Tanzfotografie: Historiografische Reflexionen der Moderne [1. Aufl.] 9783839429945

From where do we obtain our knowledge about movement? This volume discusses the aesthetics of dance photography of the e

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German Pages 192 Year 2016

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
BILDER VON BEWEGUNG. EINE EINFÜHRUNG
QUELLE TANZFOTOGRAFIE. EIN DILEMMA DER HISTORIOGRAFIE
TANZ! FOTO. BEWEGUNG IM KONTEXT
GEDREHT UND GEWENDET. TANZFOTOGRAFIE IM LABOR EINER RESTAURATORIN
DAS PHANTASMA DER ANWESENHEIT. BILDWERDUNGEN EINES NICHTGEWESENEN
FORMLOSE DOKUMENTATION. REVISION VON HUGO ERFURTHS FOTOGRAFIE DES GÖTZENDIENSTS VON MARY WIGMAN
ANGEHALTENE BEWEGUNG. DIE TANZFOTOGRAFIEN DES FOTOSTUDIOS MERKELBACH
VOM GEFANGENEN VOGEL (1918) ZUM NACHTFALTER (2007). NIDDY IMPEKOVEN ALS METAMORPHES MOTIV
TÄNZERISCH-CHOREOGRAFISCHE INTERMEDIALITÄTEN. ALEXANDER SACHAROFF IN BILD UND BEWEGUNG
EMPFINDUNG UND RISS. KÖRPER, RAUM UND WAHRNEHMUNG IN TANZFOTOGRAFIEN VON GERTRUD LEISTIKOW UND GRETE WIESENTHAL
DIE SICHTBARMACHUNG DES UNSICHTBAREN. ZUM SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON TANZFOTOGRAFIE UND PARAPSYCHOLOGISCHEN FORSCHUNGEN
KIPP-MOMENTE. BILDKRITIK ALS PRAXIS DER HISTORISCHEN TANZAVANTGARDE AM BEISPIEL VALESKA GERTS
FOTOGRAFISCHE ENTWÜRFE. EXOTISTISCHER TANZ IN DER POSTKARTENSERIE RUTH ST. DENIS (N.P.G. BERLIN)
BLINDE FLECKEN. HISTORIOGRAFISCHE PERSPEKTIVEN AUF TANZFOTOGRAFIE
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Tanzfotografie: Historiografische Reflexionen der Moderne [1. Aufl.]
 9783839429945

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1 TESSA JAHN EIKE WITTROCK ISA WORTELKAMP TANZFOTOGRAFIE HISTORIOGRAFISCHE REFLEXIONEN DER MODERNE TRANSCRIPT VERLAG TANZSCRIPTE HRSG. VON GABRIELE BRANDSTETTER UND GABRIELE KLEIN BAND 36 ISBN 978-3-8376-2994-1

IMPRESSUM

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Lektorat

ELISABETH HEYMER, CHARLOTTE RIGGERT

Gestaltung

LAMM & KIRCH, LEIPZIG, WWW.LAMM-KIRCH.COM

Schrift

STUDIO BY THINK WORK OBSERVE, WWW.T-WO.IT

Druck und Verarbeitung

DZA – DRUCKEREI ZU ALTENBURG GMBH ISBN 978-3-8376-2994-1 Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.ddb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen mit elektronischen Systemen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Tessa Jahn, Eike Wittrock, Isa Wortelkamp

BILDER VON BEWEGUNG. EINE EINFÜHRUNG

29

Christina Thurner

41

Gabriele Brandstetter

51

Gisela Harich-Hamburger

73

Sabine Huschka

82

Eike Wittrock

96

Nicky Van Banning

QUELLE TANZFOTOGRAFIE. EIN DILEMMA DER HISTORIOGRAFIE TANZ! FOTO. BEWEGUNG IM KONTEXT GEDREHT UND GEWENDET. TANZFOTOGRAFIE IM LABOR EINER RESTAURATORIN DAS PHANTASMA DER ANWESENHEIT. BILDWERDUNGEN EINES NICHTGEWESENEN FORMLOSE DOKUMENTATION. REVISION VON HUGO ERFURTHS FOTOGRAFIE DES GÖTZENDIENSTS VON MARY WIGMAN ANGEHALTENE BEWEGUNG. DIE TANZFOTOGRAFIEN DES FOTOSTUDIOS MERKELBACH

INHALTSVERZEICHNIS

4

112

Nicole Haitzinger

122

Claudia Jeschke, Rainer Krenstetter

129

Gerald Siegmund

139

Charlotte Riggert

150

Susanne Foellmer

164

Tessa Jahn

175

Isa Wortelkamp

VOM GEFANGENEN VOGEL (1918) ZUM NACHTFALTER (2007). NIDDY IMPEKOVEN ALS METAMORPHES MOTIV TÄNZERISCH-CHOREOGRAFISCHE INTERMEDIALITÄTEN. ALEXANDER SACHAROFF IN BILD UND BEWEGUNG

EMPFINDUNG UND RISS. KÖRPER, RAUM UND WAHRNEHMUNG IN TANZFOTOGRAFIEN VON GERTRUD LEISTIKOW UND GRETE WIESENTHAL

DIE SICHTBARMACHUNG DES UNSICHTBAREN. ZUM SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON TANZFOTOGRAFIE UND PARAPSYCHOLOGISCHEN FORSCHUNGEN

KIPP-MOMENTE. BILDKRITIK ALS PRAXIS DER HISTORISCHEN TANZAVANTGARDE AM BEISPIEL VALESKA GERTS

FOTOGRAFISCHE ENTWÜRFE. EXOTISTISCHER TANZ IN DER POSTKARTENSERIE RUTH ST. DENIS (N.P.G. BERLIN) BLINDE FLECKEN. HISTORIOGRAFISCHE PERSPEKTIVEN AUF TANZFOTOGRAFIE

11 TESSA JAHN EIKE WITTROCK ISA WORTELKAMP BILDER VON BEWEGUNG EINE EINFÜHRUNG Zur Fotografie des Modernen Tanzes Fotografien des Tanzes reflektieren Geschichte, insofern sie diese in Bilder ein- und übertragen. Was in ihnen sichtbar wird, sind vergangene Bewegungen, die sich uns fotografisch wie choreografisch als Bilder vermitteln. In der historiografischen Reflexion kommt es zu einer paradoxen Gegenwart des Vergehens, die unsere Wahrnehmung zwischen Tanz und Fotografie in Bewegung hält. Insofern kann für die Fotografie des Tanzes (und anderer Formen der Bewegung) geltend gemacht werden, was Roland Barthes in Die Helle Kammer als das Wesen der Fotografie beschrieben hat: dass das Medium Fotografie einen vergangenen Moment physisch-physikalisch festhält und in der Gegenwart der Bildbetrachtung sichtbar werden lässt. Die Fotografie bietet »das Wirkliche in vergangenem Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich.« 01 Diese Verschränkung der Zeiten ist in den Abhandlungen zur Fotografie von Roland Barthes in Die Helle Kammer angelegt und wird hier mit dem Begriff des Noema beschrieben. Ihn entwickelt Barthes im zweiten Teil seines Buches als ein anderes, neues punctum, das im ersten Teil noch auf den Modus der Wahrnehmung bezogen ist, der vor allem durch die formalen und inhaltlichen Eigenschaften der Fotografie bedingt ist. Das Noema gilt der in der Fotografie enthaltenen Dichte der Zeit: »Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas ( ›Es-ist-so-gewesen‹ ), seine reine Abbildung.«02 Während Barthes‘ Beobachtung jedoch fast ausschließlich auf mehr oder weniger stillstehende Körper begrenzt ist, handelt es sich bei der Tanzfotografie meist um Aufnahmen bewegter Körper. Was die Fotografie dabei festhält, ist ein Bild, wie es für den menschlichen Blick jenseits dieser zeitlichen und räumlichen Rahmung nicht wahrnehmbar ist. Das Noema wäre demnach mit Blick auf die Fotografie des Tanzes zu modifizieren: Was wir in ihr sehen, ist nie so gewesen. Über die rein physiologische 01

Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 93.

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Ebd., S. 105.

Prämisse der menschlichen Wahrnehmung hinaus, sind die frühen Fotografien des Tanzes zudem im Fotoatelier entstanden und dienten zu Werbezwecken der Tänzer und Tänzerinnen oder folgten einem künstlerischen Interesse der Fotografen und Fotografinnen an dem Motiv der tänzerischen Bewegung. Nur selten wurden Tanzfotografien zu Beginn des 20. Jahrhunderts während der Aufführung aufgenommen, und eher in Fotoproben auf der Bühne nachgestellt. Ein Tanz, der ausschließlich vor und für die Kamera stattfindet. Eine Bewegung für das Bild. In der Tanzgeschichtsschreibung werden die zeitlichen und räumlichen Bedingungen der fotografischen Aufnahme als gestellte oder nachgestellte Situationen und die subjektive Perspektive der Fotografierenden sowie ihre gestalterische Einflussnahme nicht selten als Einschränkung des Stellenwerts der Tanzfotografie als historisches Dokument betrachtet.03 Im Vordergrund der historiografischen Verwendungsweisen steht die referentielle Funktion der Fotografie als Abbild einer vergangenen Wirklichkeit, die Hinweise über die mimisch-gestische bzw. tänzerische Darstellung, Kostüm und Requisite sowie gegebenenfalls raum-zeitliche Aspekte liefern kann. In ihrer abbildenden Eigenschaft wird Tanzfotografie auch in der Tanzforschung als ikonografische Quelle zur Rekonstruktion motorischer Prozesse und choreografischer Prinzipien herangezogen. Ihr Vorzug gegenüber dem etwa zeitgleich aufkommenden Film, der als bewegtes Medium für die ›Wiedergabe‹ des Tanzes prädestiniert erscheint, liegt dabei in der Sistierung und Fixierung von Bewegung, die sich für die wissenschaftliche Beschreibung eignet.04 Über diese Eigenschaft hinaus hat die Möglichkeit der Reproduktion von Fotografie in Printmedien zu ihrer bis heute anhaltenden Präsenz in tanzwissenschaftlichen Publikationen, Bildbänden, Zeitschriften und Internetportalen beigetragen. Mit der Entwicklung günstiger Druckverfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Tanzfotografien vereinzelt zur Illustration von Büchern und Zeitschriften verwendet, die aus Bereichen wie dem Kolonialismus, der Chronofotografie und Psychiatrie in den Tanzdiskurs übertragen wurden.05 Erst mit der schriftlichen Kanonisierung des Modernen Tanzes tauchen ab 1910 gehäuft Fotografien von Tanz auf wie sich etwa in Der Moderne Tanz von Ernst Schur (1910), Der Moderne Tanz von Hans Brandenburg (1912/1917/1921), Der Tanz als Kunstwerk von Frank Thiess (1920) oder Das Wesen der neuen Tanzkunst von Ernst Blass (1921) ablesen lässt.06 In den historischen Tanzschriften ist eine meist ablehnende Haltung gegenüber dem fotografischen Medium formuliert, dessen technisch-fixierende Eigenschaft und faktische Wiedergabe eines Momentes gegenüber der ephemeren und fluiden Qualität der tänzerischen Bewegung als negativ gewertet wird. Der in diesen Schriften verbreiteten Skepsis gegenüber der Fotografie muss die umfassende Verwendung und zunehmende Verbreitung des Mediums in meist den selben Publikationen gegenübergestellt werden, die von der Bedeutung der Fotografie als Darstellungsmittel des Tanzes zeugt. Bis zum heutigen Tage herrscht der illustrierende Charakter der Tanzfotografie in tanztheoretischen und -historischen Publikationen vor und das Medium wird zur Darstellung choreografischer Charakteristika und Bewegungsqualitäten herangezogen. In der Verwendung von Tanzfotografie lassen sich oft weitgehend unkommentierte Übernahmen von Fotografien beobachten, in denen diese als Abbild einer Wirklichkeit einen unmittelbaren Zugang zur Tanzgeschichte verspricht. Nicht selten fehlt dabei der Verweis auf den Status der Bildquelle und ihre historiografisch-methodischen Implikationen.07

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In einer methodologischen Auseinandersetzung zu quellenkritischen Verfahren der Tanzforschung kommt der Tanzfotografie im Vergleich zu anderen Dokumenten wie literarischen Quellen, der mündlichen und schriftlichen Überlieferung oder der Tanznotation bisher eine geringe Bedeutung zu. Die Reflexion des dokumentarischen Wertes der Fotografie schließt dabei in der Regel an die theaterhistoriografische Forschung zu den Schauspielerporträts an, die vornehmlich die Wechselbeziehung zwischen fotografischem Medium und Schauspielkunst sowie Fragen der (Selbst-)Inszenierung in den Blick nimmt.08 Auf einer methodisch-analytischen Ebene werden hier der ästhetisch-gestalterische Anspruch der Fotografie und die Distanz der Studioaufnahme zur ›ursprünglichen Theaterinszenierung‹ als Probleme für die historiografische Forschung geltend gemacht.09 Den verschiedenen historiografischen Zugängen gemeinsam ist eine meist defizitär konnotierte Konzentration auf die fixierende Eigenschaft der Fotografie, die dem ephemeren Charakter des Tanzes entgegengesetzt wird. Ihre medienspezifische ästhetische Qualität als fotografisches Bild steht dabei hinter ihrer Funktion als Abbild zurück, dem die bewegte Eigenschaft des Tanzes zwangsläufig entgehen muss. Fotografien des Modernen Tanzes legen indes eine andere Perspektive nahe, die die Ausrichtung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900 — 1920«, in dessen Kontext die vorliegende Publikation entstanden ist, bestimmte.10 Das dem Projekt zugrundeliegende Konzept von Tanzfotografie gründet auf einer Revision fotografischer Aufnahmen, die als fotografisch wie choreografisch gestaltete Bilder von Bewegung betrachtet werden. Der Plural wird dabei zum Programm der Forschungsperspektive, die Fotografien des Tanzes in der Vielheit der durch sie freigesetzten Imaginationen, im Kontext ihrer inner- wie außerbildlichen Bezüge sowie der historischen und gegenwärtigen Diskurse betrachtet. Der Zeitraum der Untersuchung begründet sich in dem spezifischen Erscheinungsbild einer großen Zahl der Tanzfotografien, das sich durch ein Wechselverhältnis von Bild und Bewegung auszeichnet, das in der Betrachtung selbst dynamisierend wirksam Vgl. hierzu grundlegende Schriften der Tanzforschung wie Dahms, Sibylle: Tanz, Stuttgart: Metzler, 2001, S. 9f; Adshead-Lansdale, Janet u. Layson, June (Hg.): Dance History. An Introduction, 2. erw. Aufl., London u. a.: Routledge 1994, S. 3—31. Vgl. hierzu Jeschke, Claudia u. Vettermann, Gabi: »Tanzforschung. Geschichte – Methoden. Tanzforschung zwischen Aktion, Dokumentation und Institution«, in: Gesellschafts- und Volkstanz in Österreich (= Musicologica Austriaca, Bd. 21), hg. v. Monika Fink, Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag 2002, S. 9—36, hier S. 21. Vgl. hierzu Emmanuel, Maurice: La danse grecque antique d’aprés les monuments figurés, Paris: Hachette 1895; Schrenck-Notzing, Albert von: Die Traumtänzerin Magdeleine G. Eine psychologische Studie über Hypnose und dramatische Kunst, Stuttgart: Enke 1904; Vuillier, Gaston: A history of dancing from the earliest to our own times, London: Heinemann 1898. Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller 1912, zweite vermehrte Auflage 1917, 3. stark umgearbeitete und erweiterte Ausgabe, 1921; Schur, Ernst: Der Moderne Tanz, München: Lammers 1910; Thiess, Frank: Der Tanz als Kunstwerk. Studien zu einer Ästhetik der Tanzkunst, München: Delphin-Verlag, 2. verbesserte Auflage, 1920; Blass, Ernst: Das Wesen der neuen Tanzkunst, Weimar: Lichtenstein 1921. Vgl. Carter, Alexandra: Rethinking Dance History. A Reader, London u. a.: Routledge 2004; Foster, Susan Leigh: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley, Los Angeles u.

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London: University of California Press 1986; Matluck Brooks, Lynn: »Dance History and Method: A Return to Meaning«, in: Dance Research. The Journal of the Society of Dance Research, Vol. 20, No. 1 (Summer 2002), Edinburgh: Edinburgh University Press/New York: JSTOR 2002, S. 33—53. Vgl. Balk, Claudia: Theaterfotografie. Eine Darstellung ihrer Geschichte anhand der Sammlung des Deutschen Theatermuseums, München: Hirmer 1989; Spötter, Anke: Theaterfotografie der Zwanziger Jahre an Berliner Bühnen. Gestaltung und Gebrauch eine Mediums (= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 76), Berlin: Gesellschaft für Theatergeschichte 2003. Vgl. Balme, Christopher: »Zwischen Artifizialität und Authentizität. Frank Wedekind und die Theaterfotografie«, in: Theater der Region – Theater Europas, hg. v. Andreas Kotte, Basel: Theaterkultur-Verlag 1995, S. 175—187; Pavis, Patrice: Dictionnaire du Théâtre, Paris: Dunod 1996; Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft, Tübingen: G. Narr 2010; Lazardzig, Jan, Tkaczyk, Viktoria u. Warstat, Matthias: Theaterhistoriografie. Eine Einführung, Tübingen u. Basel: A. Francke 2012. Das Forschungsprojekt wurde unter der Leitung von Isa Wortelkamp in Mitarbeit von Tessa Jahn und Eike Wittrock von Oktober 2012 bis Dezember 2014 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin durchgeführt. Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis der Tagung »Fotolabor: Tanz 1900 —1920. Methodologische und historiografische Reflexionen von Tanzfotografie«, die vom 5. bis 7. Dezember 2013 im Museum für Fotografie in Berlin stattfand.

wird.11 Über die Fixierung und die Dokumentation eines einzelnen herausgehobenen Momentes hinaus, wird Bewegung als Effekt der medialen Interferenz von Tanz und Fotografie verstanden, der Tanzfotografie als ästhetisch gestaltetes Bild ausweist, das über genuine Darstellungsqualitäten verfügt. Die Ästhetik der Fotografie des Modernen Tanzes ist bestimmt durch die kulturhistorischen und medientechnischen Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die neue Möglichkeiten der filmischen und fotografischen Sistierung und Segmentierung von Bewegung mit sich bringen. Die Wahrnehmung von Bewegung im Bild und als Bild geht mit einer Wahrnehmung von Bildern als und in Bewegung einher, die in Tanz und Fotografie um 1900 künstlerisch und medial reflektiert wird.12 Die im Rahmen dieser Publikation anvisierte historiografische Perspektive orientiert sich verstärkt an künstlerischen Entwicklungen des Tanzes, die sich unter den Vorzeichen der Moderne durch die selbstreflexive Thematisierung des Mediums und die bewusste Konstruktion von Körperbildern und ihrer Transformation in Bewegungsformen auszeichnen.13 Exemplarisch für diese Auseinandersetzung können die Choreografien der Tänzerin Loïe Fuller gelten, die Ende des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Motiv zahlreicher namhafter Fotografen wie Samuel Joshua Beckett, Eugène Druet, Harry C. Ellis, Théodore Rivières und Isaiah West Taber sowie anonymer Fotografen avanciert. Die Aufnahmen von Fuller zählen zu den ersten Fotografien einer in Bewegung begriffenen Tänzerin und bilden einen wichtigen Wende- und Ausgangspunkt der Tanzfotografie, insofern sie das Spektrum der bis dahin vorherrschenden Darstellungstradition der Porträt- und Ballettfotografie erweitern.14 Während in der Porträtfotografie die Inszenierung der Person der Tänzerin und des Tänzers oder der Schauspielerin und des Schauspielers im Vordergrund steht, prägen in der fotografischen Darstellung des Balletts die Auswahl von Posen, die charakteristische Momente des Tanzes wiedergeben, das fotografische Bild. Mit der Verlagerung des Interesses auf die freie Gestaltung der Bewegung tritt jedoch auch verstärkt ihre Flüchtigkeit in den Blick: Die ephemere und transitorische Kunst des Tanzes konfrontiert die Fotografie zugleich mit ihren fixierenden und reproduzierenden Eigenschaften. Dabei scheint gerade die Differenz beider Medien ein Verständnis von Fotografie als Bild zu begründen, in der die Bewegung zum gestalterischen Prinzip wird. Wesentliche Voraussetzungen hierzu liefern die fototechnischen Entwicklungen der Momentfotografie wie sie – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung – durch Eadweard Muybridge, Étienne-Jules Marey, Thomas Eakins und Ottomar Anschütz geprägt wurde. Neben den Experimenten im Bereich der Technik und der bildenden Kunst ermöglichte vor allem die Entwicklung neuer hochempfindlicher Emulsionen und die verbesserte Kameratechnik Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die fotografische Aufzeichnung von Bewegungsmomenten.15 Während das Interesse der Momentfotografie wesentlich auf die rationale Auflösung animalischer und menschlicher Bewegungsvorgänge in der fotografischen Aufzeichnung gerichtet ist, lässt sich in der sich formierenden Tanzfotografie eine verstärkt künstlerische Gestaltung eines Bewegungseindrucks beobachten. Demzufolge orientiert sich die Ästhetik der Tanzfotografie an der Strömung der sogenannten Kunstfotografie oder bildmäßigen Fotografie, in der die subjektive Wahrnehmung der Fotografen und Fotografinnen im Zentrum steht.16 Über die Auswahl und Aufnahme des Motivs hinaus, bestimmt die nachträgliche Bearbeitung von Negativ und Abzug, die Gestaltung

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von Farbton und Farbtiefe sowie die Auswahl von Pigmentierung und Papierqualität das fotografische Bild. Mit der Kunstfotografie rückt die gestaltende Eigengesetzlichkeit der Fotografie unter Rückgriff auf die Darstellungsstrategien der bildenden Kunst in den Vordergrund. Die mimetische Funktion von Fotografie als Repräsentation von Wirklichkeit wird relativiert. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen der Momentfotografie und des Impressionismus entstehen Tanzfotografien, in denen sich eine künstlerische und mediale Reflexion von Bild und Bewegung im Tanz der Moderne niederschlägt. In ihnen zeigt sich ein Zusammenwirken von fotografischer und tänzerischer Choreografie, die schließlich die Bewegungen unseres Blickes erfahrbar macht. Davon zeugen zahlreiche Beispiele von Fotografien, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von bekannten und weniger bekannten Tänzerinnen und Tänzern der Moderne entstanden sind und bis heute unser Bild vom Modernen Tanz prägen. Der Grad der Bekanntheit der Tänzerinnen und Tänzer bemisst sich dabei nicht zuletzt nach der Präsenz eben jener Fotografien im tanzwissenschaftlichen Diskurs, der seinerseits durch die Zugänglichkeit von Quellen in Archiven und Sammlungen sowie deren Reproduktion in Veröffentlichungen bedingt ist. Neben den verschiedenen Publikationsformen wie Zeitschriften, Tanzbüchern und Internetportalen, in denen historische Tanzfotografien gezeigt werden, sind es vornehmlich die Tanzarchive, in denen Tanzfotografien nach unterschiedlichen Ordnungskriterien aufbewahrt werden. Ihre Ordnung folgt teils den verschiedenen Nachlässen und Sammlungen, den Namen der Tänzerinnen und Tänzern oder Inszenierungen, selten aber den Namen der Fotografinnen und Fotografen. Umfassende Bestände von Fotografien des Modernen Tanzes finden sich im Deutschen Tanzarchiv und der theaterwissenschaftlichen Sammlung Schloss Wahn (Köln), dem Tanzarchiv Leipzig e.V., der Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Berlin), der Sammlung Fotografie sowie Bibliothek der Berlinischen Galerie, der Sammlung Modebild der Kunstbibliothek (Staatliche Museen zu Berlin) sowie dem Bibliothèque-Musée de l’Opéra und dem Musée Orsay (Paris), den Derra de Moroda Dance Archives (Salzburg), der Albertina (Wien), dem Victoria and Albert (London) und den Fotosammlungen der New York Public Library. Neben historischen Tanzpublikationen und Modezeitschriften sowie Publikationen der gegenwärtigen Tanzforschung, liefern auch kommerzielle Bilddienste wie Ullstein oder die Google-Bildersuche Zugang zur Tanzfotografie. Sie erscheinen dabei sowohl als historische und aktuelle Abzüge, künstlerisch aufbereitete Unikate, Reproduktionen in zeitgenössischen Büchern, Periodika, Programmzettel und Poster, Postkarten, Wiederabdrucken in Katalogen und deren Digitalisate in Online-Datenbanken. 11

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Damit widmet sich das Projekt einem bislang in der Forschung kaum berücksichtigten Untersuchungszeitraum. Untersuchungen zur Tanzfotografien richten sich vorwiegend auf die Zeit nach 1920: vgl. dazu exemplarisch Kuhlmann, Christiane: Bewegte Körper – Mechanischer Apparat. Zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 1920er Jahren an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi (= Studien und Dokumente zur Tanzwissenschaft, Bd. 4), hg. v. Deutsches Tanzarchiv Köln, Frankfurt am Main: Peter Lang 2003. Zum Untersuchungszeitraum liegen vereinzelt Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelbänden vor. In diesem Kontext hervorzuheben sind: Huschka, Sabine: »Bildgebungen tanzender Körper. Choreografierte Blickfänge 1880 bis 1920«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 26, Heft 101 (Herbst 2006), »Theater und Fotografie 1880—1930«, hg. v. Stefanie Diekmann, Marburg: Jonas, S. 41—50. Vgl. hierzu Brandstetter, Gabriele: »Fin-de-siècle-Äs-

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thetik in Tanz, Literatur und bildender Kunst«, in: Der Tanz in den Künsten 1770—1914, hg. v. Achim Aurnhammer u. Günter Schnitzler, Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2009, S. 289—305, hier S. 304. Vgl. zum Konzept des Modernen Tanzes: Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 19f. Le Coz, Françoise: »Le Mouvement: Loïe Fuller«, in: Photographies. Un dossier sur l’enseignement de la photographie en France et à l’étranger, Heft 7 (1985), Paris, S. 56—63. Vgl. hierzu: Schnelle-Schneyder, Marlene: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1990, S. 51; Starl, Timm: Im Prisma des Fortschritts. Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts, Marburg: Jonas 1991. Vgl. Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, München: Fink 2006, S. 137—169; Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie I: 1839—1912, München: Schirmer/Mosel 1980, S. 21f.

