 Der Conseil d'Etat hat den recours pour exces de pouvoir im Laufe seiner Entwicklung zu einer Klage ausgestaltet, die grundsätzlich jedem offen steht, der geltend macht, durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt individueller oder genereller Art in seinen Interessen verletzt zu sein. Gegenstand dieser Klage ist allein die objektive Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Anders der recours de pleine juridiction: Dort erkennt der Richter über die Existenz, den Inhalt und die Auswirkung subjektiver Rechte von natürlichen und juristischen Personen des Privat- und des öffentlichen Rechts, die sie gegenüber einer Person des öffentlichen Rechts geltend machen. 33 In diesen Bereich fallen (quasi-) vertragliche Ansprüche 34 sowie Amtshaftungs- und Bereicherungsansprüche. 35 Im Gegensatz zum objektiven Prozeß beim recours pour exces de pouvoir handelt es sich beim recours de pleine juridiction um einen Prozeß zwischen Parteien. Im Fall des recours pour exces de pouvoir kann das Verwaltungs gericht den in Frage stehenden Verwaltungsakt lediglich aufheben. Im Fall des recours de pleine juridiction kann das Gericht auch den aufgehobenen Verwaltungsakt ersetzen. 36 Bis zur Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit 1953 war der Conseil d'Etat in erster und letzter Instanz für die Entscheidung über diese Klagen zuständig37 , auf Departement-Ebene fungierten als untere Rechtspflegeinstanzen die Conseils de Pre!ecture. Durch das Gesetz vom 30. September 195338 wurde die erstinstanzliche Zuständigkeit auf die Tribunaux administratifs übertragen. 39 Im Jahr 198740 ist die Verwaltungs gerichtsbarkeit erneut reformiert worden. Sie ist nunmehr dreistufig aufgebaut: die Tribunaux administratifs, die neuen Cours administratives d'appel und der Conseil d'Etat. Letzterer entschied bis dahin über sämtliche Berufungen 31 Dies auch deshalb, weil diese Klage vielfältige - in Deutschland auf verschiedene Klagen aufgeteilte - Funktionen erfüllt, siehe dazu unten Punkt 5.C.I. lit. l. 32 Großen Aufschwung erfuhr diese Klage mit dem Dekret vom 2. 11. 1864, das sie vom Anwaltszwang befreite und gewisse Erleichterungen bzgl. der Prozeßkosten einführte; zur Geschichte des recours pour exces de pouvoir en matiere administrative: E. Laferriere, Traite de la Juridiction administrative et des Recours contentieux, Band 2, S. 402 ff. 33 Laubadere, Droit administratif I, S. 406 ff., Rn. 617 ff. 34 Auch Ansprüche aus "Geschäftsführung ohne Auftrag". 35 Siehe zu dieser Klage Pierre Sandevoir; Etudes sur les recours de pleine juridiction, Band LVI. 36 Dazu Laubadere, Droit administratifI, S. 406, Rn. 617. 37 Zur Reform aus dem Jahr 1953 siehe Jean Rivero, La rHorme du contentieux administratif, in: RDP 1953, S. 926 ff. 38 Decret ii 53 - 935 du 30 septembre 1953, abgedruckt in: Dallo1., Code Administratif, 23. Aufl. 1994, S. 565 f. 39 Örtliche Zuständigkeit richtet sich nach Art. R 46 des code des T. A. 40 Loi ii 87 - 1127 du 31 decembre 1987, abgedruckt in: Dalloz. Code Administratif, 23. Aufl. 1994, S. 550; siehe dazu auch Michel Fromont, Die Reform der französischen Verwa1tungsgerichtsbarkeit, in: ZaöRV 1989 (Band 49), S. 487 ff.
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gegen die Urteile der Verwaltungsgerichte und war dementsprechend überlastet; einen Teil der Berufungen übernehmen nun die Cours administratives d'appel. 41 Neben seiner Funktion als Berufungsgericht ist der Conseil d'Etat in einigen Fällen auch erste und einzige Instanz, insbesondere beim recours pour exces de pouvoir gegen Dekrete und bestimmte Akte der Minister und nationalen Behörden.42
C. Klagen wegen exces de pouvoir ,,Le recours pour exces de pouvoir est un recours contentieux visant juge administratif un acte adrninistratif illegal. .. 43
afaire annuler par le
Im Rahmen dieses Rechtsbehelfs überprüft der Conseil d'Etat nicht mehr nur die fonnelle Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Verwaltungsmaßnahme; er entwickelte nach und nach Maßstäbe auch für eine materielle Rechtmäßigkeitskontrolle. 44 Die Klage kann nur gegen einseitige Verwaltungsentscheidungen gerichtet werden, Verwaltungsverträge unterliegen ihr nicht. 45
I. Zulässigkeit der Klage 1. Klagegegenstand
Klagegegenstand ist der einseitige Verwaltungsakt, wobei davon nicht nur die Einzelfallregelungen, sondern auch Rechtsverordnungen und sonstige Rechtsnormen erfaßt werden. 46 Der Begriff des Verwaltungsaktes umfaßt damit sowohl individuelle als auch allgemeine, an einen bestimmten Adressatenkreis gerichtete Maßnahmen aller Verwaltungsorgane, also auch der Regierungen, soweit sie rechtliche Wirkungen entfalten (actes faisant grief).47 Das hat zur Folge, daß der recours pour exces de pouvoir nicht nur ein Pendant zur Anfechtungsklage im deut41 Ulrich Hübner/Vlad Constantinesco, Einführung in das französische Recht, München 1994, s. 18. 42 Laubadere, Droit administratif I, S. 284 ff. 43 Ebenda, S. 439, Rn. 660; zur geschichtlichen Entwicklung der Klage siehe dort S. 442, Rn. 668. 44 ,,Le Conseil d'Etat statue souverainement sur les recours en matiere contentieuse administrative et sur les demandes d'annulation pour exces de pouvoir formees contre des actes des diverses autorites administratives" (Art. 9 des Gesetzes vom 24. 5. 1972). 4~ Näher dazu Bourjol, Droit administratif I, S. 33. 46 Laferriere, Juridiction administrative 11, S. 420. Siehe dazu im einzelnen: Carolin Junker, Der Verwaltungsakt im deutschen und französischen Recht und die Entscheidung im Recht der Europäischen Gemeinschaften, München 1990, insbes. S. 104-126. 47 Nicht erfaßt sind reine Informationen oder Meinungskundgebungen sowie wiederholende oder vorbereitende Akte.
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schen Verwaltungsrecht bildet, sondern auch zum Normenkontrollverfahren des § 47 VwGO, allerdings mit einem sehr viel größeren Anwendungsbereich. Da der recours auch eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften (wie von Einzelfallentscheidungen) einschließt, ist er endlich auch das Gegenstück zur deutschen Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsverordnungen und Satzungen. 48 Die Klage vor dem Verwaltungsgericht ist grundsätzlich nur zulässig, wenn eine ablehnende Entscheidung der Verwaltung vorliegt (regle de La dicision prialable49 ). Das Schweigen der Behörde auf einen gestellten Antrag gilt nach Ablauf einer Viermonatsfrist als ablehnende Entscheidung.
2. Rechtsschutzinteresse50 Neben der capaciti d'agir en justice51 (Partei- und Prozeßfähigkeit) ist ein Rechtsschutzinteresse (interet l'annulation de I'acte) Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage. 52 Dieses liegt vor, wenn der Kläger ein direktes und persönliches Interesse an der Aufuebung der angegriffenen Maßnahme geltend machen kann (interer a agir). Der Conseil d'Etat hat eine großzügige Auslegung des Begriffs entwickelt. 53 Die Tendenz geht dahin, jedes in irgendeiner Weise bestimmbare Interesse als ausreichend anzusehen. 54 An die direkte und persönliche Betroffenheit des Klägers werden keine hohen Ansprüche gestellt. Ausreichend ist schon, wenn die Maßnahme für den Kläger nachteilige Folgen hat oder der Kläger sich in bezug auf den angegriffenen Akt in "einer besonderen Situation" befindet. 55 Die Verlet-
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48 Hans Jarass, Die Besonderheiten des französischen Verwaltungsrechts im Vergleich, in: DÖV 1981, S. 813 ff., 821. 49 Siehe Raymond Guillien/ Jean Vincent, Lexique - Termes juridiques, Paris 1995, S. 435. so Dazu Laubadere, Droit administratif I, S. 452, Rn. 683. ~l Rene Chapus, Droit du contentieux administratif, 6. Auflage, Paris 1996, S. 352, 360 f., Rn. 403, 410 f. ~2 ..Pas d'interet pas d'action". Vgl. Georges Vedel/ Pierre Delvolve, Droit administratif, S.269. ~3 C. E. vom 17. 6. 1991 (Mme. Renauld), Rec. S. 1110 und C. E. vom 3. 2. 1992 (Mme. Girod), Rec. S. 1197. ~ L'exigence d'un interet donnant qualite a agir. Chapus, Contentieux administratif, S. 380 ff., Rn. 427 ff. Zur Rechtsprechung des Conseil d'Elat siehe auch Varadinek. Ermessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit, S. 29 f. ~~ Z. B. durch die Zugehörigkeit zu einem Interessenkreis, C. E. vom 10. 2. 1950 (Gicquel), Rec. S. 100; Interesse eines Steuerzahlers an kommunaler Finanzpolitik, C. E. vom 29. 3. 1901 (Casanova), Rec. S. 333, auch in: Marceau Lang/ Prosper Weil u. a., Les grands arrets de la jurisprudence administrative, Paris 1990, Nr. 8; Klage eines Arzneimittelherstellers gegen Erstattungspflichten bei Krankenkassen, C. E. vom 23. 10. 1989 (S. A. des Laboratoires Lucien), Rec. S. 207, oder die Klage eines Hoteliers gegen die Festsetzung der Schulferien, C. E. vom 28.5. 1971 (Damasio), Rec. S. 391.
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zung eines subjektiven Rechts ist nicht erforderlich 56 , jedoch schließt der recours die Geltendmachung eines solchen Rechts nicht aus. Die Verbandsklage ist zulässig, soweit der Verband Mitgliederinteressen geltend macht. Auch nichteingetragene Vereine können ihr kollektives Interesse durch eine Anfechtungsklage verteidigen. 57 Der recours pour exces de pouvoir kommt damit einer Popularklage sehr nahe. 58
3. Vorverfahren
Ein behördliches Vorverfahren, wie etwa das Widerspruchsverfahren gemäß § 68 VwGO, ist nicht vorgeschrieben. Der sogenannte recours administratifist aber zulässig, sofern bereits ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt vorliegt. Die Verwaltung kann dann innerhalb von vier Monaten neu entscheiden (siehe genauer nachstehend 4.).
4. Form und Frist
Die Klage muß innerhalb einer Frist von zwei Monaten eingelegt werden, entweder ab Zustellung (für den Adressaten) oder ab Bekanntgabe (für Dritte) des angefochtenen Akts. Anders als im deutschen Recht läuft die Frist auch ohne Rechtsmittelbelehrung. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder eine Fristverlängerung ist nicht generell vorgesehen; hierzu bedarf es einer gesetzlichen Sonderregel. Durch Einlegung eines Widerspruchs verlängert sich die Frist für die Klageerhebung: Bei Schweigen der Verwaltung beginnt die Zweimonatsfrist erst nach Ablauf einer Viermonatsfrist. Mit Fristablauf wird die Klage unzulässig. 59 Der Conseil d'Etat hat diese Strenge aber für bestimmte Fälle gemildert. Bei Änderung der Sach- und Rechtslage kann sich der Betroffene erneut an die Verwaltung wenden, deren Antwort dann gerichtlich überprüft werden kann. Der Verwaltungsgerichtsweg soll möglichst unbeschränkt den Bürgern offenstehen. Man versucht daher den Formalismus zu reduzieren und die Prozeßkosten gering zu halten. 60
56 Laubadere, Droit administratif I. S. 453, Rn. 686; siehe auch Laferriere, Juridiction administrative H. S. 436. 57 Ebenda. S. 454, Rn. 688 m. w. N. auf die Rechtsprechung des Conseil d'Etat. 58 Dazu Bourjol, Droit administratif I, S. 33. 59 Laubadere, Droit administratif I, S. 462, Rn. 694 f.; ursprünglich betrug die Klagefrist drei Monate, siehe dazu Laferriere, Juridiction administrative 11, S. 453. 60 Vgl. Gustave Peiser; Contentieux administratif. Paris 1988. S. 97 ff.
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
5. Absence de recours parallele Voraussetzung für die Zulässigkeit ist schließlich, daß dem Kläger kein anderer, denselben Rechtsschutz gewährender Rechtsweg offensteht. 61 6. Einstweiliger Rechtsschutz Im französischen Verwaltungsrecht hat weder die Erhebung einer Klage noch die Einlegung eines Rechtsmittels aufschiebende Wirkung. Einstweiliger Rechtsschutz läßt sich nur durch eine vom Gericht angeordnete Vollzugsaussetzung, sursis a l'execution, erreichen. 62 Der Conseil d'Etat verfährt hier restriktiv. 63 Voraussetzung ist, daß die durch den Vollzug der Maßnahme entstehenden Nachteile für den Kläger schwer und mit unwiderruflichen Konsequenzen verbunden sind. 64 Der Aussetzungsantrag ist darüber hinaus nur zulässig, wenn in der Hauptsache bereits Klage erhoben wurde; schließlich bleibt dem entscheidenden Gericht auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen ein Ermessensspielraum bei der Entscheidung. Mit dem Urteil in der Hauptsache endet auch die Aussetzung der Vollstreckung.
11. Begrundetheit der Klage
Unterschieden wird im französischen Recht zwischen controle de la Legalite externe (incompetence, vice de forme) und controle de la legalite interne (violation de la loi, deroumement de pouvoir).6S Die beiden Klagegründe im Bereich der Legalite interne werden dadurch unterschieden, daß Fehler, welche motif oder objet des Verwaltungsakts betreffen, der violation de la loi zugerechnet werden, während der derournement de pouvoir ausschließlich eine Fehlerhaftigkeit des but (Zwecks) kennzeichnen soll.66 Laubadere, Droit administratif I, S. 464, Rn. 696 f. Zum einstweiligen Rechtsschutz LaubalJere, Droit administratif I, S. 428, Rn. 644 ff. 63 Eine Übersicht über die in der letzten Zeit erheblich verkomplizierten Verfahren bei Clwpus, Contentieux administratif, S. 1061 ff., Rn. 1093 ff. M C. E. vom 17. 12. 1976 (Dame X ... ), Rec. S. 555 und C. E. vom 25. 3. 1994 (Gueye), Rec. S. 160. Siehe auch Clwpus, Contentieux administratif, S. 1158 ff., Rn. 1169 ff. und Jürgen Schwarze, Der vorläufige Rechtsschutz (sursis a execution) im französischen Verwaltungsrecht, in: DVBI. 1987, S. 1037 ff. 65 Dies geht zurück auf Laferriere, Juridiction administrative 11, S. 656 f.; Vedell Delvolve, Droit administratif 11, S. 302, unterscheiden nach "contröle formel de I'acte attaque: incompetence, vice de forme" und "contröle materiel de I'acte attaque: point de vue objectif (violation de la loi)" und "point de vue subjectif (detournement de pouvoir)". Zu der grundsätzlichen Unterscheidung: LaubalJere, Droit administratif I, S. 470, Rn. 707. 66 Ditournement de pouvoir - ins Deutsche übersetzt wäre wohl der Begriff ,.zweckverfehlung" der treffendste. Siehe dazu die grundlegende Definition des Conseil d'Etat im Fall Pariset, in: Lang/Weil, Grand arrets, Urteil NT. 4. 61
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5. Kap.: Rechtsschutz in Frankreich
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Die Herausbildung des "Viererkanons" der Klagegründe67 vollzog sich erst im Laufe der Zeit. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts konnte ursprünglich allein auf die Annahme der Unzuständigkeit der handelnden Stelle gestützt werden. 68 Das Gesetz vom 7. -13. Oktober 179(/>9, welches die Grundlage für den recours pour exces de pouvoir schufO, erwähnt ausschließlich die ,,reclarnations d'incompetence".71 Auch in der Folgezeit beschränkte sich die gerichtliche Nachprüfung auf den controle de la iegalite externe. In der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Maßnahmen war die Verwaltung frei (pouvoir discrhionnaire), solange sie die maßgeblichen Form- und Zuständigkeitsregeln beachtete. 72 Die Verwaltungsakte wurden als actes discritionnaires bezeichnet. Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Conseil d'Etat seine Kontrolle auszudehnen und damit den Anwendungsbereich des pouvoir discrhionnaire einzuengen. Die richterliche Nachprüfung konnte sich nunmehr auch auf den von der handelnden Behörde bei der Vornahme der Verwaltungshandlung verfolgten Zweck erstrecken. Hierin liegt das Kernmerkmal des Begriffs dhournement de pouvoir.73 Noch bevor der dhournement de pouvoir als eigenständiger Klagegrund in der Rechtsprechung des Conseil d'Etat Anerkennung fand, wurde die Rechtskontrolle im Bereich der legalite interne ausgeweitet; sehr bald wurde die violation de la loi als selbständiger Klagegrund unterschieden. 74 In der Rechtsprechung des Conseil d'Etat haben sich die folgenden Begriffsdefinitionen verfestigt:
1.1ncomphence ,,11 y a incompetence lorsque la mesure administrative edictee ne rentrait pas dans les attributions de l'autorite qui I'a prise mais dans celle d'une autre autorite,,75, d. h., der Verwaltungsakt muß in die Zuständigkeit der ihn erlassenden Behörde fallen. Hierzu gehört sowohl die sachliche oder funktionelle (ratione mateSiehe dazu auch Grote, NVwZ 1986, S. 269 f. Vedell Delvolve, Droit administratif 11, S. 241. 69 So Bourjol, Droit administratif 11, S. 189. Jedoch findet sich auch die Angabe 7.14.10. 1790, siehe z. B. Laferriere, Juridiction administrative 11, S. 402. 10 Siehe dazu Laferriere, Juridiction administrative 11, S. 402. 11 ,,Les reclamations d'incompetence l'egard des corps administratifs portees au Roi, chef de l'administration generale", aus: Roger Bonnard, Precis de Droit Administratif, Paris 1943,S. 234. . 12 Jean Rivero, Droit administratif, Paris 1987, S. 104. 13 Dazu unten unter lit. 4. 14 Zuerst in C. E. vom 13. 6. 1913 (Sin-Ie-Noble), Rec. S. 660. Die Wendung "violer un droit" findet sich schon in der Entscheidung des C. E. vom 13.3. 1867 (Bizet), Rec. S. 271. 15 Laubadere, Droit administratif 11, S. 473, Rn. 709. 61
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
riae) als auch die örtliche Zuständigkeit (ratione loei), welche von Amts wegen zu prüfen ist. 76 Schwierigkeiten bereitet der Fall der usurpation de pouvoir, d. h. der Fall, in dem eine nicht mit Hoheitsgewalt ausgestattete Person handelt. Ein solches Handeln wirft die Frage auf, ob hier überhaupt ein mit der Verwaltungsklage angreifbarer hoheitlicher Akt vorliegt. Teilweise werden solche Akte als "inexistantes" angesehen 77 und stehen damit außerhalb der Rechtmäßigkeitskontrolle des recours pour exces de pouvoir. Nach der Theorie vom faktischen Amtsinhaber wird die angemaßte Amtshandlung teilweise doch der Verwaltung zugerechnet und bedarf somit der Nichtigkeitserklärung. 78
2. Vice de forme et vice de procedure Unter diesen Klagegrund fallen Verstöße gegen Form- oder Verfahrensvorschriften79 : "Le vice de forme consiste dans l'omission ou l'iITt!gularite des formalites et procedures auxquelles etait assujetti l'accomplissement de I'acte administratif.,,8o Die Aufhebung des Verwaltungsaktes wegen Form- oder Verfahrensmängeln erfolgt jedoch nur, wenn wesentliche Form- und Verfahrensvorschriften iformalitis et procedures substantielles / essentielles) außer acht gelassen wurden. Bei diesen wesentlichen formellen Verstößen ist bereits die Gefahr, daß sie sich auf den Inhalt des Verwaltungsaktes ausgewirkt haben könnten, ausreichender Anlaß für dessen Aufhebung. 81 Hierzu gehören fehlende Anhörung, Anhörung der falschen Person oder eine fehlende Begründung.