Aus einer Sichtung dieser umfassenden Bestände lassen sich wesentliche Merkmale der Darstellung von Bewegung in Tanzfotografien verfolgen, die auf der Verbindung von fotografischer und choreografischer Gestaltung basieren.17 Die Ästhetik der Tanzfotografie ist dabei stets in Relation zu ihrer medienspezifischen Materialität und den unterschiedlichen Archivierungs- und Publikationskontexten zu verstehen. Erst in diesem Gefüge konstituiert sich eine historiografische Evidenz im Sinne einer Beweiskraft und Zeugenschaft von Fotografie als historisches Dokument des Tanzes. Vor diesem Hintergrund leitet sich ein analytisches Vorgehen ab, das die ästhetische Eigenlogik einer Tanzfotografie im Kontext ihrer medialen und materialen Erscheinungsform einbezieht und das im Anschluss exemplarisch anhand eines Scrapbooks mit Fotografien von Anna Pavlova im zweiten Teil der Einführung vorgestellt werden soll. Es operiert auf mehreren miteinander verbundenen Ebenen: die erste Ebene bildet die des ästhetischen Erscheinungsbildes, das aus einer bild- und bewegungsanalytischen Perspektive betrachtet wird, die weniger einem am Abbild der Wirklichkeit als einem am Bild der Wahrnehmung orientierten Verständnis von Fotografie folgt. In ihrer spezifischen Wirkung zu differenzieren sind dabei die gestalterischen Prinzipien, die sich in der Wahrnehmung der Tanzfotografien als Bilder von Bewegung generieren. Diese zeichnen sich durch eine Interferenz von Tanz und Fotografie aus, die den Blick des Betrachters zwischen der dargestellten Bewegung und der Bewegung der Darstellung oszillieren lässt.18 Das Spektrum der sich so formierenden Effekte von Bewegung reicht dabei von markanten Figuren des Tanzes wie der Drehung, dem Kippmoment oder dem Sprung bis hin zu fotografischen Mitteln wie dem Einsatz von Schärfe und Unschärfe, von Verfahren der Retusche oder der Auswahl und Rahmung des Ausschnitts. Die zweite Ebene bildet die des medialen Erscheinungskontextes, in dem die jeweiligen Archivierungs- und Publikationszusammenhänge einzubeziehen sind, in der Tanzfotografie als sammel- und handhabbarer ›Bildkörper‹ sichtbar wird. Dazu zählt die spezifische Form der Katalogisierung einer Tanzfotografie, die im Kontext einer Sammlung oder als singuläres Objekt jeweils unterschiedliche Lesarten provoziert. Reproduziert als Abdruck in Zeitschriften, tanz- und fototheoretischen sowie tanz- und fotohistorischen Monografien und Anthologien oder als Digitalisat in Internetportalen erscheint sie im Kontext der jeweiligen Publikation meist in Beziehung zu weiteren Abbildungen und Texten. Dabei verändert sich ihr Erscheinungsbild, werden ihre materiellen und medialen Eigenschaften wie die Beschaffenheit ihrer Oberfläche oder die Wahl des Ausschnitts beim Abzug unterschiedlich wahrnehmbar. Ausgehend von ihrer medienspezifischen Materialität lassen sich auf einer dritten Ebene Signifikationsprozesse spezifizieren, die sich durch Gebrauchsformen und Kontextualisierungen formieren und reformieren: In der Verbindung von ›image content‹ und ›physical attributes‹ wird die Fotografie zu einem visuellen Narrativ ihrer Handhabungsweisen, wie Elizabeth Edwards und Janice Hart an Benutzungsspuren von Fotos in Archiven gezeigt haben.19 Fotografie ist, diesem Verständnis folgend, über ihre Bedeutung als Spur oder Index hinaus als Trägerin einer historischen und technischen »Signatur ihrer Epoche«20 zu betrachten, die sich nicht nur in der Handhabung zeigt, sondern auch technisch (und ästhetisch) in die Bilder eingeschrieben ist. Der geschichtliche Wert der Tanzfotografie, ihr dokumentarischer Gehalt bzw. ihre historiografische Evidenz, entsteht aus der hier eingenommenen Perspektive der Überlagerung verschiedener Schichten: Fotografien schrei-

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ben Geschichte, insofern das Fotografierte durch die spezifische Medialität und Materialität der Fotografie sowie die Ästhetik einer Zeit oder der Handschrift einer Fotografin oder eines Fotografen geprägt ist. An der Geschichtsschreibung beteiligt sind die archivarischen Zusammenführungen und historiografischen Überlieferungen, die verschiedenen Selektions- und Produktionsprozesse von Autorinnen und Autoren, Verlagen, Museen und Künstlerinnen und Künstlern, die sich in Büchern, Katalogen, Aufsätzen, Ausstellungen, Programmheften manifestieren. Sie bilden gemeinsam mit den institutionellen, sozialhistorischen, ästhetisch-politischen Prozessen den epistemologischen Kern der Tanzfotografie, deren historiografischer Wert sich sowohl im Bild als auch in seinen verschiedenen Verwendungs- und Erscheinungsweisen konstituiert. Mit Jacques Derridas Archiv-Begriff, den dieser in Mal d’archive entwickelt, lässt sich die Tanzfotografie in diesem Gefüge selbst als ein »institutionalisiertes Gedächtnis«21 beschreiben. Für Derrida funktioniert das Archiv ›hypomnestisch‹, als »mnemotechnisches Supplement oder mnemotechnischer Repräsentant, Hilfsmittel oder Gedächtnisstütze«22. Derrida betont, dass das Archiv niemals »das Gedächtnis noch die Anamnese in ihrer spontanen, lebendigen und inneren Erfahrung«23 sein kann, sondern es »hat Statt an Stelle« des Gedächtnisses, ist somit bereits immer schon (mediale) Transposition, Verschiebung, Übersetzung, Übertragung, Re-Konstruktion. Vor diesem (archivtheoretischen) Hintergrund erhebt sich das Verständnis eines historiografischen Umgangs mit Tanzfotografie, der diese im Kontext der Ein- und Ausschlussmechanismen ihrer jeweiligen Archivund Publikationszusammenhänge begreift.24 Der zweite Teil dieser Einführung unternimmt, ausgehend von einer Archivalie, die per se bereits mannigfaltige Bezugnahmen innerhalb ihres Mediums ermöglicht, eine Auffächerung der sich überlagernden Schichten einer Tanzfotografie. Es handelt sich um eine Fotografie der Anna Pavlova von Jean de Strelecki (ca. 1914)25, die sich im Scrapbook von Friderica Derra de Moroda, in dem nach der Sammlerin benannten Salzburger Tanzarchiv findet. Sie wurde zum Anlass einer weitreichenden Bild- und Bewegungsbetrachtung, in der die An- und Unordnung des ikonografischen Materials innerhalb des Scrapbooks zur Grundlage für ein historiografisches Verfahren wurde. Das Scrapbook der Anna Pavlova als historiografisches Verfahren In den Derra de Moroda Dance Archives befindet sich ein Scrapbook, das eine Vielzahl unterschiedlicher Bildmaterialien von Anna Pavlova (1881 — 1931) versammelt. Das Scrapbook ist Teil des Nachlasses der Tänzerin und Choreografin Friderica Derra de Moroda (1897 — 1978), der den Grundstein des Salzburger Tanzarchivs an der Paris Lodron Universität 17

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Innerhalb des Forschungsprojekts wurden insgesamt ca. 4000 Fotografien und fotografische Reproduktionen in Publikationen eingesehen und in Auszügen einer Bild- und Bewegungsanalyse unterzogen. Anhand der umfassenden Materialsichtung konnte ein analytisches Instrumentarium erarbeitet werden, das als Grundlage für die bild- und bewegungstheoretische Forschung zur Ästhetik der Tanzfotografie in der Moderne dienen soll. Diese Differenzierung orientiert sich an einer durch Gottfried Boehm im Hinblick auf die Malerei getroffenen Unterscheidung einer »dargestellten Zeit« und einer »Zeit der Darstellung«, vgl. hierzu Boehm, Gottfried: »Bild und Zeit«, in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Hannelore Paflik, Weinheim: acta humaniora 1987, S. 1—23, S. 23. Edwards, Elizabeth u. Hart, Janice (Hg.): »Introduction: Photographs as objects«, in: Photographs Objects

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Histories. On the materiality of images, Florence, KY, USA: Routledge 2004, S. 1—15. Vgl. hierzu Naumann, Barbara (Hg.): Vom Doppelleben der Bilder: Bildmedien und ihre Texte, München: Fink 1993. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann und Bose 1997, S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25. Als Begriff markiert Tanzfotografie dabei selbst einen historiografischen Eingriff, taucht er innerhalb des Untersuchungszeitraums als solcher doch nicht auf und wird vielmehr als Tanz-Bild oder Tanz-Aufnahme beschrieben. Vgl. Lazzarini, John u. Roberta: Pavlova: Repertoire of a Legend, New York: Schirmer, 1980, S. 14.

bildet.26 Die Derra de Moroda Dance Archives zählen international zu den bedeutendsten tanzhistorischen Forschungsarchiven und entstanden aus einer privaten, unsystematischen Sammlung Derra de Morodas, die mit dem Kauf von Carlo Blasis’ The Art of Dancing in einem Londoner Antiquariat kurz vor ihrem 20. Geburtstag ihren Anfang nahm.27 Wann Derra de Moroda mit dem Scrapbook zu Anna Pavlova begonnen hat, lässt sich nicht genau datieren. Einen terminus post quem bieten die verwendeten Fotoecken, die erst 1926 von der Firma Herman eingeführt wurden.28 Derra de Morodas Sammlungskatalog beschreibt das Scrapbook unter der Nr. 2011: »Pavlova, Anna. Album. Red, green, wh. and bl. dec. 41.3 × 28 cm. 53 leaves. Collation of 59 photogr., various sizes, 29 phot. postcards, 2 Christmas cards of Pavlova and one of Beaumont with pict. of Pavlova, Death notice sold in the streets in London at the time of her funeral, 5 small pict. from the Halpaus Album, 14 postcard photos, of other Russian dancers (Karsavina, Fokine and Fokina, Kyasht Kscheschinkaya etc. one phot. of Karsavina).«29 Im Durchblättern des Scrapbooks fächern sich in Vor- und Rückwärtsbewegungen die selektierten Sedimente einer anderen Zeit auf: der Lebenszeit zweier Tänzerinnen, die Tanzgeschichte geschrieben haben. Das in zerschlissenem, mit Blumenmuster bedrucktem, dünnem Packpapier eingeschlagene Buch enthält Fotografien, Postkarten, Zigarettenbilder, Visitenkarten, Zeitungsausschnitte, Zeichnungen und Kondolenzkarten. Das Scrapbook hat keine festgelegte, archivarische Ordnung, sondern ist eine heterogene Sammlung von idiosynkratisch arrangierten Bildern, es finden sich leere Seiten, locker eingelegte Fotos und Kartons, wie auch Fotos anderer Tänzerinnen. Derra de Moroda folgt in ihrer Zusammenstellung keiner strengen Logik, sondern platziert auf der Seite verschiedene Postkarten von Pavlova mit Tieren oder Porträts in ›exotistischen‹ Rollen; sie klebt auf einer Seite nur Zigaretten-Sammelbilder ein oder eine ganze Serie gezeichneter Momente aus Der sterbende Schwan (1907). So findet sich in diesem Buch schlaglichtartig die ästhetische und technische Vielfalt der Tanzfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts versammelt, von Studioporträts über unterschiedlich stark retuschierte Tanzaufnahmen, solistische Fotografien, Gruppenaufnahmen, Montagen, Bilder mit kunstfotografischer Anmutung bis hin zu Werbefotografien von Ballettkompanien. Die Verwendung von Fotoecken erlaubt eine dynamische und flexible Seitengestaltung, die Bilder werden dabei nicht endgültig auf der Seite fixiert, sondern ihre Ordnung bleibt veränderbar. Mit dem Scrapbook praktiziert Derra de Moroda eine Sammeltechnik, die vorwiegend mit dem Alltäglichen, Trivialen, Populären identifiziert, ja sogar explizit als weibliche markiert ist: »Scrapbooks als Orte des Weiblichen, als Repositorien des Alltäglichen, des Trivialen und der kleinen Geschichten stellen keinen Anspruch an die Hochkultur.«30 Scrapbooks, zumindest das von Derra de Moroda verwendete »Whopper Scrap Book«, laden mit ihren offenen Seiten ein, Konstellationen zu bilden, und Objekte auf der Seite (suggestiv) anzuordnen.31 Scrapbooking etabliert sich als populäre materielle Erinnerungspraxis im 19. Jahrhundert, und ist in den USA noch heute eine »established mode of self narration«.32 Vornehmlich zum Zweck der persönlichen Erinnerung und zur vielschichtigen Narration der eigenen Biografie verwendet, werden beim Scrapbooking eine Vielzahl von Materialien, wie Fotografien, Texte, Zeitungsausschnitte oder kleine Alltagsobjekte, in Buchform assoziativ gesammelt und zusammengefügt – entweder in leere oder gerasterte Bücher eingeklebt, oder vorhandene Bücher überklebt.

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Ähnlich wie die sich zeitgleich popularisierenden Foto-, Postkarten- oder Kabinettkartenalben ist das Scrapbooking als Sammeltechnik an die Industrialisierung (und die technische Reproduktion von Bildmedien) gebunden. Es basiert auf der Rekontextualisierung von massenmedialen Produkten, durch deren Zusammenstellung Individualität ausgedrückt wird.33 Anders als in der Praxis des Sammelalbums mit seiner Projektionsfläche weißer Seiten, ist, wie Monika Seidl hervorhebt, das Scrapbook nicht nach dem »Prinzip der Exklusion« von Materialien strukturiert, sondern in ihm verdichtet sich die »Schicht der Dinge selbst« zur Projektionsfläche, welche nach dem »Prinzip der Inklusion« von Material funktioniert34: »Scrapbooker machen sich die sie umgebenden Fragmente zu eigen, um sie im übersichtlichen Glanz der Scrapbook-Seiten in einer flüchtigen Gesamtheit zu fixieren, so lange, bis man umblättert.«35 So nutzt auch Friderica Derra de Moroda dieses Format zur biografischen Narration – wenn auch nicht ihrer eigenen, sondern der einer anderen Tänzerin – und arrangiert verschiedene Bildmedien, die unterschiedliche Aspekte eines Lebens abbilden. Ihr Scrapbook versammelt in kursierenden Alltagsobjekten sowohl zeitgeschichtliche Fakten zu Auftritten, Ausstellungen, Lebens- und Todesdaten, als auch die zirkulierenden Tanzfotografien von Anna Pavlova. Das Arrangement der Bilder im Buch hält sowohl die subjektive Sichtweise der Sammlerin fest, als es auch seine eigenen Regeln der Zusammenstellung sichtbar macht: Erst im Scrapbook ergibt sich so, aus den diversen, künstlerischen wie auch massenmedialen Quellen stammenden Fotografien Anna Pavlovas, ein Bild der Tänzerin und ihrer Geschichte. Das Pavlova-Scrapbook aus den Derra de Moroda Dance Archives lässt den Übergang von individueller Sammlungstätigkeit und institutionalisierter Tanzforschung deutlich werden. Es verkörpert dabei eine Zwischenstufe historiografischen Arbeitens vor der geschlossenen Narration, wie man sie in biografischen Werken zu Pavlova36 findet. Als Verfahren der Sammlung und Anordnung von (Bild-)Quellen macht es einen historiografischen Vorgang sichtbar, der sonst meist verborgen oder implizit bleibt. Das Scrapbook funktioniert dabei wie ein tanzhistorisches (und tanzhistoriografisches) Prisma. Es lenkt den Blick auf verschiedene Varianten eines spezifischen Tanz-Bildes, dokumentiert den Bildgebrauch Moderner Tänzerinnen, weist auf Publikationsformen und -kontexte von Tanzfotografien. Die Materialität der Bilder, deren Vielfalt von Medien und jeweilige Zeigeordnungen sowie Sujets treten in übersichtig angeordneter Weise 26

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Email-Kommunikation mit Irene Brandenburg, Kuratorin der Derra de Moroda Dance Archives, 24.02.2015, die das Scrapbook mit großer Wahrscheinlichkeit Derra de Moroda zuschreibt. Derra de Moroda, Friderica: »My Dance Archives«, in: Derra de Moroda Dance Archives, The Dance Library. A Catalogue, zusammengestellt und annotiert von Friderica Derra de Moroda, hg. aus dem Nachlass von Sibylle Dahms u. Lotte Roth-Wöfle, München: Robert Wöfle 1982, S. xi. In einer erweiterten Fassung, die in einem Aufsatz von Sibylle Dahms abgedruckt ist, wird der Beginn auf »1915 [?]« datiert: Dahms, Sibylle: »Archives of the Dance: The Derra de Moroda Dance Archives at the University of Salzburg«, in: Dance Research Vol. 1, No. 2 (Autumn, 1983), S. 69— 79. Vgl. http://www.herma.com/de/historie/die-gruendung.html, 04.02.2015. Derra de Moroda Dance Archives, The Dance Library. A Catalogue, zusammengestellt und annotiert von Friderica Derra de Moroda, hg. aus dem Nachlass von Sibylle Dahms u. Lotte Roth-Wöfle, München: Robert Wöfle 1982. Eine »Autorschaft« des Scrapbooks wird hier nicht angegeben. Seidl, Monika: »Das Scrapbook«, in: Album. Organisa-

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tionsform narrativer Kohärenz, hg. v. Anke Kramer u. Annegret Pelz, Göttingen: Wallstein 2013, S. 204— 210, hier S. 209. Mark Twain patentierte 1872 ein selbstklebendes Scrapbook mit vorgummierten Spalten, vgl. Seidl, »Das Scrapbook«, S. 206. Katriel, Tamar u. Farrell, Thomas: »Scrapbooks as Cultural Texts. An American Art of Memory«, in: Text and Performance Quarterly, Vol. 11, Nr. 1 (Januar 1991), S. 1—17 , hier S. 2. Vgl. Farago, Claire: »›Scraps as it were‹: Binding Memories«, in: Journal of Victorian Culture, Vol. 10, Nr. 1 (2005), S. 114—122. Seidl, »Das Scrapbook«, S. 204f. Ebd., S. 208. Allein in der gedruckten Bibliografie der Derra de Moroda Dance Archives von 1982 befinden sich über 30 Einträge zu Anna Pavlova, darunter Beaumont, Cyril: Anna Pavlova, London: Beaumont 1932; Levinson, André: Anna Pavlova, Paris: Grjébine et Vishgnak 1928; Pawlowa, Anna: Tanzende Füße. Der Weg meines Lebens, Dresden: Carl Reissner-Verlag 1928; Stier, Theodore: With Pavlova Around the World, London: Hurst and Blackett 1927; Dandré, Victor: Anna Pavlova in Art and Life, London: Cassell 1932.

[ABB. 01] Doppelseite aus dem Pavlova-Scrapbook Friderica Derra de Morodas, Universität Salzburg, Derra de Moroda Dance Archives, DdM f M 009.

zueinander ins Verhältnis. Diese Übersicht lässt gleichermaßen die Fotografien als einzelne ästhetische Objekte wie auch ihre impliziten Serialitäten und Musterbildungen zur Ansicht kommen und legt einen fotografischen Wahrnehmungsmodus des Zoom-in/Zoom-out nahe. Die auf übersichtige Anordnung wie auf spezifische Kombination beruhende Logik des Scrapbookings soll im folgenden Textverlauf als historiografisches Vorgehen aufgegriffen werden. An zentraler Stelle im Scrapbook von Derra de Moroda findet sich eine Aufnahme des Fotografen Jean de Strelecki (ca. 1914)37 von Anna Pavlova in Der sterbende Schwan als großformatiger Abzug eingeklebt, der fast die gesamte Seite des Buchs einnimmt. Gegenüber dieser Tanzfotografie ist die Fotografie einer Porzellanskulptur Pavlovas befestigt, die das Motiv der Stillstellung von Bewegung spiegelt. [→ABB. 01] Die auf dieser Doppelseite gegenüberstellten Fotografien werden hier zum Anlass weiteres Bildmaterial aus den Beständen der Derra de Moroda Dance Archives zum Scrapbook heranzuziehen. Im Zusammentragen verschiedener Fotografien der Anna Pavlova aus Büchern, Zeitschriften und Archivmappen werden synchrone Schnitte durch die Bestände des Salzburger Archivs gezogen, welche die Tanzfotografie über ihr Sujet hinaus als Dokument in und von ihren Verwendungskontexten erscheinen lässt. In einer ästhetisch orientierten Analyse werden zunächst diese beiden Fotografien mit Blick auf das von ihnen gesetzte Verhältnis von (Tanz-)Bewegung und (fotografischem) Bild in Nahsicht untersucht. Im Scrapbook-

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artigen Arrangieren der Abzüge und Abdrucke von Tanzfotografien wird daraufhin eine Übersicht geschaffen, in welcher Konstruktionen der Tanzgeschichte erscheinen und relationale Bedeutung gewinnen. Das Archiv wird dabei als (Bilder-)Sammlung mit Blick auf die »Sinnfigurationen«38 seiner Formationen in und von historiografischen Arrangements befragt, um deren Funktionsweisen transparent zu machen. I. Obwohl seit den 1910er Jahren zahlreiche Aufnahmen von Tänzerinnen und Tänzern überliefert sind,39 ist nur wenig über die Aufnahmepraxis und die Studiosituationen, in denen diese Fotografien entstanden, bekannt. Victor Dandré, Impresario, Manager und Ehemann Pavlovas, liefert mit seinem Bericht über die Fotosessions von Anna Pavlova circa ein Jahr nach ihrem Tod in der anekdotischen Biografie Anna Pavlova in Art and Life40 einige wenige exemplarische Informationen. Pavlova verweigerte demnach die Aufnahme im Fotostudio und bestand darauf, in Kostüm und Maske, aufgewärmt und üblicherweise zwischen den Akten einer Aufführung fotografiert zu werden. Die Aufnahmen wurden in improvisierten Fotostudios hinter der Bühne gemacht. Angesichts der in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden technischen Mittel stilisiert Dandré Pavlovas Fotosessions mit ihrem ambitionierten Schaffen bewegter und beweglicher Aufnahmesituationen gleichermaßen zu fast unmöglich zu meisternden Herausforderungen: das ›Genie‹ und die spontan empfundene Kunst der Tänzerin sind demnach mit der Kamera kaum einzufangen. Pavlova sei unfähig gewesen, gezielt im Bewegungsfluss innezuhalten oder eine zuvor spontan eingenommene Pose zu wiederholen, so dass das Gelingen der Fotografie stets höchst prekär und je nach Können und Ambition der Fotografierenden bisweilen zufällig war.41 Betont Dandrés Beschreibung der Aufnahmesituation Pavlovas Streben nach Beweglichkeit und Bewegtheit im Moment der Aufnahme, zeigt die im Scrapbook montierte Fotografie Anna Pavlova in der Rolle des sterbenden Schwans in einer Pose der Stillstellung. Die Aufnahme von de Strelecki macht sich dabei einen Kunstgriff nutzbar, der auch in weiteren Fotostrecken, wie z.B. der von Hänse Hermann (ca. 1908)42 zur gleichen Choreografie, eingesetzt wird: vertikal hinter die Tänzerin aufgestellt rahmt das Tutu den Körper der Tänzerin beinahe wie ein Scheinwerferlicht von den Schultern bis zu den Knien. Das Kostüm zweidimensional ausrichtend, spielt die Bildkomposition so mit der Perspektive und lässt das Bild zwischen Ansicht und Aufsicht, die Position der Figur zwischen lehnend und liegend changieren. Die vertikale Aufrichtung des Körpers im Raum wird nur durch die kraftvolle Streckung des Fußes und durch die Bodenlinie bedeutet, welche beide stark retuschiert erscheinen. Die diffuse Zeichnung des Tülls – ein fotoästhetisches Spiel zwischen der Weichheit des Stoffes und eines weichen Unschärfeverlaufs der Fotografie – steht im Kontrast zur klaren Zeichnung der Arme und des Gesichts, die neben dem Fuß der Tänzerin43 fetischisierend hervorgehoben werden, wodurch das Augenmerk auf die expressiven Körperteile gelenkt wird. 37 38 39

Vgl. Lazzarini: Pavlova, S. 14. Flach, Sabine: Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München: Fink 2005, S.12. Vgl. Blass: Das Wesen der neuen Tanzkunst; Brandenburg, Der Moderne Tanz; Schur, Der Moderne Tanz; Thiess, Der Tanz als Kunstwerk.

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Dandré, Victor: Anna Pavlova in Art and Life, Reprint der Originalausgabe Anna Pavlova in Art and Life, London: Cassell 1932, New York: Benjamin Blom, Inc. 1972. Ebd., S.239. Lazzarini: Pavlova, S. 90.

Der Kontrast der malerisch anmutenden Retuschen in der unteren Bildhälfte zum fotografischen Abbild in der oberen, teilt Pavlovas Körper in zwei Bereiche. Die Überkreuzung der Beine im Relevée (eine auf die Fußspitzen erhobene Position) wird durch die Retusche fast unkenntlich, so dass die Beine zu einem, geradezu ikonisch im Bild stehenden Fuß verschmelzen.44 Das hinter die Tänzerin aufgestellte Tutu verbindet die Bildhälften als Stoff- und Federmasse und weist einen Übergangsbereich aus. Vor dem bauschigen und mit Schwanenflügeln besetzten Tanzkleid heben sich die Arme Pavlovas durch ihre glatte Oberfläche ab. Die in Teilen unscharfe Außenlinie der Arme hingegen suggeriert eine sich auflösende Grenze zwischen menschlichem Körper und Körper des Tieres, ein Einsinken einzelner Fragmente des Tänzerinnenkörpers in die amorph-gebauschte Masse aus Tüll und Federn. Die Fotografie zeigt mit dem auf der Spitze stehenden Körper, überkreuzten Beinen und Armen sowie dem zur Seite gesunkenen Kopf aktive Körperteile und charakteristische Positionen der Choreografie wie sie von Suzanne Carbonneau beschrieben wird: »The movement of the swan gliding on the water is suggested by a continuous stream of bourrées, while the arm overhead, tensed and constrained, beat spasmodically. At the end the dancer lowers herself onto the knee, hands folded above her bowed head, as death triumphs on the final tremolo.«45 Die kniende Schlusspose als Moment des Todes ist jedoch gerade nicht wiedergegeben, wie es jene ebenfalls im Scrapbook montierte Fotografie Frans van Riels46 tut. Vielmehr wird für die Aufnahme ein Moment der Choreografie gewählt, in welchem der Körper noch nicht endgültig zum Stillstand gekommen ist. Die Pose, die Pavlova in de Streleckis Fotografie einnimmt, erfordert die Balance im Moment – das Innehalten des auf der Spitze stehenden Körpers. Nicht die Bewegung im Vollzug, sondern die Bewegung im Stillstand wird hier zum Bild des Tanzes. Seit der Renaissance ist die Pose, das Pausieren im Tanz, nicht nur Unterbrechung der Bewegung – Mortifikation und Stillstand – sondern Anlass einer anderen Bewegung, jener der Reflexion und Imagination der Betrachtenden, die in der Abwesenheit von Bewegung jene imaginiert.47 Pavlovas Solo Der sterbende Schwan, als dessen Ausschnitt diese Pose durch das Kostüm ausgewiesen wird, führt dieses zentrale Moment klassischer Ballettästhetik als Choreografie aus. Die Idee der Mortifikation, wie sie in den Posen ein grundständiges Element der Balletttechnik bildet, wird in eine Narration überführt und so zu einer Allegorie des Tanzes selbst. Die fotografische Stillstellung dieser Pose wiederum re-inszeniert diese als Bild; als Reflexion nicht nur über den bereits im Titel der Choreografie angekündigten Tod des Schwans, sondern auch über Abwesenheit von Bewegung im Bild. Diese Abwesenheit scheint hier allegorisiert in den Schärfe/Unschärfe-Kontrasten zwischen Kostüm und Figur auf, die eine der zentralen ästhetischen Strategien der Tanzfotografie im frühen 20. Jahrhundert ist.48 Die Porzellanskulptur49 hingegen zeigt Pavlova in Vorderansicht in Attitude und fängt so einen anderen Moment herausgehobener, transitorischer Stillstellung von Bewegung ein, die wiederum Bewegung figuriert. Die Gegenüberstellung der beiden Fotografien im Scrapbook erzeugt einen starken Kontrast. Transformiert ins Schwarzweiß der Fotografie rücken die Tänzerin selbst und ihre Porzellanfigur im Bild auf eine Ebene und werden vergleichbar. Wird in der Aufnahme der Tänzerin in Pose eine Stillstellung der Figur sichtbar, so vermittelt sich in der Fotografie der Porzellanfigur eher die Verlebendigung des ›toten‹ Materials Porzellan. Im Gegensatz zur matten

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Oberfläche der Haut Pavlovas in der Fotografie de Streleckis erzeugen die Glanzeffekte des glasierten thüringischen Porzellans eine beinahe körperliche Lebendigkeit. Während das Tutu in der Fotografie der Tänzerin den Bildgrund für Pavlovas Arme und Beine bildet, wird es hier zum Bildzentrum, das den Bewegungsschwung festhält, der allegorisch von der S-Linie des Stoffes hinter ihrem Standbein fortgeführt wird. II. De Streleckis Fotografie zeigt sich in der gesamten Salzburger Sammlung als vielbenutztes Sujet, welches in diversen Printmedien veröffentlicht wurde: ergänzt um einen einmontierten Rahmen findet sich die Aufnahme zweifach im Scrapbook, als großformatiger Druck in Poster-Form50, in der Archiv-Mappe »Programmhefte, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte« als Titel eines Programmheftes des Melbouner His Majesty’s Theatre (vermutlich 1926 oder 1929)51, im Buchdruck als Abbildung in André Levinsons Anna Pavlova von 1928 52 und nicht zuletzt als Abbildung in einer Sonderausgabe der Édition Archives Internationales de la Danse (1934)53. Über 20 Jahre hinweg begleitet de Streleckis Aufnahme Anna Pavlovas Karriere. Die Fotografie zeigt sich hierbei als ein versammelndes Medium, in welchem – ob im einzelnen Bild oder auch in Kombinationen mit anderem Text- und Bildmaterial – Sinnzuweisungen moduliert werden. Ausgehend von diesem Arrangement der Bilder verfolgt die nachstehende Analyse ein Motiv durch die vielfältigen medialen Konstellationen, deren Rahmen, Kombinationen, Konfrontationen und Wahrnehmungsanordnungen in verschiedenen Printerzeugnissen. So fungiert der in de Streleckis Aufnahme eingefügte Rahmen als visuellbildlicher Übergangsbereich zwischen dem materialen Gegenstand der Fotografie und ihrem abgebildeten Motiv und vervielfältigt ihre Bildschichten – von der schuppigen Schichtung des Blätterkranzes über die umkränzte Bildfläche des schwarzen Hintergrunds, die Stofflagen des Tutus bis hin zu Pavlovas Körperteilen. Die Oberflächen der Bildelemente treten in dieser Kombination in ihren spezifischen Qualitäten als Bildschichten hervor und werden doch in der fotografischen Oberfläche vereint. Lässt die ovale Rahmung das Kreisrund des Tutus her vortreten, spielen die senkrechten Linien von Hals und Beinen die Mittelachse im fast quadratischen Format der Fotografie an und verleihen dem Bildaufbau zusätzlich Statik. Die Bänder des rahmenden Kranzes überkreuzen 43

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Vgl. Brandstetter, Gabriele: »›Geisterreich‹. Räume des romantischen Balletts«, in: Räume der Romantik, hg. v. Inka Mülder-Bach u. Gerhard Neumann, Würzburg 2007, S. 217-237. vgl. auch den Beitrag von Gisela Harich-Hamburger in diesem Band. Carbonneau, Suzanne: »Dying Swan, The«; in: International Encyclopedia of Dance, Vol. 2, hg. v. Selma Jean Cohen, New York: Oxford University Press 1998, S. 471. Der Begriff »Bourrées en couru« bezeichnet winzige Schritte mit fast gestreckten Beinen im Relevée, die eine gleitende Bewegung suggerieren. vgl. auch Levinson, Anna Pavlova, Abb. 30. »Pavlova dans la ›Mort du Cygne‹ van Riel« (o. S.). Brandl-Risi, Bettina: »Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose. Überlegungen zum Paradox des tableau vivant«, in: Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, hg. v. dies., Stefanie Diekmann u. Gabriele Brandstetter, Berlin: Theater der Zeit 2012, S. 52—67, hier S. 55; vgl. auch Brandstetter, Gabriele: »Pose–Posa–Posing. Zwischen Bild und Bewegung«, in: ebd., S. 41—67. Vgl. exemplarisch Erfurth, Hugo: »Schärfe und Un-

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schärfe in der Photographie«, in: Deutscher Kamera-Almanach. Ein Jahrbuch für die Fotografie unserer Zeit, Bd. 7 (1911), Berlin, S. 47-52, wie auch Peter, Frank-Manuel: »Das tänzerische Lichtbild. Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes«, in: Kataloghandbuch des Agfa Foto-Historama: Hugo Erfurth, 1874—1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hg. v. Bodo von Dewitz u. Karin Schuller-Procopovici, Köln: Wienand 1992, S. 45—52. Das Victoria and Albert Museum besitzt ein Exemplar dieser Figur. Der Eintrag in der Onlinedatenbank datiert sie auf ca. 1920 und bestimmt den Herstellungsort in Thüringen. Vgl. http://collections.vam.ac.uk/ item/O117752/figurine-pavlova-anna/, 09.04.2015. Auch das Bibliothèque-Musée de l’Opéra, Paris, besitzt ein Exemplar dieses Posters. vgl. http://www.hmt.com.au/explore/history/, 11.04.2015. Levinson: Anna Pavlova, Abb. 29. »Pavlova dans la ›Mort du Cigne‹« (o. S.). Anna Pavlova. La Mort du Cygne, Édition Archives Internationales de la Danse, Sonderheft (1934), S.4.

[ABB. 03] Jean de Strelecki, Anna Pavlova »Der sterbende Schwan«, ca. 1914, lose eingelegter Fotoabzug, Pavlova-Scrapbook, Universität Salzburg, Derra de Moroda Dance Archives, DdM f M 009.

sich, wiederholen oberhalb und unterhalb der Figur Pavlovas, die Mittelachse aufgreifend, das Kreuz der Bänder ihrer Spitzenschuhe und laufen in einer Abfolge kurzer geschlungener Spiralbögen aus. Die Bewegtheit der einmontierten Rahmenelemente intensiviert im Kontrast zur Fixierung des Körpers den fotografischen Bildeffekt der Stillstellung. Das Thema von Stillstellung und Bewegtheit fortführend, welches in den Transformationen des Körpers ins fotografische Bild variiert wird, finden sich Poster sowie Programmhefttitel um das zusätzliche Rahmenelement eines steinernen Absatzes erweitert, das die Fotografie in gemeißelter Inschrift mit dem Namen der Tänzerin unterschreibt. Der durch die Lichtführung erhellte Fuß wird in der Bildkomposition sinnbildlich auf einen Sockel gestellt. Dennoch nimmt der Druck nur circa Dreiviertel der PosterFläche ein und belässt ebenso das Papier, sein eigentliches Material, sichtbar. Die Fotografie weist sich in ihren (massenmedialen) Vervielfältigungen als Kombinationsmedium aus, welches verschiedene Bildmedien versammelt, anspielt, ihre Strategien der Bewegungsdarstellung wie Stillstellung integriert und variiert. Die Abbildung im Bildteil von André Levinsons Anna Pavlova (1928) hingegen verzichtet auf die Rahmung, nur die Reproduktion von de Streleckis

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Aufnahme steht in der Mitte der Buchseite. Das Buch ist als Sammler- und Liebhaberstück angelegt, denn es erscheint in 350 nummerierten Exemplaren, die auf zwei ausgesuchten Papierqualitäten gedruckt wurden (50 auf Hollande Pannekoek- sowie 300 auf Velin-Papier; die Derra de Moroda Dance Archives besitzen die Nummer 127 auf Velin-Papier). Seinen 27-seitigen Text- wie 44-seitigen Bildteil – ausschließlich aus reproduzierten Fotografien bestehend – rahmt Levinson als niedergeschriebene Erinnerungen an besuchte Auftritte im Versuch eine unmögliche Beschreibung zu geben: »En vain, sur son nom, les superlatifs s’amoncellent comme les lauriers à ses pieds. Et jamais, quant à moi, je ne me suis moins consolé de la carence de l’épithète que quand il m’a fallu chercher à désigner par des formules verbales un tel mélange du corps et de l’esprit. [...] Le message de Pavlova est innénarrable [sic].«54 Ähnlich wie das Scrapbook setzt der Autor seine persönliche Erinnerung als Referenzrahmen der Publikation und umkreist sprachlich wie in seinen Bildanordnungen gleichermaßen die Person und Kunst Pavlovas in einer als uneinlösbar gerahmten Verweisgeste. Der Bildteil mäandert entlang einer Linie von Fotografien zu Pavlovas Choreografien ergänzt um Porträts hin zu vermeintlich immer persönlicheren Aufnahmen wie »41. Pavlova devant sa maison« oder »42. Pavlova en Egypte«.55 Einer ähnlichen Dramaturgie folgt auch die Zusammenstellung von vier Fotoreproduktionen zu Der sterbende Schwan, der einzigen Choreografie, der eine solche Reihung im Buch gewidmet ist. Die Auswahl der Fotografien vereint die zuvor herausgearbeiteten fetischisierenden Darstellungsstrategien. Alle vier inszenieren das Verhältnis von Kostüm, Körper und ihrer Materialität durch Anschnitt, Größenverhältnisse und materiale Oberflächenkontraste. Kopf, Arme und Fuß heben sich jeweils klar konturiert vor dem bauschigen Tutu im materiellen Schärfe/Unschärfe-Kontrast ab. De Streleckis Fotografie (Nr. 29.) steht hier, flankiert von drei weiteren Aufnahmen (Nr. 28. anonym, 30. van Riel sowie 31. Lafayette), in eine Reihe eingeordnet, die in ihrer Abfolge durch bildkompositorisches Anspielen je einer Raumrichtung im umblätternden Betrachten eine Wahrnehmungsdynamik figuriert: Pavlova erhebt ihren Blick im anonymen Porträt, auf die senkrechte Aufrichtung des Tänzerinnenkörpers in de Streleckis Fotografie folgt ein die Horizontale betonendes Motiv der in die Schlusspose der Choreografie gesunkenen Tänzerin in van Riels Aufnahme. Im Porträt Lafayettes wiederholen sich schließlich die horizontale Ausrichtung der Bildkomposition wie die vorangegangene Pose eines knienden und eines gestreckten Beines, jedoch zeigt es Anna Pavlova mit ihrem Schwan »Jack« im Arm auf der Rasenfläche ihres Gartens sitzend. In dieser ›Bild-Choreografie‹ erfolgt ein fließender Übergang von Rollenbild zu privatem Porträt, wird die Person Pavlovas untrennbar mit ihrer Tanzkunst verknüpft. Diese Verknüpfung von Tanz-Bild und Starkult zuspitzend, eröffnet die Zeitschrift Édition Archives Internationales de la Danse drei Jahre nach dem Tod der Tänzerin die Sonderausgabe Anna Pavlova. La Mort du Cygne nach einem allgemeinen Vorwort mit einer »Hommage de Dévotion«56, welche den Text mit den Worten »Mais, fidèles à son incomparable génie, nous respecterons, dans l’Histoire de la Danse, le rayonnement de sa plus brillante 54 55

Levinson: Pavlova, S.9f. Ebd., Abbildungen 41. Lafayette und 42. Anglo-Swiss (o. S.).

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Anna Pavlova. La Mort du Cygne, Édition Archives Internationales de la Danse, S. 3f.

[ABB. 04] Jean de Strelecki, »Anna Pavlova dans la ›Mort du Cigne‹«, ca. 1914, Buchseite aus André Levinsons Anna Pavlova (Paris: Grjébine et Vishgnak, 1928).

étoile«57 beschließt. Das hier sprachlich aufgegriffene Motiv des Strahlens wird von einem Lichtbild gefolgt, welches post mortem, wie eine Vignette unter die Hommage gesetzt, den Übergang in die Tanzgeschichte markiert: de Streleckis Fotografie mit rahmendem Kranz stellt nach dem Titelbild – einem Porträt – die erste Abbildung der Ausgabe. Diesem Bild ihrer wohl bekanntesten Rolle gegenüber ist mittig auf der letzten Seite des Heftes eine Fotografie von Pavlovas blumenumkränzter Urne platziert.58 Angesichts dieses Bildarrangements der Mortifikation scheint es fast programmatisch für die Erinnerungskultur zu Anna Pavlova, wenn Friderica Derra de Moroda bereits in ihrem Nachruf 1931 schreibt: »Der Schwan ist tot, und noch kann man es nicht fassen. Ich persönlich möchte einen Aufruf an alle meine Kolleginnen in allen Ländern richten: Bitte, tanzt nie mehr den Schwan. Pawlowa ist tot, laßt ihn mit ihr sterben.«59 III. Die Vielfalt der Abzüge und Wiederabdrucke sowie die immer wieder erfolgende Rekontextualisierung von de Streleckis Fotografie zeigen, dass frühe Tanzfotografien trotz ihrer vielbeschworenen technischen Einschränkungen ein intensives Nachleben und durchaus Bestand gegenüber ›aktuelleren‹ und potentiell technisch ausgefeilteren Aufnahmen der Pavlova hatten. Die Flüchtigkeit des Tanzes wird mithilfe der Fotografie in einer konkreten Bildpraxis inszeniert, die nicht die fotografische Bewegungsspur bevorzugt, sondern in foto- wie bildspezifische Darstellungsstrategien transformiert. Auf ihren weitreichenden Tourneen verbreitete und popularisierte Pavlova ein Bild vom Tanz als ephemerer, romantischer Kunstform, wie es

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vor allem durch die Choreografie Der sterbende Schwan geprägt wurde, die ihrerseits durch zahlreiche Fotografien präsent ist. Das Medium Fotografie, das Pavlova exzessiv zu Marketingzwecken einsetzte, unterstützte dabei dieses Bild vom Tanz – von ihren Studioaufnahmen in Rollenbildern bis hin zu als ›privat‹ inszenierten Fotografien, in denen sich Starkult und Faszination mit dem flüchtigen Genre Tanz vermischen. Fotografien zeigen sich in dieser Zusammenstellung als wirkmächtige Schaltstellen, an welchen gleichermaßen Tanz-Bild wie Starkult geschaffen werden. Als höchst flexibles Medium hält die Fotografie nicht nur das Abbild der Tänzerin fest, sondern ermöglicht das Verschränken und Variieren diverser Bildmedien wie ihrer Formen und Logiken der Bildgebung, die über das Dokument des Tanzes hinaus ›seine‹ Geschichte schreiben. Im Arrangement der Bilder wird die Bedeutung von Tanzfotografie für die Formierung von Bildern des Tanzes und die Legendenbildung um die Tänzerin Anna Pavlova sichtbar. Das Pavlova-Scrapbook ist so ein Tanzarchiv in nuce. Es spiegelt im Kleinen Sammlungs-, Ordnungs- und Klassifizierungsvorgänge wider, die das Archivwesen im Großen ausmachen. Darüber hinaus steht der private Charakter des Scrapbooks, der sich aus der Geschichte dieser Technik als persönliches Medium der biografischen Selbstreflexion speist, paradigmatisch für den privaten Ursprung vieler tanz- und theaterhistorischer Sammlungen. Gerade in der Frühzeit der Theaterwissenschaft, also zu einer Zeit vor der institutionellen Gründung der Disziplin, existiert eine enge Verbindung von Dilettantismus, im Sinne von privater Sammeltätigkeit, und tanzund theaterhistorischer Forschung. Die Theaterhistoriografie habe – so formuliert Heinrich Stümcke, Leiter der Deutschen Theaterausstellung 1910 in Berlin – »nichtzünftigem Forscherfleiß und privater Sammlertätigkeit […] mehr zu verdanken, als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Theater«60. Die frühen Archive der ephemeren Künste sind dabei mit Objekten gefüllt, die eher den Randbereichen des historiografischen Arbeitens entstammen, als dem was heute als gesicherte Quellen gilt: es handelt sich oft um klassische Ephemera, wie Abendzettel und Lithografien oder persönliche Reliquien, wie Briefe, Kostümteile und andere Andenken. Das Pavlova-Scrapbook, markiert genau jenen schleichenden Übergang von privater Faszination zu wissenschaftlicher Forschung, von individueller Sammlungstätigkeit zum tanzwissenschaftlichen Archiv. Es versammelt zentrale Quellen der tanzhistoriografischen Forschung zum frühen 20. Jahrhundert – Fotografien –, jedoch in einem Format, das eigentlich eine private Erinnerungspraxis ist, und dennoch mit seiner idiosynkratischen und semisystematischen Anordnung eine Vorstufe archivarischer Klassifikation darstellt. Das Anna Pavlova-Scrapbook stellt so ein zentrales ›Monument‹ (im Sinne Michel Foucaults) der tanzhistorischen Forschung zur Moderne dar, das nicht nur Quellenmaterial enthält, sondern gerade in der Serialität die Materialitäten der Quellen und die Ästhetik der Aufzeichnungsmedien und Aufbewahrungsformen in den Vordergrund treten lässt. Eine solche 57 58

Ebd., S.4. Eine der Pavlova gewidmete Ausgabe der deutschen Zeitschrift Der Tanz. Monatsschrift für Tanzkultur von 1931 verwendet ebenfalls de Streleckis Fotografie mit Rahmung und die selbe Aufnahme der Urne. Diese wird hier mit dem Bildnachweis »Keystone View Co.« belegt, kann also zu den offiziellen Pressebildern, die über Bildagenturen vertrieben wurden, gezählt werden. Zudem befindet sich ein Schnappschuss eines Plakates auf S. 16, welches de Streleckis Sterbenden Schwan an einer

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aachener Litfassäule zeigt. Vgl. Der Tanz. Monatsschrift für Tanzkultur, Jg. IV, Heft 3 (März 1931). Der Tanz. Monatsschrift für Tanzkultur, Jg. IV, Heft 4 (April 1931), S. 15, Auszug aus der Rubrik »Tanzbriefe: London« von Friderica Derra de Moroda. Wir danken Irene Brandenburg für den Hinweis auf diese Textstelle. Zitiert nach Kirschstein, Corinna: Theater Wissenschaft Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forschung in Leipzig, Leipzig: Universitätsverlag 2009, S. 111.

[ABB. 05] Jean de Strelecki, Anna Pavlova »La Mort du Cygne«, Seite 4 des Sonderheftes Anna Pavlova. La Mort du Cygne, Édition Archives Internationales de la Danse (1934). [ABB. 06] Unbekannter Autor, ohne Titel, Seite 24 des Sonderheftes Anna Pavlova. La Mort du Cygne, Édition Archives Internationales de la Danse (1934).

historiografische Praxis, die die Medialität der Geschichtsschreibung ins Zentrum stellt, ist von Foucaults Archäologie des Wissens angestoßen. Dabei wird das Augenmerk der Forschung auf die ästhetische Qualität der Quelle, ihre Materialität sowie die Art und Weise, wie diese (historisches) Wissen konfigurieren, gelenkt. Foucault beschreibt diese Neuausrichtung der Historiografie als »Infragestellung des Dokuments«,61 in dem die Geschichte nicht mehr die »Frische seiner Erinnerungen«62 wiederfindet. »Das Dokument ist also für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt: sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst.«63 Das ›dokumentarische Gewebe‹ des Anna Pavlova-Scrapbooks erscheint dabei besonders dicht, da es in seiner Reihung und Serialität nicht nur Aufschluss über die aufgezeichneten Bewegungen gibt, sondern auch die medialen und materiellen Unterschiede der Tanzfotografien deutlich werden lässt. Nicht nur Bild und Bildträger sind dort untrennbar miteinander verbunden, sondern auch die Aufbewahrungsweise und Anordnungsform. Im Scrapbook reihen sich Bilder von Bewegung ohne die Fantasmagorie eines bewegten Bildes zu erzeugen. Vielmehr weisen die Lücken zwischen den Bildern und der Rhythmus des Blätterns auf die Fehlstellen der historischen Quellen hin, lenkt die Materialität des Fotopapiers und des Buches den Blick auf die Gemachtheit des Bildes und die Übertragungsweisen von Tanzfotografien. 61

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 14. Vgl. auch Ebeling, Knut u. Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin:

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Kulturverlag Kadmos 2009. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14.

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29 CHRISTINA THURNER QUELLE TANZFOTOGRAFIE EIN DILEMMA DER HISTORIOGRAFIE

Welche Bilder haben wir vom Tanz vergangener Zeiten? Und welches Bild machen wir uns davon aufgrund welcher Bilder? Diese scheinbar lapidaren Fragen entpuppen sich bei näherer Betrachtung als regelrechte wissenschaftstheoretische Knackpunkte. Wer beispielsweise etwas über Tanz am Anfang des 20. Jahrhunderts wissen will und dazu aus dieser Zeitspanne eine Tanzfotografie sucht, stößt in Büchern und Archiven vor allem auf Aufnahmen von Solistinnen und Solisten, die im Studio oder in freier Natur abgelichtet sind. Deutlich seltener findet man aus dieser Epoche Szenenbilder von Stücken. Dies hat zunächst fotogeschichtliche und -technische Gründe. So konnten gemäß dem österreichischen Fotohistoriker Timm Starl »Szenen auf der Bühne […] erst ab den ausgehenden 1920er Jahren […] während der Vorstellung fotografiert werden.«01 Aus der Zeit davor existieren demnach keine fotografischen Dokumente von Aufführungen, weil solche aufgrund der technischen Möglichkeiten (der notwendigen Belichtungszeit und der Größe sowie der Handhabung der Apparate) nicht realisierbar waren. Die vorhandenen Szenenfotografien vor 1920 sind Bilder, die für die Aufnahmen eigens arrangiert wurden.02 Sie stellen also streng genommen keine Repräsentationen, sondern vielmehr Rekonstruktionen dar, worauf noch näher einzugehen sein wird. Dieser Umstand mitsamt seiner fotohistorischen Erklärung hat Konsequenzen für die Tanzgeschichte. (Vermeintliche) Szenenbilder von vergangenen Aufführungen dienen Tanzhistorikerinnen und Tanzhistorikern nämlich als Quellen. Sie sind oft sogar die einzigen visuellen Zeugnisse von Stücken – neben Beschreibungen, Rezensionen, (zuweilen) Notationen und (später) Filmaufnahmen. Meist werden die Fotografien jedoch in Unkenntnis der Umstände ihrer Entstehung als Abbilder eines Bühnenereignisses interpretiert, davon ausgehend werden Schlüsse gezogen und Aussagen 01

Starl, Timm: Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945, Marburg: Jonas

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2009, S. 132. Vgl. ebd.

darüber gemacht, wie eine Aufführung ausgesehen hat oder zumindest haben könnte. Dabei kann jedoch nicht ignoriert werden, dass es für die Tanzgeschichte sehr wohl einen großen Unterschied macht, ob eine Szene in einem Theater während der Vorführung abfotografiert werden konnte oder ob die Szenerie – aus welchen Gründen auch immer – gestellt ist und als solche im Stück vielleicht gar nicht vorkam. Wie jede Quelle muss auch die Tanzfotografie mit Vorsicht behandelt werden, müssen bestimmte historische und kulturelle Kontexte mit bedacht und technische sowie genrespezifische Bedingungen berücksichtigt werden. Fotografie als »allgemeine[s] Phänomen« wird – so der Berliner Kunsthistoriker und Fototheoretiker Peter Geimer – darüber definiert (und auch von anderen bildlichen Darstellungen abgegrenzt), dass sie ›Reproduktion‹ von ›Realität‹ sei, wobei Reproduktion hier »Wiederholung der Wirklichkeit im Bild« bedeutet.03 Die Frage, welche Konsequenzen diese epistemische Kausalität für die Tanzgeschichtsschreibung hat, ist m. E. noch ein Forschungsdesiderat.04 Im Hinblick auf historische Schriftdokumente ist die Tanzwissenschaft quellenkritisch weitgehend sensibilisiert und gibt bisher differenziertere erkenntnistheoretische und historiografische Kompetenzen zu erkennen als in Bezug auf die Tanzfotografie. So herrscht beispielsweise mittlerweile Konsens darüber, dass Tanzkritiken aus dem 19. Jahrhundert weniger darüber aussagen, wie der Tanz auf der Bühne ausgesehen hat, als über die Art und Weise, wie Ballett in der Romantik rezipiert und wie darüber in entsprechenden Textgenres geschrieben wurde.05 Dass auch einer Fotografie jeweils bestimmte Rezeptionshaltungen, Wiedergabekonventionen und -möglichkeiten zugrunde liegen, deren (bewusste oder auch ungewollte) Ignoranz in der Geschichtsschreibung signifikante und weit reichende Folgen haben kann, wird in der Forschung bisher zu wenig beachtet. »Aber welche Kompetenz, welches Wissen vermittelt die Kenntnis der Fotografie?«06 Laut Geimer setzt die »Reflexion dieser Frage […] mit der Erfindung der Fotografie im frühen 19. Jahrhundert ein […] und reicht bis in die Debatten über das digitale Bild hinein.«07 Im folgenden Beitrag soll hinsichtlich der Tanzgeschichtsschreibung exemplarisch untersucht werden, welches Wissen über Fotografie existiert und aus Tanzfotografien generiert beziehungsweise wie damit umgegangen wird. An einem konkreten Beispiel werden dazu Denkanstöße gegeben und weitere Fragen aufgeworfen08 – mit dem Ziel, tanzhistorisch und quellenkritisch zu sensibilisieren. Während für den kanadischen Künstler Jeff Wall offenbar klar ist: »Ein Journalist ist daran interessiert, dem Betrachter oder Leser ein Ereignis zu vermitteln. Der Künstler ist daran interessiert, dem Betrachter die Repräsentation dieses Ereignisses zu vermitteln«,09 ist das Verhältnis von Repräsentation, Vermittlung und Ereignis (zumindest) in Bezug auf die Fotografen beziehungsweise Fotografien von Bühnenereignissen nicht so einfach und in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten auch jeweils unterschiedlich zu betrachten. Neben der Entstehungszeit der Bilder und den diesbezüglichen technischen Möglichkeiten stehen dabei auch Auffassungen von Autorschaft, Konzepte von Repräsentation und Haltungen zu Authentizität sowie die jeweilige Funktion von Fotografie zur Debatte. Um Status, Funktion und Erkenntnispotenzial der Quelle Tanzfotografie im Hinblick auf die Geschichte der Bühnentanzkunst zu erkunden, habe ich mich zunächst auf die Suche nach einer Fotografie gemacht, die (wie sich herausstellte, vermeintlich) ein Szenenbild einer Aufführung festhält. Das auszuwählende Bild durfte dezidiert nicht draußen und nicht

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[ABB. 01] »Fokine. Scene form the original Diaghilev production of Petrouchka (1911), with Alexandre Orloff as the Moor (center), wielding a sickle, Vaslav Nijinsky as Petrouchka, cowering on the floor, and Tamara Karsavina as the Ballerina, covering her ears. (Photograph from the Dance Collection, New York Public Library for the Performing Arts.)«.

im Studio aufgenommen sein, sondern eben im Theaterhaus, weil Eruierungen zu einem Stück (und weniger zu einzelnen Tänzern, Posen, Fotoateliers usw.) im Vordergrund stehen sollten. Diese Suche hat dann – zu meinem anhaltenden Erstaunen – sogleich Formen einer wahrlich vertrackten und geradezu detektivischen Angelegenheit angenommen, die die Frage nach dem Quellenstatus erst recht virulent erscheinen lässt. Davon wird im Folgenden berichtet; es soll also eine exemplarische Suchgeschichte erzählt und diese mit historiografischen und epistemischen Reflexionen dazu verbunden werden. Im Juli 2013 bin ich bei meiner Suche auf das vorliegende Bild gestoßen [→ABB. 01] – ganz anachronistisch in der International Encyclopedia of Dance, Band 3, im Eintrag »Fokine, Michel«.10 Zu sehen ist, wie wir aus der Bildlegende erfahren, ein Ausschnitt aus einer Szene des Balletts Petruschka aus dem Jahr 1911, choreografiert von Michel Fokine für die Ballets Russes. Es wird noch erwähnt, dass Nijinsky als Petruschka in der Mitte am Boden von Alexandre Orloff als Moor traktiert wird, während Tamara Karsavina 03

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Geimer, Peter: Theorien der Fotografie. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2009, 3. verb. Aufl., S. 9, 139. Geimer befasst sich zwar nicht mit Tanzfotografie, dennoch ist sein zwischen verschiedenen Positionen der Fototheorie vermittelnder und diese immer wieder auch relativierend reflektierender Ansatz für meine Fragestellung sehr fruchtbar, weshalb im Folgenden immer wieder auf sein Buch referiert wird. Das Forschungsprojekt »Bilder von Bewegung–Tanzfotografie 1900—1920« von Isa Wortelkamp, Tessa Jahn und Eike Wittrock bildet da eine einzigartige Ausnahme und konnte diesbezüglich wesentliche Erkenntnisse und methodische Verfahren herausarbeiten. Vgl. dazu beispielsweise Christina Thurner: »Poetische Sichtbarmachung. Be- und Er-schreibungen in Tanz-

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kritiken des 19. Jahrhunderts«, in: Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandaufnahme, hg. v. Henri Schoenmakers u.a. Bielefeld: transcript 2008, S. 273—279. Geimer: Theorien der Fotografie, S. 9. Ebd. Fragen wie: Was muss ein Tanzhistoriker, eine Tanzwissenschaftlerin wissen, um Aussagen treffen zu können, von denen – im Bewusstsein um deren Konsequenzen – weitere Aussagen abgeleitet werden können. Wall zit. in Geimer: Theorien der Fotografie, S. 205, 217. Cohen, Selma Jeanne (Hg.): International Encyclopedia of Dance, 6 Bände. Bd. 3, Eintrag: Fokine, Michel. New York, Oxford 2004, S. 19.

[ABB. 02] »Orloff, Nijinsky, and Karsavina in a scene from ›Petrouchka.‹ Photograph by Bart Parks. Harvard Theatre Collection«.

sich die Ohren zuhält. Als Quellenangabe wird die Dance Collection der New York Public Library for the Performing Arts angegeben. Ich habe das Bild dann auch im Internet gesucht und auf der Seite artnet magazine eine ähnliche Fotografie [→ABB. 02] gefunden, offenbar von derselben Szene, aber bezüglich Ausschnitt, Perspektive und Zeitpunkt leicht verschoben. Auffällig ist bei dieser Darstellung die Nennung des Fotografen in der Bildlegende: »Bart Parks«. Darauf wird weiter unten noch genauer eingegangen. Als Ort der Quelle ist hier die Harvard Theatre Collection angegeben. Dorthin sowie an die New York Public Library habe ich je eine Email geschrieben mit der Bitte, mir eine digitale Reproduktion der Fotografie und weitere Informationen darüber zu schicken. Unter anderem interessierten mich Ort und Jahr der Entstehung der Fotografie sowie die Autorschaft, also der Fotograf. Von Harvard bekam ich schnell Antwort mit Angaben unter anderem zur Datierung (Paris 1911) und dem Hinweis, dass der Fotograf handschriftlich erwähnt, der Name allerdings nicht eindeutig zu entziffern sei: »Perhaps you can make out the name of the photographer from the verso; I cannot. I recall the link you sent credited the image to Bart Parks, but I cannot confirm this.«11 Der Email war eine Bilddatei (Front- und Rückseite) [→ABB. 03+04] angehängt.12 Darauf, dass auf der Rückseite von Fotografien oft diverse Angaben unterschiedlicher (zeitlicher und funktionaler) Provenienz zu finden sind, weist Starl in seinem Buch Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945 hin.13 Wichtig im Zusammenhang dieses Beitrags ist vor allem die Unterschrift im Stempel, die auf die Autorschaft

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beziehungsweise auf den Fotografen hinweist.14 Die Recherche zum oben genannten »Bart Parks« ergab sehr rasch, dass diese Angabe/Entzifferung auf artnet falsch sein muss, weil zwar ein Fotograf mit dem Namen auffindbar ist, dieser aber aufgrund seiner Lebensdaten unmöglich dieses Foto gemacht haben kann. Nach intensiver Suche in verschiedenen onlineFotoarchiven15 ließ sich der Fotograf eruieren: Es muss sich um den Franzosen Auguste Bert (Aufschrift »Bert, Paris«) handeln, von dem auch andere Bilder der Ballets Russes aus der selben Zeit nachgewiesen sind. Auch die Antwort der New York Public Library, die in der Quellenangabe meines Ausgangsbildes in der Encyclopedia genannt wird, war diesbezüglich unbefriedigend, da mir von dort zuerst ebenfalls eine falsche Fotografenangabe (»e and Fry«16) übermittelt und dann auf Nachfrage darauf verwiesen wurde, dass das Bild »uncredited« sei.17 Aus derselben Email der Archivarin an die Verfasserin dieses Beitrags ging außerdem hervor, dass die Fotografie für die Reproduktion in der Encyclopedia nicht, ja bisher gar nie, digitalisiert worden sei, dass lediglich eine stark beschnittene Version digital existiere.18 Soweit in aller Kürze und mit einigen Aussparungen die Geschichte der Auffindung und historiografischen Bestimmung dieser Fotografie – immerhin ohne physische Reise in die USA.19 Auffällig ist, dass einerseits nach diesen Fotos offenbar nicht oft gefragt wird, dass sie also gewissermaßen eine blinde Stelle der Forschung bilden und dass andererseits der Quellenstatus in höchstem Maße vage und ungesichert ist. Drei Aspekte dieses unsicheren Quellenstatus möchte ich im Folgenden noch hervorheben – freilich ebenfalls exemplarisch: Erstens die Autorschaft, zweitens das Verhältnis zwischen Bild und Bühnensituation beziehungsweise Aufführung und drittens die Funktion der Fotografie für die Tanzgeschichte. Autorschaft In m. E. nicht durchgehend stimmiger Metaphorik vergleicht Starl die »Fotografie ohne Autor, Ort und Datum« mit einem »Vortrag ohne Geschichte«: »Ihre Botschaft ist nicht zeit- und ortlos, sondern haltlos: wie ein Echo, das von irgendwoher kommt und im Irgendwo verklingt. Was immer das Bild darstellt, ihm fehlen die Vergangenheit, aus der es erwachsen ist, die Umgebung, in der es hergestellt wurde, die Stimme, die Betonungen setzt, die Adressaten, die es erreicht hat – mit einem Wort: es fehlen das Vorher und Nachher, also alles, was Dasein ausmacht.«20 11 12

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Email von Dale Stinchcomb der Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University an die Autorin vom 15.7.2013. Ich komme mit den in Klammern genannten Angaben übrigens der Bitte des Harvard Archivaren nach, der in seiner Email vom 15.7.2013 an die Autorin schreibt: »We would be grateful if you could please accompany the image with the credit line: MS Thr 465 (309), Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University.« Immerhin: das Archiv als Quelle der Quelle Fotografie des Balletts will korrekt deklariert sein. Vgl. etwa Starl: Bildbestimmung, S. 91: »Die Kennzeichnung der Bilder erfolgte in der Regel bei privaten Aufträgen durch den Käufer sowie […] durch den Fotografen. […] Ergänzt und erweitert wurden die Daten durch Nachkommen, Absender der Postkarten, Sammler, Händler, die historische Fotografien verkaufen, sowie Archivare und Historiker und nicht zuletzt durch Layouter und Reproduktionsfotografen. Identifiziert wurde das Bildobjekt, notiert das Datum der Aufnahme oder des Kaufs sowie weitere Umstände des Erwerbs, vermerkt hat man ergänzende Angaben zum Bildinhalt, Archivnummern und Anweisungen für die Reproduktion, aufgeschrieben wurden Wid-

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mungen und Mitteilungen verschiedenster Art.« Vgl. zu Stempel und Unterschrift im Hinblick auf die Identifizierung von Fotografien ebenfalls Starl: Bildbestimmung, ebd., S. 53ff. Vgl. unter anderem: http://www.npg.org.uk/collections/ search/person/mp124972/auguste-bert, 16.7.2013; http://artsearch.nga.gov.au/Detail.cfm?IRN=199159 &PICTAUS=TRUE, 16.7.2013. Ich danke hierbei Martin Gaier für seine Hilfe und die Funde. Starl: Bildbestimmung, S. 56ff., weist außerdem auf die aufschlussreichen Verzeichnisse zu Fotografen und Ateliers hin. Email von Alice Standin der New York Public Library for the Performing Arts an die Autorin vom 19.7.2013. Email von Alice Standin der New York Public Library for the Performing Arts an die Autorin vom 12.8.2013. Vgl. ebd.: »[…] A cropped version of same image (no. 2062) has been digitized. […]«. Siehe auch Fußnote 38. Eine solche beziehungsweise eine genauere Betrachtung der im Archiv vorhandenen Fotografie wäre freilich für eine fotogeschichtliche Identifizierung notwendig, während die bisher dargelegten Angaben in Bezug auf meine Fragestellung und mein Erkenntnisinteresse ausreichen. Starl: Bildbestimmung, S. 9.