76 Daneben wird teilweise auch eine zeitliche Zuständigkeit (ratione temporis) geprüft, z. B. verfrühte Ernennung eines Beamten oder vorzeitige Anwendung eines noch nicht in Kraft getretenen Gesetzes. Vedell Delvolve. Droit administratif 11, S. 307. 77 Wenn der Verwaltungsakt an einem derart schweren Fehler leidet, ist er nicht nur illegal und rückwirkend für nichtig zu erklären, sondern von Anfang an nicht existent; so schon Laferriere. Juridiction administrative 11, S. 498. 78 Siehe dazu Vedell Delvolve. Droit administratif 11, S. 304 ff. 79 Solche können sich sowohl aus dem Gesetz ergeben (wie die Pflicht der Verwaltung, den Bürger belastende Verwaltungsakte schriftlich zu begründen) oder aus der Rechtsprechung (so der Grundsatz vor der Verhängung einer Verwaltungssanktion, den Betroffenen zu informieren und ihm die Möglichkeit der Verteidigung zu geben, C. E. vom 5.5.1944 (Dame Trompier Gravier), Rec. 133. 80 Laubadere. Droit administratif I, S. 474, Rn. 712. 81 Bourjol. Droit administratif 11, S. 192.
5. Kap.: Rechtsschutz in Frankreich
103
3. Violation de la loi 82
Eine Gesetzesverletzung stellen alle diejenigen Fälle dar, die im Widerspruch zu einer höherrangigen Norm stehen, wobei als Gesetzesverletzung alle Fälle der Rechtswidrigkeit bezeichnet werden, deren Ursache nicht in der Unzuständigkeit, der Formverletzung oder im Ermessensmißbrauch liegen. In diese Gruppe fällt die Verletzung formeller Gesetze, als auch der Gesetze im (nur) materiellen Sinne. Obwohl nur negativ definiert (im Hinblick auf die drei anderen Fehlertatbestände), ist die violation de la loi der wichtigste Klagegrund im französischen Verwaltungsrecht. 83 Es wird also unterschieden nach dem Element, aus dem sich die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes ergibt: Fehler hinsichtlich des Urhebers, Fehler bezüglich Form und Verfahren (dazu gerade oben Punkt 1. und 2.) Fehler bezüglich des verfolgten Zwecks (but), Fehler bezüglich des Entscheidungsinhalts (objet) und Fehler bezüglich der der Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Annahmen (motifs). Die beiden letzten Begriffe subsumiert der Conseil d'Etat als illegalite quant l' objet und illegalite quant au motifunter den Begriff der Gesetzesverletzung. 84
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Illegalite quant l' objet Fehler bezüglich des Entscheidungsinhalts
..L'objet de l'acte administratif est l'effet qu'il produit immediatement et directement. 11 constitue la substance meme de l'acte.,,8S Überprüft wird der Inhalt des Verwaltungsakts, etwa das ausgesprochene Ge- oder Verbot - also ob ein Verwaltungsakt solchen Inhalts überhaupt erlassen werden durfte. Nur wenn die Verwaltung dazu unter keinen Umständen berechtigt war, liegt eine illegalite quant I' objet vor. 86 Dabei kommt es allein auf den Inhalt der Maßnahme an, nicht aber auf die darüber hinaus erstrebte Wirkung. In den Bereich der illegalire quant a I'objet
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82 Dieser Klagegrund wird teilweise auch als violation de la regle de droit bezeichnet. Zu der violation de la loi siehe Varadinek, Ennessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit, S. 40 ff., und die dort zitierte Rechtsprechung. 83 Grundsätzlich stellen sich die anderen Klage gründe ebenfalls als Gesetzesverletzung dar, aus diesem Grunde wird diese Kategorisierung teilweise auch in der französischen Rechtsliteratur für wenig sinnvoll erachtet. Siehe Laubadere, Droit administratif I, S. 471, Rn.707. 84 Urheber, Fonn und Verfahren als fonnelle Komponente; objet, motifund but als materielle Komponente. Objet entspricht dabei etwa dem deutschen Begriff der Rechtsfolge und but dem Ziel oder Zweck einer Maßnahme. Motifs als die rechtlichen und tatsächlichen Elemente, die die Verwaltung zum Handeln veranlaßt haben. Dazu Varadinek, Ennessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit, S. 34. 8~ Jean-Claude Venezia, Le pouvoir discretionnaire, Paris 1959, S. 19. 86 Burkhard Meister. Ennessensmißbrauch oder d6tournement de pouvoir als Fehlertatbestand der Nichtigkeitsklage des Montanvertrages, Bielefeld 1971, S. 25.
104
3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
fallen die Fälle, in denen nach dem Gesetz ein Akt dieser Art nicht erlassen werden durfte, also der Tatbestand eine solche Rechtsfolge nicht vorgesehen hat: "Cette illegalite consiste en ce que la mesure attaquee est illegale en elle-meme, c'est-adire ne pouvait pas etre prise ...87
Illegalite quant au motif
Seit Beginn des Jahrhunderts überprüft der Conseil d'Etat bei der Frage nach einer Gesetzesverletzung auch die motifs eines Verwaltungsakts, d. h. die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten, von welchen die Verwaltung bei Erlaß ihrer Maßnahme ausgegangen ist (also nicht etwa die Beweggründe).88 Der Conseil d'Etat überprüft nunmehr, ob diese tatsächlich vorliegen. 89 Es wird dabei unterschieden: (a) L'exactitude materielle des faits, d. h. die Frage nach der zutreffenden Erfassung des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts, also der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung90, und (b) L'exactitude juridique des motifs, d. h. die Richtigkeit der zugrunde gelegten rechtlichen Voraussetzungen, anders formuliert: das Vorhandensein und die rechtsirrtumsfreie Auslegung der Normen im Hinblick auf den konkreten Fall (erreur de droit).91 4. Detoumement de pouvoir ,)1 y a d6tournement de pouvoir lorsqu'une autorite administrative accomplit un acte de sa competence mais en vue d'un but autre que celui pour lequel I'acte pouvait legalement etre accompli. ..92
Hiermit sollen also, vereinfacht formuliert, die Fälle erfaßt werden, in denen die Behörde die ihr gesetzlich verliehene Befugnis nicht im Sinne des Gesetzgebers nutzt. Zur Feststellung eines solchen Fehlers vergleicht das Gericht die von der Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes verfolgten Zwecke mit der sich aus dem Gesetz ergebenden Zielsetzung. Stimmen erstere nicht mit letzterer überein, hebt das Gericht den Verwaltungsakt auf.
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88 89
Laubadere, Droit administratif I, S. 480, Rn. 733. Definition bei Laubadere, Droit administratif I, S. 481, Rn. 735. C. E. vom 4. 4. 1914 (Gomel), Rec. S. 488, auch in Long/Weil, Grands arrets, Nr. 32;
C. E. vom 14.1. 1916 (Camino), Rec. S. 15, Long/Weil, Grands arrets, Nr. 33. 90 Entlassung eines Beamten auf Grund eines Antrages, obwohl ein entsprechender Antrag nicht vorliegt, C. E. vom 20. 1. 1922 (Trepont), Rec. S. 65. 91 Anwendung des Beamtengesetzes auf Nichtbeamte C. E. vom 24. 5. 1947 (Mesmer), Rec. S. 218. 92 Laubadere, Droit administratif 11, S. 476, Rn. 719.
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5. Kap.: Rechtsschutz in Frankreich
Oben wurde bereits erwähnt, daß erst Mitte des 19. Jahrhunderts der ditoumement de pouvoir sich zu einem eigenständigen Klagegrund entwickelte, der heute meist als Zweckverjehlunl3 oder Motivationsfehler94 charakterisiert wird. Zunächst wurde die Fehlerhaftigkeit des but als Frage der Zuständigkeit behandelt. 95 M. Aucoc wies Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin, daß die Kontrolle der Ermessensausübung über eine reine Zuständigkeitsprüfung hinausgeht, und verwendete erstmalig den Begriff ..detoumement de pouvoir". 96 Laferriere definierte den detoumement de pouvoir als eigenständigen Aufhebungsgrund außerhalb der Zuständigkeit: "Cette illegalite resulte de ce que l' administrateur poursuit un but qu' il n' a pas le droit de poursuivre par les moyens qu'il emploie, ou qui meme lui est completement interdit, comme etant en dehors des attributions de l'administration.,,97
Dieser Definition von Laferriere schloß sich der Conseil d'Etat in der Sache PariserS an, in welcher er auf den detoumement de pouvoir abstellt. 99 In dem Fall Pariset100 begründete der Conseil d'Etat die Rechtswidrigkeit damit, daß hier die Ausübung des Ermessens zu einem anderen als dem in der gesetzlichen Ermächtigung vorgesehenen Zweck vorgenommen wurde. Zu prüfen ist also, ob die Verwaltung in rechtswidriger Absicht handelt, sie einen rechtswidrigen Zweck verfolgt oder ein rechtswidriges Ziel anstrebt. Als entscheidend wird die rechtswidrige Willensrichtung der tätigen Behörde angesehen, nicht ob die Maßnahme äußerlich von der Befugnis gedeckt ist.
Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 107. Rumpf, JöR 1989 (Band 38), S. 217 ff. 9S Siehe oben vor lit. I; dazu auch Meister, Ermessensmißbrauch oder detournement de pouvoir als Fehlertatbestand, S. 25. 96 Conference sur I' Administration et le droit administratif, Band I, Paris 1869, S. 283, zitiert nach Meister, Ermessensmißbrauch oder detournement de pouvoir als Fehlertatbestand, S. 23, Fn. 16. 97 La/erriere, Juridiction administrative 11, S. 549. 98 C. E. vom 26. 11. 1875: Auf Anweisung des Finanzministers schloß der Präfekt kraft seiner Polizeigewalt private Streichholzfirmen, angeblich um den von diesen ausgehenden Gesundheitsgefahrdungen Einhalt zu gebieten, in Wahrheit aber, um den nach der Einrichtung des staatlichen Monopols falligen Enteignungsentschädigungen zu entgehen (Rec. S. 934, auch Lang/Weil, Grands arrets, Nr. 4). 99 Wann der Conseil d'Etat erstmalig auf den Klagegrund ditoumement de pouvoir zugegriffen hat, ist nicht unumstritten. Die ersten Urteile, die in der Regel in der französischen Literatur angegeben werden, sind: C. E. vom 19.5. 1858 (Vernes), Rec. S. 399 und C. E. vom 25. 2.1864 (Lesbats), Rec. S. 209. Siehe dazu auch Rumpf, JöR 1989 (Band 38), S. 217, 238 f. 100 Das Urteil enthält zwar noch nicht den Begriff ditoumement de pouvoir, aber eine Definition: " ... (Je prefet) a ainsi use de pouvoirs de police qui lui appartenaient sur les etablissements dangereux, incommodes ou insulubres pour un objet autre que celui raison desquels ils etaient conferes." 93
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
Dabei ist die Willensrichtung in der Regel nur dort von Bedeutung, wo der Exekutive ein Ennessensspielraum eingeräumt war. Die Vorstellung, daß ein ditoumement de pouvoir bei gebundenen Verwaltungsentscheidungen nicht vorliegen kann, ist in der französischen Literatur allerdings nicht unumstritten. 101 Unabhängig von dem Inhalt dieses Streites ist festzuhalten, daß nach dem französischen Verständnis der detoumement de pouvoir über eine bloße Fehlfunktion des Ennessens hinausgeht und einen eigenständigen Fehlertatbestand darstellt. Im französischen Verwaltungsrecht haben sich drei Fallgruppen des deroumement de pouvoir herauskristallisiert l02 :
Acte erranger atout interet public Verfolgung eines dem öffentlichen Interesse völlig fremden Ziels 103 Häufigster Fall: Der handelnde Amtswalter verfolgt mit seiner Maßnahme keine Belange des öffentlichen Wohls, sondern ausschließlich private Zwecke. 104 Die Verfolgung privater Interessen stellt jedoch keinen Ennessensmißbrauch dar, wenn die Entscheidung auch Belangen der Allgemeinheit dienlich ist, sondern nur dann, wenn die Verwaltung einen völlig außerhalb des interet general liegenden Zweck verfolgt 105 , oder dann, wenn das unzulässige Ziel bestimmend gewesen ist. 106
Acte pris dans un but d'interet public, mais erranger aux pouvoirs de son auteur - Verfolgung eines im konkreten Fall rechtswidrigen öffentlichen Interesses Die Behörde verfolgt mit ihrer Maßnahme einen anderen als den vom Gesetzgeber vorgesehenen Zweck lO7 , wobei sich der Zweck entweder aus dem Wortlaut der Dazu Auby/Drago, Contentieux administratif 11, S. 412 ff. Siehe auch Peiser, Contentieux administratif, S. 133. 103 Laubadere, Droit administratif I, S. 477, Rn. 723; Vedel/Delvolve, Droit administratif 11, S. 334, mit Nachweisen auf die Rechtsprechung. 104 Entlassungsentscheidung aus persönlicher Abneigung, C. E. vom 23.7. 1909 (Fabregue), Rec. S. 727; C. E. vom 5.3. 1957 (Demoiselle Soulier), abgedruckt bei Bourjol, Droit administratif I, S. 201; C. E. vom 1. 4.1949 (Boulogne), Rec. S. 165; für weitere Rechtsprechungsnachweise siehe auch Varadinek, Ermessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit, S. 86 f. lOS C. E. vom 20. 7. 1971 (Ville de Sochaux), Actualite Juridique, Edition Droit Administratif(A.1. D. A.) 1972, S. 227. 106 Ein Bürgermeister handelt rechtmäßig, wenn er eine rechtswidrige Genehmigung zurücknimmt, auch wenn er diese Maßnahme unter anderem wegen einer persönlichen Antipathie ergriffen hat, vgl. C. E. vom 17. 7. 1953 (Constantin), Rec. S. 381. 107 Laubadere, Droit administratif I, S. 477, Rn. 724-726; Vedel/Delvolve, Droit administratif 11, S. 336. 101
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5. Kap.: Rechtsschutz in Frankreich
107
Ennächtigungsnonn oder aus dem Sachzusammenhang ergeben kann. 108 Ein detournement de pouvoir liegt daher auch vor, wenn ein Ziel verfolgt wird, weIches zwar dem Allgemeinwohl dient, jedoch nicht mit der gewählten Ennächtigungsnonn verfolgt werden darf. 109 Derournement de procedure - Verfahrensmißbrauch 110
Die Verwaltung macht anstelle des gesetzlich vorgeschriebenen Verwaltungsverfahrens von einem anderen, bei der gegebenen Sachlage an sich nicht anzuwendenden Verfahren Gebrauch, um damit bestimmte Fonnalitäten und Garantien zu umgehen und so ihr Ziel schneller oder mit geringeren. Kosten zu erreichen. lIl Ein Verfahrensmißbrauch wurde z. B. bei der Entscheidung eines Schuldirektors angenommen, der, um einen Schüler zu entlassen, dessen Noten herabsetzte, statt ein Disziplinarverfahren gegen ihn einzuleiten. 112
Irr. Umfang der Nachprüfung Ursprünglich überprüfte das Gericht nur die Anfechtungsgründe, die auch gerügt wurden. Da dies dem Grundsatz des französischen Verwaltungsrechts widerspricht, wonach dem Gericht die Aufgabe der objektiven Rechtskontrolle zukommt, dehnte der Conseil d'Etat seine Nachprüfungsbefugnis aus, so daß inzwischen alle Klagegründe von Amts wegen überprüft werden, für deren Vorliegen sich aus dem Klägervorbringen Anhaltspunkte ergeben. 113
IV. Urteilswirkungen
Der Richter kann die Klage als unzulässig bzw. unbegründet abweisen (arret de rejet) oder den angegriffenen Verwaltungsakt ganz oder teilweise aufheben (arret 108 Der Gesetzeszweck wird zum Teil erst durch die Rechtsprechung konkretisiert. Siehe dazu LaubatJere, Droit administratif I, S. 478, Rn. 726. 109 Dazu AubylDrago, Contentieux administratif 11, S. 414 f. Die meisten vom Conseil d'Etat entschiedenen Fälle betrafen Maßnahmen, mit denen die Behörden rein fiskalische Ziele verfolgten und die deshalb nicht von der Ermächtigungsnonn gedeckt waren. So gilt, daß Polizeirnaßnahmen in erster Linie der Gefahrenabwehr dienen sollen und nicht dem fiskalischen Interesse des Staates. Vor diesem Hintergrund hob der Conseil d'Etat in dem oben erwähnten Fall Pariset die polizeiliche Maßnahme auf (c. E. vom 26. 11. 1875, Rec. S. 934). 1\0 Dazu Laubadere, Droit administratif I, S. 478, Rn. 727; Vedell Delvolve, Droit administratif 11, S. 340. 111 C. E. vom 14.5. 1954 (de Pischof), Rec. S. 269. 112 C. E. vom 18. 12. 1968 (Brunne), Rec. 658. 113 Vgl. Grote, NVwZ 1986, S. 269; Volker Schlette, Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ennessensakten in Frankreich, Baden-Baden 1991, S. 91.