[ABB. 03] Frontseite von »Petrouchka by Michel Fokine, 1911, 1930 and undated. 30 photographs in 1 folder. Howard Rothschild fund.« (MS Thr 465 (309) Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University).

Auch wenn Starls Beobachtung etwas gar polemisch daherkommt, legt er den Finger dennoch auf eine offene Wunde der Historiografie. Die Autorschaft spielt nämlich – wie auch das obige Beispiel aus dem Bereich der Tanzgeschichte zeigt – bei der Archivierung von Fotografien offenbar noch immer eine untergeordnete Rolle. Deklariert ist im Zusammenhang mit dem ausgewählten Bild, dass das Ballett, das abgelichtet ist, von Michel Fokine stammt.21 Der Choreograf als Autor des Stücks ist also bekannt, aber für jenen, der die Szene festgehalten hat, interessieren sich die angeschriebenen, sonst sehr hilfsbereiten Archivare kaum (»Perhaps you can make out the name of the photographer […] I cannot.«22).23 In einem Blog zu Nijinsky beschreibt Petra van Cronenburg 2011 im Hinblick auf eine andere Fotografie von Petruschka ähnliche Erfahrungen. Auch sie hat zuerst aus verschiedenen Archiven falsche oder gar keine Angaben zur Urheberschaft erhalten. Sie ist dann schließlich in der Bibliothèque Nationale in Paris über einen Foto-Nachlass auf den Namen Auguste Bert gestoßen und schreibt über ihre aufwändige Suche nach dem richtigen Fotografen: »Im Moment bin ich dabei, Fotos für das Nijinsky-Buch auszuwählen und die Abdruckrechte zu klären […]. Das ist nicht immer einfach, weil die Angaben in vielen alten Büchern schlampig gemacht sind und die

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Quellen dadurch nicht so leicht zu finden sind. So existiert etwa eine Aufnahme von Nijinsky in der Rolle des Petruschka, die laut Angabe der New York Public Library von einem berühmten Fotografen namens Herman Mishkin stammt und auch dessen Namensaufschrift trägt. Genau das gleiche Foto wird dagegen in der Bibliothèque Nationale von Paris als Aufnahme von Auguste Bert geführt – diesmal mit der Originalsignatur eines gewissen L. Roosen, der den Fundus von Bert nach dessen Tod erworben hatte.«24 Cronenberg schreibt weiter, dass in diesem Fall die Autorschaft in Bezug auf die Publikationsrechte keine Nebensache, sondern sehr wohl entscheidend sei und einen großen Unterschied mache: »Bert, der 1856 geboren wurde, ist schon lange genug tot – das Foto also rechtefrei. Mishkin dagegen starb erst 1948 und das ist noch keine 70 Jahre her.«25 Sie stellt schließlich fest: »Solchen Kuriositäten begegnet man bei wertvollen historischen Aufnahmen öfter. […] Die Klärung der Tatsachen wird dann manchmal zur Detektivarbeit, wenn man selbst bei Bibliotheksangaben Acht geben muss.«26 Die Detektivarbeit deutet jedoch auch darauf hin, dass der eigentlichen Quelle, also der Fotografie selber, historiografisch (noch) zu wenig kritische Aufmerksamkeit zukommt – sie geht offenbar als Quelle im Ereignis, das sie scheinbar wiedergibt, auf. Dabei hat eine Fotografie – neben einer Materialität, einer Technik-, Aufbewahrungs- und Besitzergeschichte usw. – eben auch einen Autor, der in einem bestimmten Kontext stand und das Bild aus bestimmten Gründen in einer bestimmten Situation aufgenommen hat, was beides wiederum die Fotografie und damit unseren Blick auf das Ereignis beeinflusst. Geimer weist auf eine in der fototheoretischen Diskussion stets (jeweils unter neuen Vorzeichen) wiederkehrende Polarisierung hin zwischen der Hervorhebung des Referenten, d.h. des fotografierten Ereignisses, und dem Fokus auf den Fotografen als Gestalter des Bildes; er konstatiert diesbezüglich – mit Referenz auf den Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp und dessen fototheoretische Schriften – kritisch: »Diese Polarisierung lässt sich jedoch auflösen, wenn man weder das ›Haftenbleiben des Referenten‹ noch die von Kemp favorisierte ›Beteiligung des Fotografen‹ als isolierbare Dimension und absolute Wesensbestimmung der Fotografie sieht. Vielmehr handelt es sich um komplementäre Eigenschaften, die je nach Bestimmung und Funktion stärker oder schwächer ins Gewicht fallen können. Ihre Anteile variieren je nach Autor, Funktion und Technik fotografischer Aufnahmen.«27 Auch wenn in der Tanzfotografie – zumindest auf den ersten Blick – das Ereignis, d. h. der Tanz, im Vordergrund steht, so ist das, was das Bild zeigt und was die Betrachter als Tanz identifizieren, sehr wohl (auch) eine konstruktive Größe, die – nicht nur, aber zu einem wesentlichen Teil – vom Bildautor (d.i. der Fotograf) so arrangiert, ins Bild gerückt, abgelichtet, entwickelt und als Abzug auf Papier gebracht wurde, dass wir das Gezeigte in einem bestimmten Kontext als Tanz wahrnehmen. Das Arrangement der Menschen auf der exemplarischen PetruschkaFotografie verweist auf die (tänzerische) Bewegung und lässt diese durch die Gruppierung und die Posen erahnen, auch wenn die Fotografie die 24 21 22 23

Vgl. zur Angabe der Stücke bei Fotografien im Theater/Bühnenkontext ebenfalls Starl: Bildbestimmung, S. 92. Vgl. Fußnote 11. Vgl. zu den Schwierigkeiten u.a. für Archivare bei der Identifizierung und Datierung von Fotografien auch Starl: Bildbestimmung, S. 10.

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Cronenburg in: http://vaslavnijinsky.blogspot.ch/2011 /03/seltene-fotos.html, 25.11.2013, S. 1. Ebd. Ebd. Geimer: Theorien der Fotografie, S. 52 (Hervorhebung im Original); die Kemp-Zitate stammen aus Kemp, Wolfgang: Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München: Schirmer Mosel 2006, 2. erw. Aufl., S. 34.

[ABB. 04] Rückseite von »Petrouchka by Michel Fokine, 1911, 1930 and undated. 30 photographs in 1 folder. Howard Rothschild fund.« (MS Thr 465 (309), Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University).

Bewegung selber nicht als Bewegung und schon gar nicht als in der zeitlichen Ausdehnung choreografiertes Ballett abbilden kann.28 Insofern erscheint der Autor der Fotografie im Zusammenhang mit dem Beispiel zwar nicht (wie der Choreograf) als der Künstler, aber er tritt auch nicht ganz hinter das Kunstwerk Ballett zurück; sein Anteil an dem vom Stück zu Sehenden ist immerhin größer als in der Tanzgeschichte bisher erzählt. Dies kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern lässt sich wiederum auf fotohistorische Kompetenzen und Konzepte zurückführen. Was eine Fotografie zeige oder bedeute, sei nicht davon zu trennen, auf welche Weise sie zustande gekommen sei, schreibt Geimer im Hinblick auf die Vorstellung von Fotografie als Abdruck beziehungsweise Spur.29 Ihr zufolge tut sich zwischen dem Ereignis und dem Bild ein »Zwischenraum« auf, den Philippe Dubois als den »Augenblick der Belichtung« bezeichnet.30 Geimer fragt dann aber auch – mit Bezug auf Bernd Buschs Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie (1989) – »für wen und unter welchen Umständen dieser Zwischenraum […] überhaupt erkennbar sein kann.«31 Der Anteil des Fotografen am Bild, der dessen Autorschaft bestimmt, ist demnach für die Betrachtenden des Bildes schwer zu eruieren: Ohne genaue fototechnische und -historische Kenntnisse und ohne das Wissen um die konstellativen Umstände der Aufnahme-

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situation nehmen wir die Fotografie als ›Ab-Bild‹ der Aufführung ›wahr‹, wobei die Autorschaft buchstäblich ›im Dunkeln‹ bleibt und trotz der Ermahnungen von Fotohistorikern wie Starl als epistemische Kategorie für Geschichtsschreiber und Archivare offenbar – wie obiges Beispiel zeigt – eine marginalisierte Rolle spielt. Dabei sind Kenntnisse zur Autorschaft nicht nur für die korrekte Identifizierung und Datierung der Fotografie aussagekräftig, sondern insbesondere auch für tanzgeschichtliche Fragen, etwa jene nach der Referenz, nach der Beziehung von Bild und Stück, worum es im nächsten Abschnitt gehen soll. Das Verhältnis vom Bild zur Aufführung Fotografien sind als anschauliche Momentaufnahmen eines jeweiligen Tanzstücks bzw. eines künstlerischen Werks aufschlussreich. Allerdings vermitteln sie lediglich Posen, geben einen Eindruck von den Kostümen, von der Szenerie, von den (stillgestellten) Körpern der Tänzerinnen und Tänzer. Auch die Stillstellung als Merkmal der Fotografie ist in Bezug auf den Tanz und dessen fotografische Abbildung wiederum besonders bedenkenswert. So ist für die Betrachtenden beim Anblick der PetruschkaFotografie zwar klar, dass die Figuren sich vorher (und nachher) bewegt haben. Es ist aber nicht eindeutig ersichtlich, wie lange der Moment der Stillstellung gedauert hat, wie er zustande gekommen ist, wie die einzelnen Figuren in ihre Pose hineingefunden, wie lange sie in ihr verharrt und wie sie sich wieder herausbewegt haben usw.32 Hätte man nicht die Information, dass es sich um eine Szene aus dem besagten Ballett handelt und hätte keine Kenntnisse dazu, könnte man das Bild auch als irgendeine eingefrorene Theater- oder eine gestellte Marktszene oder ein tableau vivant interpretieren. Zum fixierten Augenblick stellt Geimer allgemein fest: »Was das fotografische Bild von den gewohnten Darstellungsformen der bildenden Kunst unterschied, war ja nicht die Stillstellung als solche – die Unbeweglichkeit des Bildes war schließlich der Normalfall –, sondern der Umstand, dass es sich hier um einen stillgestellten Ausschnitt der Wirklichkeit handeln sollte.«33 Dieser Vergleich ist in Bezug auf die hier fokussierte Fotografie des Petruschka-Balletts doppelt interessant. Einerseits handelt es sich bei der abgebildeten ›Wirklichkeit‹ gut erkennbar um eine Bühnenszenerie und damit um eine andere als die ›alltägliche Realität‹. Andererseits dient der stillgestellte Ausschnitt dem Historiker als Zeugnis einer per definitionem bewegten ›Wirklichkeit‹, dem Ballett. Die Tatsache, dass es sich bei der Quelle um eine Fotografie handelt, verleitet den Betrachter nämlich dazu, das Bild als tatsächlich stattgefunden habenden Augenblick, eben als einen Moment während einer Aufführung zu rezipieren, was wiederum fotohistorisch nicht unproblematisch ist. Wie bereits erwähnt, konnte zur Zeit der Aufnahme, 1911, noch nicht während einer Vorführung fotografiert werden;34 die Szene hat also außerhalb des eigentlichen Theaterkontextes (damit ist hier eine laufende Aufführung mit Publikum gemeint) stattgefunden und ist deshalb in Bezug auf das Argument ›Wirklichkeitsausschnitt‹ gleichermaßen doppelt ›gestellt‹. Starl erwähnt im Zusammenhang mit der kinematografischen Fotografie die Standfotos, »in denen Szenen aus den 28

Es ist allerdings einzuräumen, dass bereits aus der Reihung der Abbildungen 1 bis 3 deutlich wird, dass die Aufnahmesituation nicht nur einen stillgestellten Moment, sondern eine Abbild-Serie von offenbar verschiedenen Posen und Perspektiven hervorgebracht hat.

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Geimer: Theorien der Fotografie, S. 18. Dubois zit. in ebd., S. 44. Ebd., S. 44. Vgl. dazu auch Fußnote 28. Geimer: Theorien der Fotografie, S. 114. Vgl. Starl: Bildbestimmung, S. 132.

Filmen eigens für diverse Veröffentlichungen nachgestellt wurden, wobei nicht unbedingt Übereinstimmung zwischen der Darstellung im Film und jener im Foto gegeben sein musste.«35 Auch die Petruschka-Szene auf der Fotografie repräsentiert also lediglich eine vermeintliche ›Bühnenrealität‹, indem es sie während der Ballettaufführungen vielleicht oder sogar wahrscheinlich gar nie genau so gegeben hat. Das Bild gibt demnach eine (re-)konstruierte Szene wieder, die einen Eindruck vom, aber nicht das Aufführungs-Ereignis selbst vermittelt und insofern nicht als Ab-Bild, sondern eher als Spur gedeutet werden kann. Für die Tanzhistorikerin bedeutet dies nun aber, dass sie sich der Parameter dieses Rezeptions- und Interpretationsprozesses bewusst sein muss und dass ihre historiografischen Aussagen und Folgerungen dem auch Rechnung tragen müssen. Geimer verweist im Hinblick auf das Argument der Zeitlichkeit außerdem auf die aufgrund der langen Belichtungszeit menschenleer scheinenden Boulevards in der frühen Fotografie und auf eine Bemerkung des Kunstkritikers Eduard Kolloff von 1839 dazu, der sagt, bei der Fotografie handle es sich um einen »chemischen Prozess, der nur über den Raum, nicht über die Zeit gebietet«.36 Vom Raum, von der Szenerie, gibt die Fotografie demnach ein ›wirklichkeitsgetreues‹ (wenn auch zweidimensionales und schwarz-weißes) Bild, über alle Vorgänge hingegen, die in der Zeit stattfinden, hat sie jedoch keine mimetische Kompetenz. Geimer meint dazu: »Seine [Kolloffs, C. T. ] Bemerkung erinnert daran, dass bereits die zeitliche Dauer des fotografischen Aufnahmevorgangs selbst von entscheidender Bedeutung für die Zeitlichkeit der Fotografie ist. Je nachdem, ob diese Zeit der Aufnahme sehr lang oder […] sehr kurz ausfiel, änderte sich auch das gesamte zeitliche Gefüge der Fotografie.«37 Diese Aussage ist wiederum für das Petruschka-Bild insofern von Bedeutung, als das »zeitliche Gefüge« dieser Fotografie sich in der tanzhistoriografischen Rezeption als sehr komplex erweist. Zum Zeitpunkt der Aufnahme, 1911, hat eine solche Ablichtung eine im Verhältnis zu den heutigen fotografischen Möglichkeiten sehr lange Zeit in Anspruch genommen, weshalb die Aussagen, die über das Ballett beziehungsweise die choreografische und dramatische Handlung gemacht werden (können), nicht von einem stillgestellten Bewegungsmoment innerhalb einer kontinuierlichen Zeitlichkeit einer Aufführung ausgehen können. Diese hat es zwar – wie wir aus anderen Quellen wissen – gegeben, aber davon zeugt die Fotografie gerade nicht. In diesem Zusammenhang ist denn auch die Aussage der Archivarin der New York Public Library zu kritisieren, wenn sie schreibt, dass die beschnittene Version der Fotografie, die bereits digitalisiert sei, ausreiche: »If the dramatic action is what you want.«38 Die dramatische Handlung gibt die Fotografie nicht wieder, das kann sie gar nicht, vor allem aufgrund ihrer zeitlichen, aber auch ihrer räumlichen Ausschnitthaftigkeit. Was die Wiedergabe der Szenerie, des Raums, betrifft, muss nämlich ebenfalls eingeräumt werden, dass die Fotografie einen Ausschnitt darstellt, im Falle des Petruschka-Bildes [→ABB. 01—03] eine Frontalansicht, die allerdings (mehr oder weniger) beschnitten ist und nicht die gesamte Bühne zeigt. Ein Ausschnitt gibt jeweils ein anderes Bild als eine ›Gesamtfotografie‹, wobei diese ebenfalls einen Ausschnitt darstellt, jenen, den der Fotograf damals im Theater oder beim Entwickeln gewählt hat. Was die Betrachtenden auf der Fotografie sehen, ist die zu Papier gebrachte Perspektive des Fotografen auf einen Ausschnitt der ›Wirklichkeit‹, die (und letztlich vor allem die) die (auf Tanzereignisse fokussierte) Tanzhistorikerin eigentlich interessiert. Und hier kommt wieder die Vorstellung

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der Spur, des Abdrucks ins Spiel. »Das Modell des Abdrucks«, schreibt Geimer, »besagt lediglich, dass der abgebildete Gegenstand existiert und durch Lichtprojektion eine sichtbare Spur hinterlassen hat.«39 Aber was ist bei einer Tanzfotografie genau der ›Gegenstand‹? Der Tanz oder die arrangierte Personengruppe? Wovon zeugt die Spur, inwiefern ist die Fotografie überhaupt eine Spur und wie gehen wir als Tanzhistoriker damit um? Mit Referenz auf Georges Didi-Huberman meint Geimer allgemein zu Fotografien: »Die Information des Abdrucks ist unhintergehbar und doch uneindeutig. Auch wenn der Abdruck die Existenz des Dargestellten ›unbezweifelbar‹ bezeugt, kann er doch dessen zweifelfreie Lesbarkeit nicht garantieren.«40 Der Bezug zum »Dargestellten« und dessen »Lesbarkeit« ist nun – wie das Petruschka-Beispiel zeigt – in der Tanz- bzw. in der Ballettfotografie noch komplexer, indem das Dargestellte hierbei eine gestellte Szene aus einem darzustellenden Ballett ist. An diesem Punkt der Reflexion stellt sich die Frage nach der Funktion der Fotografie für die Tanzgeschichte. Die tanzhistoriografische Funktion der Fotografie »Für den theoretischen Status, für Gebrauch und Rezeption fotografischer Bilder macht es sehr wohl einen Unterschied, ob man sie als Repräsentationen im klassischen Sinn betrachtet oder aber als Artefakte, die das Gewesensein der dargestellten Gegenstände bezeugen,« schreibt Geimer weiter: »Hinter der durch Abdruck oder Spurenbildung definierten Kausalität verbirgt sich eben auch ein spezifisches Konzept von Repräsentation, Beglaubigung und Autorschaft, das Fotografien von anderen Bildern« – und ich würde hinzufügen: auch von anderen Quellen – »unterscheidet.«41 Das Petruschka-Bild ist demnach streng genommen kein repräsentatives Abbild vom Ballett Petruschka, sondern ein Bild, das der Fotograf beziehungsweise die Fotografie gemäß deren Möglichkeiten und dessen Entscheidungen vom Setting des Balletts gibt oder geben kann. Wenn die Tanzhistorikerin diesen Umstand berücksichtigt und in ihrer Argumentation auch offenlegt, dann erfüllt die Fotografie sehr wohl die Funktion einer bezeugenden Quelle, einer Quelle eben, wie alle anderen auch, mit ganz bestimmten (medienspezifischen, kulturellen und historischen) Modalitäten und Aussagepotenzialen. Am Beispiel der Fotografie Petruschka von 1911 sollte im vorliegenden Beitrag der Quellenstatus von Fotografien für die Tanzhistoriografie befragt werden. Diese befindet sich immer in einem Dilemma, weil eine Fotografie nie den Tanz enthält, sondern lediglich, aber immerhin, eine (gestellte) Momentaufnahme ist. Außerdem ist die historiografische Bestimmung der Quelle – wie ich exemplarisch gezeigt habe – schwierig. Daran schließen sich auch im Hinblick auf weitere Tanzfotografien Fragen an, die hier nicht endgültig beantwortet werden können, die m.E. aber bei solchen Recherchen wichtig sind und jeweils transparent gemacht werden müssen: Wie kann man welche tanzhistorischen Informationen mit/aus der Fotografie generieren? Wie und wozu ver wendet die Tanzgeschichte diese

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Ebd., S. 131. Kolloff zit. in Geimer: Theorien der Fotografie, S. 116. Ebd. Email von Alice Standin an die Autorin vom 12.8.2013: »[…] It is cropped just beyond Karsavina’s left elbow with the bottom edge of her skirt just slightly cropped off on the right hand side of the picture and on the left hand side cuts across the top hat of the man leaning forward. It is

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cropped at the top to just above the Moor’s scimitar and at the bottom, slightly below Nijinsky’s knee. If the dramatic action is what you want, the cropped image that is already digitized may suit your need […].« Vgl. auch Fußnote 18. Geimer: Theorien der Fotografie, S. 54. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 55.

Informationen, mit welchem Gewinn und mit welchen Problemen? Und schließlich: Was sagen diese Informationen bzw. sagt das historiografische Vorgehen über das Ballett beziehungsweise den Tanz aus und was nicht? Zum Schluss sei noch kurz eine fototheoretische Reflexion aus der Perspektive der Tanzwissenschaftlerin angestoßen. Eine Debatte der Fotound Kunstgeschichte dreht sich um die Dichotomie ›objektivierende‹ und ›inszenierende‹ Fotografie.42 Der amerikanische Fotografiekritiker A. D. Coleman weist allerdings darauf hin, dass die Fotografie aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten schon von Anfang an mit Inszenierungen (im Fotostudio oder auf der Bühne außerhalb des Aufführungskontextes) gearbeitet hat, ja arbeiten musste.43 Dennoch wird die Inszenierung im fototheoretischen Diskurs oft mit ›Fälschung‹ gleichgesetzt. Den inszenatorischen Pakt, wonach das, was gezeigt wird, zwar zur ›Wirklichkeit‹ in einem bestimmten Verhältnis steht, diese aber nicht ist und auch nicht deckungsgleich repräsentieren will, hat die Fotografie – im Gegensatz zum dramatischen Theater und zum Handlungsballett – mit ihrem Publikum (noch) nicht geschlossen. Bei Geimer heißt es dazu zwar: »Verfälschend ist nicht diejenige Form der Fotografie, die mit Vorsatz und Bestimmtheit inszeniert [für diese gilt offenbar der Pakt, C. T.], sondern diejenige, die um Objektivität bemüht ist und die eigenen Handlungsweisen deshalb nicht offenlegt«,44 oder – müsste man anfügen – die heute nicht mehr ablesbar sind, weil dazu das Wissen fehlt. Damit wäre am Ende dieses Beitrags ein möglicher Ansatz einer Antwort auf Peter Geimers anfangs zitierte Frage nach der Funktion von Foto-Kompetenz und -Wissen gefunden:45 Entsprechende Kenntnisse sind hilfreich bis unabdingbar für die Tanzhistoriografie. Und auch wenn sich die Ermittlung des zu Wissenden zuweilen – u.a. in den Archiven – als schwierig herausstellt, muss darauf insistiert werden. Dann allerdings lösen sich sowohl in der Tanz- wie in der Fotogeschichte verschiedene Polaritäten als irrelevante Fixierungen oder aber in dynamische Betrachtungsweisen auf, etwa jene von ›Wirklichkeit‹ und ›Abbild‹, ›Repräsentation‹ und ›Konstruktion‹ oder ›Dokumentation‹ und ›Fälschung‹. In diesem Sinne sind Tanzfotografien wie das Petruschka-Bild – je nach ihren historischen, technischen und kulturellen Bedingungen – spezifische Quellen, die in ihrer jeweiligen Eigenart die Geschichte nicht ›einfach‹ zeigen, die vielmehr für die Geschichtsschreibung kritisch reflektiert fruchtbar zu machen sind.

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Oder auch »realistische« und »formgebende« (Kracauer); vgl. dazu Geimer: Theorien der Fotografie, S. 196ff. Vgl. ebd., S. 200. Ebd., S. 198; er fährt ebd., S. 199, fort: »Verfälschung der Wirklichkeit kommt demnach nicht durch ein Zuviel, sondern ein Zuwenig expliziter Darstellungsweisen zustande.« Ebd., S. 9.

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41 GABRIELE BRANDSTETTER TANZ! FOTO BEWEGUNG IM KONTEXT Den Fotos, die ich hier kommentieren will, möchte ich einen Gedanken von Jacques Rivière voranstellen, zu Nijinskys Tanz in Le Spectre de la Rose: »Wir nehmen ihn lediglich als gestischen Nebelschwaden und unstillbare Bewegungsvielfalt wahr.«01 Ich habe nicht ein Foto ausgewählt, sondern mehrere; einige der bekanntesten Fotos von Nijinsky, in seiner berühmten Rolle als Geist der Rose (1911). Die Fragen, die ich stellen möchte, kreisen nicht um »das Bild«, oder das Foto, im Singular, als Gegenstand einer Analyse. Vielmehr will ich die Frage aufwerfen, ob nicht für eine tanz-foto-historiografische Reflexion eine diskursanalytische und kontext-theoretische Situierung des Materials – hier also der Bilder – die Basis sein müsste. Der Bilder im Plural. Anders gesagt: Das Bild, das nicht eins ist – um hier eine Formel von Luce Irigaray, auf Weiblichkeit bezogen, abzuwandeln.02 Einer solchen bild-diskursanalytische Kontextualisierung würde sich beziehen auf: Foto-historiografische Recherchen zu den Fotografen dieser Bilder (hier: Alfred de Meyer und Auguste Bert); Analysen der Foto-Technik, der Situation der Foto-Aufnahmen; die Verwendung und Provenienz dieser Fotos; sowie: eine Spurensuche des »Nachlebens« dieser Bilder: etwa ihr Verschwinden in Archiven; oder ihre massenhafte Reproduktion. All dies kann und werde ich hier nicht explizit durchführen. Genauer darlegen jedoch möchte ich meine These: den Vorschlag, für historiografische Untersuchungen zum Tanz-Foto als einen Ansatz zu verstehen, der es stets mit Bildern »im Plural« zu tun hat. Selbst dann, wenn nur ein einziges Foto im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Zwei Referenz-Texte sind hierbei für meine Argumentation inspirierend: Zum einen der Band Das Bild im Plural, der von David Ganz und Felix Thürlemann herausgegeben wurde: ein Band mit kunsthistorischen Texten, vorwiegend zu mittelalterlichen Bildern, der wertvolle Anregungen auch für (Tanz-)Fotografie geben kann.03 Und zum anderen der kurze 01

Rivière, Jaques: »Le Sacre du Printemps«, dt. Übers. von Charlotte Bomy und Margrit Vogt, in: Tanz über Gräben. 100 Jahre »Le Sacre du Printemps«. Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes und des Zentrums für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin, Programmheft zur Konferenz im Radialsystem, Ber-

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lin 2013, S. 10. Vgl. Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin: Merve 1979. Ganz, David u. Thürlemann, Felix (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin: Reimer 2010.

[ABB. 01] Auguste Bert, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, Paris 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

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Text von Edwin Denby: »Notes on Nijinsky Photographs«.04 Warum mehrere, scheinbar zufällig ausgewählte Fotos von Nijinsky; und: warum »Das Bild im Plural«? Dieser Plural kann zweierlei bedeuten – und beides ist für Tanz-Fotografie relevant: Plural kann meinen: ein Bild/ein Foto von dem mehrere/viele Exemplare existieren; d.h. Plural im Sinn von Reproduzierbarkeit. Plural kann zudem heißen: ein aus »mehreren Bildern zusammengesetztes Gebilde: das Bild aus Bildern«05; mithin eine komposite Bildform. Damit bezieht sich Plural auf die Assoziierbarkeit von Bildern. Welche Möglichkeiten, theoretisch und methodologisch, bieten sich an, Tanz-Fotografien als »Bilder im Plural« zu betrachten? David Ganz und Felix Thürlemann schlagen – aus der Perspektive der Kunstwissenschaft – eine Systematisierung vor: A in geplante Bild-Ensembles (z.B. ein Diptychon); B in »Hyperimage«, in dem autonome Bilder temporär vereint sind; C in das summierende Bild, d.h. ein Bild, das sich aus mehreren (eigenständig bleibenden) Bildern zusammensetzt. All diese Möglichkeiten lassen sich auch für die Tanz-Fotografie heranziehen: man denke z.B. an die Zigaretten-Alben mit ihren Serien von Tanz-Fotos, als Sammel-Szenario, als Erzähl-Bücher und Dokumentations-Foren. Darüber hinaus würde ich eine vierte Kategorie des »pluralen Bildes« vorschlagen: die kontingente Pluralität, die sich etwa auf das Erscheinen und Verschwinden, die Archiv-Präsenz und Latenz der Vielfalt von TanzFotografie beziehen kann. Die zudem auch – als kontingente Pluralität – Möglichkeiten bietet, wie, in welcher Weise wissensgeschichtliche und ästhetische Bildevidenzen von Bewegung generiert und transformiert werden. Und die schließlich – als topologisch organisierte Figurationen von Bildern zu Bildern – plurale Bild-Bewegungen organisieren. Womit wir – bei solchen Anordnungen von Bildern/Fotos, mit ihren Um-Stellungen und Konfigurationen, beim Modell des Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg 06 angelangt wären. Bild/Tanz-Fotografie im Plural: Festzuhalten ist, dass gerade durch solche mehrteiligen – und somit kontingenten und zugleich themengesteuerten – Anordnungen auch die Positionen, sowie die Positionswechsel – und das heißt die Bewegungen der Betrachter in diese Prozesse einbezogen werden: strukturierend, semantisierend und kinästhetisch affizierend. So gesehen ist ein Denken und forschendes Arbeiten mit dem Bild als/im Plural eine Herausforderung: denn es hat Konsequenzen für die Lese- und Diskurs-Praxis. Werfen wir nun einen Blick auf die ausgewählten Fotos [→ABB. 01—07] von Nijinsky: ein Foto einer Tanz-Pose; ein Triptychon (hier schon ein komposites Foto) von de Meyer; ein Diptychon aus zwei Fotos von Bert, die sich als Halbporträts des Kopf-Arm-Epaulements zeigen; und ein Foto, das in der Art eines Porträts den Kopf, das Gesicht, die Maske des Tänzers fokussiert. Die Fotos und die Arrangements fordern einen Modus des Anders-Sehens. Sie formieren und re-formieren die Blickweisen,07 die sich zwischen dem »Bild im Plural« bewegen, und damit zugleich wahrnehmen, wie die fotografische 04 05 06

Denby, Edwin: »Notes on Nijinsky Photographs«, in: Nijinsky, Pavlova, Duncan: Three Lives in Dance, hg. v. Paul Magriel, Boston: Da Capo Press 1977, S. 15—21. Vgl. Pichler, Wolfram: »Topologie des Bildes. Im Plural und im Singular”, in: Das Bild im Plural, S. 111—132, hier: S. 111. Vgl. Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Ge-

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sammelte Schriften, Studienausgabe, Abt. 2, Bd. 1, hg. v. Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin: Akademie Verlag 2000. Vgl. Elkins, James: The object stares back: on the nature of seeing, San Diego: Harvest 1997; sowie Didi-Hubermann, Georges: Was wir sehen, blickt uns an, München: Fink 1999.

[ABB. 02] Baron Adolphe de Meyer, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, London 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

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[ABB. 03] Baron Adolphe de Meyer, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, London 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

[ABB. 04] Baron Adolphe de Meyer, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, London 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

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[ABB. 05 + 06] Auguste Bert, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, Paris 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

Repräsentation und die Organisation des Settings und der Rahmung das Sehen mit-organisiert: etwa durch den Einfall des Lichts, die Arbeit mit Hintergrund und Abschattungen (etwa bei de Meyer), und durch den Winkel, aus der die Kamera die Pose erfasst. Die hier vorgestellte Sequenz der Nijinsky-Fotos ist mit einer solchen Idee einer Bewegung zwischen pluralen Bildern und ihren gegenseitigen Spiegelungen angelegt. Zunächst ein Studio-Foto von Bert; [→ABB. 01] ein Ganzporträt des Tänzers in der Pose des Erscheinens des »Geists der Rose«; verschattet, die Arme, der Oberkörper und der Kopf (die Ausdrucks-Zonen) sind in diffuses Licht getaucht. So ergibt sich der Eindruck des Schwebens, durch eine foto-illusionistische Nicht-Fixiertheit im Raum. Auf dieses Foto folgt ein Triptychon von Adolphe de Meyer; [→ABB. 02—04] auch hier wird Nijinsky ganzkörperlich in Tanz-Posen gezeigt. Die drei Fotos, vor schleierähnlichen, das Licht diffundierenden Hintergrund (wodurch auch das Intime des Raums, zugleich aber das Fenster angedeutet wird, durch das Nijinsky seinen berühmten Sprung zum Ende des Tanzstücks macht)08 scheinen auf den ersten Blick eine Bewegungssequenz – in Anlehnung an Beispiele der Chronofotografien von Edward Maybridge – zu präsentieren. Bei näherer Betrachtung jedoch wird deutlich, dass jedes Foto eine Pose für sich darstellt, je aus unterschiedlichen Winkeln, frontal und in croisé aufgenommen. Erst der Betrachter-Blick – möglicherweise irritiert und affiziert durch die Lücken, die Schnitte in einer logischen Bewegung zwischen den Posen – fügt die Fotos in ein ›Enchaînement‹. 08

Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Still/Motion – zur Postmoderne im Tanztheater« in: dies.: Bild-Sprung.

TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 69.

[ABB. 07] Auguste Bert, Vaslav Nijinsky »Le Spectre de la Rose«, Paris 1911, Roger Pryor Dodge Collection, New York Public Library.

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Ähnliches, freilich im Zoom auf den Tänzer im Halbporträt näher herangerückt, geschieht im Diptychon von Bert, [→ABB. 05+06] das die ungewöhnlichen Port de Bras, die Verwringung der Zuordnung von Kopf, Armen und Oberkörper fokussiert – die pflanzenhafte Weichheit von Fingern, Armen, Schultern. Den Abschluss der Fotoreihe bildet im Kontrast zum ersten Ganz-Körper-Foto – ein Porträt des Tänzers als ›Rosen-Geist‹: der Kopf mit der Blütenbedeckung im Profil. [→ABB. 07] Das schräg einfallende Licht modelliert den Kopf vor dunklem (die gesamte andere Hälfte des Fotos einnehmenden) kontrastierenden Hintergrund, hebt die luminösen Flächen der Schminke, und die weichen Linien der Wangen hervor und verleiht dem Gesicht eine fremdartig-artifizielle Note. Die Wirkungsgeschichte dieser Fotos ist bekannt. Sie trug entscheidend zum Nimbus Nijinskys bei. In diesem Kontext entstand der Topos, u.a. von Lincoln Kirstein lanciert, dass diese »Spectre«-Fotografien Nijinskys körperlich-tänzerisches Transformationsvermögen desegmentieren: Das Foto seines Gesichts inszeniere eine »exquisite depersonalization«09 (nicht mehr Knochen und Fleisch, sondern a »blurred glow«10); und die Idee des transgender zeige sich darin, dass er ebenso »insectile as floral« – und »certainly not human«11 erscheine. In welcher Weise wirken hier Bild-Konstellationen, Bild-Lesarten und Mythisierungen im Diskurs der Tanzwissenschaft, die sich auf die Fotos bezieht, zusammen? Die Fotos, die hier – mehr oder minder zufällig oder und doch genau überlegt – zusammengestellt sind, zeigen in der Konstellation, im Plural, in der Assoziierbarkeit und in der Differenz Möglichkeiten und Verschiedenartigkeiten der Produktion und der Betrachtung. Bewegungs-Studien, die die Produktions-Situation betreffen: Inwieweit arbeiten de Meyer und Bert mit dem Foto in einem pluralen Sinn als Bewegungs-Generatoren? Dies zeigt sich in den Parallelen des Diptychons in der leichten Verschiebung der ArmBewegung und der im Epaulement sich variierenden Pose Nijinskys; und in der Triptychon-Konstellation (ein Bildformat mit langer und ganz spezifischer Tradition) tragen zusätzlich die leicht bewegten Schleier-Vorhänge im Hintergrund zur Bewegung der Bild-Konfigurationen bei – im Sinn des bewegten Beiwerkes von Aby Warburg –, indem sie zum Still-Stellen des fotografischen »Auslösens«12 ein Moment von diffuser Bewegung hinzufügen: Edwin Denby weist darauf hin, dass es Nijinsky-Tanz-Fotos gebe, die (ähnlich wie später die Film-Stills Cindy Shermans) gar nichts mit den Stücken, den Aufführungen und deren Choreografien zu tun haben; die vielmehr extra für die Szenerie des Fotos/des Fotografierens erfunden sind, wie z.B. bei de Meyer: »to give a sense of the general tone of the role.«13 Die Fotos erlauben, in der Weise, wie sich Nijinskys Körper hier zeigt, eine Interpretation der Plastizität (akzentuiert durch Licht-/SchattenModulierungen im Foto). So wird es möglich in der longue-durée-Betrachtung, die Körperlichkeit einer Pose als skulpturale Topografie zu verfolgen, und darin Bewegungsrelationen des Vorher und Nachher im ›Still‹ wieder einzutragen. Denby hebt diese Relation – in Bezugnahme zur Tradition des Contrapposto in der Bildenden Kunst, in der Plastik – hervor: »Nijinsky does just the opposite of what the body would naturally do. The plastic sense is similar to that of Michelangelo and Raphael. One might say that the grace of them is not derived from avoiding strain, as a 09 10 11

Vgl. Kirstein, Lincoln: Nijinsky Dancing, London: Thames & Hudson 1975, S. 113. Ebd.. Ebd..

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Vgl. Drexler, Isabelle: Der Körper im Moment des Aus/ Auflösens – Tanz und Fotografie, (Dissertationsschrift) Freie Universität Berlin 2014 – im Druck. Denby: »Notes on Nijinsky Photographs«, S. 21.

layman might think, but from the heightened intelligibility of the plastic relations. It is an instinct for counter-movement so rich and fully expressed, it is unique.«14 Die Fotografien präsentieren die Körperlichkeit des Tänzers, bringen diese in fotografischer Weise zur Erscheinung und machen sie interpretierbar, wie das Beispiel Edwin Denbys zeigt. Eine solche Beschreibung und Deutung bringt – in der Erinnerung und in der Erfahrung – stets weitere, andere, vergleichbare Bilder in die Betrachtung ein, auch wenn diese imaginäre Reihe nicht explizit benannt wird. Insofern ist der Akt der Betrachtung eines Nijinsky-Fotos zugleich auch ein prozessualer Vorgang, eines Bildes im Plural. Dieser Prozess erhält eine gestaltete und selbst-reflexive Dimension, wenn eine Varietät von Fotos arrangiert wird – wie z.B. in der BilderFolge, die ich hier für meine Überlegungen ausgewählt habe. Wie also könnte man aus solchen Konstellierungen – im Modus des Pluralen – Gewinn für eine tanzhistoriografische Arbeit mit Fotografien ziehen? Auch wenn wir uns auf nur ein Bild, ein möglicherweise signifikantes Foto, konzentrieren, in einem close reading: Es ist dennoch eine Bild-Betrachtung »im Plural«. Denn die Vielheit der Bilder – auch in der Latenz der nichtbetrachteten, der vergrabenen, der vergessenen, oder der beiseite gestellten Fotos (der »re-jets«, um mit Marlene Dumas15 zu sprechen) – bleibt dennoch im Horizont der im Fokus betrachteten einzelnen, singulären Bild-Figur präsent, – und spricht mit. Edwin Denby äußert am Ende seines kurzen Texts zu Nijinsky-Fotografien den Wunsch es möge eine Sammlung geben, ein Archiv, oder eine Art Katalog, in dem alle Nijinsky-Fotografien vereint präsentiert würden: »a book presenting a complete photographic reload«16 Eine Art »MnemosyneAtlas« also. Damit ist nicht so sehr einer – ohnehin unmöglichen – Vollständigkeit das Wort geredet. Eher ließe sich eine solche Pluralität als eine Galerie vorstellen, die Bewegungs-Biografien oder Profile unterschiedlicher Art auf der Basis von komplementären Foto-Bild-Lesarten hervorbringen könnte. Tanz-Fotos geben dann – »in their stillness«17 – nicht ein Bild von dem, was in Bewegung »on stage« geschieht, sondern sie eröffnen selbst eine Bewegungsbühne: Tanz! Foto

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Ebd., S. 17. Zur Relevanz der ausgesonderten, der nicht veröffentlichten Bilder – der »rejets«, am Beispiel von Marlene Dumas, vgl. Brandstetter, Gabriele: »›Fälschung wie sie ist, unverfälscht‹. Über Models, Mimikry und Fake«, in: Mimesis und Simulation. Festschrift für Rainer Warning zum 60. Geburtstag, hg. v. Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann, Freiburg i. Br.: Rombach 1998 (Litterae 52), S. 419—449. Denby: »Notes on Nijinsky Photographs«, S. 21. Ebd..

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51 GISELA HARICH-HAMBURGER GEDREHT UND GEWENDET TANZFOTOGRAFIE IM LABOR EINER RESTAURATORIN

Dieser Beitrag befragt aus restauratorischer Perspektive historische Tanzfotografien des einsetzenden 20. Jahrhunderts und fokussiert mittels einer technischen Analyse das fotografische Bild als Forschungsquelle. Drei Tanzfotografien unterschiedlicher Verbreitungstechniken – ein Kupfertiefdruck sowie zwei Silbergelatineabzüge – werden in den Blick genommen und bezüglich ihrer technischen Gestaltung miteinander verglichen. Als weitere Referenz wurde eine Zeit/Bewegungsstudie angefertigt, die die technische Bildanalyse ergänzt. Inwiefern beeinflussen unterschiedliche technische Verfahren die Wahrnehmung von Bewegung im Bild? Und in welchem Maße hängt die Erkenntnisfähigkeit mit der Dechiffrierung der Produktionsbedingungen von Fotografien zusammen? Die Entstehung der Fotografie hat eine jahrhundertelange Vorgeschichte. Unabhängig voneinander wurden Erkenntnisse über lichtempfindliche Materialien, optische Systeme und Fixiermöglichkeiten gewonnen, die erst im 19. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht wurden und so die Entwicklung der Fotografie ermöglichten. Das Medium der Fotografie, deren Erfindung auf 1839 datiert wird, erfuhr in einer kurzen Zeitspanne eine enorme Verbreitung mit großem ökonomischen Erfolg und ist so kaum mit einer anderen technischen Entwicklung vergleichbar. Das 19. Jahrhundert wird auch als die Pionierzeit der Fotografie bezeichnet, während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Negativ/Positiv-Prozess etablierte, wie er bis in die heutige Zeit verwendet wird.01 01

Vgl. u.a. Gernsheim, Helmut: Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre, Frankfurt am Main: Propyläen Verlag 1983; von Dewitz, Bodo u. Matz, Reinhard (Hg.): Agfa Historama: Silber und Salz, zur Frühzeit der

Photographie im Deutschen Sprachraum 1839—1860, Köln/Heidelberg: Edition Braus 1989; Emmerich, G.H.: Werkstatt des Photographen, Wien: Otto Nemnich 1904.

Fotografen sind mit ihrem Handeln stets an die in ihrer Zeit vorhandenen Technologien, wie beispielsweise Kamera, Objektiv, Leuchtmittel und Aufnahmematerial gebunden. So können künstlerische Vorstellungen und persönliche Möglichkeiten nur insoweit umgesetzt werden, als es die jeweils zugängliche Technologie erlaubt. Zwischen Bemühen und Ausloten von Vorstellungsvermögen und Technologie wird stetig an den Möglichkeiten dieses Rahmenwerks gearbeitet, welches gleichzeitig den Blickwinkel eingrenzt und das Abgebildete strukturiert. Fotografie kann deshalb als eine Kombination technischer Elemente verstanden werden, die dem Fotografen gleichzeitig eine Grenze für das setzt, was er durch seine Arbeit vermitteln kann. Die Intention der Fotografen und die Wahrnehmung der Betrachter können insofern durchaus voneinander abweichen, insbesondere wenn eine Fotografie aus dem Kontext herausgelöst betrachtet wird. Fotografien sind so alltäglich, kaum jemand kommt ohne sie aus. Sie können Kunst sein oder Alltagsfotografie, Dokumentation, Werbemittel, Forschungs- oder Beweismittel, auch Familienerinnerung und manchmal wechseln sie von einem Genre in das andere oder lassen sich mehreren Gruppen zuordnen. Anhand der technischen Merkmale einer Fotografie ist es aber nicht nur möglich, Genrezuordnungen vorzunehmen, sondern auch die Intention der Fotografen beispielsweise als Auftragsarbeit oder als die eigene Lust am Entdecken zu identifizieren. Hierzu ist vor allem die Methode der technischen Bildanalyse hilfreich, die im Folgenden erläutert werden soll. Bildanalyse: Auswahlkriterien und Vorgehensweise Als Restauratorin für Fotografie nehme ich jedes Foto zunächst in seiner Materialität und seinem Erhaltungszustand wahr. Diese Herangehensweise ermöglicht erste Entscheidungen für den Umgang mit dem sensiblen mehrschichtigen Objekt. Denn die physische Geschichte einer Fotografie teilt sich zuerst durch ihre äußeren Merkmale mit. Von der Materialität der Fotografie ausgehend, möchte ich versuchen, anhand der drei von mir betrachteten fotografischen Abbildungen, Rückschlüsse auf die Perspektive der Fotografen und ihres Verständnisses von Bewegung im Bild zu ziehen. Bei der Auswahl der Fotografien spielten vor allem augenfällige Gestaltungsmerkmale und die leichte und wiederholbare Zugänglichkeit des Materials eine maßgebliche Rolle. Die verschiedenen Techniken und Präsentationsformen mit ihren ausgeprägten Materialkennzeichen sind es, die in diesem Zusammenhang eine besonders differenzierte Betrachtung der Produktionsbedingungen und der hiermit erzeugten unterschiedlichen Sichtbarkeiten von Tanz im Bild gewährleisten. Die Fotografen waren bei der Auswahl erst einmal zweitrangig. Für die gedruckten Fotografien wählte ich eine Abbildung aus Frank Thiess tanzästhetischer Schrift Der Tanz als Kunstwerk von 1920.02 Bei den originalen Silbergelatine-Fotografien entschied ich mich für ein Bild der Tänzerin Lucy Kieselhausen aus der Kunstbibliothek Berlin03 und für eine Aufnahme der russischen Tänzerin Anna Pavlova, die im Tanzarchiv Leipzig e.V.04 aufbewahrt ist. Meine Analysen richten sich auf die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der Fotografien, die in der Bildgestaltung getroffenen Entscheidungen, deren Möglichkeitsrahmen und potentiellen Gründe aus dem Bild selbst, aber auch aus seinen Kontexten und Verwendungszusammenhängen. Um die Abbildungen im Folgenden miteinander vergleichen zu

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können und Aufschluss über den Zusammenhang technischer Verfahren und der Wahrnehmung des Bildes zu erlangen, entschied ich mich unabhängig vom Abbildungsverfahren nach folgenden Befragungskriterien vorzugehen, die jeweils nach Relevanz für das einzelne Bild angeführt und geordnet werden: · Inhaltliche Objektbeschreibung · Bildautor/Künstler · Abgebildete Person · Bildtechnik/Fotografische Technik · Analyse der Merkmale/Technische Aussagen Diese Kriterien finden zunächst Anwendung bei der im Kupfertiefdruckverfahren reproduzierten Fotografie. Es folgt die Betrachtung zweier Fotoabzüge, die zwar verfahrenstechnisch Silbergelatinefotografien sind, sich aber im Negativ/Positiv-Entstehungsprozess hinsichtlich der Bewegungsdarstellung unterscheiden und verschiedentliche technische Herangehensweisen sowie Nachbearbeitungen einsetzen. Fotografierte Bewegung im Ablauf einer definierten Zeitspanne: Eine Zeit / Bewegungsstudie Um sich den historischen Tanzaufnahmen nähern zu können und eine Vergleichsmöglichkeit aus heutiger Sicht zu ermöglichen, habe ich gemeinsam mit der Studentin und Laientänzerin Lan Linh Ngyen eine Zeit/ Bewegungsstudie erstellt, die das Verhältnis von Zeit und Bewegung durch die Bewegungsunschärfe sichtbar macht. Mit dieser Studie als Referenz lassen sich über die abgebildete Bewegungsunschärfe der historischen Tanzaufnahmen Rückschlüsse auf die damals eingestellten Blendenöffnungszeiten und ihre Verwendung als technisches wie ästhetisches Gestaltungsmittel ziehen. Die Zeit/Bewegungsstudie [→ABB. 01] soll die Bewegung im Bild besser beschreibbar machen, indem sie das Verhältnis von Belichtungszeit und Bewegungsunschärfe exploriert: Drei verschiedene Tanzbewegungen wurden jeweils in Zeitsprüngen von ¼ Sekunde bis 1/1000 Sekunde aufgenommen, die Blendenöffnung blieb dabei gleich. Mit unseren heutigen Sehgewohnheiten können wir die Aufnahme einer Bewegung bei ¼ Sekunde durchaus akzeptieren, während die eingefrorene Bewegung, bei 1/1000 Sekunde aufgenommen, langweilt. Im Gegensatz zu heutiger Bewegungsfotografie05, in welcher die Bewegungsunschärfe als wichtiges und starkes Gestaltungsmittel etabliert ist, galt es in der Frühphase der Fotografie als das höchste Ziel, trotz technisch notwendiger langer Belichtungszeiten scharfe Aufnahmen zu erreichen. 1839, im Jahre der Erfindung der Fotografie, mussten die Belichtungszeiten wegen der geringen Empfindlichkeit der Aufnahmematerialien nach Stunden, Minuten oder mehreren Sekunden bemessen 02 03 04 05

Thiess, Frank: Der Tanz als Kunstwerk, München: Delphin-Verlag 1920, S. 88f. Bildunterschrift: »Lisa Kresse, Phot. H. Erfurth, Dresden«. Bildstempel: Becker & Maass, Berlin. Bildstempel: Phot. Ernst Schneider, Berlin. In der heutigen Zeit wird mit Langzeitbelichtungen vornehmlich künstlerisch und kreativ gearbeitet. Beispielsweise wurde der Umbau des Potsdamer Platzes nach der Wende von dem Fotografen Michael Wesely in einer zwei Jahre andauernden Belichtung aufge-

nommen. Der am Anfang sichtbare Horizont bleibt auf diesen Bildern, trotz der in unterschiedlichem Tempo wachsenden Gebäude, zu erkennen. Auch Fotokünstler wie der Japaner Hiroshi Sugimoto und die Berliner Fotografin Karen Stuke, belichten große Zeitspannen, wie zum Beispiel eine ganze Film- oder Theateraufführung, auf einem einzigen Negativ. Die so erzeugten, sich überlagernden Sichtbarkeiten in einem einzigen Bild sollten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade vermieden werden.

[ABB. 01] Zeit/Bewegungsstudie

1/4 Sekunde

1/15 Sekunde

1/60 Sekunde

1/250 Sekunde

1/1000 Sekunde

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werden. Fotografiert wurden zu Beginn nur unbewegte Objekte oder die Menschen wurden, um Bewegung zu verhindern, in speziellen Vorrichtungen fixiert. Aus der Fotogeschichte kennt man Daguerreotypien von Personen mit ›blinden Augen‹. Bei einer 20-minütigen Belichtungszeit war es nicht möglich, die Bewegung der Augenlieder zu unterdrücken, sodass sich durch das Blinzeln ein heller Schleier über die Augen legte. Der Fotograf Edward Muybridge, der 1872 damit experimentierte, Bewegung darstellbar zu machen, indem er bis zu 12 Kameras aufstellte und kurz hintereinander auslöste, zerlegte dagegen die an den Kameras entlang geführte Bewegung in einzelne Bewegungssituationen, sodass jede Aufnahme für sich scharf abgebildet wurde. Dieses Verfahren gilt als bedeutender Schritt, um Bewegungsabläufe überhaupt erkennbar zu machen. Da das Auge träge reagiert, ist es während eines Bewegungsablaufs nicht in der Lage zu erfassen, was sich in Bruchteilen von Sekunden verändert. Andererseits benötigt unser Auge aufgrund dieser Trägheit nur eine Abfolge von 24 Bildern pro Sekunde, um eine fließende Bewegung wahrzunehmen. Zunächst ging es also darum, scharfe Aufnahmen von Menschen oder bewegten Objekten zu gewinnen. Das traf auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch auf die Bühnenfotografie zu. Bühnenaufnahmen wurden wegen der geringen Empfindlichkeit des Aufnahmematerials gestellt, um scharfe Abbildungen zu bekommen. Zum Wechsel vom 19. auf das 20. Jahrhundert waren kurze Belichtungszeiten nur bei hellem Sonnenlicht unter freiem Himmel möglich. Um in Innenräumen bei künstlichem Licht fotografieren zu können, benötigte man ein Stativ und bewegungsarme oder statische Posen. Durch die Weiterentwicklung der Kameratechnik und höhere Sensibilisierung der Aufnahmematerialien konnte man jedoch bald auf Haltevorrichtungen verzichten – in Innenräumen bei künstlichem Licht waren schnelle Bewegungen dennoch nicht scharf abzubilden. Noch 1920 ging es in der Fotografie, wie Frank Thiess in seinem Buch Der Tanz als Kunstwerk im Kontrast zur bildenden Kunst anspielt, um das scharf gestellte Sichtbarmachen des Tanzes, welches gleichsam abhängig war von technischen Möglichkeiten und den Sehgewohnheiten der Rezipienten: »Es darf nur daran erinnert werden, dass eine plastische Figur, welche die tänzerische Bewegung ausdrückt, nicht wie die Photographie eine x-beliebige Pose aus dem so oder so gedachten Tanz dieser Figur herausgegriffen und in Stein gehauen hat, sondern innerhalb dieser erstarrten Körpergebärde die ihr vorhergehende und ihr folgende Bewegungsform in einer nicht näher definierten Weise vereint.«06 Die Bewegungsabläufe wurden verlangsamt oder angehalten, um mit dem geringempfindlichen Material eine scharfe Aufnahme zu ermöglichen. Bei einer Langzeitbelichtung unter 1/30 Sekunden wirken die Bewegungen ver wischt und sind mit den Augen nicht wahrnehm- oder fixierbar. Während einer schnellen Tanzszene beispielsweise können unsere trägen Augen die einzelnen Punkte innerhalb einer Bewegung nicht scharf fixieren – dies ist nur möglich durch eine Fotografie mit sehr kurzer Belichtungszeit. Allerdings wurde der Anspruch scharfer Fotografien auch immer wieder unterlaufen, wie die folgenden Analysen dieses Beitrags zeigen werden.

06

Thiess: Der Tanz als Kunstwerk, S.30.

[ABB. 02] Hugo Erfurth: Lisa Kresse, in: Frank Thiess: Der Tanz als Kunstwerk, München 1920, S. 88f, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

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[ABB. 03 + 04] Vergößerung der aufsteigenden Bänder sowie des Muschelschmucks

Vom gedruckten Bild zur analogen Fotografie. Drei Analysen von Tanzfotografien Diese Informationen in meine Überlegungen einbeziehend, werde ich im Folgenden die drei ausgewählten Tanzfotografien analysieren. Hierbei wird es vor allem darum gehen, die sichtbaren wie die mit dem bloßen Auge unsichtbaren Schichten der Fotografien zu untersuchen, um so eine Vergleichbarkeit der durch unterschiedliche Techniken hergestellten Darstellung von Bewegung zu erreichen. Die Tänzerin Lisa Kresse in einer Aufnahme von Hugo Erfurth In dem Buch Der Tanz als Kunstwerk von Frank Thiess findet sich eine gedruckte Abbildung der Tänzerin Lisa Kresse, fotografiert von Hugo Erfurth. Das Buch wurde 1920 in München herausgegeben und lässt somit vermuten, dass der Aufnahmezeitpunkt ebenfalls ungefähr in diese Zeit fällt. Dieses Bild wurde im Kupfertiefdruck-Verfahren hergestellt. Das typische Kreuzraster zerlegt die am Anfang stehende Fotografie in einzelne Bildpunkte, um die Übertragung auf eine Kupferplatte zu ermöglichen. Durch die Rasterung ging allerdings ein großer Teil der feinen Details verloren. Die Abbildung der Tänzerin Lisa Kresse vermittelt so nur einen schwachen Eindruck der Fotografie, die dem Druck zugrunde liegt. Die Stofflichkeit des Kostüms, die Beschaffenheit der Haut, die Materialität des Schmucks sind nicht mehr sichtbar; unser Bildgedächtnis aber überspielt diesen Mangel und ergänzt die fehlenden Details durch Erfahrung. Das exotisierende Kostüm der Tänzerin scheint, der Materialbewegung nach, aus Leder zu bestehen. Kostümbesatz und Beinschmuck lassen an Kaurimuscheln denken, aber auch diese Details sind auf dem Druck nicht eindeutig zu erkennen. Der tiefe Aufnahmestandpunkt der Kamera deutet auf eine reale Bühnensituation hin. Der Hintergrund ist hell ausgeleuchtet. Das von rechts kommende Bühnenlicht modelliert die Figur, der Schatten der Tänzerin aber erreicht den Hintergrund nicht, was den Bühnenhorizont weit hinter

der Tänzerin vermuten lässt. Das Bühnenlicht ist sehr hell, so dass auch die auf der Schattenseite befindlichen Bilddetails noch erkennbar sind. In dieser Aufnahme ist die Bewegung der Tänzerin geradezu spürbar. Die Elemente des Röckchens folgen der abwärts gerichteten Bewegung. Der Schmuck um die Fessel des linken Fußes hat eine doppelte Kontur, die ebenfalls Beginn und Ende der abwärts gerichteten Bewegung im Sekundenbruchteil nachzeichnen. Besonders verdeutlicht wird die Bewegung durch die scheinbar aus den Handflächen emporsteigenden, aber im Absinken befindlichen Bänder. Im oberen Teil dieser sich wie Lianen windenden Gebilde ist die aus der absinkenden Bewegung herrührende Unschärfe erkennbar. Verglichen mit der Zeit/Bewegungsstudie [→ABB. 01] lässt sich erkennen, dass die Belichtungszeit zwischen 1/30 und 1/60 Sekunde betragen haben müsste. Der Fotograf muss mit fast offener Blende gearbeitet haben, da der Schärfebereich, die Tiefenschärfe07, unmittelbar hinter der Tänzerin aufhört, was an der Fußbodenstruktur gut erkennbar ist. Die Abbildung der Tänzerin Lisa Kresse wurde im Rotationsdruck hergestellt, einer technischen Weiterentwicklung der Photogravüre, die eine große Auflagenhöhe ermöglicht. Die Druckfarbe wird dabei in die Vertiefungen der Druckplatte eingebracht, ein Rakelmesser streicht den Farbüberschuss von der Oberfläche des Rasters ab. Beim Druck wird die Farbe vom Papierfilz aus den geätzten Vertiefungen des Rasters, den Näpfchen, aufgesaugt. Je nach Tiefe der Ätzung, handelt es sich um eine kleinere oder größere Farbmenge. Beim Industriellen Kupfertiefdruck, auch Rotogravüre oder Rakeltiefdruck genannt, ist die Druckform keine Druckplatte, sondern ein rotierender mit Kupfer beschichteter Stahlzylinder. Beim Rotationsdruck verläuft der Vorgang sehr schnell. Das Papier kommt von einer Rolle, läuft zwischen dem Druckzylinder und einer Andruckwalze hindurch, wo es für einen winzigen Moment angepresst wird. Die Farbe wird dabei nahezu aus den Rasternäpfchen der Druckform herausgerissen, muss aus diesem Grunde auch eine flüchtige Konsistenz haben, was durch starke Lösungsmittel, meist Toluol, erreicht wird.08 Durch das aufgebrachte, aus gehärteter Gelatine bestehende Kreuzraster, wird die Fotografie in druckende und nicht druckende Elemente zerlegt. Die Rasterlinien bilden dabei die Stege, die es dem Rakelmesser später ermöglichen, die Farbe von der Oberfläche der geätzten Druckplatte abzustreichen. Bei der Ätzung des Klischees bleiben die Rasterstege stehen, geätzt wird in die Tiefe. Je nach Helligkeitsgrad des Motivs werden die Rasternäpfchen unterschiedlich tief geätzt und nehmen demzufolge beim Druck mehr oder weniger Farbe in sich auf. Dadurch entstehen die unterschiedlichen Helligkeitsstufen des Bildes. Das Rasterschema des Tiefdrucks [→ABB. 05] verdeutlicht, welchen Einfluss der Herstellungsprozess auf die Ästhetik der (gedruckten) Fotografie hat. Denn alle bei der Belichtung unter den Rasterstegen liegenden Bilddetails werden nicht gedruckt, sind also in der Bildinformation nicht mehr vorhanden. Nahezu die Hälfte der Bildinformationen, die uns die Fotografie liefert, gehen durch den Druck verloren. Unser Auge nimmt das feine Raster zwar nicht wahr, unsere Bilderfahrung ergänzt und hilft uns über den Mangel hinweg. Inwieweit ein gedrucktes Bild jedoch noch als Forschungsquelle dienen kann, hängt von der Druckqualität ab bzw. davon, wie die Forschungsfrage moduliert werden muss, um auch gedruckte Bilder, die oft die einzigen Quellen sind, in Untersuchungen miteinbeziehen zu können. Oftmals bietet der Druck, wie im nächsten Abschnitt expliziert werden wird, andere Informationen als eine originale Fotografie.