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
d'annulation). Weitergehende Befugnisse hat der Richter im französischen Recht nicht. 114 Gibt das Gericht der Klage statt, so wird die Verwaltungsmaßnahme ex tunc 1l5 aufgehoben, und alle Rechtswirkungen der aufgehobenen Maßnahme werden beseitigt. 116 Das Urteil wirkt erga omnes, während das abweisende Urteil nur relativ, also inter partes, wirkt. 117 In diesem Fall kann die angefochtene Maßnahme daher jederzeit von einem Dritten erneut angegriffen werden; wobei allerdings die Einhaltung der Klagefrist zu beachten ist.
Kapitel 6
Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen in Deutschland A. Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz Die Voraussetzungen für ein Verwaltungsrecht im modemen Sinne entstanden in Deutschland erst, als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der Gedanke der Gesetzesbindung der Verwaltung durchzusetzen begann. 118 Anlaß hierfür war die Aufteilung staatlicher Befugnisse und Aufgaben auf verschiedene Instanzen, was entsprechende Zuständigkeitsregelungen erforderte, sowie die Anerkennung von Grundrechten, die für Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers gesetzliche Regelungen verlangten. 119 Der Sturz der Monarchie und die Einführung der parla114 C. E. vom 26. 12. 1925 (Rodiere), Rec. S. 1065, auch in Long/Weil, Grands arrets, Nr.46. 115 Zur Frage der Rückwirkung siehe das Urteil des C. E. vom l. 4. 1960 (Queriaud), Rec. S.245. 116 Laferriere, Juridiction administratif 11, S. 399.
117
S.93.
Volker Schlette, Verwaltungsgerichtliche KontroIle von Ennessensakten in Frankreich,
118 Dazu Gerhard Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte, 5. Auflage, München 1996, insbes. S. 199 ff.; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage, Opladen 1993, S. 203 f.; Dietmar Willoweit, Artikel Verwaltung I: Reich und Territorien, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1998, S. 864 ff. m.w.N. Zur historischen Entwicklung des Verwaltungsrechts in Deutschland Kurt G. A. Jeserich/ Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsrechtsgeschichte, 6 Bände, Stuttgart 1987. 119 Die ersten verwaltungsrechtlichen DarsteIlungen erschienen noch unter dem Obertitel "Staatsrecht": Robert Mohl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 1. Auflage, Tübingen 1829/31, 2. Auflage 1846. Mohl nimmt bereits eine systematische Trennung der Staatsfunktionen vor und behandelt das Verfassungsrecht und das Verwaltungsrecht in zwei selbständigen Teilen des Werkes.
6. Kap.: Rechtsschutz in Deutschland
109
mentarischen Demokratie im Jahre 1919 führten zu keinem echten Bruch in der Entwicklung des Verwaltungsrechts. 120 Dieser vollzog sich erst durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die auch die Verwaltung dem Führerprinzip (Führerbefehl, Führererlaß) auslieferte. 121 Das Grundgesetz hat nach dem Zweiten Weltkrieg dem Verwaltungsrecht wieder neue Bedeutung beigemessen. 122 Die Verwaltung hat im Verfassungssystem des Grundgesetzes einen eigenständigen Platz als demokratisch legitimierte Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG), sie ist aber zugleich an den parlamentarischen Gesetzgeber gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) und kann durch die Gerichte kontrolliert werden (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Rechtsschutz des Bürgers gegen rechtswidriges Verwaltungshandeln war schon lange vor dem Bonner Grundgesetz als Funktionselement der staatlichen Ordnung anerkannt und in deutschen Verfassungen eingeräumt. Die Darstellungen zur Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland setzen regelmäßig im Jahr 1863 an, als nach der Absage an die (verwaltungsinterne) Administrativjustiz durch die Paulskirchenverfassung von 1849 123 das Großherzogtum Baden erstmalig auf deutschem Boden ein Verwaltungsgericht schuf, das für Entscheidungen öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten zwischen Staat und Bürger zuständig war. 124 Es folgten Preußen (1872), Hessen (1875), Württemberg (1876) und Bayern (1879). Auf Grund der föderativen Gliederung Deutschlands ist die Geschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit von unterschiedlichen Entwicklungssträngen geprägt. Das änderte sich auch nicht mit der Reichsgründung 1871. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen eingenständige allgemeine Verwaltungsrechtslehrbücher: Friedrich Franz von Mayer. Grundzüge des Verwaltungs-Rechts und -Rechtsverfahrens, o. O. 1857, oderders., Grundsätze des Verwaltungs-Rechts mit besonderer Rücksicht auf gemeinsames deutsches Recht, o. O. 1862, und später Otto von Sarwey, Allgemeines Verwaltungsrecht, Freiburg i. B./Tübingen 1884, der die allgemeinen Grundlagen (Grundbegriffe, Gewaltenteilung) zusammenfaßte und damit über die landesrechtIichen Verschiedenheiten hinweg ein gemeinsames Verwaltungsrecht entwickelte. Schließlich stellt Otto Mayer die dem Verwaltungsrecht eigentümlichen Rechtsinstitute in seinem systematischen Handbuch: Deutsches Verwaltungsrecht, I. Auflage 1895, dar. 120 Zu den wichtigsten Verwaltungsrechtslehrbüchem jener Zeit zählen Fritz Fleiner. Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, I. Auflage, Heidelberg 1911; Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, I. Auflage 1927. 121 Hartmut Maurer. Allgemeines Verwaltungsrecht, München 1995, S. 20 ff.; siehe dazu auch Kurt Egon von Turegg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Berlin 1950, S. 22. 122 Als wichtige Lehrbücher dieser Zeit sind hier zu nennen: Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts; Kurt Egon von Turegg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts; Hans J. Wolf!, Verwaltungsrecht I, München 1956. 123 Art. 182 der Paulskirchenverfassung: Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte. 124 Die Einrichtung von Verwaltungsgerichten bot sich als Kompromiß zwischen der Vorstellung der Verfassung von 1849, die Verwaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, und den konservativen Kräften an, die verhindern wollten, daß sich der Staat wie der Bürger vor den ordentlichen Gerichten zu verantworten haben sollte. Bezeichnend für die Bestrebungen dieser Zeit: Olto Bähr, Der Rechtsstaat, 1864, und RudolfGneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, Berlin 1879.
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
B. Anfechtungsklage Am Anwendungsgebiet und den Erfolgsvoraussetzungen der Anfechtungsklage läßt sich, stellvertretend für die anderen Klageformen, das Charakteristikum der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit ablesen. Diese ist vor allem dem Schutz der Rechte des einzelnen gegenüber der mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Verwaltung verpflichtet. 125 Bereits in der kurhessischen Verfassung von 1831 hieß es: ,,In jedem Falle, wo jemand sich in seinen Rechten verletzt glaubt, bleibt ihm die gerichtliche Klage offen." Art. 107 der WRV sieht vor, daß im Reich und in den Ländern nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungs gerichte zum Schutz des einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen müssen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erneut die Frage aufgeworfen, ob für den Erfolg der Anfechtungsklage allein auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts abgestellt und damit die Klage als Instrument der objektiven Kontrolle des Verwaltungshandelns konzipiert werden sollte oder ob die Anfechtungsklage nur bei einer Verletzung der Rechte des Klägers zum Erfolg führen und damit - der Tradition der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit treu bleibend - der subjektive Rechtsschutz in den Vordergrund gestellt werden sollte. 126 Die Entscheidung des Gesetzgebers fiel zugunsten der bisherigen Übung aus; soweit subjektive Rechte betroffen sind, ist umfassender Rechtsschutz garantiert: Greift ein Verwaltungsakt zu Unrecht in ein subjektives Recht ein, kann er mittels Anfechtungsklage beseitigt werden; besteht auf seinen Erlaß ein Anspruch, der von der zuständigen Behörde nicht erfüllt wird, steht die Verpflichtungsklage zur Verfügung. 127 Der Erfolg der Anfechtungsklage ist nunmehr in doppelter Hinsicht an die Verletzung des Klägers in einem subjektiven Recht gebunden, und zwar als Grundlage der Anfechtungsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) sowie auch als Voraussetzung der Anfechtbarkeit des Verwaltungsaktes gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Für die Zulässigkeit der Klage reicht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung aus 128, während für deren Erfolg notwendig ist, daß der angegriffene Verwaltungsakt nicht nur das objektive Recht, sondern zugleich die Rechte des Klägers (tatsächlich) verletzt. 129 Außerhalb des Regelungsbereichs eines Verwaltungsakts eröffnen Feststellungs- l3O Dazu Friedhelm Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, München 1996, S. 28, Rn. I. Siehe zu der Entstehungsgeschichte der Verwaltungsgerichtsordnung: Wassi/ios Skouris, Verletzungsklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, Köln, Berlin, Bonn, München 1978, S. 28 ff. 127 Claus Dieter Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1996, S. 11 f. 128 Siehe Ferdinand Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, München 1994, § 42, Rn. 39; Konrad Redeker / Hans-Joachim von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, Stuttgart, Berlin, Köln 1994, § 42, Rn. 20. 129 Siehe Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. 21; RedekerlOertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 1\3, Rn. 7. 125
126
6. Kap.: Rechtsschutz in Deutschland
III
sowie allgemeine Leistungsklage, gegebenenfalls in Form einer Unterlassungsklage, den Weg zur Durchsetzung subjektiver Rechte. Mit der Leistungsklage kann die Verurteilung des Beklagten zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung begehrt werden. 131 Soweit nicht subjektive Rechte geltend gemacht werden, ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten in Deutschland nur sehr eingeschränkt möglich: So setzt die Feststellungsklage zwar nur ein berechtigtes Interesse voraus, ist jedoch gegenüber den anderen Klagearten subsidiär. 132 Die untergesetzliche Normenkontrolle schließlich ist bundesrechtlich nur für Satzungen auf Grundlage des Baugesetzbuches garantiert. 133
I. Zulässigkeit Die Anfechtungsklage ist unter folgenden Voraussetzungen zulässig: Die Klage muß sich gegen einen Verwaltungsakt richten (im folgenden 1.), der Kläger muß behaupten, durch den angefochtenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein (2.), er muß zuvor Widerspruch erhoben haben (3.) und schließlich nach erfolglosem Widerspruchsverfahren fristgerecht Klage erheben (4.). J. Klagegegenstand Gegenstand der Anfechtungsklage ist der Verwaltungsakt. 134 Zu den Verwaltungsakten zählen auch die sogenannten Allgemeinverfügungen 135, die sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richten. Nicht angreifbar mit der Anfechtungsklage des § 42 VwGO sind Verordnungen und Satzungen oder sonstige Rechtsakte normativen Charakters. 136 2. Klagebefugnis
Die Klage ist gemäß § 42 Abs. 2 VwGO zulässig, wenn der Kläger schlüssig behauptet, durch den angegriffenen Verwaltungsakt der beklagten Behörde in sei130 Die Feststellungsklage ist in § 43 VwGO und die besondere Form der Fortsetzungsfeststellungsklage in § 113 Abs. I S. 2 VwGO geregelt. 131 RedekerlOertzen. Verwaltungsgerichtsordnung, § 42, Rn. 153 ff. 132 § 43 Abs. 2 S. I VwGO, siehe auch RedekerlOertzen. Verwaltungsgerichtsordnung, § 43, Rn. 118. 133 § 47 Abs. I Nr. I und 2 VwGO. 134 Legaldefinition in § 35 S. I VwVfG. siehe auch Ferdinand Kopp. Verwaltungsverfahrensgesetz, München 1996. § 35, Rn I ff. m § 35 S. 2 VwVfG. 136 Zur Abgrenzung siehe Kopp. Verwaltungsgerichtsordnung, § 47, Rn. 13.
112
3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
nen Rechten verletzt zu sein, d. h., die Darlegung einer bloß möglichen Rechtsverletzung reicht aus. 137 Die Feststellung der Klagebefugnis ist i. d. R. unproblematisch, soweit der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts ist. 138 Schwieriger ist die Feststellung einer möglichen Rechtsverletzung bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung. 139 Der Kläger ist in diesen Fällen nur dann klagebefugt, wenn ihn das materielle Recht mit eigenen subjektiven Rechten ausgestattet hat. Solche subjektiven Rechte können sich jedoch nur dort ergeben, wo sich das individuell geschützte private Interesse hinreichend deutlich und abgrenzbar aus dem Gesetz ergibt. 140
3. Vorveifahren
Die Verwaltung muß in einem durch den fristgerechten Widerspruch des Klägers eingeleiteten Vorveifahren die Möglichkeit erhalten, die getroffene Entscheidung noch einmal zu überdenken. Diese behördeninterne Überprüfung erstreckt sich sowohl auf die Rechtmäßigkeit als auch auf die Zweckmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung. 141 Die Bestimmungen über das Vorverfahren stellen zwingendes Recht dar, dies auch deshalb, weil das Vorverfahren nicht nur dem Rechtsschutz des Bürgers oder der Entlastung der Gerichte, sondern auch dem Interesse der Verwaltung dient. 142
4. Klagefrist
Die Klagefrist ist in § 74 VwGO geregelt, sie beträgt einen Monat ab Zustellung des Widerspruchsbescheides. Der Beginn der Frist ist an enge Voraussetzungen geknüpft. Im Fall der fehlenden Zustellung läuft keine Frist, im Fall einer fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung die Jahresfrist des § 58 VwGO. 143
137 BVerwGE 28, S. 131 ff.; zur Möglichkeitstheorie siehe auch earl Hermann Ule, Verwaltungsprozeßrecht, München 1987, S. 201 f. 138 Adressatentheorie: Der Kläger könnte zumindest in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. I GG verletzt sein, BVerGE, NIW 1988, S. 2752. 139 Zum Beispiel die Baugenehmigung, die den Adressaten begünstigt, den Nachbarn aber belastet. 140 Siehe dazu beispielhaft die Rechtsprechung des BVerwG zum nachbarschützenden Charakter des § 15 BauNVO, BVerwGE67, S. 334, und BVerwG, NJW 1984, S. 138. 141 § 68 Abs. I VwGO. 142 Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. zu § 68, Rn. 10. 143 Ebenda, § 75, Rn. 5.
6. Kap.: Rechtsschutz in Deutschland
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ß. Begrundetheit 1. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
Wie das französische Verwaltungsrecht unterscheidet auch die deutsche Dogmatik zwischen formellen und materiellen Rechtsfehlern. Auf der formellen Ebene werden Zuständigkeit, Form und Verfahren geprüft; der materielle Verstoß kann darin liegen, daß die Behörde von einem falschen Sachverhalt ausgeht, Interpretations- oder Subsumtionsfehler begeht oder ihr ein sogenannter Ermessensfehler unterläuft. 144
2.1ndividual-Rechtsverletzung
Zur Begründetheit der Anfechtungsklage gehört weiter, daß der Kläger durch die Rechtswidrigkeit in seinen Rechten verletzt ist. Eine Rechtsverletzung in diesem engeren Sinne liegt nur dann vor, wenn der Käger in seiner Rechtsstellung betroffen ist, d. h. seine schutzwürdigen rechtlichen Interessen in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden. Diese Schutzposition kann sowohl materiell-rechtlicher als auch verfahrensrechtlicher 145 Natur sein. 146
3. Umfang der gerichtlichen Kontrolle (Kontrolldichte)
Für den Umfang der Nachprüfungsbefugnis ist zwischen Ermessensentscheidungen und gebundenen Entscheidungen der Verwaltung zu unterscheiden. Liegt eine gebundene Entscheidung vor, so erstreckt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auf alle Bestandteile der Entscheidung. Das Gericht prüft, ob ein Verwaltungshandeln von einer Rechtsnorm hinsichtlich deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen gedeckt ist. Es fragt hingegen nicht nach der Zweckmäßigkeit der Maßnahme. Die Verwaltungsgerichte sind keine "Oberverwaltungsbehörden", sie sind ausschließlich dazu da, Rechtsschutz zu gewähren und bei Anfechtungsklagen (oder auch Verpflichtungsklagen) über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines erlassenen (bzw. nicht erlassenen) Verwaltungsakts, nicht aber über seine Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit zu befinden. 141 Diese auf den ersten Blick uneingeschränkte Rechtmäßigkeitsprüfung ist allerdings in bestimmten - freilich umstrittenen - Fallgruppen begrenzt. Die Rede ist hier von dem sogenannten Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbe144 Wolfgang Kuhla/Jost Hüttenbrink, Der Verwaitungsprozeß, München 1995, S. 70, Rn. 98. 14S Beispielsweise das Recht des Klägers auf Beteiligung am Verfahren. 146 Kuhla/Hüftenbrink, Der Verwaltungsprozeß, S. 70, Rn. 101. 147 Ebenda, S. 4, Rn. 12.
8 Drewes
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3. Teil: Nationale Vorbilder der Nichtigkeitsklage
standsseite einer Nonn. Bei bestimmten in der Regel komplexen Sachverhalten, etwa wissenschaft-lichen Prognosen, soll sich die behördliche Feststellung, ob die Voraussetzungen eines unbestimmten Rechtsbegriffes vorliegen, der richterlichen Überprüfung entziehen. 148 Unbestimmte Rechtsbegriffe werden nunmehr in zwei Kategorien aufgeteilt: mit oder ohne Beurteilungsspielraum. Nur solche unbestimmten Rechtsbegriffe, die der Verwaltung keinen Beurteilungsspielraum eröffnen, sind gerichtlich voll nachprüfbar. Bei der Überprüfung von Entscheidungen, die sich auf sogenannte Ennessensvorschriften stützen können, werden deren tatbestandliehe Voraussetzungen wie bei gebundenen Entscheidungen geprüft. Hinsichtlich der Überprüfung der Rechtsfolge hat sich heute ein "standardisiertes" Prüfungsraster etabliert, das auf der Lehre von den Ennessensfehlern beruht. Diese Ennessensüberprüfung unterteilt sich in die folgenden Kriterien: (a) Hat die Verwaltung von ihrem Ennessen Gebrauch gemacht, oder ist sie fälschlicherweise von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen (Ermessensnichtgebrauch / Rechtsirrtum), (b) sind die tatsächlichen Feststellungen zutreffend, (c) verfolgt die Verwaltung mit ihrer Entscheidung unzulässige Zwecke (sachfremde Erwägungen), (d) wurden alle erheblichen Gesichtspunkte beachtet und mit hinreichender Sorgfalt gewürdigt (Abwägungsdefizit). Teilweise wird im Rahmen der Überprüfung von Ennessensentscheidungen auch die Verletzung von Rechts- und Verfassungsgrundsätzen geprüft. 149 Hier sollen vor allem das Gleichheitsgebot, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Grundrechte und andere Verfassungsgrundsätze eine Rolle spielen. Ein Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze stellt sich jedoch als Rechtsverstoß dar. Eine Entscheidung der Verwaltung, die (z. B.) gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt, steht eben nicht im Ennessen der Behörde. Eine Ennessensentscheidung kann nur zwischen zwei gleichfalls verfassungsmäßigen Alternativen getroffen werden. ISO
148 149 1~
Zum Streitstand siehe Ule. Verwaltungsprozeßrecht, S. 23 ff. Siehe dazu auch Maurer, Allgemeines VerwaItungsrecht. S. 127. Rn. 23. Dazu unten KapitelS.
4. Teil
Europäische Rechtsanwendung Kapitel 7
Die Nichtigkeitsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle Im Zentrum der in dieser Arbeit behandelten Aspekte des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Verwaltung steht nun die Frage, wie sich im Gemeinschaftsrecht der Rechtsschutz gegenüber Verwaltungshandeln zwischen den beiden Polen objektive Rechtskontrolle und subjektiver Rechtsschutz entwickelt hat. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Rechtsprechung ohne Bekenntnis zu der einen oder anderen Seite handelt; es scheint vielmehr so, als hätten die Juristen der einzelnen Mitgliedsstaaten unbewußt Methodik und Begriffe der nationalen Rechtsordnungen in die Gemeinschaftsrechtsordnung übertragen. 1 Es gilt freilich zu erkennen, daß die Entscheidungen des Gerichtshofes und seit 1989 auch die des Gerichts erster Instanz stets Tendenzen zu der einen oder anderen Kontrollmaxime aufweisen, eine eindeutige Ausrichtung bisher aber ausgeblieben ist. Für die Beantwortung dieser Frage sei noch einmal auf den wesentlichen Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen Verwaltungsrechtsschutz hingewiesen: Während im deutschen Verwaltungsrecht das Konzept des (bürgerlichen bzw. liberalen) Rechtsstaates allenthalben spürbar ist, wird das französische Verwaltungsrecht stärker von dem Bestreben nach einer effizienten und gesetzeskonformen Tätigkeit der Verwaltungsbehörden geprägt? Interessiert in Deutschland vor allem, ob ein Verwaltungshandeln in die Rechte Privater eingreift, geht es in Frankreich eher darum, sicherzustellen, daß die Verwaltung die ihr übertragenen öffentlichen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. 3 Die Anrufung des Gerichts dient I Dazu Meister, Ennessensmißbrauch oder detournement de pouvoir als Fehlertatbestand, S.16. 2 Jarass. DöV 1981, S. 813 ff.; Jean-Marie Woehrling, Die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit im Vergleich mit der deutschen, in: NVwZ 1985, S. 21 ff. 3 Siehe dazu und zu der hier beschriebenen Differenzierung Walter Krebs, Subjektiver Rechtsschutz und objektive RechtskontroUe, in: Festschrift für Menger, S. 191 ff.; Eberhardt
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
im französischen Verwaltungsrecht der objektiven Kontrolle und dem Interesse einer guten Verwaltung. 4 Dementsprechend ist auch der recours pour exces de pouvoir weniger als Instrument des Individualrechtsschutzes ausgestaltet denn als Mittel zur Sicherung rechtlicher Regeln bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Im Gemeinschaftsrecht wurde zunächst ein ähnlicher Schwerpunkt gesetzt. Individualrechtsschutz gegenüber der europäischen Verwaltung hat sich in den Gründungsverträgen in diesem Sinne nicht durchsetzen können. Jedoch waren, wie bereits dargestellt, die französischen Vorgaben in den Gründungsverträgen (insbesondere in dem Vertrag zur Gründung der EGKS) nicht bindend. Die französischen Vorbilder, auf welche Rechtsprechung und Schrifttum deswegen zurückgriffen, steckten nur vorläufig den Rahmen bei der Auslegung der Verträge ab. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes entwickelte bald eine eigene Dynamik. 5 Im Laufe der Ausgestaltung des Rechtsschutzes orientierte sich das Gemeinschaftsrecht an der Idee einer subjektiven Rechtsschutzgarantie, was im folgenden gezeigt werden soll. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes enthält zahlreiche Belege dafür, daß diese These nicht nur das Interesse der Theorie verdient, sondern sich auch in der praktischen Rechtsanwendung niederschlägt. Dabei wird die folgende Untersuchung drei Aspekte der gemeinschaftsrechtlichen Nichtigkeitsklage hervorheben: die Frage der KJagebefugnis, die Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes und den Umfang der Ermessensüberprüfung.
A. Zur Klagebefugnis Zunächst sei noch einmal der Maßnahmenkatalog des Art. 14 i. V. m. 33 EGKSV (allgemeine und individuelle Entscheidungen) und des Art. 189 i. V. m. 173 EGV (Verordnungen und Entscheidungen) in Erinnerung gebracht. Die weitgehende Gleichbehandlung des Klagegegenstandes im Rahmen der Nichtigkeitsklage entspricht dem französischen Verwaltungsgerichtsverfahren, in dem reglements und dicisions als actes administratifs unterschiedslos mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können. Im französischen Recht ist reglements Oberbegriff für allgemeine, unpersönliche Maßnahmen einer Verwaltungsbehörde. Nach der erlassenden Stelle unterscheidet man dicrets des Staatspräsidenten oder Premierministers und arretes der Minister, Präfekten oder Bürgermeister6 ; dabei haSchmidt-Assmann. Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Menger. S. 107 ff. 4 Fritz Münch. Die Gerichtsbarkeit im Schuman-Plan, in: D. S. Constantopoulos I Hans Wehberg (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift flir Rudolf Laun zu seinem siebzigsten Geburtstag, Hamburg 1953, S. 123 ff. 5 Siehe dazu auch Classen. Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit; Jürgen Schwarze. Der Schutz des Gemeinschaftsbürgers durch allgemeine Verwaltungsrechtssätze im EG-Recht, in: NIW 1986. S. 1067 ff. 6 HübnerlConstanrinesco. Einflihrung in das französische Recht, S. 7.
7. Kap.: Die Nichtigkeitsklage zwischen Rechtsschutz und Rechtskontrolle
117
ben decrets und arretis nicht notwendig nonnativen Charakter, sondern können auch Einzelentscheidungen enthalten. Ein tenninologischer und sachlicher Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen Verwaltungsrecht besteht darin, daß nach deutscher Auffassung nonnative Regelungen keine Verwaltungsakte sind7, während die actes administratifs des französischen Rechts Einzelakte und Verordnungen umfassen. 8 Nach französischer Auffassung sind diese alle actes administratifs und als solche anfechtbar. 9 Andererseits stellt nicht jedes Verwaltungshandeln einen Verwaltungsakt dar; zwei Gruppen des Verwaltungshandelns unterfallen nicht dem recours: Regierungsakte (actes de gouvernement) und Verwaltungsäußerungen ohne Regelungscharakter (z. B. Auskünfte der Verwaltung). \0 Im Gemeinschaftsrecht wurde eine ähnliche Lösung angestrebt: Mit der Nichtigkeitsklage können alle Maßnahmen mit verbindlicher Wirkung angegriffen werden, gleichviel ob sie Einzelfall- oder Nonncharakter haben.
I. Mitgliedsstaaten und Gemeinschaftsorgane Art. 33 Abs. 1 EGKSV und Art. 173 Abs. 1 EGV regeln die Klagebefugnis der Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaftsorgane. Die Klage ist ein objektives Verfahren: Es wird nicht verlangt, daß das Handeln der Organe Rechte oder Interessen des klagenden Mitgliedsstaates oder des klagenden Organs verletzt. Ein Mitgliedsstaat kann auch Klage erheben gegen eine Verordnung, eine Richtlinie oder eine Entscheidung, die sich nur auf einen anderen Mitgliedsstaat oder auf ein Individuum aus diesem Mitgliedsstaat bezieht. Auch die Tatsache, daß ein einzelner die Maßnahme des Gemeinschaftsorgans hätte anfechten können und von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, schlieBt eine Anfechtung durch einen Mitgliedsstaat oder ein Gemeinschaftsorgan nicht aus. lJ Da die Organe und die Mitgliedsstaaten mit der Nichtigkeitsklage nicht eigene Interessen, sondern allgemeine Interessen der Gemeinschaft wahrnehmen, ist die Klage entgegen dem Verbot des "venire contra factum proprium" auch zulässig, wenn der betreffende Mitgliedsstaat im Ministerrat für die Entscheidung gestimmt hat. Im Rahmen der Klagebefugnis der privilegiert Klagebefugten ist somit für den deutschen Juristen darauf zu achten, nicht die Lehre von dem subjektiv-öffentliVgl. Legaldefinition des § 35 Abs. 1 VwVfG. 1m deutschen Recht sind Verordnungen nicht mit der Anfechtungsklage anfechtbar, während der recours pour exces de pouvoir den Rechtsweg auch gegen solche Normativakte bereithält. 9 Bestritten wurde dies früher für die sogenannten reglements autonomes. Der Conseil d'Etat hat diese seiner Kontrolle unterworfen, die reglements autonomes sind zwar nicht an Gesetzen zu messen, müssen aber mit der Verfassung und den principes genireaux im Einklang stehen. 10 Vedell Delvolvi, Droit administratif, S. 3\0. 11 Bleclano.nn, Europarecht. § 6, S. 231, Rn. 543. 7
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
chen Recht heranzuziehen, um den Kreis der zur Klage Berechtigten zu bestimmen.!2 Hier kommt zum Ausdruck, daß der Rekurs im Einklang mit der Vorstellung des französischen Verwaltungsrechts vor allem der objektiven Kontrolle und dem Interesse einer guten Verwaltung dienen sollte.!3
11. Klagen Privater Anders stellt sich die Klagebefugnis Privater dar: War auch hier das französische Modell Grundlage für den Text der Art. 33 Abs. 2 EGKSV und Art. 173 Abs. 4 E(W)GV, so gestaltete der Gerichtshof die Klagebefugnis bald nach eigenen Kriterien aus.!4 Im Rahmen der Klagebefugnis Privater muß gemäß Art. 173 Abs. 2 EGV!5 unterschieden werden zwischen (nachfolgend: 1.) Einzelfallentscheidungen, gerichtet an den Kläger (Art. 173 Abs. 2, 1. Alt.), (2.) als Verordnung ergangenen Entscheidungen (2. Alt.) und (3.) an Dritte gerichteten Entscheidungen (3. Alt.). 1. Einzeljallentscheidungen
Die Klage Privater gegen an sie gerichtete Entscheidungen sind unproblematisch; wohl alle Rechtsordnungen räumen ein Rekursrecht des einzelnen wegen einer gegen ihn selbst gerichteten hoheitlichen Maßnahme ein. 2. Als Verordnung ergangene Entscheidungen
Klagen einzelner gegen normative Rechtsakte sind prinzipiell unzulässig!6, soweit es sich nicht um Scheinverordnungen handelt, die materiell als Entscheidung zu behandeln sind (sous l'apparence d'un reglement).!? In diesem Rahmen spielt 12 Die Klagebefugnis ist nicht von dem Begehren in der Sache abhängig, sondern von der Stellung des Klägers innerhalb der Gemeinschaft. 13 Dazu auch Peter Becker, Der Einfluß des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, Hamburg 1963, S. 67 ff. 14 Siehe dazu auch Bleckmann, Festschrift für Menger, S. 871 ff., und die neue Untersuchung von Ludwig Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach EG-Vertrag, Möglichkeiten seiner Verbesserung, Baden-Baden 1995. 15 Wie oben bereits ausgeführt, unterscheidet der EGKSV zwischen individuellen und allgemeinen Entscheidungen. Zu den Unterschieden zwischen den Regelungen in den Gründungsverträgen siehe oben Kapitel 3, Punkt B.III. 16 Siehe dazu Bleckmann, Festschrift für Menger, S. 871, 873; earl Hermann Ule, 46. Deutscher Juristentag, S. 56 ff.; Hans Kutscher, EuR 1981, S. 392; Ulrich Everling, ZfRV 1992, S. 241 ff. 17 Mehrfach hat der EuGH betont, daß die Wahl der Form die Rechtsnatur einer Handlung nicht ändern kann, Rs. 789 und 790 179 (Calpak / Kommission), Slg. 1980, S. 1949, 1961.