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[ABB. 05] Schema des Tiefdruckrasters

Die Tänzerin Lucy Kieselhausen in einer Aufnahme des Studios Becker & Maass Die zweite hier betrachtete Fotografie zeigt die Tänzerin und Schauspielerin Lucy Kieselhausen.09 Sie befindet sich in der Sammlung der Lipperheideschen Kostümbibliothek der Kunstbibliothek Berlin, welche eine weltweit einzigartige Sammlung zur Kulturgeschichte der Kleidung und Mode vom Altertum bis zur Gegenwart versammelt.10 Das Bild ist ein Kontaktabzug im Format 17 × 23cm (Standard-Papierformat 18 × 24cm), randlos, auf glänzendem Papier. Fototechnisch handelt es sich um ein hochempfindliches Bromsilberentwicklungspapier. Bis in die 1920er Jahre waren auch noch die Auskopierpapiere in Gebrauch, bei denen das Bild nicht entwickelt, sondern nur durch das UV-haltige Tageslicht hervorgerufen wurde. Der Aufnahmestandpunkt der Kamera befindet sich auf gleicher Höhe wie die Künstlerin, es besteht eine charakteristische Ateliersituation. Beim Betrachten der Fotografie stellt sich aber eine merkwürdige Irritation ein, die durch den Widerspruch zwischen Dynamik und Starre im Bild hervorgerufen wird. Oberkörper und Hände sind scharf abgebildet und scheinen in einer statischen Position zu verharren, während der Rock sich in einer Aufwärtsbewegung befindet. Die wirbelförmigen Lichterscheinungen auf dem Hintergrund wirken seltsam aufgesetzt. 07 08

09

Die Tiefenschärfe oder gleichbedeutend Schärfentiefe bezeichnetdieräumlicheTiefe,indereineAufnahmeabbildet. Eigene Aufzeichnungen der Autorin, die in der polygrafischen Industrie als Reproduktionstechnikerin ausgebildet ist, vgl. auch van der Linden, Fons: DuMont Handbuch der grafischen Techniken, Köln: DuMont 1990, 3. Aufl. Der allergrößte Teil der originalen Tanzfotografien stammt vermutlich aus dem Bildarchiv der Zeitschrift Der Tanz, deren Herausgeber Joseph Lewitan die Bil-

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der vermutlich 1933 an die Kunstbibliothek übergeben hat. Da kein Schriftwechsel vorhanden ist, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob das auch auf das betreffende Bild zutrifft (Auskunft: Adelheid Rasche). Vgl. Rasche, Adelheid: Ecstasy–Tanzfotografie der Zwanziger Jahre, Berlin: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz 1996. [Katalog zur Ausstellung XTC–Tanzfotografie der Zwanziger Jahre, Staatliche Museen zu Berlin, 1996].

[ABB. 06] Becker & Maass: Lucy Kieselhausen, Lipperheidsche Kostümbibliothek, Kunstbibliothek Berlin, F 942k 44.

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Der Stempel auf der Rückseite der Fotografie gibt an, dass diese Aufnahme von der Firma Becker & Maass angefertigt wurde. Die Aufnahme der Tänzerin ist deshalb vermutlich in dem Fotoatelier von Becker & Maass in der Leipziger Straße 94 in Berlin entstanden. Die Firma Otto Becker & Maass wurde am 3. Mai 1902 gegründet11; in dem Forschungsprojekt der HTW Berlin zu Berliner Fotoateliers finden sich jedoch unter diesem Firmennamen bereits 1893 Aufnahmen und Adressenangabe in Berlin, Unter den Linden 51 und ab 1884 in der Leipziger Straße 94.12 Inhaberin dieser Firma ist von Beginn des 20. Jahrhunderts an bis ca. 1933 die Buchhalterin Marie Boehm. Welche Fotografen unter dem Firmennamen Becker & Maass gearbeitet haben, ist bisher nicht bekannt, das Atelier aber war bekannt für Modefotografie sowie für Aufnahmen und Postkartenproduktion namhafter Filmstars wie Asta Nielsen und Otto Wegener. Unter dem Mikroskop werden die immensen Nachbearbeitungen verschiedener Retuschetechniken im Fotoabzug sichtbar, welche die Bildästhetik und Bewegungsdarstellung maßgeblich bestimmen. Diese Informationen geben weiterhin Aufschluss über die Arbeit des Fotoateliers und die Zusammenarbeit mit der Tänzerin. Ob sie kleinere Bildmakel kaschieren, den Bildinhalt oder die Bildästhetik verändern, Retuschen sind immer ein mechanischer Eingriff, eine Veränderung im Negativ oder Positiv. Es gibt unterschiedliche Arten von Retusche, besonders im Hinblick auf die verschiedenen Druckverfahren und deren Rastergrößen. Auf dem Positiv ausgeführte Retuschen hinterlassen Kratz-, Schabe- oder Pinselspuren sowie sichtbare Farbaufträge. Letztere finden sich besonders bei Spritzretuschen, bei der ganze Bildpartien durch aufgesprühte Farbe abgedeckt werden. Fotomontagen werden meist auf dem Papierabzug ausgeführt, der dann reproduziert wird, um mit Hilfe eines Repronegativs das veränderte Motiv ohne sichtbare Schnittoder Klebespuren zu vervielfältigen. Bei Vervielfältigungen sind Korrekturen auf dem Negativ von Vorteil, verlangen aber viel Kenntnisse und Geschick, da das Negativ das Original verkörpert, das unmittelbar an der Aufnahmesituation beteiligt war. Die Veränderung der Tonwerte des Negativs ist irreversibel. Für das Retuschieren von Fotografien standen damals diverse gängige Verfahren zur Verfügung, welche ich im Folgenden anhand der Aufnahme Kieselhausens im Überblick darstellen möchte. Ausfleckretusche von fehlerhaften Stellen im Negativ und Bildabzug Die linke Aufnahme [→ABB. 08] bildet einen schwarzen Fussel ab; die Retusche versucht etwas ungenau, den dunklen Fleck zu beseitigen. Dieser Fussel muss während der Aufnahme auf der Fotoplatte gelegen haben, sodass die Belichtung der Fotoschicht an dieser Stelle verhindert wurde. Während der Entwicklung wird diese Stelle dann nicht geschwärzt und bleibt lichtdurchlässig. Als Folge wird die Abbildung auf dem Fotopapier an dieser Stelle dunkel. Die Ausfleckretusche wurde auf dem Negativ ausgeführt, indem die durchlässige Stelle mit dunkler Farbe (hier etwas flüchtig aufgetragen) betupft wurde. 11

Vgl. http://www.fotografenwiki.org/index.php?title= Becker_%26_Maa%C3%9F (abgerufen am 10.08.2014)

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Vgl. http://www.berliner-fotografenateliers.de/index2.html (abgerufen am 10.08.2014)

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[ABB. 07] Übersicht der verschiedenen Retuschen, die an diesem Abzug vorgenommen wurden. 1 Ausfleckretusche von fehlerhaften Stellen im Negativ und Bildabzug 2 Ausgleichsretusche auf der Negativplatte 3 Korrekturretusche durch Kratz- und Schabetechnik 4 Veränderung der Originalaufnahmen durch Hinzufügen von Bildelementen 5 Retusche zu dekorativen Zwecken

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[ABB. 08] Zwei Beispiele für Ausfleckretuschen

Die rechte Abbildung zeigt eine Ausfleckretusche, die auf dem Bildpositiv aufgetragen wurde. Eine zu dunkle, lichtundurchlässige Stelle im Negativ hinterlässt im Bild einen hellen Fleck. Dieser wurde mit Pinsel und dunkler Farbe übertupft und abgemildert. Ausgleichsretusche auf der Negativplatte In den beiden vergrößerten Ausschnitten [→ABB. 09] ist die Anwendung von Bleistiftretusche zu sehen. Im Positiv zu dunkel erscheinende Haut- oder Faltenpartien sind auf dem Negativ stärker lichtdurchlässig. Mit einem spitzen weichen Bleistift werden diese Stellen überarbeitet. Kleine Grafitkringel oder Häkchen werden aufgetragen, um die Dichte des Negativs dort partiell zu erhöhen. Die tiefen Schattenpartien auf dem Positiv werden so etwas abgemildert. Diese Art der Retusche wurde üblicherweise in Porträtstudios angewendet, um Porträts zu korrigieren oder auch um starke Schatten, die durch intensiv gerichtetes Scheinwerferlicht entstanden sind, auszugleichen. Korrekturretusche durch Kratz- und Schabetechnik Diese Art der Retusche [→ABB. 10] ist ein etwas stärkerer Eingriff in das Material des originalen Negativs. Partien an Arm, Hals und Fuß wurden verschlankt, indem auf dem Negativ diese Körperpartien weggeschabt wurden. Die Lichtreflexion der hellen Körperhaut hinterlässt eine tiefe, lichtundurchlässige Schwärzung auf dem Negativ. Für diese Art der Korrektur muss die Negativdichte an den gewünschten Stellen reduziert werden. Auf dieser Abbildung erkennt man parallel verlaufende dunkle Schraffuren. Hier ist mit einem feinen Messer oder einer Nadel eine Kratzretusche ausgeführt worden; die Bildschicht wurde also mechanisch entfernt oder ausgedünnt. Dieser irreversible Eingriff ist schwerwiegend und verlangt von dem Ausführenden gute Kenntnisse und sicheres handwerkliches Können.

[ABB. 09] Vergrößerungen der Bleistiftretusche

Veränderungen der Originalaufnahmen durch Hinzufügen von Bildelementen Im Bereich des Rocks und des Rocksaums treten massive Retuschen und auch Montagen zu Tage. Betrachtet man die Abbildung 11, stellt sich in der Wahrnehmung eine Irritation ein: Der obere Teil des Fotos wirkt absolut statisch, während die untere Hälfte Dynamik suggeriert. Um dem Rock einen solchen Schwung zu geben, müsste sich die Tänzerin in der Abwärtsphase eines Sprunges befinden. Der steif wirkende, plissierte Stoff jedoch scheint wie mit einem Band nach oben gezogen – auch stimmen die Proportionen der Rocklänge im oberen Drittel nicht mehr, denn der Rock wirkt länger, obwohl er perspektivisch verkürzt sein müsste. Der Suggestion von Tanzbewegung in der Bildwirkung wird hier offenbar der Vorzug vor einer realistischen Abbildung der Tänzerin gegeben. Die vergrößerten Details lassen erhebliche Veränderungen durch Retusche erkennen. Es ist nicht nur der Rocksaum, dem durch Hinzufügen umfangreicher Bleistiftschraffuren ein flatternder Eindruck verliehen werden soll. Der obere Teil des wehenden Rockes scheint ebenfalls in mehreren Teilen angesetzt zu sein und ist vermutlich durch Retusche oder eine einkopierte Montage durch ein zweites Negativ bearbeitet worden. Unpassende Ansatzstellen wurden durch Schraffuren gemildert, mit einer langen spitzen Bleistiftmine ist das Negativ bearbeitet worden. In diesem Fall handelt es sich nicht um Ausgleichsretusche, sondern um Fotomontage, denn Bildinhalte wurden nachträglich verändert und hinzugefügt. Retusche zu dekorativen Zwecken Ein seltsam unrealistisch wirkender Hintergrund unterstreicht den künstlichen Bildeindruck noch. Die konzentrischen Lichtspuren sind ebenfalls die Arbeit eines Retuscheurs, der mit Grafitpulver und Wischtampon das Negativ kreisend bearbeitet hat, um die Dynamik zu steigern. Vergleichbare

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[ABB. 10] Die Kratzretusche in starker Vergrößerung

gewischte Hintergrundmanipulationen weist eine weitere Aufnahme – eine Künstlerpostkarte von Kieselhausen in ihrem berühmten Rosenkostüm [→ABB. 14] – auf, welche jedoch in einem anderen Fotografenatelier angefertigt wurde. Vermutlich ist dieser Eingriff den künstlerischen Vorstellungen der Tänzerin zuzuordnen. Diese Art der Hintergrundbearbeitung entsprach dem Zeitgeschmack und findet sich auch in anderen Fotografien wieder. Diese umfangreichen, durch Retusche hervorgerufenen Veränderungen lassen bis auf die Ausfleckretuschen keine Farbspuren auf der Bildoberfläche erkennen. Die Manipulationen wurden auf dem großformatigen Negativ ausgeführt, das angesetzte Rockteil ist vermutlich mit einem Duplikatnegativ als Aufleger übertragen worden. Auch die konzentrischen Wischspuren im Hintergrund konnten auf einem solchen »Decker« aufgetragen und im Kontakt kopiert oder vergrößert werden, ohne das Originalnegativ zu verändern. Die Retuschen dienen in dieser Tanzfotografie einerseits der Beseitigung von Fehlern, dem Hervorheben oder Abschwächen von störenden Details, wie zum Beispiel Hautunreinheiten oder tiefen Falten, schließen aber andererseits auch Montagetechniken, wie Hinzufügen oder Entfernen von Bildelementen mit ein. Die Nachbearbeitungen der Fotografie werden zum zentralen Mittel der Bewegungsgestaltung im Bild und Merkmale dessen Ästhetik, die in der Zusammenarbeit von Fotoatelier und Tänzerin entstanden. Die vielen in diesem Bild vorhandenen Manipulationen deuten auf ein handwerkliches Fotoatelier hin, in dem für gewöhnlich eine Gruppe von Retuscheurinnen13 in einem Raum an Pulten saß und ausschließlich derartige Korrekturen vornahmen. Die Fotografen selbst waren eher selten in der Lage, Retuschen und Veränderungen des fotografischen Materials professionell auszuführen.

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Gernsheim: Geschichte der Photographie, S. 531f.

[ABB. 11] Retusche am Rocksaum [ABB. 12] Retusche des Bildhintergrundes

Die Tänzerin Anna Pavlova in einer Aufnahme von Ernst Schneider Anna Pavlova (1881—1931) war eine international bekannte russische Meistertänzerin des klassischen Balletts. Die Fotografie zeigt sie in ihrem berühmten Kostüm als Libelle. Der fotografische Abzug wird mit weiteren Darstellungen als Libelle im Tanzarchiv Leipzig e. V. aufbewahrt. Die hier betrachtete Fotografie liegt im Format 18 × 24 cm vor. Die auf der Rückseite angegebenen Ausschnittmarkierungen entsprechen dem Ausschnitt der noch im Umlauf befindlichen gedruckten Künstlerpostkarten von dieser Aufnahme. Auf der Rückseite der Fotografie befindet sich ebenfalls der Stempel des Fotografen Ernst Schneider aus Berlin. Schneider war einer der bekanntesten Lifestyle-Fotografen in der Zeit von ca. 1900 bis 1930. In seinem Atelier Unter den Linden porträtierte er die Prominenz von Theater, Oper, Zirkus und Film. Er fotografierte für mehrere Postkartenverlage, unter anderem für Rotophot und Ross. Man kann anhand der Abstrich-Markierungen auf der Rückseite davon ausgehen, dass es sich bei diesem Abzug um die Druckvorlage handelt, wie sie von Ernst Schneider für den Druck vorbereitet wurde. Der Fotoabzug selbst, auf einem kräftigen, kartonstarken Fotopapierträger vergrößert, wurde in hoher Bildtonalität entwickelt. Die Bildoberfläche erhielt durch eine spezielle, aufwändige Methode eine Hochglanzoberfläche. Dazu musste das Fotopapier in nassem

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[ABB. 13] Ausschnitt von Becker & Maass: Lucy Kieselhausen.

Zustand auf ein verchromtes und spiegelnd poliertes Blech aufgewalzt und getrocknet werden, bis es sich von selbst wieder von der Metallfläche löste. Das erhöht die Brillanz der Aufnahme. Unter mikroskopischer Betrachtung sind keine Manipulationen durch Retusche am Negativ oder am Bildabzug zu erkennen. Lediglich einige wenige auf dem Positiv ausgeführte Ausfleckretuschen sind zu sehen. Das Bild weist stattdessen viele Gebrauchsspuren auf, die für Fotografien charakteristisch waren, die den Weg durch die Druckerei genommen und damit ihren Zweck erfüllt hatten. Eine Dokumentation [→ABB. 16] gibt einen Eindruck des gegenwärtigen Zustands mit seinen chemischen und mechanischen Veränderungen wieder. Eine mikroskopische Aufnahme zeigt die strapazierte Bildoberfläche mit den typischen Aussilberungen, wie es für einen auf Bromsilberpapier vergrößerten und entwickelten Abzug charakteristisch ist. Deutlich erkenn-

[ABB. 13] Atelier Eberth: Lucie Kieselhausen, Postkarte Nr. 115, Juno Kunstverlag, Charlottenburg.

bar ist hier zudem die Perspektive des professionellen Bühnenfotografen Ernst Schneider, der durch den tiefen Aufnahmestandpunkt der Kamera eine Zuschauerperspektive erzeugt und so auf eine ›echte‹ Bühnensituation verweist. Um die Wahrnehmung von Bewegung außerdem auf die fragilen und zarten Qualitäten des Libellentanzes zu lenken, hat Schneider für diese Aufnahme ein Weichzeichner-Objektiv gewählt, welches scharfe Konturen abmildert und einen sanften Eindruck vermittelt.

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[ABB. 15] Ernst Schneider: Anna Pavlova, o. J., Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlungen – Tanzarchiv, Slg. Mary Wigman, K IV. Nr. 8. [ABB. 16] Dokumentation der Gebrauchspuren

Die große Blendenöffnung lässt Bühnendetails und den gemalten Hintergrund fast im Nebel verschwinden. Die gewählte Belichtungszeit gibt eine leichte Bewegungsunschärfe der Hände und des Kostüms wieder. Beeindruckend ist die Wahl seines absoluten Schärfepunkts. Dieser liegt geradezu ikonisch auf dem Fuß der Tänzerin, dem kleinsten Berührungspunkt, der die Ballerina noch mit den Boden verbindet. Die seidenen Bänder des Ballettschuhs stehen sozusagen im Fadenkreuz des Kamerasuchers. Entsprechend unserer Schreib- und Sehweise erfolgt die Bildführung von links nach rechts und lässt der dargestellten Bewegung Raum, sich in der Imagination der Betrachter weiter auszubreiten. Im Vergleich der drei betrachteten Fotografien kristallisiert sich gerade der Einsatz von Bewegungsunschärfe als zentrales Mittel von Bewegungsgestaltung im Bild vor 1920 heraus. Entgegen dem zeitgenössischen Bildideal einer scharfen und klaren Fotoaufnahme, erlangte der Fotograf Hugo Erfurth durch seine Tanzaufnahmen in Bewegung Bekanntheit, weil er die partielle Unschärfe in seinen Fotografien nicht scheute. Mit seiner Aufnahme von Lisa Kresse [→ABB. 02] verlässt Erfurth die Vorgaben der scharfen Abbildung und beeinflusst durch den gezielten Einsatz von Bewegungsunschärfe unsere Wahrnehmung von Bewegung. In der Aufnahme von Lucy Kieselhausen aus dem Berliner Studio Becker & Maass hingegen kommen umfangreiche Retuschen zum Einsatz, welche, um dem Mangel an Bewegungsausdruck nachträglich künstlich abzuhelfen, Unschärfen und damit den Anschein ins Bild setzen, die Tänzerin befinde sich in Bewegung. Ernst Schneider hingegen antizipiert und gestaltet bereits im Moment der Aufnahme durch die Wahl der Belichtungszeit und des verwendeten Weichzeichnerobjektivs die Bewegungsdarstellung.

Die Tanzdarstellungen mit Bewegungsunschärfen waren der Auslöser für die Erzeugung neuartiger Sichtbarkeiten und veränderten die Wahrnehmung von (Tanz)Fotografie maßgeblich. Abschlussgedanken Mit den Worten »Wirklich war der Zeitpunkt der Aufnahme und die damals vorhandene Situation; sowohl das Negativ als auch der spätere Abzug sind codierte Bilder. Um die Funktionsweise technischer Bilder zu verstehen, bedarf es einer ›Analyse ihrer Erzeugung‹«14 zitiert Claudia Gabriele Philipp den Medienphilosophen Vilém Flusser und thematisiert damit die technische Analyse, die für das Verständnis von Fotografie unabdinglich zu sein scheint. Wie in diesem Beitrag gezeigt werden konnte, unterscheiden sich Fotografien nicht nur hinsichtlich ihrer Ästhetik maßgeblich voneinander, sondern vor allem auch durch die technische Ausführung, die erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Bewegung in den hier betrachteten Tanzfotografien nimmt. Codierte Bilder, deren Sichtbarkeit im Vorfeld durch technische Verfahren beeinflusst wird, müssen also ›entschlüsselt‹ werden, um die Bedingungen ihrer Wahrnehmung verstehbar zu machen; dieser Beitrag hat diese Entschlüsselung anhand einer technischen Analyse analoger wie gedruckter Tanzbilder vorgenommen. Hieraus ergab sich die Erkenntnis, dass der Moment der Aufnahme zwar »wirklich« gewesen ist, der Fotograf allerdings in der Fotografie nicht auf Anhieb sichtbare Entscheidungen getroffen hat, die die Wahl seiner Werkzeuge, der Aufnahmetechnik, des Objektivs, des Blickwinkels, der Beleuchtung und auch die Gestaltung der Aufnahmesituation betreffen. Diese Entscheidungen sind immer auch Ausdruck seiner eigenen Wahrnehmung und können durch die detaillierte Betrachtung einer technischen Analyse der Fotografie decodiert werden. Hier zeigt sich also die Subjektivität des Bildes, welche in entscheidendem Maße von der Vorstellung des Fotografen bezüglich seiner Aufnahme abhängt. Die Entwicklung der Fotoplatte oder des Films beispielsweise beeinflussen die Aufnahmesituation in ihrer Ansicht – eine Entscheidung, die der Autor des Bildes trifft. Seit Entstehung der Fotografie wurden derlei Entscheidungen getroffen, ebenso wie nachträgliche Bearbeitungen der Negative durch Retusche oder Montage erfolgten. Blättert man in historischen Musterbüchern für fotografische Papiere, findet man eine große Vielfalt von Fotopapieren mit unterschiedlich gestalteten Oberflächen. Es ist die Emulsionsschicht mit ihren speziellen Strukturen und Zusätzen an Farbstoffen oder Mattierungsmitteln, in der die bildgebende Substanz eingebettet ist und auf unterschiedlichste Weise reflektiert wird. Für den Druck wird ein Bild gerastert und in druckende und nicht druckende Elemente zerlegt, der analoge Charakter einer Fotografie wird so punktuell in Farbe oder in Schwarz-Weiß umgewandelt. So entstehen die unterschiedlichsten Sichtbarkeiten, die durch technische Verfahren und subjektive Entscheidungen des Fotografen erzeugt werden. Im technischen Druckprozess oder z. B. durch Digitalisierung geht der größte Teil der analogen Informationen verloren und andere Informationen über Druckverfahren, Druckraster, Farbstoffe und Papierqualität treten an ihre Stelle. 14

Philipp, Claudia Gabriele: »Der Körper der Fotografie«, in: Reality-Check. 2. Triennale der Photographie, hg. v.

Henriette Väth-Hinz, Hamburg: Christians 2002. S. 32—41, hier S. 35.

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[ABB. 17] Gebrauchsspuren [ABB. 18] Weichzeichnerobjektiv

Frank Thiess sah die Aufgabe der Fotografie 1920, wie er in Der Tanz als Kunstwerk expliziert, vor allem in der Nachbildung der Natur durch die Kunst: »Verknüpfung von Kunst und Natur besteht nicht, wie gemeinhin angenommen wird, in der Nachbildung der Natur durch die Kunst (das ist die Aufgabe der Photographie).«15 Dass es aber keine exakte Nachbildung der Natur geben kann, wenn man die Fotografie als eigenständige Kunst begreift, liegt allein schon in der Subjektivität begründet, mit der die technischen Verfahren zur Anwendung gebracht wurden. Anhand der technischen Analyse der drei Tanzfotografien konnte gezeigt werden, dass eben diese technischen Möglichkeiten zwar begrenzt waren, sie jedoch dazu beitrugen, die unterschiedlichsten Sichtbarkeiten zu erzeugen. Die Wahrnehmung von Bewegung im Bild hängt somit nicht nur von einer spezifischen Ästhetik ab, sondern ebenso von technischen Entscheidungen des Fotografen, der die Subjektivität des Bildes begründet.

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Thiess: Der Tanz als Kunstwerk, S.18.

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73 SABINE HUSCHKA DAS PHANTASMA DER ANWESENHEIT BILDWERDUNGEN EINES NICHT-GEWESENEN

»Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens.«01 Die Lichtbilder der frühen Tanzfotografie prägen mit ihren technischhandwerklichen Raffinessen und ästhetischen Matrizen unser Bild von der aufbrechenden Tanzmoderne. Sie beleuchten die wichtigsten ästhetischen und kulturellen Säulen der neuen Tanzkunst: frei, naturnah und formstreng zeigen sie Bildnisse laufender, springender und leicht bekleideter Frauenkörper, von wehenden Tüchern umspielt02; werfen Licht auf exotisch anverwandelte Körper, die mit Glöckchen, schillernden Knöpfen und Fäden kostümiert gestalthaft einen Flair des Orientalischen ins Bild setzen03; bannen Hand- und Körperhaltungen zu skulpturalen Formeln einer fernen Stille04 oder gestalten formbewusst in ihrer Bildkomposition eine Transformation der Körper zu geradezu im Tanz getragenen (Luft-)Wesen. Auf all diesen Fotografien erscheinen tanzende Körper. Ästhetisch eindringlich ins Bild gesetzt, zeigen sie Bewegungsgestalten und Ausdrucksformen, die – gleichwohl ein bloßes Auge sie nie gesehen hat – historiografisch einen Realitätskern tragen, 01

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Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 371 (S. 368—385). Etwa in Fotografien von Lisa Duncan durch Franz Löwy oder von Anna Duncan in Ghost Dance durch Herbert Inc., 1916.

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Vor allem in den Bildnissen von Ruth St. Denis, fotografiert von Herman Nishkin, New York 1908. Vgl. Fotografien von Ruth St. Denis Incense, 1906-08. Alle erwähnten Abbildungen (FN 2-4) sind veröffentlicht in: Sina, Adrien (Hg.): Feminine Futures, Dijon: Presses du Réel 2011.

[ABB. 01] Hugo Erfurth: Ellen Petz, in: Hermann und Marianne Aubel: Der künstlerische Tanz unserer Zeit, Königstein im Taunus/Leipzig: Karl Robert Langewiesche Verlag 1928, S. 68, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

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der anderen Quellen, Zeugnissen und Dokumenten fremd ist. Stärker als andere Medien führen gerade Fotografien »das Wirkliche im vergangenen Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich«05 vor Augen. Jener Wirklichkeitsmoment der Tanzfotografie gibt uns die Gewissheit, es mit Bildern zu tun zu bekommen, deren abgelichtete Körper – um mit Roland Barthes zu sprechen – tatsächlich einmal da gewesen sind. Das phänomenologisch Unverrückbare dieser Körperbilder, nämlich einem tatsächlichen Zeitmoment zuzugehören, der sich aus der Tiefe der Zeit herausschält und im ›Es-ist-so-gewesen‹06 das Vergangene realitätsnah markiert, rückt die Tanzfotografie in eine besondere historiografische Disposition: Das Fotografische scheint dem Tanz als vergängliche Zeitkunst zu einer Vergegenwärtigung seiner gewesenen Verkörperung zu verhelfen, die sich als Realitätsmoment in den Bildern vermittelt. Mit welcher Zeitdisposition bekommen wir es aber in ihrer Betrachtung genau zu tun? Wie zeigt sich die gewesene Realität tanzender Körper? Roland Barthes reflektiert in seinen Überlegungen über die Fotografie die medial eingeschriebene Zeitfigur ihrer Bilder: »Der Name des Noemas der PhotograPhie sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹ oder auch: das Unveränderliche. […] : das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator und spectator) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden.«07 Das fotografische Bild bündelt das Reale des Zeitmoments danach gerade nicht zu einem authentischen Bild seiner Vergegenwärtigung, um – wie Peter Geimer treffend pointiert – »das in ihr Gezeigte […] über alle Zeiten lebendig«08 zu halten. Das Gezeigte kommt vielmehr mit einer geteilten Zeitfigur und damit mit seinem schon Vergangenem, seinem Tod überein. Jacques Derrida fügt in seiner Auseinandersetzung mit Die Tode des Roland Barthes weiterführend an: »Es ist eine ›Widerkehr des Toten‹, dessen gespenstisch-spektrales Erscheinen im Bereich selbst des Photogramms einer Emission oder Emanation ähnelt.«09 Das Wirklichkeitsmoment der fotografierten tanzenden Körper schwindet damit in einen Zustand des Nicht-Greifbaren, aufgespannt zu einem Zeitenbild, in der eine Vergegenwärtigung des Gezeigten mit dem Entzug des Dargestellten aufs Engste verknüpft ist. Eine phänomenologisch-aisthetische Wahrnehmung der Tanzfotografie auf der Suche nach einer bestätigenden Realreferenz des Gezeigten läuft daher – ohne an dieser Stelle die weitreichende Medien- und Bildtheorie des Fotografischen weiter ausführen zu können 10– in die Irre. Denn sie täuscht sich über die medial eingeschriebene Zäsur der Zeit in der Fotografie hinweg. In diese markante Disposition der Zeit des Gezeigten sind die Betrachtung der Tanzfotografien und mit ihr unsere Bilder vom Neuen und Freien Tanz der Jahrhundertwende ebenso verstrickt, wie in die technischen und ästhetischen Strategien der Tanzfotografie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einer Verbildlichung tanzender Körper arbeiten. 05 06

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Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 93. Ebd., S. 87. Vgl. aus phänomenologischer Perspektive die Erläuterungen von Därmann, Iris: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München: Fink 1995. Barthes: Die helle Kammer, S. 87. Geimer, Peter: Theorien der Fotografie. Zur Einfüh-

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rung, Marburg: Junius 2009, S. 131. Derrida, Jacques: Die Tode des Roland Barthes, Berlin: Nishen 1987, S. 35. Vgl. exemplarisch die Untersuchung und kritische Reflexion bestehender kunst-, bild-, und medienwissenschaftlicher Theorien von Martina Dobbe: Fotografie als theoretisches Objekt: Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, Paderborn: Fink 2007 (vor allem S. 231—253).