7. Kap.: Die Nichtigkeitsklage zwischen Rechtsschutz und Rechtskontrolle
119
für das Klagerecht nach EG- oder EGKS-Recht die Abgrenzung von Einzelfallregelungen und nonnativen Maßnahmen eine ähnliche Rolle wie nach der deutschen Verwaltungs gerichtsordnung, während im französischen Recht dieses Problem unbekannt iSt. 18 Das Gemeinschaftsrecht unterscheidet hierzu zwischen der Verordnung und der Entscheidung (bzw. allgemeiner oder individueller Entscheidung nach EGKS-Recht), etwas Drittes kommt nicht in Betracht. 19 Der Generalanwalt Roeme?O hat schon im Jahr 1968 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts21 und der dort herausgearbeiteten Abgrenzungskriterien versucht, die dort entwickelten Kriterien in das Gemeinschaftsrecht zu übertragen. Für die rechtliche Einordnung könne es nicht allein darauf ankommen, ob die Zahl der Adressaten zur Zeit des Erlasses objektiv feststehe oder eine potentielle Fluktuation des Kreises der Betroffenen vorhanden sei. 22 In dem vom EuGH zu entscheidenden Fall ließ sich zwar nicht ausschließen, daß noch andere Unternehmen von der Regelung in Zukunft betroffen sein würden, eine solche Ausweitung erschien allerdings äußerst unwahrscheinlich, da die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des betroffenen Wirtschaftszweiges einer Expansion eher entgegenstanden. Somit konnte der Adressatenkreis auf ca. dreißig Unternehmen begrenzt werden. Roemer spricht hier von einer "entscheidungsartigen Auswirkung", mit Nähe eher zur Einzelfallregelung, als daß man ihr nonnativen Charakter zusprechen könne. 23 Seine Bedenken sind nur im Hinblick auf die deutsche Systematik zu erklären. Von Anfang an hat im deutschen Verwaltungsrechtsschutz die Unterscheidung zwischen Verordnung und Verwaltungsakt eine wichtige Rolle gespielt. 24 Im Rahmen von Anfechtungsklagen (und Verpflichtungsklagen) sollte eine Verordnung nicht Klagegegenstand werden können. Bei dieser UnterscheiSiehe auch Schwarze. Festschrift für Schlochauer, S. 297, 931; Tlwmas von Danwitz. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1993, S. 1I08 ff. 18 Zwar unterscheidet auch das französische Recht terminologisch zwischen Verwaltungsakt, Allgemeinverfügung und Verordnung, siehe Auby / Drago, Contentieux administratif I, S. 418, Rn. 400, jedoch fallt diese Unterscheidung im Rahmen der Anfechtbarkeit hoheitlicher Maßnahmen nicht wesentlich ins Gewicht. Dazu auch Michel Fromont, L'influence du droit fran~ais et du droit allemand sur les conditions de recevabilite du recours en annulation devant la Cour de Justice des Communautes europeennes, in: RTDE 1966, S. 47, 52. 19 Siehe GA Roemer. Schlußantrag in den Rs. 6/68 (Zuckerfabrik/Kommission), Sig. 1968, S. 622. 20 Schlußanträge in den Rs. 6/68 (Zuckerfabrik/Kommission), Sig. 1968, S. 622 ff.; Rs. 41-44/70 (Fruit Company 1 Kommission) Sig. 1971, S. 429 ff. 21 Siehe dazu oben Kapitel 6, Punkt B.II. lit. l. 22 GA Roemer. Schlußantrag in der Rs. 6/68 (Zuckerfabrik 1 Kommission), Sig. 1968, S. 622, hier stand die Frage nach der Rechtsatzqualität einer "Verordnung" zum Wegfall der Absatzgarantie von Rübenrohrzucker zur Entscheidung. 23 Rs. 6/68 (Zuckerfabrik/Kommission), Slg. 1968, S. 622 ff. 24 Zu der VwGO aus dem Jahre 1960 siehe den Kommentar von AleXilnder Koehler. aus dem sich auch die amtlichen Begründungen für die gefundenen Lösungen in der deutschen Gerichtsordnung ergeben: VwGO-Kommentar, Berlin, Frankfurt a. M. 1960.
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
dung kommt es darauf an, ob es sich um die Regelung eines konkreten oder abstrakten Sachverhaltes handelt25 : Eine Anordnung, die im Hinblick auf einen bereits gegebenen Sachverhalt erlassen wird, d. h. sich auf schon existente, regelbedingte Situationen bezieht und nicht eine Regelung für noch künftige und ungewisse Ereignisse darstellen soll, ist keine Verordnung, sondern eine Allgemeinverfügung und als Verwaltungsakt angreifbar. 26 Der Gerichtshof ist den Anträgen des Generalanwaltes nicht gefolgt. Die Maßnahme habe allgemeine Geltung, denn sie sei auf objektiv bestimmbare Sachverhalte anwendbar und zeitige Rechtswirkungen für eine nach allgemeinen Kriterien abstrakt definierte Personengruppe.27 Der Gerichtshof blieb bei seiner Rechtsprechung, daß eine Maßnahme ihren Charakter als Verordnung nicht dadurch verliere, daß diejenigen Personen, auf die sie zu einem gegebenen Zeitpunkt anzuwenden ist, sich der Zahl nach oder sogar namentlich mit mehr oder weniger großer Genauigkeit bestimmen lassen. 28 Soweit feststehe, daß die Maßnahme "nach ihrer Zweckbestimmung auf Grund eines objektiven Tatbestandes rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar sei, die Regelung allgemeine Geltung für eine objektiv bestimmbare Situation beanspruche und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt bezeichneten Personengruppen entfalte", sei sie als Verordnung zu behandeln. 29 Der EuGH geht noch weiter und nimmt auch dann das Vorliegen einer Verordnung an, wenn nur die theoretische Möglichkeit besteht, daß (neben dem konkret betroffenen) ein bei Erlaß des Rechtsaktes noch nicht betroffener Wirtschaftsteilnehmer durch die Aufnahme einer bestimmten unternehmerischen Tatigkeit in Zukunft von der fraglichen Regelung betroffen sein wird.3°
2S Vgl. den aus den Lehrbüchern bekannten ,,Endiviensalat-Fall": Das vom Ministerium ausgesprochene Verbot des Handels mit Endiviensalat an Groß- und Einzelhandelsunternehmen in allen von lYphus betroffenen Gebieten ist ein Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung, VGH Stuttgart, DÖV 1957, S. 217 ff. Der VGH hatte argumentiert, daß der durch das Verkaufsverbot betroffene Personenkreis feststehe und seine Erweiterung in der Zukunft - zumindest faktisch - nicht in Betracht käme. Es fehle also an der charakteristischen Voraussetzung einer Rechtsnorm, nämlich der Möglichkeit der zukünftigen Tatbestandsverwirklichung. 26 § 35 S. 2 1. Alt. VwVfG. BVerwGE 12, S. 87, 90; 18, S. I, 4; dazu Stelkens in: Paul Stelkens/Heinz Joachim Bonk/Michael Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), München 1993, § 35, Rn. 168, 169. 27 Rs. 6/68 (Zuckerfabrik/Kommission), Sig. 1968, S. 620. 28 So auch EuGH, Rs. 789 und 790/79 (Calpak/Kommission), Sig. 1980, S. 1949, 1961. In der Rs. 97, 99 und 215/86 (Asteris/Kommission) klagte (fast) die gesamte Gruppe der griechischen Erzeuger von Tomatenkonzentrat gegen eine auf Griechenland beschränkte Verordnung der Kommission. Der EuGH lehnte die Klagebefugnis ab, Slg. 1988, S. 2181 ff. 29 EuGH, Rs. 206/87 (Lefebvre Frere et Soeur/Kommission), Slg. 1989, S. 275, 288; Rs. 117/86 (UFADE/ Kommission), Slg. 1986, S. 3255, 3259. 30 Rs. 11 /82 (Piraiki-Patraiki/Kommission), Slg. 1985, S. 207.
7. Kap.: Die Nichtigkeitsklage zwischen Rechtsschutz und Rechtskontrolle
121
Das Vorliegen einer Verordnung wird nur dann verneint, wenn die Regelung eine bestimmte Anzahl von Marktteilnehmern betrifft, die auf Grund eines individuellen Verhaltens, das sie während einer bestimmten Zeit an den Tag gelegt haben oder gelegt haben sollen, feststehen. 3! In diesem Fall werde an eine bereits bestehende Rechtsposition angeknüpft, so daß der Kreis der Betroffenen nach Erlaß der Maßnahme nicht mehr erweitert werden könne. 32 Die "Verordnung" stellt sich in diesem Fall als ein "Bündel von Einzelentscheidungen,,33 dar, wobei jede dieser Entscheidungen die Rechtsstellung jedes Antragstellers berührt. Eine Klagebefugnis Privater wird auch in diesem Fall nur dann bejaht, wenn die angefochtene Maßnahme den Kläger individuell und unmittelbar betrifft. Individuelle Betroffenheit Wer nicht Adressat einer Maßnahme ist, kann nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn diese ihn wegen bestimmter, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten. 34 Im Fall des Rübenrohrzuckerherstellers3s wurde dies verneint: Der Kläger war zusammen mit einer (innerhalb der Gemeinschaft) überschaubaren Zahl anderer Unternehmen durch die Regelung konkret betroffen, jedoch verblieb die - wenn auch nur theoretische - Möglichkeit, daß noch weitere Produzenten hinzukommen würden. Eine individuelle Betroffenheit wird generell verneint, wenn die Teilnahme am Wirtschaftsleben jederzeit durch jedermann ausgeübt werden kann. 36 Unmittelbarkeit Die angegriffene Regelung ist unmittelbar, wenn sie Rechtswirkungen für den Kläger entfaltet, ohne daß es weiterer Vollzugs maßnahmen bedarf. Dem gleichgeEuGH. Rs. 100174 (CAM/KQmmission), Sig. 1975, S; 1393, 1403. Wenn die "Verordnung" also bereits über jeden Einzelfall entschieden hat und keine weiteren Betroffenen mehr hinzukommen können. 33 EuGH. Rs. 100174 (CAM/Kommission), Slg. 1975, S. 1393, 1403; Rs. C-354/87 (Wedde1 1Kommission), Sig. I 1990, S. 3847. Ähnlich auch Rs. 88176 (Socic~te pour l'exportation des sucresl Kommission), Sig. 1977, S. 709; hier scheiterte jedoch die Zulässigkeit der Klage am fehlenden Rechtsschutzinteresse des Klägers, da die "Verordnung" mangels Rückwirkung nicht auf ihn anwendbar war. 34 EuGH. Rs. 100174 (CAM/Kommission), Sig. 1975, S. 1393, 1403: Verordnung zur Regelung der Festsetzung und Zahlung von Erstattungen. 35 Rs. 6/68 (Zuckerfabrik/Kommission), Sig. 1968, S. 622 ff. 36 Sehr deutlich EuGH. Rs. 25/62 (Plaumann/Kommission), Sig. 1963, S. 211 ff. Dazu auch Martin Nettesheim. Artic1e 173 of the EC Treaty and Regulations: Towards the Development of Uniform Standing Requirements, in: Hans-W. Micklitz/Norbert Reich (Hrsg.), Public Interest Litigation before European Courts, Baden-Baden 1996, S. 230 f. 31
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
stellt ist der Fall, daß die Regelung die Anwendungskriterien so festlegt, daß den ausführenden Stellen kein Ennessen mehr verbleibt. 37 3. An Dritte gerichtete Entscheidungen
Die Klagebefugnis Privater im Rahmen der Anfechtung einer "an einen Dritten ergangenen Entscheidung" wird im Gemeinschaftsrecht ähnlich behandelt wie die Fälle der ,,verordnung". Sowohl im Rahmen der Scheinverordnung als auch bei Rechtsakten, die an einen Dritten gerichtet sind, kann die Klagebefugnis des einzelnen nur angenommen werden, soweit dieser unmittelbar und individuell betroffen ist. 4. Stellungnahme
Die Fonnulierung der Art. 33 EGKSV und 173 EGV verstellt den Blick für den eigentlichen Inhalt der Regelungen: Allgemeine Entscheidungen, die sich dem Kläger gegenüber als Ennessensmißbrauch darstellen (Art. 33 Abs. 2, 2. Alt. EGKSV), oder auch Verordnungen, die den Kläger unmittelbar und individuell betreffen (Art. 173 Abs. 2, 2. Alt. EGV), sind als Einzelfallentscheidungen zu behandeln. Echte Verordnungen mit reinem Rechtsnonncharakter entbehren stets eines individuellen Bezugs. Sie regeln abstrakte Sachverhalte unter Anordnung einer abstrakten Rechtsfolge für einen unbestimmten Adressatenkreis und können daher mangels eines konkreten Bezugs zu einem bestimmten oder zumindest bestimmbaren Adressatenkreis nicht mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Die Abweichung vom Typus der objektiven, umfassenden Rechtskontrolle der Verwaltung wird damit erkennbar: So ist nicht nur die Klage des einzelnen gegen Verordnungen ausgeschlossen; auch bei Allgemeinverfügungen38 und Einzelfallregelungen 39, als die sich Scheinverordnungen darstellen, soll eine "einfache" Rechtswidrigkeit, bzw. die bloße Geltendmachung der Rechtswidrigkeit, für die Klagebefugnis nicht ausreichen, notwendig ist ein darüber hinaus gehender Eingriff in die Rechte des einzelnen, eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit. 4o Dabei darf hier jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß - und darauf weist der Gerichtshof immer wieder hin - dem Betroffenen der Rechtsweg gegen eventuelle Durchführungsmaßnahmen offenbleibt. Der EuGH ist der Auffassung, daß es dem Rs. C-354/87 (Weddell Kommission), Sig. 1990 I, S. 3847, 3886. EuGH, Rs. 26/86 (Deutz & Geldermann 1 Kommission), Sig. 1987, S. 941. 39 Etwa der Fall des Bürstenimporteurs, in dem dieser (unbestritten) der einzige Adressat der angefochtenen Regelung war und diese erst nach Antrag auf Einfuhrgenehmigung durch den klagenden Unternehmer ergangen ist, Rs. 231/82 (Spijker Kwasten 1Kommission), Sig. 1983, S. 2559. 40 Siehe dazu auch Fromont, RTDE 1966, S. 47, 63. 37 38
7. Kap.: Die Nichtigkeitsklage zwischen Rechtsschutz und Rechtskontrolle
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Kläger zugemutet werden kann, eine Entscheidung der nationalen Behörden abzuwarten (oder notfalls durch AntragsteIlung oder Mißachtung der Regelung zu provozieren) und im Rahmen eines nationalen Rechtsstreits die gemeinschaftsrechtliche Grundlage per Vorlage überprüfen zu lassen. Die Frage verlagert sich damit von dem "ob" Rechtsschutz gewährt wird zum "wie" - also ob der Kläger gegen den Gemeinschaftsakt oder gegen einen nationalen Durchftihrungsakt vorgehen muß. Damit stellt sich heute der subjektive Rechtsschutz in dem Bereich der Klagen Privater als eine Maxime des Gemeinschaftsrechtssystems dar.
B. Zum Suspensiveffekt der Klageerhebung 1. § 80 VwGO Die §§ 80, 80 a und 123 VwGO bilden im deutschen Verwaltungsprozeßrecht die Grundlagen des vorläufigen Rechtsschutzes 4J ; grundsätzlich haben Widerspruch und Klageerhebung aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO); § 80 Abs. 1 S. 2 stellt ausdrücklich klar, daß die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten eintritt. 42 Für den vorläufigen Rechtsschutz bei Anfechtungsklagen sind die §§ 80, 80 a VwGo einschlägig, § 123 VwGo greift in den Fällen, in denen in dem Hauptsacheverfahren die Verpflichtungsklage, die allgemeine Leistungsklage (einschließlich Unterlassungsklage) oder die Feststellungsklage statthafte Klageart wäre. 43 Diese Bestimmungen werden als Ausftillung der Rechtsweg- und Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstanden, die auch den Schutz gegen vorläufige Rechtsnachteile einschließen.44 Zwar gibt es auch im deutschen Recht Bestrebungen, den "automatischen Eintritt der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen" zu beschränken, der oben dargestellte Grundsatz ist jedoch bislang erhalten geblieben.
41 Eine Übersicht zur neuesten Entwicklung der Rechtsprechung zum vorläufigen Rechtsschutz in: Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsprechungsübersicht zum Verwaitungsprozeß - Teil 4, X. Der vorläufige Rechtsschutz gemäß §§ 80,80 a VwGO, in: JZ 1996, S. 1155 ff., und Teil 4, XI. Die einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO, JZ 1996, S. 1166 ff. Siehe auch Erich Eyermann, VerwaItungsgerichtsordnung Kommentar, 10. Auflage, München 1998, § 80 und § 123. 42 Kuhla/ Hüttenbrink, Der Verwaltungsprozeß, S. 275 ff. 43 Kopp, Kommentar zur VwGO, § 123, Rn. I; siehe auch Klaus Finckelnburg/Klaus Peter Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, München 1986; Robert Piendl, Eine Studie zur maßgebenden Sach- und Rechtslage beim Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, Frankfurt a. M. 1992. 44 Dazu Friedrich Sehloch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung ·im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1988. S. 121 ff.
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
2. Sursis
aexecution
Anders in Frankreich: Wie bereits in Kapitel 5 dargestellt45 , kann eine Verwaltungsentscheidung auch dann vollstreckt werden, wenn gegen sie Klage erhoben wurde. Der Suspensiveffekt eines eingelegten Rechtsmittels muß ausdrücklich ausgesprochen werden46 , dabei ist die Gewährung eines Vollstreckungsaufschubes (sursis execution) nach wie vor die Ausnahme und kann nur dann gewährt werden, wenn dem Antragsteller ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Schaden droht. 47 Einen Anspruch auf Vollstreckungsschutz kennt das französische Recht jedoch nicht, auch bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen steht die Entscheidung über die Gewährung noch im Ermessen des Gerichts. 48
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3. Art. 39 EGKSV, Art. 185 EGV Auch im Gemeinschaftsrecht ist der Suspensiveffekt der Erhebung der Klage vor den europäischen Gerichten nur für Ausnahmefälle vorgesehen. 49 Schon von Anfang an waren die Verfasser der Gründungsverträge darin einig, daß die Klage grundSätzlich keine aufschiebende Wirkung haben sollte, um den Vollzug des Gemeinschaftsrechts nicht zu hemmen. 50 Gemäß Art. 39 S. 2 EGKSV, 185 S. 2 EGV kann der Gerichtshof (in Abweichung von dem in Satz 1 bezeichneten Grundsatz) die Durchführung bzw. Vollstreckung der angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn es die Umstände nach seiner Ansicht erfordern. 51 Diese Anordnung kann der Siehe dazu oben Kapitel 5, Punkt C.I. lit. 6. Laubadere. Droit administratif I, Rn. 643; Vedel / Delvolve. Droit administratif, S. 188. 47 Siehe zu den sonstigen Voraussetzungen: Klageerhebung in der Hauptsache. Erfolgsaussichten der Klage, Anhalten der rechtlichen Wirkungen der Maßnahmen. Laubadere. Droit administratif I, Rn. 643. 48 VedellDelvolve. Droit administratif, S. 193. 49 Interessant sind auch die Rückwirkungen der gemeinschaftsrechtlichen Lösungsansätze auf die nationalen Rechtsordnungen im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes. Als Beispiel sei hier nur auf den Rechtsschutz im Vereinigten Königreich hingewiesen: Das englische Recht kennt die Aussetzung des Vollzugs von Maßnahmen der Krone nicht. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Gemeinschaftsrecht in Großbritannien wurden deutlich in der Rs. C-213/89 (Factortame), Sig. 1990 I, S. 2433 ff. Das umgekehrte Problem mit der weitgreifenden Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wurde problematisch in der deutschen Rs. C-217 / 89 (Kommission / Deutschland), Slg. 1990 I, S. 2879. Zur "interaction of that 1aw with the law of the Member States" siehe Neville Brownl Francis Jacobs. Tbe Court of lustice of the European Communities, London 1983, S. 260 ff.; zur Annäherung und gegenseitigen Einflußnahme siehe Dimitris Triantafyllos. Zur Europäisierung des vorläufigen Rechtsschutzes, in: NVwZ 1992, S. 129 ff. so Siehe dazu oben Kapitell, Punkt B.I.1. SI Neben der Aussetzung des Vollzugs einer angefochtenen Maßnahme regelt Art. 186 EGV die Gewährung des allgemeinen Rechtsschutzes und Art. 192 Abs. 4 S. 1 EGV die 4S
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7. Kap.: Die Nichtigkeitsklage zwischen Rechtsschutz und Rechtskontrolle
125
Gerichtshof nur auf Antrag des Klägers treffen. 52 Die Verfahrensordnungen konkretisieren die Voraussetzungen zum Erlaß der Eilmaßnahme dahingehend, daß die Angelegenheit dringlich und der Erlaß einer einstweiligen Maßnahme notwendig sei, außerdem sind sowohl die Dringlichkeit als auch die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. 53 Die Dringlichkeit ist danach zu beurteilen, ob dem Antragsteller ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht. 54 Für die Notwendigkeit muß die Klage in der Hauptsache zumindest zulässig und nicht unbegründet erscheinen. 55 Die Klagerhebung allein ändert damit grundsätzlich nichts an dem Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und dem beklagten Organ, auch nicht provisorisch für die Dauer des Prozesses.56 Der Kläger bleibt weiterhin verpflichtet, die in dem angefochtenen Akt" enthaltenen Gebote und Verbote zu befolgen, und die Gemeinschaftsorgane sind trotz der Klageerhebung nicht gehindert, die betreffenden Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen zwangsweise durchzusetzen. 57 Diese praktisch bedeutsame Einschränkung des Rechtsschutzes ergibt sich aus der bei Abschluß der Gründungsverträge erreichten Übereinkunft, daß der Gerichtshof sich nicht hemmend auf die Tätigkeit der Hohen Behörde bzw. KommisAussetzung der Zwangsvollstreckung. Auf Grund der gemeinsamen Zielrichtung wurden diese einstweiligen Maßnahmen in Art. 36 der Satzung des Gerichtshofes wie auch Art. 83 ff. VerfOEuGH und Art. 104 VerfOEuG einheitlichen verfahrensrechtlichen Bestimmungen unterworfen. Auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen soll nicht im einzelnen eingegangen werden. Es mag hier der Hinweis auf die sehr übersichtliche Darstellung in Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 276 ff., sowie auf die Rechtsprechungsübersicht von Bertrand Wägenbaur, Die jüngere Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes, in: EuZW 1996, S. 327 ff., genügen. 52 Von der Möglichkeit eines solchen Eilverfahrens ist bisher nur in geringem Maße Gebrauch gemacht worden: So kommen auf 5.748 vor dem Gerichtshof in den Jahren 19531994 erhobene Direktklagen nur 303 Anträge auf einstweilige Anordnung, aus: EuGH (Hrsg.), Tatigkeitsbericht 1992-1994, S. 268. 53 Art. 83 ff. VerfOEuGH und Art. 104 ff. VerfOEuG; Krück in: GTE-Kom., 4. Aufl., Art. 186, Rn. 19. 54 EuGH, Rs, C-358/9O R (Compagnia Italiana AIcool/Kommission), Slg. 1990 I, S. 4887; siehe dazu auch Wägenbaur, EuZW 1996, S. 327, 330. 55 Zu den Abwägungskriterien im einzelnen siehe die Beschlüsse des EuGH in: Rs. 3/75 R (Johnson & Firth Brown/Kommission), Slg. 1975, S. 1,6; Rs. 54/75 R (De Dapper/Parlament), Slg. 1975, S. 839; Rs. 19/78 (Authie!Kommission), Slg. 1978, S. 679; Rs. C-195/ 90 R (Kommission/Deutschland), Slg. 1990 I, S. 3351, 3354 ff.; Rs. C-358/90 R (Compagnia Italiana AIcool/Kommission), Slg. 1990 I, S. 4887, 4893 f.; Rs. C-6/94 R (Descom/ Rat), Slg. 1994 I, S. 867, 873 f.; Rs. C-87/94 R (Kommission / Belgien), Slg. 1994 I, S. 1395, 1403 ff. 56 Zu dem Rechtsschutz im Rahmen des indirekten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht siehe Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 101 ff.; Triantafyllos, NVwZ 1992, S. 129 ff. 57 Krüc/c, in: GTE-Kom, 4. Aufl., Art. 186, Rn. 4. Zu der Frage, ob hierin ein Defizit an Rechtsstaatlichkeit liegt, siehe BVerjGE 51, S. 268, 284 f., 65, S. 1,70 f.
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
sion auswirken sollte. 58 Für angreifbare Maßnahmen gilt die Vermutung der Rechtmäßigkeit. 59
4. Stellungnahme Bei Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes weisen alle drei Rechtsordnungen gewisse Gemeinsamkeiten auf: Erfolgsaussichten einerseits und Vermeidung unzumutbaren Schadens andererseits sind Bedingungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in dem Bestreben, eine Vorwegnahme der Hauptsache zu vermeiden. Die Unterschiede treten jedoch klar hervor, insbesondere in der Frage der Gewichtung der widerstreitenden Interessen: Während im französischen Recht die Vorstellung vorherrscht, daß der Staat im Sinne einer funktionierenden Verwaltung in aller Regel zur Durchsetzung einer im Allgemeinwohl liegenden Maßnahme berechtigt ist, fällt in Deutschland das Interesse des einzelnen, von einer eventuell rechtswidrigen Maßnahme vorerst verschont zu bleiben, ähnlich schwer ins Gewicht wie das Durchsetzungsinteresse des Staates. Der Verwaltungsrechtsweg ist in Frankreich grundsätzlich der Verwaltung verpflichtet und steht im Gegensatz zu der "Gleichstellung" von Verwaltung und Bürger im deutschen Recht. In Deutschland wird nicht grundsätzlich von einem vorrangigen Interesse der Verwaltung an der Durchsetzung von Verwaltungsakten ausgegangen (§ 80 Abs. 1 VwGO); ein Interesse der Verwaltung an der Durchführung rechtswidriger Verwaltungsakte wird in der Regel gänzlich verneint. Im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes lassen sich Bestrebungen auch der europäischen Gerichte erkennnen, administrative Leistungsfahigkeit und individuellen Rechtsschutz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. In den Vorlageersuchen zweier deutscher Finanzgerichte60 zur Frage der Befugnis der nationalen Gerichte, im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsaktes auszusetzen, weist der Gerichtshof ausdrücklich auf die individualrechtlichen Aspekte des Gemeinschaftsrechtsschutzes hin. Er spricht den nationalen Gerichten die Befugnis zu, die Anwendung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung einstweilen auszusetzen. Damit folgt der Gerichtshof dem Vorschlag des deutschen Generalanwalts Lenz. Schon in der Rs. Factortame hatte der Generalanwalt Tesauro auf die subjektiven Rechte des einzelnen hingewiesen, die die Gewährung eines vollständigen und effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zwingend machten. 61 Damit spielt nunmehr auch die Effektivität des gerichtlichen Schutzes eine Rolle bei der Frage nach der Aussetzung eines Gemeinschaftsrechtsaktes. Durch den ~8 Siehe dazu Kapitell, Punkt B.I.I, insbesondere die Reaktion Jean Monnets auf die Forderungen nach einem Rekursrecht. ~9 EuGH, Rs. 101178 (Granaria/Hoofproduktschap voor Akkerbouwprodukte), Sig. 1979, S. 623,636; Rs. C-137/92 R (Kommission/BASF), Sig. 1994 I, S. 2555, 2646. 60 Rs. C-143/88 und C-92189 (Zuckerfabrik/ Hauptzollamt), Sig. 1991 I, S. 415. 61 Schlußantrag in der Rs. C-2 13/89, Slg. 1990 I, S. 2433, 2440.
8. Kap.: Ermessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
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einstweiligen Rechtsschutz soll soweit wie möglich verhindert werden, daß der durch den zeitlichen Abstand zwischen Entstehung und Feststellung des Rechts verursachte Schaden die Effektivität und die wesentliche Funktion des Rechtsschutzes (zugunsten des Individuums) beeinträchtigt. Der einstweilige Rechtsschutz soll in all den Fällen zur Anwendung kommen, in denen die Verfahrensdauer dazu angetan ist, die Erreichung des Rechtsschutzzieles zu gefahrden, das Urteil etwa durch Zeitablauf praktisch wirkungslos würde. Damit nähert sich die Gedankenführung dem Modell der subjektiv-rechtlichen Verpflichtung des vorläufigen Rechtsschutzes an. Es soll nicht mehr genügen, rechtswidriges hoheitliches Handeln durch Urteil zu beseitigen, vielmehr muß schon im Vorfeld sichergestellt werden, daß die schädlichen Folgen einer gemeinschaftsrechtlichen Maßnahme im Falle ihrer Rechtswidrigkeit gering gehalten werden. Dieser Gedanke hat sich jedoch bisher nicht grundSätzlich durchsetzen können. Ob hier ein Umschwung der EuGH-Rechtsprechung hin zur Betonung des Individualrechtsschutzes bevorsteht, ist nicht ausgemacht. 62
Kapitel 8
Ermessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit A. Bedeutung der Klagegründe Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn die gerügte Maßnahme oder ein Teil derselben sich unter einen der vier in den Art. 33 EGKSV, 173 EGVaufgezählten Tatbestände des fehlerhaften Verwaltungshandelns subsumieren läßt. Wer gegen die Kommission klagt, kann - wie gesehen - nach den Verträgen grundsätzlich63 sämtliche vier Klagegründe geltend machen: Unzuständigkeit 64 , Verletzung we62 Ein neues interessantes Beispiel findet sich auch in der Rs. Deggendorj': Bei der Klage des Beihilfeempfängers, der, obwohl von dem Mitgliedsstaat über die Entscheidung der Kommission, daß die Beihilfe zurückzufordern ist, schriftlich in Kenntnis gesetzt, gegen diese Entscheidung nicht bzw. nicht fristgerecht gemäß Art. 173 EGV Klage erhoben hat, ist - so der EuGH - auch das nationale Gericht, bei dem der nationale Rückforderungsakt angefochten wurde, inhaltlich an die Entscheidung der Kommission gebunden. Eine etwaige Ungültigkeit der Entscheidung dürfte wegen des Ablaufs der Frist aus Art. 173 Abs. 3 EGV nicht berücksichtigt werden, EuGH, Rs. C-188/92 (Textil werke Deggendorf / Bundesrepublik), EuZW 1994, S. 250 ff. 63 Zu den Einschränkungen bei Klagen Privater im EGKSV siehe oben Kapitel 2, Punkt B.IV. 64 Auch im Gemeinschaftsrecht ist ein Handeln denkbar, das sich zwar den Anschein eines Rechtsakts gibt, aber so offensichtlich abwegig ist, daß es von vornherein keinen Gehorsam beanspruchen kann und daher ipso facto als nichtig und nicht lediglich anfechtbar angesehen werden muß. Die Qualifizierung eines Handeins als inexistent erlaubt - auch außerhalb der Klagefristen - die Feststellung, daß dieser Akt keine Rechtswirkung entfaltet hat. Aus Gründen der Rechtssicherheit muß dies allerdings Akten vorbehalten bleiben, die mit besonders
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
sentlicher Fonnvorschriften, Verletzung des Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnonn und Ennessensmißbrauch. Im französischen Recht haben diese cas d'ouverture eine Begrenzungsfunktion. 65 Der Conseil d'Etat darf Maßnahmen der Verwaltung nur aufheben, soweit ein Verstoß sich unter einen der Klagegründe subsumieren läßt, anderenfalls ist eine Aufhebung ausgeschlossen. 66 Im deutschen Recht ist gemäß § 113 VwGO die Anfechtungsklage begründet, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, also der Verwaltungsakt gegen Rechtssätze des objektiven Rechts verstößt, und zugleich Rechte des Klägers verletzt sind. 67 Eine Beschränkung auf im voraus definierte Fehlertatbestände (Rechtswidrigkeitsgründe) gibt es nicht. 68 Im Gemeinschaftsrecht üben die Klagegründe keine strenge Begrenzungsfunktion aus, vielmehr wurde durch den Gerichtshof schon früh festgestellt, daß die Anfechtungsgründe der Art. 33 EGKSV, 173 EGVallenfalls als beispielhafte Aufzählung von Rechtsfehlern anzusehen seien69, so daß bei der Überprüfung der Klagegründe der Gerichtshof nicht auf die geltend gemachten Rechtsfehler beschränkt ist. 7o Zwar ist grundsätzlich der Klagegrund in der Klageschrift geltend zu machen, der EuGH verfährt hier aber recht großzügig. Es ist nicht erforderlich, daß der Kläger den geltend gemachten Mangel ausdrücklich unter einen der vier Begriffe subsumiert. Die Klagegründe müssen sich mit hinreichender Klarheit aus dem Gesamtvortrag des Klägers in der Klageschrift ergeben, der EuGH nimmt dann die richtige Zuordnung selbst vor. 71 Daher ist es auch unschädlich, wenn der Kläger die falsche Bezeichnung wählt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Rügen sind schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet sind. Zur Inexistenz eines Gemeinschaftsakts siehe EuGH, Rs. 1 und 14/57 (Societe des usines tubes de la Sarre/Hohe Behörde), Sgl. 1957, S. 213, 233; Rs. 15/85 (Consorzio cooperative d'Abruzzo/Kommission), Slg. 1987, S. 1005, 1036; Rs. 226/87 (Kommission/Griechische Republik), Sig. 1988, S. 3611,3624, sowie die beiden neueren Entscheidungen des EuG, Rs. T-79/89 (BASF u. a./ Kommission), EuZW 1992, S. 607 ff., und des EuGH, Rs. C-137/92 P (Kommission/BASF u. a.), Slg. 1994I,S.2555,2640. 65 Zu den Tendenzen in Frankreich, die Begrenzungsfunktion der Klagegründe zu lockern, siehe Laubadere, Droit administratif I, S. 4171, Rn. 707; Meister, Ermessensmißbrauch oder detournement de pouvoir als Fehlertatbestand, S. 29 f. 66 Siehe dazu oben Kapitel 5, Punkt C.II. 67 Siehe dazu Kapitel 6, Punkt B.V. lit. 1. und 2. 68 Vgl. Bleckmann, Europarecht, S. 233, Rn. 547. 69 EuGH, Rs. 9/65 (Meronil Kommission), Slg. IV d, S. 26 ff.; Rs. 15/57 (Chasse/ Kommission), Slg. IV d, S. 190. 70 Bereits in seinem ersten Urteil hat der Gerichtshof die Verletzung wesentlicher Formvorschriften geprüft, obwohl der Kläger dies nicht vorgetragen hatte, Rs. I/54 (Frankreich / Hohe Behörde), Slg. 1954/55, S. 7, 33; siehe auch Rs. 19/58 (Deutschland/Hohe Behörde), Sig. 1960, S. 418, 500. 71 EuGH, Rs. 338/82 (Albertini und Mantaguani/Kommission), Slg. 1984, S. 2123, 2135 und Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, S. 491, 505.