Verbildlichung Die Tanzfotografie stiftet für unsere Betrachtung der Bewegungskörper eine Nähe, die sich dem technischen Dispositiv des Fotografischen und seinen ästhetischen und bildkompositorischen Blickführungen verdankt und dergestalt tänzerische Körperbewegungen allererst in Erscheinung bringt. Gestalthaft aus dem Lauf der Zeit freigelegt, zeigen sich gleichsam Bewegungs-Bilder einer (anderen) Körper-/Wirklichkeit. Gerade die frühe Tanzfotografie der zehner Jahre erkundet die ästhetischen und technischen Optionen des Fotografischen und sendet mittels geschickter Zeit-Zäsuren und Blickwinkel Licht in eine zeiträumlich entrückte Wirklichkeit. Die technischen Verfahren und ästhetischen Anstrengung der Fotografinnen und Fotografen richten sich darauf, tanzende Körper zeitlich dergestalt adäquat ins Bild zu setzen, dass sich aus ihrer Bewegung heraus ein Moment vergegenwärtigt, der intensitätssteigernd eine Bewegungserscheinung ihrer Bewegungskraft bildlich werden lässt. Die Bildstrategie kommt damit paradoxerweise im Grunde mit einem augenblickhaften Entzug ihrer physischen Wirklichkeit überein und überstellt die Ansicht von sich-bewegenden Körpern doch in einen nie gesehenen und doch glaubhaft gemachten Realitätsmoment. Zwei ›fliegende‹ Bewegungskörper in Tanzfotografien von Hugo Erfurth aus den frühen zehner Jahren geben mir Anlass, die mediale Disposition der Bildwerdung tanzender Körper weiter zu befragen und deren Verhältnis zur Sichtbarmachung eines Unsichtbaren näher zu beleuchten. Tatsächlich sieht sich gerade die frühe Tanzfotografie mit den technischen Optionen ihres Apparats konfrontiert, eine Sichtbarkeit von bewegten/sich-bewegenden Körpern aus der Tiefe des von Unsichtbarkeit umstellten Bewegungsflusses allererst herauszuschälen. Aus dieser Differenz geht ihr Projekt der Sichtbarmachung hervor, das keineswegs beliebige Bilder bewegter Körper schaffen will, sondern im fotografischen Bild an ästhetischen Modellen einer Verbildlichung tanzender Körper arbeitet. Diese Arbeit spannt sich zwischen einer bildhaften Verwirklichung des tanzenden Körpers und der Entwirklichung seiner körperlichen Zeitgebundenheit auf. Gleichsam emphatisch projiziert Erfurth seine ästhetische Perspektive auf diese beiden tänzerischen Sprünge und verdichtet die Kraft ihrer Bewegungskörper zu einer enthobenen Gestalt: Geradezu glaubhaft erscheint die Tänzerin und Choreografin Ellen Cleve Petz (1899 — 1970) in einer anderen Realität und schwebt als Libelle von einer fremden Kraft getragen durch den Bildraum. Und die frühe Aufnahme von Marie Wiegmann (1886 — 1973), wie Mary Wigman zu jener Zeit noch heißt, markiert die entfesselte physische Kraft ihres Leibes, die sie in die Höhe treibt und mit der Erde in eine ›befruchtende‹ Beziehung setzt.11 Dabei schaffen die abgelichteten Körperbilder ästhetische Referenzen auf reale Bewegungsereignisse und täuschen sie zugleich an. Ästhetische Dispositionen der Fotografien: Zeitfenster arrangieren Untersucht man das mediale Blickfeld, in das die Fotografien den Tanz in den zehner und zwanziger Jahren einpassen, so kommen ihre verschiedenen ästhetischen Strategien mit einer technischen Grunddisposition überein: Innerhalb von Sekundenbruchteilen muss ein bewegender Moment gesetzt und gekonnt belichtet werden, der aus der Bewegungserscheinung

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ein Bild des Tanzes, ein Bild der Tänzerin generiert. Bruchteile einer Zeitfrequenz entscheiden neben anderen technischen Raffinessen wie etwa der Retusche über das tatsächliche Bewegungsbild, was den Fotografinnen und Fotografen neben technischen Kenntnissen und einer geschickten Handhabung ihres Apparats eine spezifische Reaktionsschnelligkeit abforderte. Angesichts der technisch beschränkten Möglichkeiten der benutzten Plattenkameras und der erst in den zwanziger Jahren zur Verfügung stehenden handlichen Kleinbildkameras,12 plädierten noch zu Beginn der zwanziger Jahre viele Fotografinnen und Fotografen für die Aufnahme von inszenierten Posen. Der Münchner Fotograf Hanns Holdt etwa rät seinen Kollegen: »Man sehe sich den ganzen Tanz aufmerksam an, merke oder notiere sich die bildwirksamsten Stellen und veranlasse die Tänzerin, diese Stellen langsam zu wiederholen. Am besten wähle man Übergangsstellungen, wie der Körper einen Moment in ruhiger Pose verweilt.«13 Tatsächlich entstanden die meisten Aufnahmen, wie auch jene des primär als Porträtfotograf tätigen Hugo Erfurth14 vornehmlich in Foto-Ateliers. Nur selten wurde im Freien fotografiert oder Tänzerinnen während der Proben oder in den Aufführungen selbst abgelichtet. Die Lichtverhältnisse ließen sich besser im Atelier beeinflussen. Den Aufnahmen gingen zudem genaueste Beobachtungen der Bewegungsabläufe voraus, um jenen passenden Moment auszuwählen, der sich aus der dynamisch-expressiven Körperbewegung als Bild herausschälen ließ. Durch mehrmalige Wiederholungen langsam vorgetanzter Bewegungssequenzen gewannen die Fotografinnen und Fotografen Kenntnisse des Bewegungsverlaufs und formten mit analytischen Kenntnissen ihre ästhetische Perspektive auf spezifische Bewegungsmomente und formal starke und expressive Posen. Dieses inszenatorische Verfahren des Fotografierens umriss aus einer Vorauswahl möglicher Bewegungsmotive einen Bereich des tatsächlich belichteten Bewegungsmoments, um sie an die technischen Optionen einer ausreichenden Belichtungszeit anzupassen. Dieser Inszenierungsprozess wurde neben den Kenntnissen einer technisch-intuitiven Handhabung der Kamera durch eine geschickte Beleuchtung der Tanzkörper unterstützt. Nachträglich wurden die Aufnahmen nicht selten retuschiert, womit das Abbild der Bewegungserscheinung oft erst zu jenem Bild wurde, deren Tanzkörperbilder bis heute überliefert sind.15 Der technisch und ästhetisch geschulte Blick der Fotografinnen und Fotografen choreografierte gleichermaßen das entstehende Tanzbild. 11 12

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Zu der ideologischen Aufladung dieser Körperbilder des Modernen Tanzes vgl. Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte Stile Utopien, Hamburg: Rowohlt 2012. Die Porträtfotografie war um die Jahrhundertwende auf die Handhabung der Plattenkameras angewiesen, deren großer Kasten, mit einem schwarzen Tuch abgedeckt, durch eine lange Auslöseschnur bedient wurde. Für Bewegungsaufnahmen wurden erst in den späten zwanziger Jahren Kleinbildkameras benutzt, die eine große technische Erleichterung boten. Ab 1924 baute die Firma Ernemann handliche Kleinformat-Plattenkameras. Die Fotografin Lotte Jacobi kaufte 1928 für ihre Theater- und Tanzaufnahmen eine Ermanos 9 × 12, »eine Sensation auf dem damaligen Photoapparaten Markt«. Vgl. Beckers, Marion u. Elisabeth Moortgat (Hg.): Atelier Lotte Jacobi: Berlin, New York, Berlin: Nicolai 1997, S. 81. Jacobi war vor allem an den Piscator-Bühnen tätig und dokumentierte Aufführungen von Hanns Eisler, Ernst Busch, Walter Mehring und Alexander Granach. Holdt, Hanns: »Betrachtungen über Bühnen- und Tanzaufnahmen«, in: Deutscher Camera Almanach. Ein Jahrbuch für die Photographie unserer Zeit. Bd. 11,

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Berlin 1920, S. 48. Zitiert nach: Peter, Frank-Manuel: »Zur Einführung. Das Blaue Buch des künstlerischen Tanzes«, in: Aubel, Hermann u. Marianne Aubel (Hg.): Die blauen Bücher. Der künstlerische Tanz unserer Zeit, Königstein: Langewiesche (1928/2002), S. 8. Hugo Erfurth arbeitete von 1908 bis 1927 in seinem Dresdener Atelier als Tanzfotograf. Gleichwohl die Tanzfotografie für ihn nur einen relativ kleinen Arbeitsbereich bildete und er vornehmlich als Porträtfotograf von bisweilen sehr berühmten Persönlichkeiten tätig war, gehören seine Aufnahmen wie etwa von Sent M’ahesa (1908) oder von den Schwestern Wiesenthal neben denen des amerikanischen Tanzfotografen Arnold Genthe von Isadora Duncan (1914—18) und Ruth St. Denis zu den frühesten Tanzfotografien. Vgl. von Dewitz, Bodo u. Karin Schuller-Procopovici (Hg.): Hugo Erfurth. 1874—1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, Köln: Wienand 1992. Vgl. Arnold Genthe: The Book of the Dance, Boston: International Publishers (1919). Die Kunstfertigkeiten des Retuschierens hat Monika Faber auf der Tagung »Fotolabor: Tanz 1900—1920« (5.—7.12.2013, Museum für Fotografie in Berlin) für alle Teilnehmer beeindruckend erläutert und aufgedeckt.

[ABB. 02] Hugo Erfurth: Mary Wigman, in: Hermann und Marianne Aubel: Der künstlerische Tanz unserer Zeit, Königstein im Taunus/Leipzig: Karl Robert Langewiesche Verlag 1928, S. 85, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

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Das Wesen der tänzerischen Bewegung und seine Ver-Stellungen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheinen die Aufnahmen von Hugo Erfurth geradezu sinnbildlich. Denn sie repräsentieren die mediale und ästhetische Disposition einer wirklichkeitserzeugenden Plastizität und realitätsfremden Entrückung tanzender Körper als Bilder des ästhetischen Aufbruchs der Moderne. Glaubhaft erscheinen beide tanzende Körper in einem von Bewegung durchwirkten anderen Realitätsmoment, aus dem eine transformierende Bewegungskraft ihre Körper ins Bild hebt: Ellen Petz von einer geradezu zeit-räumlich aus der Ferne heranwehenden Kraft, die sie durch den Bildraum führt; Mary Wigman noch im Sprung in die Gebärden ihrer Armhaltung vertieft, von einer Kraft zwischen Physis und Erdboden getrieben in die Luft gehoben. Erfurths Blick zentriert und rahmt die springenden Tanzkörper in den beiden Fotografien in einer enthobenen Gebärde, die ihre kraftdurchwobenen Erscheinungen tiefengeschärft in einer eindringlichen Plastizität des Körpers zeigen. Im Kontrast etwa zu den wenigen Freilichtaufnahmen Mary Wigmans von Johann Adam Meisenbach (1913) folgt Erfurths Aufnahme den Konventionen der Atelierfotografie. Der Blick des Fotografen geht nicht mit der Tanzbewegung mit, sondern ordnet den sich-bewegenden Körper innerhalb eines begrenzten Sichtfeldes an. Stilistisch dominiert die Aufnahmen damit eine bildkompositorisch geschlossene Ikonografie. Beide bewegte Tanzkörper erscheinen vor weißen Wänden aufgenommen. Die Aufnahmen arbeiten mit einer nur leicht angeschrägten Perspektive auf den Körper, einer leichten Untersicht, die interessanter Weise, wie Thomas Betz herausgestellt hat, dem Körper eine Ansicht konform zu »antik-abendländischen Skulpturen und Bildformen«16 verleiht. Vor allem aber wählt der fotografische Blick einen Betrachterstandpunkt, der eine unmittelbare Nähe zum bewegten Körper erzeugt und jegliche Verfremdung, die der Ikonografie einer geschlossenen Bewegungsgestalt widersprechen würde, vermeidet. Beide Fotografien lassen zudem vermuten, dass auch sie retuschiert sind, um die Sprunghöhe ihrer beiden tanzenden Körper visuell zu verstärken. Die Bodenmarkierung setzt mit ihrer eingezogenen horizontalen Linie in der unteren Bildhälfteeinen optischen Referenzpunkt, der den – vermeintlichen – Realitätscharakter des Sprungs täuschend anzeigt: Eine fotografische Konstruktion seiner Evidenz. Hugo Erfurth verstand sich als künstlerischer »Lichtbildner«17 und verband damit ein ästhetisches Bildverständnis, das von seiner Schülerin Charlotte Rudolph in ihrem kurzen Aufsatz »Das tänzerische Lichtbild« (1930) weitergeführt wie folgt umrissen wird: »Die tänzerische Bewegung soll rein und klar dargestellt werden. Der Hintergrund soll keine gezeichneten Landschaften, Kulissen und dergleichen zeigen, vielmehr soll eine glatte dunkle oder glatte helle Fläche den ›Raum‹ andeuten.«18 Erfurths Aufnahmen lassen sich zu einer Kunstfotografie rechnen, die ihre Sujets mit Hilfe einer vergleichsweise schwerfälligen Technik durch Variationen der Tiefenschärfe und mit einem geschickten Einsatz von Kunstlicht ins Bild setzten.19 Während Charlotte Rudolph und mit ihr die in den 1920er Jahren erfolgreiche Lotte Jacobi mit Kleinbildkameras arbeiteten, war Erfurth auf die geschickte Handhabung seiner Plattenkamera angewiesen.

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Betz, Thomas: »Bilder unsichtbarer Bewegung. Körper, Augenblick und Fotografie«, in: tanzdrama, Heft 49, München 1999, S. 6—9, hier S. 8. Vgl. Dewitz u. Schuller-Procopovici: Hugo Erfurth, sowie Genthe: The Book of the Dance. Rudolph, Charlotte: »Das tänzerische Lichtbild«, in:

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Tanzgemeinschaft (2:1), 1930, S. 4—6. Zitiert nach: Kuhlmann, Christiane (Hg.): Charlotte Rudolph: Tanzfotografie 1924—1939, Göttingen: Steidl 2004, S. 85. Vgl. Erfurth, Hugo: »Schärfe und Unschärfe in der Photographie«, in: Deutscher Camera Almanach, Bd. 7, Berlin 1911, S. 47ff.

Beiden Bildern eignet eine geschickte Komposition, die gleichsam realitätsferne Wahrnehmungsmomente von Bewegungskräften zu Gestaltungsprinzipien von Tanzkörpern erhebt. Ellen Petz zeigt – kostümiert als Libelle – ein Bewegungsbild des tänzerisch Luftigen. Das Fotografische präsentiert ihren Körper in einem Bildausschnitt, der ihrer Gestalt ein Moment des Unwirklichen zuspielt, so als würde eine unerklärliche Kraft sie in die Lüfte tragen. Die Beine in einer angeschrägten Linienführung vom Körper wegstrebend, scheint ein Windzug diesen Körper emporzuheben. Impuls, Kraft und Zentrum der Bewegung sind außerhalb des Körpers zu vermuten und werden kompositorisch in einer Illusionserzeugung reiner Bewegtheit verdichtet. Das Licht umspielt ihren Körper und verstärkt mit einer geradezu wolkigen Zeichnung des Bildhintergrundes die luftige Anmutung dieses Bewegungsbildes. Die seitlich aufwärts gehobenen Arme umrahmen in gewölbtem Rund den leicht eingeschraubten Körper. Mary Wigmans Arme indessen scheinen vom Oberkörper wie von selbst nach oben geworfen zu sein, um sich in einer Gebärde der Kraft und des auf den Körper verweisenden Halbrundes zu versammeln. Die Beine in einer angedeuteten Hockposition nach oben abgewinkelt, ist es vor allem der von der Luft aufgeworfene Rock eines gleichsam tänzerisch unspezifischen Kostüms, der diesem Körper bildnerisch den Aspekt seiner Bewegungskraft zuspielt. Entgegen des Luftig-Ätherischen unterstreichen die dunklen Schlagschatten auf Körper und Gesicht eine gleichsam physisch manifeste Bewegungskraft. Beide Aufnahmen visualisieren bildkompositorisch das zentrale philosophische Projekt der aufbrechenden Tanzmoderne, nämlich das Wesen der tänzerischen Bewegung zu zeigen, das hier ins Bild gesetzt erscheint. Sie stehen somit neben den schriftlich entworfenen Ästhetiken des Tanzes als ihre ebenbürtigen visuellen Artikulationen. Das geschaffene Blickfenster der Fotografien in den Bewegungsverlauf präsentiert die tanzenden Körper in einer geradezu doppelt herausgehobenen Zeitgestalt: markiert ist der Umschlagpunkt der tänzerischen Sprungbewegung und mit ihr die transformatorische Kraft der Bewegung als manifestierte Körpergestalt. Herausgestellt erscheint ein Intensitätsmoment der Bewegung und des Sich-Bewegens, der die energetische Kraft des Tanzes als Körperbild präsentiert. Das Flüchtige der Tanzbewegung schält sich lichtbildnerisch als ästhetisches Bewegungspotenzial einer transformatorischen Kraft heraus. Das Phantasma der Anwesenheit – Bildwerdungen eines Nicht-Gewesenen Den Tanzfotografien liegen, wie zuvor ausgeführt wurde, genuine und dabei mehrfach geschichtete Inszenierungsprozesse zu Grunde, die – maßgeblich von den Fotografinnen und Fotografen produziert – ihr ästhetisches Verständnis vom Tanz widerspiegeln. Zwei inszenatorische oder besser choreografische Entscheidungen ragen in einer gegenseitigen Bedingtheit ineinander: in die Zeitlichkeit des Bewegungsverlaufes einen ›schlagenden‹ Zeitmoment zu legen, der einen charakterlichen Zug des Tanzes markiert. Entscheidend für den Erfolg des technischen wie ästhetischen Projekts der Tanzfotografie ist genau jener Schnitt in der Zeit: Erst ein gelungenes Licht-Fenster, eine schlaglichtartig eingetragene Zäsur in den Zeitenlauf gestaltet den Bewegungsverlauf zum Bild. Jene in den Bewegungsverlauf eingetragene zeitliche und ästhetische Zäsur verbildlicht das Gewesene, das ›so‹ tatsächlich unsichtbar geblieben wäre. Freigelegt wird jene optische Einstellung, aus der der tanzende Körper augenblickhaft sichtbar als Bild hervortreten kann.

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Methodologisch überblenden Fototechnik und ästhetische Blickführung damit im Grunde unser Bild vom Freien Neuen Tanz, denn sie lassen die Bilder der fotografierten Körper in einem doppelten Licht erscheinen. Was wir betrachten und wahrnehmen ist dem technischen Dispositiv der Fotografie und den angewandten ästhetischen Strategien, tanzende Körper als bildhafte Bewegungsgestalt abzulichten, ebenso geschuldet wie jenem Moment, deren Sichtbarmachung kein spezifischer Wahrnehmungsort zugeschrieben werden kann. Unser Blick auf ein tatsächlich Gewesenes ist von ästhetischen Signaturen eines Abwesenden imprägniert,20 dessen gewesene Anwesenheit wie in anderen Dispositionen des Tanzästhetischen ebenso der Vermittlung bedarf. Ja, die Tanzfotografien leihen tanzenden Körpern eine bildliche Präsenz, die aus einer arrangierten Verstellung ein ästhetisches Bild vom Tanz schafft und tradiert. Hubertus von Amelunxen gibt in dem letzten Band der umfangreichen Theorie der Fotografie (1980 —1995) zu bedenken, dass die Fotografie im »Verbund von Licht, Träger und Referenten« einer chronoskopischen Ordnung zugehört und somit Zeitordnungen schafft, in dem sie das Zeitliche sichtbar macht. Während eine Geschichtsschreibung von Tanz diese Fotografien des Tanzes in eine chronologische Topologie rücken kann, weisen die fotografischen Abbildungen vor allem in das »Bizarre des Mediums Fotografie, seine halluzinatorische Wirkung« zurück, die »falsch auf der Ebene der Wahrnehmung, wahr auf der Ebene der Zeit«21 ist. Das geschaffene Zeitenbild tanzender Körper im Fotografischen zu verstehen, umreisst damit eine der tanzwissenschaftlichen Herausforderungen und Aufgaben. Die frühe Tanzfotografie der zehner Jahre schält eine Sichtbarkeit aus den Tiefen des Unsichtbaren heraus, deren Körperbilder die Strategien ihrer Sichtbarmachung in den Hintergrund treten lassen. Die Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, in die die mediale Disposition der Tanzfotografie eingebettet ist, arbeitet hier an der Verwirklichung einer Bildidee des Tanzes als Bewegungskraft, mit der die körperliche Materialität in ihrer Vergänglichkeit abgeblendet zum dauerhaften Bewegungsbild transzendiert. Das neue Bildmedium der Fotografie präsentiert die physische, sich augenblicklich entladende Sprungkraft sich bewegender Körper als Körperbild, das nirgend anders zu betrachten ist, als in ihrem Medium. Bringt das Wissen um die mediale Disposition des Fotografischen und das Wissen um die spezifischen ästhetischen Signaturen ihrer Körperbilder damit nicht die historiografische Option von Tanzfotografie in Gefahr, als Quelle im Sinne eines Dokuments fungieren zu können? Vergleichbar mit einer diskursanalytischen Methode versprechen bildanalytische Zugänge, ein Wissen über den Tanz in seinen ästhetischen und kulturellen Formen und Bedeutungen zu gewinnen. Denn als realitätsdurchwobene Dokumente des Ästhetischen verdeutlichen gerade die Strategien der Entwirklichung das ästhetische Potenzial. Und so ließe sich mit kritischem Gewinn auch abschließend mit Peter Geimer und Bruno Latour über den Wert der Tanzfotografie sagen: »Das Vermittelnde, das Indirekte und Gestaltende ist kein Defizit der Repräsentation, sondern eine ihrer positiven Bedingungen. [...] je mehr Vermittlung, desto besser das Begreifen der Realität.‹«22

Zu einer Theorie der Abwesenheit im (zeitgenössischen) Tanz, vgl. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes; William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006, besonders S. 115—134.

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von Amelunxen, Hubertus und Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie IV. 1980—1995, München: Schirmer Mosel 2000, S. 20. Geimer: Theorien der Fotografie, S. 207; Zitat im Zitat: Bruno Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin: Merve 2002.

EIKE WITTROCK FORMLOSE DOKUMENTATION REVISION VON HUGO ERFURTHS FOTOGRAFIE DES GÖTZENDIENSTS VON MARY WIGMAN

Hugo Erfurths Fotografie von Mary Wigman im Götzendienst ist eine Ikone der Tanzfotografie der Moderne. Sie gehört heute zu den am Häufigsten gezeigten Fotografien von Wigman und findet sich in zahlreichen Ausstellungen und Publikationen. Laut Renate Rätz von der Akademie der Künste, Berlin, ist diese Fotografie (neben dem Hexentanz) das am meisten angefragte Motiv für Ausstellungen aus dem Mary Wigman Archiv, das in den letzten Jahren u.a. im Centre Pompidou Paris, im Sprengel Museum Hannover und im Deutschen Hygiene-Museum Dresden in Tanzausstellungen gezeigt wurde.01 Ihre ikonografische Stellung hat diese Fotografie jedoch erst in jüngerer Zeit erhalten – nur mit großer Latenz ist sie zu einem prägenden Bild des Modernen Tanzes geworden, das nun auch losgelöst von der spezifischen Choreografie metonymisch für einen ästhetischen Strang der Moderne einstehen kann.02 Eine Revision der verschiedenen Stadien und Kontexte, durch die diese Fotografie gewandert ist, gibt Aufschluss über die Bedeutungsverschiebung dieser Aufnahme. Revision meint dabei ganz im Wortsinne die erneute Betrachtung – Re-Vision – einer einzelnen Fotografie und ihrer Verwendung zu unterschiedlichen Zeiten. Welche Blicke wurden auf diese Aufnahme geworfen? Welche Perspektiven produzierte sie? Retrospektiv lassen sich an dieser einen Fotografie eine Reihe von unterschiedlichen Fragen zur Materialität der Dokumentation von

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Performances aufwerfen. Zur Debatte steht dabei der dokumentarische Status der Fotografie, der immer wieder in Frage gestellt wurde, wie aber auch die Fotogenität des (modernen) Tanzes. Daher muss in diesem Zusammenhang auch die Dichotomie zwischen der flüchtigen Kunstform Tanz und dem stillstellenden Medium Fotografie, wie sie besonders den Diskurs der Moderne beherrscht, in Revision genommen werden. Wie lässt sich der Moderne Tanz durch seine Fotografien (neu) betrachten? Hugo Erfurths Fotografie von Mary Wigman in Götzendienst (1917) Die bekannteste Erscheinungsform dieser Fotografie ist die SilbergelatinePostkarte aus dem Mary Wigman-Archiv der Akademie der Künste Berlin, die, im Verlag Hans Dursthoff Berlin erschienen, mit Mary Wigman »Götzendienst.« untertitelt und auf 1917 datiert ist.03 [→ABB. 01] Die Fotografie fixiert Wigman in einer Drehung. Der Bewegungsschwung ist in den Bastfäden des Kostüms deutlich sichtbar und die seitlich leicht abgewinkelten Arme betonen die Fliehkraft. Wigmans Beine sind mitten im Schritt gehalten, der eine Fuß berührt mit dem Ballen den Boden, der andere ist angezogen. Die Lichtführung hebt den mitschwingenden, den Oberkörper umhüllenden Bast hervor. Beine, Arme und Kopf sind schwarz kostümiert und Gesichtszüge wie auch Körperdetails verlieren sich im Schatten. Wigmans Körper verschwindet in der fotografischen Aufnahme, er ist nur schemenhaft sichtbar, als Träger oder Motor einer Drehung, die in den Wellen des fadenhaften Gewands fotografisch festgehalten ist. Die Bastfäden ballen sich an einigen Stellen zu Wirbeln und werden in der Oberfläche der Fotografie zu amorphen Flecken, verwischten Spuren, die das Licht in der empfindlichen Oberfläche des fotografischen Materials hinterlassen hat. Wigmans bewegter Körper, die mit- und nachschwingenden Fäden des Kostüms wie auch die fotografischen Unschärfeflächen verbinden sich zum Bild einer ekstatischen Drehbewegung. Körper, Tanz und die Unschärfe-Elemente der Fotografie lassen sich dabei nicht unterschiedlichen Ebenen der Darstellung zuordnen, sondern schaffen im Zusammenspiel ein einziges Bild von Bewegung. Das Solo Götzendienst gehört zum Zyklus der Ekstatischen Tänze, die Wigman 1917 zum ersten Mal in Zürich und seitdem immer wieder in verschiedenen Zusammenstellungen in Konzertprogrammen zeigte. Es steht exemplarisch für einen frühen Werkkorpus von Wigman, wie aber auch für ein Interesse des Modernen Tanzes an Dreh- und Derwischtänzen.04 Für den Tanzkritiker Fritz Böhme, der die Entwicklung des Modernen Tanzes eng begleitet hat,05 läutet dieses Solo eine neue Epoche ein, in der Tanz zu einer räumlichen Bewegungsgestaltung wird. Götzendienst stellt für ihn die »Geburt des neues Tanzes« dar, da sich in diesem Solo nicht nur die »Frage Musik und Tanz neu gelöst« habe, sondern die Bewegung »Gebärde aus01 02

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Email an den Verfasser vom 17.09.2014. Sabine Huschka verwendet die Fotografie in ihrer Monografie zum Modernen Tanz als Illustration von Wigmans Dreh-Choreografien ohne dabei weder auf das konkrete Solo Götzendienst noch auf die Ästhetik von Erfurths Fotografie einzugehen. Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, 2. Aufl., S. 184. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mary Wigman Nr. 264. Vgl. auch Bodo von Dewitz u. Karin Schuller-Procopovici: Hugo Erfurth 1874—1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, Köln 1992, Kat. 421, S. 454 und 538. Ich habe mich bereits an anderer Stelle

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mit dieser Fotografie auseinandergesetzt, vgl. »Kritische Zustände. Ekstase-Darstellungen in Choreografien von Mary Wigman, Yasmeen Godder und Jeremy Wade« in: Kritische Berichte 4/2010, S. 17—27. Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 246—274. Zu Fritz Böhmes Arbeit als Tanzkritiker und über sein Engagement für Volkstanz während der NS-Zeit vgl. Laure Guilbert: »Fritz Böhme (1881—1952). Archeology of an ideologue«, in: Dance Discourses. Keywords in dance research, hg. v. Susanne Franco u. Marina Nordera, London/New York: Routledge 2007, S. 29—45.