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8. Kap.: Ennessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
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schließlich fließend. die Rüge der Rechtsverletzung kann ebenfalls die der Unzuständigkeit oder der Verletzung wesentlicher Formvorschriften mit enthalten. 72 Die zulässige Nichtigkeitsklage eröffnet dem Gerichtshof die Möglichkeit. den Sachverhalt anhand aller in Betracht kommender Klagegründe zu würdigen. 73 Die Rechtsprechung des Gerichtshofes entspricht in diesem Punkt der Vorgehensweise des deutschen Verwaltungsgerichts. das. unabhängig von dem Vortrag des Klägers. die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungshandelns umfassend überprüft. In der Rs. C-62/8874 etwa bejaht der Gerichtshof ausdrücklich eine vollständige und umfassende Prüfung anhand aller Gründungsverträge. Art. 173 Abs. 1 E(W)GV sei so auszulegen. daß er die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht ausschließt. im Rahmen einer Klage auf Nichtigkeitserklärung einer auf die Bestimmung des E(W)GV gestützten Maßnahme zusätzlich eine etwaige Verletzung des EAG- oder EGKS-Vertrags zu prüfen. Die Beantwortung der Frage. in welchem Umfang der Gerichtshof die tatsächlichen. einer Entscheidung zugrundeliegenden Umstände judizieren soll. wird bei dem Klagegrund ..Ermessensmißbrauch" zu einem entscheidenden Faktor. Das Problem einer angemessenen Grenzziehung zwischen gerichtlicher Kontrolle und einem gerichtsfreien Bewertungs- und Entscheidungsspielraum der Gemeinschaftsorgane ist auch ein Thema in der europäischen Rechtsprechung. 75 Daß zumindest den Autoren der europäischen Verträge eine Ermessensprärogative der Gemeinschaftsorgane rür bestimmte Bereiche vorschwebte. wird in den Bestimmungen zur Nichtigkeitsklage des EGKS-Vertrags deutlich. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes läßt sich hier eine Entwicklung von einer am französischen Beispiel orientierten Selbstbeschränkung hin zu einer weitreichenden Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen nachzeichnen. Dies soll im folgenden versucht werden. Dabei wird hier der Begriff ..Ermessenskontrolle" gewählt. da in der EuGHRechtsprechung eine strenge dogmatische Trennung zwischen einem Entscheidungsspielraum auf der Tatbestandsseite und einem solchen auf der Rechtsfolgenseite. wie sie im deutschen Recht meist vorgenommen wird. nicht stattfindet. 76
B. Ermessenskontrolle Ist ein gesetzlicher Tatbestand mit einer eindeutig bestimmten Rechtsfolge verbunden. ist also verbindlich geregelt. wann und wie das Verwaltungsorgan zu hanKrüd" EWG-Kommentar, 4. Aufl., Art. 173, Rn. 20. Dazu auch Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 95 f., Rn. 181 ff. 74 (Griechenland/Rat), Sig. 1990 I, S. 1545, 1548. 7S Siehe zum Beurteilungsspielraum oben Kapitel 6, Punkt B.II. lit. 3. 76 Siehe dazu Borchardt in: Lenz-Komm., Art. 173, Rn. 61 ff.; Krück in: GTE-Kom. 4. Aufl .• Art. 173, Rn. 73 ff.; Rengeling, Rechtsschutz in der Europäischen Union, S. 95 f.; Wenig in: Grabitz-Kom., Art. 173, Rn. 20. 72
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9 Drewes
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
deIn hat, so unterliegt dieses Handeln einer uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung. Anders im Rahmen der ermessensgebundenen Verwaltung: Beschränkt sich der Gesetzgeber darauf, das Ziel seiner Regelung anzugeben, in dem er die Verwaltung zu bestimmten Verhaltensweisen, zu Gewährungen, zu Versagungen oder auch Eingriffen ermächtigt, ohne ihr bestimmte Maßnahmen vorzuschreiben, spricht man von ermessensgebundener Verwaltung (administration discretionnaire).77 Das Ermessen der Verwaltungsbehörde ist Ausfluß des sogenannten Opportunitätsprinzips. eines allgemeinen Strukturprinzips der Verwaltung, welches auch dem Gemeinschaftsrecht immanent ist. 78 Das Ermessen ist jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen der richterlichen Kontrolle nicht vollständig entzogen. Gleichzeitig gebietet das Demokratieprinzip eine Einschränkung der richterlichen Macht. In diesem Grenzbereich zwischen Beurteilungsfreiheit der Exekutive und Kontrolle durch die Judikative bewegt sich die Ermessenskontrolle des Gerichts. Die unterschiedlichen Gewichtungen in den Mitgliedsstaaten führten dabei zu unterschiedlichen Entwicklungen. Gegenstand der folgenden Betrachtung ist die Frage, nach welcher Methode und welchen Gesichtspunkten die beteiligten Rechtsordnungen die Ermessenskontrolle ausüben und inwieweit diese Eingang in das Gemeinschaftsrecht gefunden haben.
I. Frankreich
Das Ermessen wird in der französischen Lehre verstanden als die Freiheit der Verwaltung. über den Inhalt der von ihr in Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Zuständigkeiten zu treffenden Entscheidungen eigenverantwortlich und ohne Bindung an gesetzliche Verhaltensregeln zu entscheiden. 79 Ermessen ist danach gegeben. wenn Vorschriften über die Voraussetzungen ftir das Tätigwerden der Verwaltung entweder überhaupt nicht vorliegen oder solche Bestimmungen zwar vorhanden sind. die Voraussetzungen der Maßnahme von ihnen aber nur vage umschrieben werden. so daß der Behörde ein weiter Spielraum bei der Entscheidung verbleibt. 80
n Hans J. Wolf!/ Otto Bachof/ Rolf Stober, Verwaltungsrecht I, ein Studienbuch, München 1994. S. 373. Rn. 31. 78 Siehe dazu Fernand Schockweiler, Die richterliche Kontrollfunktion: Umfang und Grenzen in bezug auf den Europäischen Gerichtshof, in: EuR 1995, S. 191 ff. 79 Siehe Laubadere. Droit administratif I. S. 625, Rn. 964; Vedell Delvolve. Droit administratif I. S. 528; siehe dazu auch die vergleichenden Darstellungen deutscher Autoren: Peter Becker, Der Einfluß des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, S. 126 ff.; Grate. NVwZ 1986, S. 269 ff.; Jarass. DÖV 1981, S. 813, 820 f.; Schlette. VerwaItungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, S. 223 ff.; Varadinek, Ermessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit. S. 31 ff.; Woehrling. NVwZ. 1985, S. 21 ff. 80 Dazu Grote. NVwZ 1986, S. 269 f.
8. Kap.: Ennessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
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Das französische Verständnis des Ermessensmißbrauchs, derournement de pouvoir, ist dadurch geprägt, daß dieser Tatbestand historisch aus dem Klagegrund der Unzuständigkeit, also der Frage nach der legalite externe entwickelt wurde. 81 Raphael Aliben schreibt noch 1926: ,,Le detoumement de pouvoir est une sorte d'incompetence. ,,82 Nur soweit die Behörden ihre Befugnisse zu den Zwecken ausüben, zu denen ihnen diese Befugnisse verliehen wurden, handeln sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Soweit sie aber ihre Befugnisse zu anderen Zwecken ausüben, handeln sie ohne Zuständigkeit und somit rechtswidrig. Läßt sich die Behörde von tatsächlich nicht vorhandenen Umständen oder von falschen Rechtsauffassungen leiten, dann stellt sich dies in Frankreich als Rechtsverstoß dar. 83 Ein derournement de pouvoir liegt vor, wenn zwar eine Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist, die handelnde Behörde aber bei der Regelung des durch die Ermächtigungsgrundlage gedeckten Gegenstands einen mit der Ermächtigungsgrundlage nicht verfolgten Zweck erfüllen will. 84 Anders als bei der illegalite des motifs, bei der die Behörde einem Irrtum hinsichtlich der Beurteilung des Sachverhalts oder einer auf ihn anzuwendenden Norm unterliegt, befindet sich beim derournement de pouvoir die Behörde nicht in einem Irrtum, sondern will den hinter der Norm stehenden Zweck nicht erfüllen und "mißbraucht" diese Norm zur Erreichung eines nicht von dieser gedeckten Zwecks. 85 Ein derournement de pouvoir ist also nur dann anzunehmen, wenn das Handeln der Behörde von einer fehlerhaften Zweckvorstellung bzw. Absicht bestimmt wird. Die Feststellung eines derournement de pouvoir setzt damit zunächst die Herausarbeitung des Gesetzeszwecks im Wege der Auslegung voraus, sodann die Ermittlung des Ziels, das die Behörde mit ihrer Maßnahme subjektiv verfolgt, um dann in einem letzten Schritt beide auf ihre Übereinstimmung hin zu überprüfen. 86 Das Hauptproblem bei der Feststellung eines Ermessensmißbrauchs besteht in dem Nachweis der gesetzwidrigen Absicht der handelnden Behörde. 87 Oben Kapitel 5, Punkt c.u. Le contrc3le juridictionnel de I' Administration au moyen du recours pour exces de pouvoir, Chapter III, S. 236, zitiert nach GA Lagrange, Schlußantrag in der Rs. 3/54 (ASSIDER/Hohe Behörde), Sig. 1954/55, S. 154, 159. 83 LonglWeil, Les grandes arrets de la jurisprudence administrative, 10. Auflage, Paris 1993, S. 26 ff., insbes. S. 28. Siehe auch C. E. vom 24. 6. 1987 (Bes), Rec. S. 568 und C. E. vom 16. 2. 1972 (Ministre de I'Equipement et du Logement c/sieur Baron), Rec. S. 139 f. 84 Im französischen Verwaltungsrecht wird dabei zwischen Beuneilungsspielraum auf der Tatbestands- und Ennessen auf der Rechtsfolgenebene ebensowenig unterschieden wie zwischen Entscheidungs- und Auswahlennessen; vgl. Grote, NVwZ 1986, S. 269 f. 85 Die Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung auf ein detoumement de pouvoir hin dringt in die subjektiven Vorstellungen der Verwaltung ein und wird daher oft auch als Überprüfung der moralire de I'administration angesehen. Dazu und zu dem Vorangegangenen: Rumpf, JöR 1989 (Band 38), S. 217, 237. 86 Grote, NVwZ 1986, S. 269, 271. 87 Dazu Rumpf, JöR 1989 (Band 38), S. 217, 241. 81
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
11. Deutschland § 114 VwGO umschreibt den Umfang, in dem die Verwaltungsgerichte Ennessens akte zu überprüfen haben. Die Frage, wann Ennessensakte fehlerhaft sind, beantwortet positivrechtIich § 40 VwVfG. Beide Bestimmungen werden ergänzt durch die Grundsätze der deutschen Ennessenslehre. 88 Für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns im Rahmen von Ennessensakten wird in der Regel auf einen Fehlerkatalog zurückgegriffen, der hier nur in aller Kürze dargestellt werden kann 89 :
Ennessensüberschreitung Eine Ennessensüberschreitung liegt vor, wenn der äußere Rahmen der Ennächtigungsnonn überschritten wird90: die Behörde z. B. eine nicht mehr im Rahmen der Ennessensvorschrift liegende Rechtsfolge wählt91 oder die für die Eröffnung des Ennessenshandelns vorgesehenen Voraussetzungen nicht vorliegen. 92
Ennessensnichtgebrauch Die Behörde macht von dem ihr zustehenden Ennessen keinen Gebrauch, etwa weil sie irrtümlich annimmt, sie sei an eine bestimmte Regelung zwingend gebunden. 93 Ennessensfehlgebrauch / Ennessensmißbrauch Die Behörde handelt ennessensfehlerhaft, wenn sie die gesetzlichen Zielvorstellungen nicht beachtet oder wenn sie maßgebliche Gesichtspunkte nicht hinreichend in ihre Erwägungen einbezieht. Die Entscheidung ist auch dann fehlerhaft, wenn das Verwaltungsorgan nicht unter den tatsächlich vorliegenden Umständen, 88 Zu diesem Zentralthema verwaltungsgerichtlicher Tätigkeit siehe die Kurzdarstellung in Redekerlvon Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 114, Rn. 34 ff. i. V. m. der Vorauflage. 89 In Literatur und Rechtsprechung werden verschiedene Einteilungen und Bezeichnungen vorgeschlagen, sachlich besteht jedoch weitgehend Einigkeit. 90 Stelkens in: Stelkens IBonkl Sachs, VwVfG-Kommentar, § 40, Rn. 44. 91 Etwa durch Androhung eines Zwangsgeldes i. H. v. DM 3000,-, obwohl höchstens DM 2000,- zulässig sind. Einkesselung von Demonstranten statt Auflösung der Demonstration: VG Hamburg, NVwZ 1987, S. 829. 92 Durchführung des sofortigen Vollzugs, obgleich keine drohende Gefahr i. S. v. § 6 Abs. 2 VwVfG vorliegt. 93 Z. B. auf Grund einer Verkennung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen, BVerwG, NJW 1981, 1917; OVG Münster, NJW 1989, S. 478 f.
8. Kap.: Ennessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
133
auf Grund der tatsächlich angestellten Erwägungen oder tatsächlichen Motive hätte tätig werden dürfen. 94 Ennessensmißbrauch oder Ennessensfehlgebrauch sind konkrete Verhaltensfehler, bei denen die Verwaltung rechtlich gezogene interne Schranken ihres Handeins absichtlich oder irrtümlich mißachtet. Die ennessensmißbräuchliche Maßnahme hätte zwar unter anderen Umständen oder aus anderen Gründen, nicht aber unter den tatsächlich vorliegenden Umständen, auf Grund der tatsächlich angestellten Erwägungen oder der tatsächlichen Motive getroffen werden dürfen. 95 Das Ergebnis an sich ist also vom Gesetz gebilligt, zu diesem Ergebnis ist die Behörde jedoch auf Grund gesetzeswidriger Erwägungen gekommen96 , was für die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen ausreicht. Das Gericht kann jedoch die Maßnahme nicht selbst vornehmen, es kann die Behörde nur zur erneuten Entscheidung verpflichten. Im Einzelfällen kann sich der Anspruch auf eine ennessensfehlerfreie Entscheidung zu einem Anspruch auf eine bestimmte Ennessensentscheidung verdichten. 97 In gewissem Gegensatz zu diesem geschlossen erscheinenden Prüfungsschema stehen die vieldiskutierten und auch in der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen des Verwaltungshandeins, bei dem es der Exekutive vorbehalten sein soll, das Vorliegen der Entscheidungsvoraussetzungen abschließend zu beurteilen, z. B. bei Planungsentscheidungen.
m. Gemeinschaftsregelung Hier nun zeigt sich, daß die sprachlichen Unterschiede in der französischen und der deutschen Fassung der Artikel über die Nichtigkeitsklage auf voneinander abweichende Vorstellungen über den Begriff des Ennessens zurückgehen. In der französischen Fassung findet sich - in Anlehnung an den französischen recours pour exces de pouvoir - der Begriff "detournement de pouvoir". Damit ist auf das ,,Prinzip des Endzwecks" verwiesen 98 : Im Gegensatz zu den Rechten des Individuums, deren Verwirklichung keine anderen Grenzen kennt als die Notwendigkeit, die Rechte anderer zu achten, dürfen die Behörden ihre Befugnisse nur zu solchen Zwecken ausüben, zu denen ihnen diese Befugnisse verliehen wurden; alDazu WoljflBachof, Verwaltungsrecht I, S. 380, Rn. 49. WoljflBachof, Verwaltungsrecht I, S. 200, Rn. 17. 96 Erich Eyermannl Ludwig Fröhler, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), München 1988, § 114, Rn. 19. 97 BVerwGE 54, S. 54, 62; 55, S. 135, 140; dazu Udo Di Fabio, Die Ennessensreduzierung - Fallgruppen, Systemüberlegungen und Prüfprograrnme, in: Verwaltungsarchiv 1995, S. 214 ff., insbes. S. 216. 98 GA Lagrange, Schlußantrag in der Rs. 3/54 (ASSIDER/ Hohe Behörde), Sig. 1954/ 55, S. 154, 160. 94
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
lein die Abweichung von diesen vorgegebenen Zwecken begründet die Anfechtbarkeit der behördlichen Maßnahmen. Es liegt ein Ermessensmißbrauch vor, wenn eine Verwaltungsbehörde einen Akt, der in ihre Zuständigkeit faIlt, ordnungsgemäß vornimmt, jedoch zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem der Akt rechtlich vorgenommen werden durfte. 99 Abgesehen von der Einhaltung dieses "Endzwecks" soll die Entscheidung der Behörde grundsätzlich nicht nachgeprüft werden. Der im deutschen Vertragstext verwendete Begriff ,,Ermessensmißbrauch" vermittelt dagegen den Eindruck einer umfassenden Ermessenskontrolle, die nicht nur die Frage nach einer Zweckverfehlung, sondern auch nach den Grundlagen der Ermessensentscheidung aufwirft. Nach dieser Lesart wäre also auch die Entscheidungsfindung nach den oben (Punkt B.II.) dargestellten Kriterien zu prüfen.
IV. Europäischer Gerichtshof Der EuGH neigt dazu, je nach der betreffenden Rechtsnorm entweder den politischen Organen oder den Mitgliedsstaaten einen breiten Ermessensspielraum zu belassen. loo In seiner Rechtsprechung war der EuGH bemüht, sich mit den unterschiedlichen Modellen der nationalen Rechtsordnungen auseinanderzusetzen. 101 So findet sich in den Schlußanträgen des Generalanwalts Lagrange in den Rs. ASSIDER und ISA 102 eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Regelungen der einzelnen Länder. Lagrange weist sodann jedoch darauf hin, daß sich die Lösung des Falles wegen der Maßgeblichkeit des französischen Textes allein am Tatbestand des detoumement de pouvoir zu orientieren habe. 103 In der Rs. FEDECHAR I04 kommt Lagrange abermals auf seine eben zitierten Ausführungen zurück. Die Klägerinnen hatten für die Auslegung des Art. 33 EGKSV auf die "vorbereitenden Arbeiten zum Vertrag" zurückgegriffen, aus denen sich eine unterschiedliche Auslegung des Begriffs deroumement de pouvoir ergeben sollte. Lagrange lehnt diese Argumentation ab und definiert den Begriff erneut im Sinne des französischen Vorbilds. Ein 99 Laubadere. Droit administratif I, S. 477, Rn. 722; siehe dazu auch oben Kapitel 5, Punkt C.II. Iit. 4. 100 Bleckmann. Europarecht, S. 238, Rn. 562, dazu auch die Ausführungen auf den S. 238 ff. und ders., Beurteilungsspielraum im Europa- und Völkerrecht, in: EuGRZ 1979, S. 485 f., 488. Der EuGH betont den weiten Ermessensspielraum der Gemeinschaftsorgane ausdrücklich bei der Organisation ihrer Dienststellen in der Beamtenklage Rs. 69/83 (CharIes Lux/Rechnungshof), Slg. 1984, S. 2447 f. (st. Rspr.). 101 Dazu auch Friedrich Clever, Ermessensmißbrauch und detoumement de pouvoir nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1967; Varadinek, Ermessen und gerichtliche Nachprüfbarkeit. S. 202 ff. 102 Rs.3und4/54,Slg.1954/55,S.15I,157ff. 103 Ebenda, S. 178. 104 Rs. 8/55, Sig. 1955/56, S. 231, 253.
8. Kap.: Ennessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
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Ennessensmißbrauch sei nur dann gegeben, wenn eine Behörde von ihren Befugnissen zu einem anderen Zweck Gebrauch mache, als demjenigen, zu dem diese Befugnis verliehen wurde. Höchstens sei den Klägerinnen nachgegeben, den Ausdruck objet (Ziel) oder objectif (Zielsetzung) dem Ausdruck but (Zweck) vorzuziehen. 105 Die Ennessenskontrolle müsse auf die Frage der Rechtmäßigkeit des mit der Maßnahme verfolgten Zwecks beschränkt werden. 106 Der Gerichtshof hat den Begriff Ennessensmißbrauch nur anfanglich im Sinne der französischen Theorie vom ditoumement de pouvoir; in dem er lediglich auf das but poursuivi abgestellt hat, ausgelegt. In seinen ersten Urteilen bekräftigt er, daß eine Entscheidung nicht dadurch ennessensmißbräuchlich werde, daß zu den rechtmäßigen Beweggründen ein rechtswidriger hinzutritt, sofern dieser nicht das "wesentliche Ziel der Ennächtigungsgrundlage" preisgebe. 107 In der Rs. FEDECHAR I08 ließ der Gerichtshof erkennen, daß der Hohen Behörde zwar bei der Auswahl der Unterlagen für ihre Berechnung gewisse Fehler unterlaufen seien, damit sei aber nicht ipso facto ein Ennessensmißbrauch dargetan. Soweit eine Entscheidung vor allem die Erreichung der vom Vertrag vorgeschriebenen Ziele anstrebe, liege ein Ennessensmißbrauch nicht vor. Aber schon hier fügte der Gerichtshof eine objektive, d. h. nicht auf die Zweckvorstellung der Hohen Behörde abstellende, Fonnulierung hinzu: Ein Ennessensmißbrauch solle danach dann vorliegen, wenn die Hohe Behörde objektiv infolge schwerwiegenden Mangels an Voraussicht oder Umsicht, was einer Verkennung des gesetzlichen Zweckes gleichkomme, andere Ziele als diejenigen verfolgt habe, zu deren Erreichung ihr die vorgesehenen Befugnisse übertragen wurden. 109 Teilweise wird angenommen, daß bereits in dieser Fonnulierung des Gerichtshofes eine Abkehr von der französischen Konzeption des Ennessensbegriffs zum Ausdruck kommt. Der Gerichtshof habe bei der Prüfung nicht allein auf die Zielvorstellung der Verwaltung abgestellt, die Ennessensüberprüfung habe sich vielmehr an objektiven Kriterien orientiert. llo Dies dürfte jedoch eine Überinterpretation darstellen. In dieser Fonnulierung werden lediglich die Beweiserfordernisse näher bezeichnet. 111 Im Bewußtsein der (aus dem französischen Recht vertrauten) Schwierigkeit, ein deroumement de pouvoir nachzuweisen, stellte der Gerichtshof fest, daß das Vorliegen objektiver Indizien für den Nachweis dieses Klagegrundes ausreiGA Langrange, Schlußantrag in der Rs. 8/55, Slg. 1955/56, S. 234, 255 f. Dazu auch Riese, EuR 1966, S. 24, 39. 107 EuGH, Rs. I/54 (Französische Republik / Hohe Behörde), Slg. 1954/55, S. 7, 34; Rs. 2/54 (Italienische Republik/Hohe Behörde), Slg. 1954/55, S. 79, 110. 108 Rs. 8/55, Slg. 1955/56, S. 197,228. 109 Ebenda, S. 317. 110 GA Roemer. Schluß antrag Rs. 18/57 (Nold/Hohe Behörde), Slg. 1958/59, S. 119, 147 ff.; Riese, EuR 1966, S. 24, 39. 111 So auch GA Lagrange, Schlußantrag Rs. 13/57 (Wirtschaftsvereinigung' Eisen- und Stahlindustrie u. a./Hohe Behörde), Slg. 1958, S. 317,374. 105
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4. Teil: Europäische Rechtsanwendung
chend sei. Dies bekräftigte der Gerichtshof auch in der Beamtenklage Gutmann: "Ein Ennessensmißbrauch ist nur dann anzunehmen, wenn auf Grund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß die Handlung zu anderen als den in dem Rechtsakt angegebenen Zwecken getroffen wurde."ll2 Der Nachprüfung des Gerichts hielten all diejenigen Maßnahmen stand, die zumindest subjektiv ein Vertragsziel anstrebten. Solange nur ein Ziel die Maßnahme rechtfertigt, bleiben die anderen mit der Maßnahme verfolgten Ziele außer Betracht. 1l3 Eine Wende deutete sich in der Rs. 14/61 an. 114 Der Gerichtshof nahm dort eine Abwägung der sich aus dem Fall ergebenden Interessen vor, um dann festzustellen, daß die gegenwärtigen Nachteile durch die früheren Vorteile ausgeglichen seien. 1lS Ein Ennessensmißbrauch läge daher nicht vor. Diese Abwägung zeigt, daß der EuGH sich nicht auf die Nachprüfung der Zweckvorstellung der Verwaltung beschränkte, sondern auch die nicht von der Verwaltung erwogenen, aber nach seiner Auffassung für die Entscheidung des Falls erheblichen Gesichtspunkte in Betracht zog. In der Rs. 34/62 116 überprüfte der Gerichtshof den Willensbildungsprozeß der Beklagten und stellte fest, daß er die Gründe, auf welche die Kommission die angefochtene Entscheidung gestützt hatte, für rechtmäßig und sachgemiiß erachtete. Auch hier ist erkennbar, daß der Gerichtshof eine eigenständige Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände vornahm. Das Stichwort "sachgemäß" weist darauf hin, daß der Gerichtshof sich befugt sieht, die getroffenen Erwägungen der Verwaltung auf "Willkürlichkeit" zu überprüfen. Auch in der Rs. 39/64 verneinte der Gerichtshof einen Ennessensmißbrauch nicht allein deswegen, weil die Hohe Behörde sich hier auf allgemeine Vertragsziele berufen konnte. Stattdessen nahm der Gerichtshof eine Gesamtbeurteilung der angefochtenen Entscheidung vor. Erst auf Grund dieser Beurteilung kam er zu dem Ergebnis, daß die angefochtene Regelung auf "objektiven Kriterien beruhe, ... gerecht sei, ... und eine objektive Lösung biete". 117 Das Urteil in der Rs. Pellegrini kann als weitgehende Anerkennung einer "objektiven Konzeption" des Ennessensbegriffs angesehen werden. 1I8 Hier stand nicht 112 Rs. 18 und 35/66 (Gutmann/Kommission der EAG), Slg. 1966, S. 153, 176; so auch EuGH, Rs. 69/83 (CharIes Lux/Rechnungshof), Slg. 1984, S. 2447, 2465. 113 EuGH, Rs. 13/57 (Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie u. a./ Hohe Behörde), Slg. 1958, S. 271, 312 f.; Rs. 28/66 (Niederlande/Kommission), Slg. 1968, S. 2, 20 f. 114 (Koninklijke Neder1andsche Hoogovens en Staa1fabrieken N. V./Hohe Behörde), Sig. 1962, S. 511, 544 ff. 115 Siehe dazu auch die Ausführungen des GA Lagrange, Slg. 1962, S. 557, 574 f. 116 (Deutschland/Kommission), Slg. 1963, S. 287, 322 f. 117 EuGH, Rs. 39/64 (Societe des Acieries du Temple/Hohe Behörde), Sig. 1965, S. 997, 1016. 118 EuGH, Rs. 23/76 (Pellegrini / Kommission), Sig. 1976, S. 1807, 1820; ähnlich Rs. 266/82 (Turner / Kommission), Sig. 1984, S. I, 13.
8. Kap.: Ennessen und seine gerichtliche Nachprüfbarkeit
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mehr die Frage im Vordergrund, ob der von der Kommission verfolgte Zweck ein rechtswidriger war, vielmehr überprüfte der Gerichtshof, ob die Kommission die in der vorgefundenen Situation sachgerechten Erwägungen angestellt hatte. Diese allmähliche Ausweitung der Ermessenskontrolle hat dazu geführt, daß der Gerichtshof mittlerweile regelmäßig eine Überprüfung der Sachdienlichkeit der Erwägungen der handelnden Behörde vornimmt und damit versucht, den Willensbildungsprozeß der Behörde auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfenY9 Dabei bedient sich der Gerichtshof jedoch nicht der deutschen Konzeption einer Ermessensprüfung, sondern eines eigenen Modells. Feste Nachprüfungskriterien (etwa im Sinne der deutschen Fehlerlehre) hat der Gerichtshof bislang nicht herausgearbeitet und hält damit die Entwicklung offen. Grundsätzlich wird eine Ausweitung der Ermessenskontrolle - zumindest von deutschen Autoren 120 - begrüßt, da sich das französische Konzept als zu eng erwiesen hat.
119 Siehe dazu die Entscheidung des EuCH in der Rs. C-285 194 (Italienische Republikl Kommission), Slg. 1997, S. 3519 ff., insbes. Rn. 51-56. 120 Bleckmann, Festschrift für Kutscher, S. 25, 35; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Schlußbetrachtung Die der vorliegenden Arbeit gestellte Aufgabe einer Rekonstruktion von Entwicklung und Entstehen des Rechtsschutzes vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften folgte dem Verdacht, daß die landläufige These einer dominierenden Ausrichtung am französischen Recht der Korrektur bedarf. Zwar bildet das französische Verwaltungsrecht die Grundlage für das von den Gründungsverträgen zur Verfügung gestellte Rechtsschutzinstrumentarium; die Auslegung und Entwicklung der Vertragsvorschriften über den Rechtsschutz blieb aber nicht an das französische Vorbild gebunden. Die in den europäischen Verträgen vorgesehene Möglichkeit der richterlichen Kontrolle des Handeins der Organe der Europäischen Gemeinschaften ist eine Synthese der in den Vertragsstaaten, vor allem Frankreich und Deutschland, praktizierten Lösungen. Ausgangspunkt der Entwicklung des europäischen Klagesystems war die in Art. 33 EGKSV vorgesehene Nichtigkeitsklage. Formulierung und Inhalt dieser Vorschrift werden indes nur vor dem Hintergrund der nationalen Rechtsordnungen, die den Urhebern geläufig waren, verständlich. Bei den Verhandlungen des Vertragstextes standen sich vor allem zwei recht gegensätzliche Modelle gegenüber. Dies war zum einen das französische Ideal, welches die richterliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen durch vier Fehlerkategorien zu rationalisieren sucht, ohne, wenigstens nicht in erster Linie, nach den Rechten des von der Entscheidung Betroffenen zu fragen. Auf der anderen Seite stand der deutsche Ansatz, nach dem Wirtschaftsteilnehmern und Bürgern die Möglichkeit verschafft werden soll, subjektive Abwehr- oder Leistungsrechte gegenüber der Verwaltung geltend zu machen. Wie gezeigt, folgte der europäische Entwurf mit der Übernahme der sogenannten cas d'ouverture dem französischen Muster. Eine eingehende Untersuchung der Judikatur des EuGH erwies allerdings, daß die mit Art. 33 EGKSV und Art. 173 EGV (Art. 146 EAGV) verbundenen Auslegungsfragen nicht allein unter Rückgriff auf die vorgegebenen Muster gelöst wurden. Vielmehr hat der EuGH mit Rücksicht auf die spezifischen Anforderungen des Vertragsrechts eine Neubestimmung von Voraussetzungen und Inhalt der durch die Verträge vorgegebenen Klagemöglichkeiten vorgenommen. Diese Entwicklung war durch eine Überwindung des festen, auf die rein objektive Rechtskontrolle ausgerichteten Prüfungsrasters gekennzeichnet. Schon bald wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Funktion der Gerichtsbarkeit auch als Schutzinstrument für die subjektiven Rechte der Marktbürger deutlich.
Schlußbetrachtung
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Auch hinsichtlich der Prüfungsdichte und -tiefe, welche der Gerichtshof ftir seine Entscheidungsfindung in Anspruch nimmt, kann von einer Loslösung von der im Vertragstext zum Ausdruck kommenden Vorgabe gesprochen werden. Dies zeigte sich insbesondere bei Ennessensentscheidungen, deren Überprüfung nicht mehr auf die Ennittlung einer unzulässigen (subjektiven) Zweckverfolgung des handelnden Gemeinschaftsorgans beschränkt wurde, sondern sich mehr und mehr auf alle objektiv erheblichen - wenn auch zum Teil von einer Einschätzungsprärogative der Verwaltung bestimmten - Ennessensfaktoren erstreckte. Für die vorliegende Arbeit bleibt festzuhalten, daß in der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Dynamik eingesetzt hat, die den in nationalen Rechtsordnungen vorgefundenen Modellen nicht verhaftet ist. Vielmehr wird der Ansatz ftir eine eigenständige Bestimmung deutlich. Es gilt, nicht das französische oder deutsche Recht oder das Recht irgendeines anderen Staates anzuwenden, sondern das Recht der Verträge.
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