[ABB. 01] Hugo Erfurth: Mary Wigman »Götzendienst.« 1917. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mary Wigman Nr. 264, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

strahlende Kraft« geworden sei.06 Die Transformation der energetischen Qualität der Ekstase in ein tänzerisches Bewegungs-Bild und die Erschließung von Bewegung als künstlerisches Material stellen für Böhme den Ursprungsmoment des Modernen Tanzes dar, in dem sich die weitere Entwicklung dieser Kunstform vorzeichnet: »Man hatte den Zugang zum Bewegungsreich selbst wieder gewonnen […]. Damit war eine ganz neue Kultivierung des Tänzerischen angebahnt, sowohl inhaltlich als auch in der Form; sie ist in der Folgezeit bis heute beibehalten worden […].«07 Das frühe Wigman-Bild Die Fotografie des Götzendienst hat trotz der epochalen Bedeutung dieser Choreografie – folgt man Böhme in seiner Einschätzung – und obgleich ihrer wahrscheinlich breiten Zirkulation als Postkarte erst spät Einzug in die Mary Wigman- und Tanz-Historiografie gehalten. Publikationen aus der Zeit zeigen ein anderes Bild von Mary Wigman – zumindest wenn man die Auswahl von Fotografien betrachtet, die in Tanzbüchern abgedruckt ist. Sei es in großen Publikationen wie Hans Brandenburgs Der Moderne Tanz, das in mehreren Auflagen zwischen 1912 und 1921 erschienen ist, späteren Veröffentlichungen wie Der künstlerische Tanz unserer Zeit (1928) oder Monografien zu 06

Fritz Böhme: Tanzkunst, Dessau : Dünnhaupt 1926, S. 145—146.

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Ebd., S. 146.

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[ABB. 02] Hanns Holdt: Labanschule: Mary Wiegmann In: Hans Brandenburg, Der Moderne Tanz, 2. Auflage, München: Georg Müller 1917, S. 79.

[ABB. 03] Joh. Adam Meisenbach: Labanschule: Mary Wiegmann In: Hans Brandenburg, Der Moderne Tanz, 2. Auflage, München: Georg Müller 1917, S. 82.

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Mary Wigman, wie das Mary-Wigman-Werk von Rudolf Bach (1933): sie alle bevorzugen eine Auswahl von Fotografien (von Wigman wie auch von anderen Tänzerinnen), die sich durch klare Form und deutliche Linien auszeichnen. Brandenburgs Der Moderne Tanz ist dabei die bedeutendste Publikation von Tanzfotografien der zehner und zwanziger Jahre. Nach einem umfangreichen Textteil, der die Protagonistinnen des Modernen Tanzes vorstellt, folgt ein großer Abbildungsteil, in dem Fotografien der erwähnten Künstlerinnen und Künstler abgedruckt sind. Die Anzahl und Auswahl der Fotografien variiert dabei leicht in den drei Auflagen, wobei die zweite von 1917 mit 180 Fotografien die umfangreichste Sammlung von Tanzbildern der 1910er und 1920er Jahre darstellt. Dort erscheint Wigman – bzw. Wiegmann wie sie zu dieser Zeit noch heißt – zum ersten Mal, als Schülerin der Labanschule.08 Fotografien von Hanns Holdt und Johann Adam Meisenbach zeigen sie in expressionistischen Posen am Strand, in Sprüngen und mit weit ausladenden Körpergesten. [→ABB. 02+03] Im Vergleich zu den anderen Fotografien von Wigman, wie jenen in Brandenburgs Modernem Tanz, ist Erfurths Aufnahme vom Götzendienst amorph. Amorph meint hier nicht nur ungeformt, sondern auch formlos im Sinne Georges Batailles. Im Kritischen Wörterbuch der Documents, auf die ich später noch zurückkomme, bestimmt er das Formlose, informe, als Werkzeug der Deklassierung, eine Herausforderung an die Vorstellung, dass jedes Ding seine (bestimmte) Form haben müsse, wie auch überhaupt die Herausforderung an formale Ähnlichkeiten und Identitäten.09 Wigmans Körperform wird in dieser Fotografie zu einer grotesken: Die Kontur ihrer Gestalt verschwimmt und löst sich im Stoff-Schwung des Kostüms auf, in den unscharfen Wirbeln des Bastrocks und den diffusen Flächen, in die die Fotografie an unterschiedlichen Stellen ausfranst. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der fotografischen Verfahren in den zehner Jahren, besonders was die Beleuchtung betrifft, herrschen in Der Moderne Tanz statische Studio-Aufnahmen von posierenden Tänzerinnen und Sprünge in der freien Natur vor. Die Fotografien sind klar – Konturen sind deutlich erkennbar, Gestalt und Körperform prägnant gezeichnet – und zeigen den Modernen Tanz als Formensprache, als (imitierbares) Gestenrepertoire und neues Körperbild, nicht als Bewegungsrausch oder Erfahrungsraum.10 Die Fotografien von Wigman, für die sich Hans Brandenburg (oder sein Verlag) entschieden haben, zeigen einen Wunsch nach deutlichen Formen, das Bestreben nach ›straighten‹11 Dokumenten. Obwohl Fotografie bereits in den 1910er Jahren häufig und wie in Brandenburgs Buch exzessiv zur Illustration von Publikationen eingesetzt wird, lehnen Autoren dieser Zeit dieses Medium als Dokumentationsmittel jedoch in der theoretischen Beschreibung kategorisch ab. Brandenburg stimmt mit Kollegen wie Frank Thiess, Ernst Schur und Ernst Blass über den dokumentarischen Wert der Tanzfotografie überein, wenn er schreibt: 08

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Wigman gab ihr Bühnendebüt 1914, ab 1913 nahm sie Kurse bei Rudolf Laban auf dem Monte Verità, und erscheint daher folglich nicht in der Erstauflage von Brandenburgs Buch. In der zweiten Auflage ist sie auf 11 Fotografien zu sehen, in der dritten Auflage auf 17 Fotografien. Georges Batailles: »Formlos«, in: Kritisches Wörterbuch, hg. v. Rainer Maria Kiesow u. Henning Schmidgen, Berlin: Merve 2005, S. 44f. In der dritten und letzten Ausgabe von Brandenburgs Der Moderne Tanz dominieren immer noch die klar gezeichneten Fotografien, es werden aber nun auch experimentellere Abbildungen einbezogen. Statt der sta-

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tischen Studio-Aufnahme in Pose aus Hexentanz I ist in der dritten Ausgabe Erfurths defigurierende Bewegungsaufnahme (ca. 1921) abgebildet, wie auch zwei (anonyme) »Kinematographien«, Doppelbelichtungen, von Wigman in Bewegung. Vgl. Hans Brandenburg: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller S. 78 (1917) mit S. 79 (1921) sowie S. 82-83 (1921). Straight Photography, bzw. Reine Fotografie ist der historische Gegenbegriff zur Künstlerischen Fotografie. Hans Brandenburg: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller 1917, 2. vermehrte Auflage, S. 16.

[ABB. 04] »Côte d’ivoire – Arrivee d’un sorcier masqué, au crépuscule, dans un village Yafoura, des hommes porteurs de lances et de torches précèdent le danseur en bondissant et en criant et forcent les femmes et les enfants a se réfugier dans les huttes. Photo Wide World (Expédition Seabrook)« Michel Leiris, »L’œil de l’ethnographe (A propos de la Mission Dakar-Djibouti)«, in: Documents 7 (1930), S. 404—414, hier S. 408.

»Man hat gesagt, daß photographische Aufnahmen moderner Tänzer und Tänzerinnen meist schöner seien als ihre Tänze selbst, weil ihnen der Einzelmoment gelänge und das Ganze nicht. In Wirklichkeit aber eignen sich die guten modernen Tanzleistungen schlecht zu photographischen Aufnahmen, weil sie im Gegenteil schön im Ganzen ihrer Bewegungsform und oft in keinem ihrer Einzelaugenblicke sind […].«12 Es ist dabei gerade die medienspezifische Stillstellung der Bewegung, aufgrund derer Brandenburg der Fotografie jegliche Adäquatheit abspricht, Modernen Tanz darzustellen.13 Das Ballett hingegen eigne sich als Kunst der Pose besser für die Fotografie. Fotografische Aufnahmen der Ballets Russes, so Brandenburg, seien dabei oft schöner als die Aufführung selbst.14 Die Kritik der Theoretiker des Modernen Tanzes ignoriert dabei – ob bewusst oder unbewusst – jedoch genau jenes Potenzial, das von den Protagonisten der künstlerischen Fotografie in ihrem Medium neu entdeckt wurde: die Möglichkeit Fotografie nicht nur als Abbild der Wirklichkeit, sondern auch als Abbild der Wahrnehmung zu begreifen – eine Wendung zur ›Empfindung‹, wie sie der Moderne Tanz mit der künstlerischen Fotografie teilt. Theoretiker und Praktiker der künstlerischen Fotografie bezogen sich auf Erkenntnisse der Sinnesphysiologie, um Fotografie als Bild der Wahrnehmung zu stärken.15 Der künstlerische Einsatz von Unschärfe wird von den Künstlerinnen und Künstlern der Kunstfotografie

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dabei als besonders geeignet beschrieben, visuelle Wahrnehmung abzubilden; Unschärfe bildet das Sehen adäquater – da verschwommener – ab, als die ›klare‹ Zeichnung. Die Darstellung von Bewegung bildet einen Testfall für diese ästhetischen Experimente. Hugo Erfurth verteidigt in seinem Aufsatz »Schärfe und Unschärfe in der Photographie« den Einsatz von Unschärfe zur fotografischen Wiedergabe einer Wahrnehmung insbesondere an der Fotografie von Bewegung: »Handelt es sich […] um Wiedergabe von Bewegungen, so sind solche doch nicht die einzigen Fälle, in denen eine gewisse Unschärfe erwünscht ist.«16 Erfurths Fotografie von Wigman im Götzendienst ist so in kunstfotografischer Perspektive ein Musterbeispiel der Darstellung von Bewegung: die verwischten Flächen und wirbelhaften Flecken, die fotografisch den Bewegungsschwung aufzeichnen, geben den rauschhaften Bewegungseindruck dieser Choreografie wieder. Retrospektiv lässt sich spekulieren, warum Fotografien wie jene von Wigmans Götzendienst, die stark mit Unschärfe in der fotografischen Gestaltung arbeiten, in historischen Tanzpublikationen nicht häufiger verwendet wurden. Die Arbeit an Formen, ihr Zerreißen wie auch die Öffnung zum Formlosen, die zumindest für Theoretiker wie Fritz Böhme zentraler Aspekt des Modernen Tanz waren, trat im Bildprogramm der Publikationen dieser Zeit in den Hintergrund. Dokumentarische Fotografie, die auch die Darstellung von Kunstwerken beinhaltet, bedeutet für Erfurth Klarheit und gestochene Schärfe: »Die Fabriken konstruieren Objektive, die eine gestochene Schärfe ergeben, die den Punkt als Punkt und die Gerade als Gerade wiederzugeben imstande sind. Sie tut gut daran. Die Photographie soll Dokumente liefern, Urkunden unserer Umwelt, klar und unverfälscht. Wir wollen bei vielen Aufnahmen weder auf die Schärfe, noch auf die Richtigkeit verzichten, ob es sich nun handelt um Bilder vom Sternenhimmel oder um mikrophotographische Wiedergabe der Tierwelt eines Wassertropfens, um Darstellung von Verbrechern und Verbrechen oder um Auferweckung längst verklungener Menschen und Völker in ihren Denkmälern.«17 Erhellend ist es für die Frage nach dem dokumentarischen Gehalt, Erfurths Fotografie von Wigman im Götzendienst weniger mit der zu dieser Zeit bereits etablierten künstlerischen Fotografie zu lesen, als – vorausgreifend – diese in den Kontext einer anderen, späteren Kunstpraxis zu stellen, die im jungen Medium Fotografie neue Formen des Wirklichkeitsbezugs erarbeitet hat. Erfurths Götzendienst-Fotografie nimmt hinsichtlich der Defiguration des Körpers und den amorphen Bildflächen Aspekte der surrealistischen Ästhetik vorweg, spezifischer des »ethnografischen Surrealismus« der Zeitschrift Documents aus den späten zwanziger Jahren, also gut zehn Jahre nach ihrer Aufnahme.18 Das Bildprogramm dieser zwischen Die Gegenüberstellung von Tanz als flüchtiger Kunst und Fotografie als stillstellendem Medium beherrscht auch heute noch viele Betrachtungen von Tanzfotografie. Vgl. z.B. William A. Ewing: The Fugitive Gesture. Masterpieces of Dance Photography, London: Thames and Hudson 1994, S. 27: »Dance is the movement of bodies through space and time. Dance is fluidity and continuity. […] Photography imprisons in two dimensions. Photography flattens and shrinks.« Ebd. Bernd Busch und Irene Albers: »Fotografie/fotografisch«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart: Metzler 2001, S. 494—550, hier S. 511—515. Hugo Erfurth: »Schärfe und Unschärfe in der Photographie«, in: Deutscher Kamera-Almanach. Ein Jahr-

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buch für die Fotografie unserer Zeit, Bd. 7 (1911), Berlin S. 47—52, hier S. 49. Ebd., S. 48. Der Begriff »ethnographic surrealism« wurde von Clifford James geprägt, bezieht sich aber nicht auf die ›klassische‹ Surrealisten-Gruppe um André Breton, sondern fasst den Begriff in einem erweiterten Sinne, »to circumscribe an esthetic that values fragments, curious collections, unexpected juxtapositions – that works to provoke the manifestation of extraordinary realities drawn from the domains of the erotic, the exotic, and the unconscious.« Vgl. James Clifford: »On Ethnographic Surrealism«, in: Comparative Studies in Society and History, Vol. 23, Nr. 4 (Okt., 1981), S. 539—564, hier S. 540.

[ABB. 05] Fritz Giese: Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung, München: Delphin 1927, ABB. 69/70.

1929 und 1930 von Georges Bataille und Carl Einstein herausgegebenen Kunstzeitschrift legt ein Verständnis des Dokumentarischen aus, das jenseits einer direkten Wiedergabe der Wirklichkeit liegt, bzw. den Blick auf diese neu ausrichtet. Der Untertitel der Zeitschrift – Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie [Variétés ersetzt ab der 4. Ausgabe Doctrines] – weist dabei bereits auf die De-Stabilisierung klassischer Genres und ein Infragestellen normativer Ordnungen von Kultur hin. ›Surrealistische‹ Fotografien mit grotesk verzerrten Perspektiven menschlicher Körper und amorphen, anti-ästhetischen Ausschnitten werden mit zeitgenössischer Malerei (Picasso, Dalí, Miró) und fotografischen Aufnahmen nicht-westlicher Kunstpraktiken (Tänze, Skulpturen, Zeichnungen) kontrastiert. Die kritische Bildpraxis der Documents arbeitet sich dabei an einer Überschreitung von Formen ab – »[d]as Formlose geltend zu machen bedeutet nicht, Nicht-Formen zu verlangen, sondern vielmehr, sich auf eine Arbeit der Formen einzulassen«, wie Georges Didi-Huberman in seiner Studie zu dieser Zeitschrift formuliert hat.19 Diese Arbeit der Form spielt sich dabei sowohl in der Gegenüberstellung und suggestiven Reihung dieser für die damalige Zeit radikal unterschiedlichen Bildkorpora ab, setzt aber auch auf der Ebene des Einzelbilds an: in Überschreitungen der ›menschlichen Figur‹, in Bewegung gesetzten Formen, Ent- und Verstellungen, Hybriden und Monstern, Müll und Glamour-Großaufnahmen. Erfurths Fotografie des Götzendiensts erinnert darin nicht nur in ihrer Tendenz zvur Formlosigkeit an Fotografien wie Jacques-André Boiffards Großaufnahmen eines Mundes oder Zehs in den Documents, sondern Wig-

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mans Tanz bezieht sich in Kostüm und Bewegung auf nicht-europäische Kunstpraktiken, wie sie ebenfalls in den Documents immer wieder eingestreut werden: zwischen einem Aufsatz über die neuesten Gemälde von Joan Miró und hellenistischer Magie steht z.B. ein Vorbericht der anstehenden Dakar-Djibouti-Expedition von Michel Leiris, der mit Fotografien einer Elfenbeinküsten-Expedition aus dem Reisemagazin Wide World illustriert ist. [→ABB. 05] Auch hier wird eine für den westeuropäischen Leser der Zeitschrift defigurierte Körperlichkeit fotografisch festgehalten, die in fotografischer Technik wie Bildinhalt eine Verwandtschaft mit Erfurths WigmanFotografie aufweist – eine Verwandtschaft oder Ähnlichkeit, die gerade in der fotografischen Aufnahme und dem darin implizierten Blick eines westeuropäischen (weißen) Künstlers und/oder Forschers besteht.20 Dass dieser exotistische Bezug dieses Strangs der defigurierenden Formexperimente des Modernen Tanzes auch Wigmans Zeitgenossen nicht entgangen ist, zeigt die Bildunterschrift zu Erfurths Fotografie des Götzendiensts in Fritz Gieses Körperseele (1924), der einzigen zeitgenössischen Buch-Publikation dieser Fotografie: »Maskentänze Mary Wigmans. Beispiele exotisch beeinflußter Tänze, die gänzlich auf ›Anmut‹ und ›das Gesicht‹ verzichten. Zwei Bilder Mary Wigmans. Das zweite mit dem unbeweglichen Phantomgebilde. Kulthaft. Reine Innerlichkeit.«21 Die ›Geburt des neues Tanzes‹ und die Wiedergewinnung des ›Zugangs zum Bewegungsreich selbst‹ (Böhme) als energetische Qualität, die vom Persönlichen (›Gesicht‹) und klassischer Form (›Anmut‹) absieht, basiert auf einem tanzästhetischen Exotismus und seiner Fiktion des Archaischen, wie sie von Fotografien wie jener von Erfurth unterstützt wurde.22 Erfurths Fotografie soll hier nicht stilistisch einer bestimmten Epoche zugeschrieben werden, und besonders nicht als Vorreiterin des Surrealismus postuliert werden. Vielmehr eröffnet meine revisionistische Bezugnahme sowohl zur Ästhetik der Kunstfotografie wie auch zum (ethnografischen) Surrealismus Wahrnehmungsmodelle und Darstellungsweisen von Fotografie, die Wirklichkeitsbezug ohne Klarheit oder Deutlichkeit herstellen, bzw. eben surrealistisch und nicht realistisch funktionieren. Die Fotografie des Götzendiensts stellt so auch einen Extremfall der Darstellung dar, der die Frage nach der bildlichen Ähnlichkeit mit den Mitteln der fotografischen Technik herausfordert: Was konnte die Fotografie von diesem ekstatischen Tanz aufzeichnen? 19

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Georges Didi-Huberman: Formlose Ähnlichkeit oder die fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010, S. 34. Batailles Transgressionsbegriff ist darüberhinaus eng mit Ekstase verknüpft, was eine weitere Verknüpfung zu Wigmans Solo aus den Ekstatischen Tänzen schlägt. Zum Verhältnis von Tanz und Ekstase vgl. auch Eike Wittrock: »Übergänge. Moderne Tanz-Ekstasen zwischen Form und Erfahrung«, in: Ekstase (= Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film Band 6), hg. v. Thomas Koebner, München: Edition Text und Kritik 2012, S. 116—136. Die Gegenüberstellung von westeuropäischer, exotistischer Avantgarde-Kunst, dem sogenannten Primitivismus und ihren ›Vorbildern‹ unter dem Begriff der Ähnlichkeit wurde von James Clifford in Bezug auf die epochale New Yorker Ausstellung von Rubin und Varnedoe stark kritisiert, da im Arrangement und der Bezeichnungspraxis die westeuropäische Kunstperspektive nicht in Frage gestellt wurde. Vgl. James Clifford: »Histories of the Tribal and the Modern«, in: ders., The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge/London: Harvard University Press 1988, S. 189—214.

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Fritz Giese: Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung, München: Delphin 1927, S. 88. Die poetische Nacherzählung der Choreografie des Hexentanzes von einer Freundin und Kollegin Wigmans ist ein weiterer Beleg für den Exotismus dieser Choreografie: »Dann ist plötzlich der schwarzverhangene Raum verschwunden – da ist mitten im Urwald, böse giftgrün, ein strohfahles Wesen, hockt da, blutbeschmiertes Maul, oben am Kopf die Mütze hat ein dunkles Loch, man sieht in den tückisch leeren Kopf hinein – der Kopf rasselt, rasselt, böse – er wird den Mond fressen, huh, den giftgelben Mond, aus seinem Bauch werden Schlangen kriechen, giftgelb, rot, grün, in dem Kopf schwirren Insekten, schauervoll giftige. Blutsauger – der Strohmantel schleift zischend über den modernen Urwaldsumpf, huh, die bösen Schlammtiere schsch, schsch-huh, die große Trommel – bumm – Stille – bumm – der große Geist, größer als der wütende Urwaldpriester, erfaßt ihn im Kreis, er muß drehen, immer drehen, bis er zusammenstürzt in wütendem Sumpf und Dunkel.« Berthe Trümpy zitiert nach Hedwig Müller, Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin, Weinheim 1986, S. 62.

[ABB. 06] Susan Manning: Ecstasy and the Demon. The Dances of Mary Wigman, zweite, überarbeitete Ausgabe, Minneapolis: University of Minnesota Press 2006, S. 66f.

Revision des Wigman-Bildes Für die Frage, was Fotografie als sowohl künstlerisches wie auch dokumentarisches Medium von einem ekstatischen Tanz und seiner Wahrnehmung aufzeichnen kann, hat sich die Tanzforschung wenig interessiert.23 Als Indiz eines Umdenkens möchte ich hier die verspätete Popularität von Erfurths Fotografie von Wigman im Götzendienst geltend machen, die seit den 1990er Jahren häufig in Ausstellungen und Büchern eingesetzt wird. Diese Fotografie wird paradigmatisch für ein tanzwissenschaftliches Denken, das sich von einem Verständnis von Fotografie als bloßer Illustration löst und auch solche Objekte formloser Dokumentation in die Analysen miteinbezieht. Prominent abgebildet und an zentraler Stelle der Argumentation wird sie 1993 in Susan Mannings Wigman-Studie erwähnt, die Wigman und ihr Werk erstmals kritisch als Œuvre zwischen nationalsozialistischer Ästhetik und Vorreiterin des ›reinen‹ Modernen Tanzes darstellt. Als zentralen ästhetischen Begriff entwickelt Manning dort am Beispiel der Ekstatischen Tänze den Terminus ›Gestalt im Raum‹, um die frühen Solo-Arbeiten Wigmans zu beschreiben. Manning zieht Erfurths Aufnahme des Götzendiensts heran, um Wigmans unpersönliche, energetische Körperkonfiguration zu beschreiben. Erst das fotografische Dokument produziert im Zusammenspiel mit dem Text Evidenz und macht die theoretische Kategorie der ›Gestalt im Raum‹ anschaulich: »Among the four solos that constitute Ecstatic Dances, the surviving evidence for Idolatry most vividly demonstrates the

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principle of the Gestalt im Raum.«24 Der Darstellung von Bewegung durch Unschärfe wird hier prominent dokumentarischer Status zugeschrieben, ›lebhaft‹ stellt diese Fotografie einen zentralen Aspekt von Wigmans früher Ästhetik vor Augen. [→ABB. 06] Eine radikale historiografische und ästhetische Revision der Fotografie von Mary Wigman im Götzendienst fordert jedoch auch heraus, das Verhältnis von Fotografie und Tanz noch einmal neu zu denken. Statt wie in der historischen Tanzforschung vorwiegend stets die Fotografie daran zu messen, ob sie dem flüchtigen Tanz als Aufzeichnungsmedium angemessen sei, möchte ich die Perspektive umkehren und fragen, was den Tanz – und hier eben insbesondere Mary Wigmans Götzendienst – so besonders fotogen macht? In welcher Weise kommt die Ästhetik dieser Choreografie der Fotografie entgegen? Diese Revision ermöglicht, die strikte Opposition von Tanz und Fotografie, wie sie die Tanzbücher des beginnenden 20. Jahrhunderts durchzieht, zu unterlaufen und die Perspektive auf Tanzfotografie umzukehren: welche Aspekte des Modernen Tanz sind – entgegen der Annahme, dass die konstitutive Flüchtigkeit dieser Kunst der Fotografie essenziell widerspricht – selbst fotografisch? Carrie Lambert hat sich mit einer ähnlichen Fragestellung den Fotografien von Yvonne Rainers Trio A genähert und das ›fotografisch Unbewußte‹ dieser paradigmatischen Arbeit des Postmodern Dance aufgedeckt.25 Rainers radikale Choreografie eines absoluten Bewegungskontinuums ist der Versuch einer einzigen Phrase ohne Akzente oder energetische Kontraste. Mit Trio A setzt sich Rainer explizit gegen das ›Fotografische‹ des (amerikanischen) Modern Dance Graham’scher Prägung ab,26 dennoch erscheint ihre eigene Choreografie – wie Lambert herausgearbeitet hat – ebenfalls überraschend fotogen. Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelt Lambert die These, dass Trio A auf zeichentheoretischer Ebene wie eine Fotografie funktioniert: Trio A »proposes a mode of meaning for dance that corresponds closely to that of the photograph – a mode in which the relation between signifier and signified is at once material and semiotic.«27 Lambert lehnt sich dabei an Rosalind Krauss’ Wiederentdeckung der Peirce’schen Kategorie des Index an, den diese als das Fotografische beschrieben hatte. Die zeichentheoretische Klassifizierung in Ikon, Index und Symbol wurde vom US-amerikanischen Logiker Charles Sanders Peirce Ende des 19. Jahrhunderts entworfen, erlangte aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Prominenz. Peirce entwickelte eine allgemeine Zeichenlehre, die unterschiedliche Funktionsweisen von Zeichen beschreibt: das Ikon ist nachahmend, der Index zeigt durch eine physische Verknüpfung und das Symbol ist ein konventionalisiertes Zeichen.28 Peirce zieht in seiner Theorie an wenigen, aber prägnanten, Stellen seiner Bestimmung des Index (unter anderem) Fotografie als Beispiel heran, die dort dem Index wie dem Ikon zugeordnet wird: »Photographien, besonders Momentaufnahmen, 23

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Vgl. exemplarisch Gisela Barche und Claudia Jeschke: »Bewegungsrausch und Formbestreben«, in: Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Gunhild Oberzaucher-Schüller, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1992, S. 317—346. Susan Manning: Ecstasy and the Demon. The Dances of Mary Wigman, zweite, überarbeitete Ausgabe, Minneapolis: University of Minnesota Press 2006, S. 67. Carrie Lambert: »Moving Still: Mediating Yvonne Rainer’s Trio A«, in: October 89 (Sommer 1999), S. 87—112. Yvonne Rainer: »A Quasi Survey of Some ›Minimalist‹ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Acti-

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vity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A«, in: dies., A Woman Who... Essays, Interviews, Scripts, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999, S. 30—37. In Bezug auf Mary Wigman bemerkt Rainer, dass die Fotografien dieser Künstlerin mit den Beschreibungen ihrer Choreografien oft wenig Ähnlichkeit aufweisen, was die Beobachtung bekräftigt, dass das Wigman-Bild lange von den ›straighten‹ Fotografien geprägt war. Ebd. S. 31. Ebd., S. 105. Vgl. Charles S. Peirce, »Die Kunst des Räsonierens« (1893), in: ders., Semiotische Schriften Band 1, hg. und übersetzt v. Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main S. 191—201.

sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht diese von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der zweiten Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind.«29 Fototheorien wie jene von Rosalind Krauss oder auch Philippe Dubois haben auf dem Modell von Peirce aufbauend eine Funktionsweise von Fotografie beschrieben, die den Realitätscharakter der Fotografie aufrecht erhält, ohne diesen als mimetisch zu bestimmen. Denn bereits die ikonische Dimension der Fotografie bezieht sich auf ein Abbildverhältnis zum fotografierten Objekt, das – wie Peirces Beispiel der Momentfotografie zeigt – auch Aspekte abbilden kann, die dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Es ist dabei die besondere Leistung des Index-Modells, am »unhintergebahren Weltbezug fotografischer Bilder fest[zu]halten, ohne dass zugleich eine realistische Position bezogen werden muss.«30 Rosalind Krauss’ – nicht unumstrittene31 – Übertragung von Peirces Zeichentheorie auf eine generelle Beschreibung von Kunst in »Notes on the Index«, ihrer Analyse der US-amerikanischen Kunst der siebziger Jahre, setzt dabei implizit Fotografie mit dem Index gleich (und unterschlägt dabei zum Beispiel die sozialen Gebrauchsweisen von Fotografie). Am Beispiel einer Performance von Deborah Hay geht Krauss auch auf Tanz ein, und setzt ein (postmodernes) Verständnis gegenüber dem (vermeintlich) symbolhaften Modernen Tanz ab: »[O]nce movement is understood as something the body does not produce and is, instead, a circumstance that is registered on it (or, invisibly, within it), there is a fundamental alteration in the nature of the sign. Movement ceases to function symbolically, and takes on the character of an index. By index I mean that type of sign which arises as the physical manifestation of a cause, of which traces, imprints, and clues are examples.« 32 Für diese Revision des Modernen Tanzes durch seine Fotografien lässt sich daher spekulieren, ob sich diese Veränderung in der Zeichenbeziehung, ein Überschreiten des symbolhaften Verständnisses von Bewegung hin zu einem indexikalischen, im Modernen Tanz bereits schon in entgrenzenden Arbeiten wie Wigmans Götzendienst findet. Was Rosalind Krauss hier anhand des Postmodern Dance beschreibt, gilt so – bedingt – auch für den Modernen Tanz Wigmans, denn auch dort wird Bewegung als Material für den Tanz erschlossen.33 Der Moderne Tanz ist fotografisch (im Sinne Krauss’), da er Bewegung symbolisch wie materiell einsetzt. Jener Strang des Modernen Tanzes, wie ihn Götzendienst und die Ekstatischen Tänze Wigmans eröffnen, basiert auf der Spannung von Form und Erfahrung (Wigman: »Ohne Ekstase kein Tanz! Ohne Form kein Tanz!«34), was eine gewandelte zeichentheoretische Konzeption von Tanz ist: Tanz bedeutet nicht mehr etwas, produziert keine lesbaren Zeichen einer Narration, sondern verweist auf (und schafft so) Erfahrung. Wigmans Götzendienst setzt Bewegung nicht nur als Symbol (als Referenz spiritueller Praktiken) ein, sondern indiziert in Bewegung somatische Zustände (wie Ekstase). Fotografien wie Hugo Erfurths Aufnahme dieses Tanzes haben in historiografischer Latenz diesen zeichentheoretischen Bruch bewahrt, der vielleicht erst nach Trio A und den anderen formalen Experimenten des Postmodern Dance sichtbar (bzw. denkbar) wird, und das Fotografische des Modernen Tanzes aufgezeichnet. Erfurths Fotografie gibt dies wiederum indexikalisch wieder.35 So wie die Ausdrucksfunktion des sogenannten

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Ausdruckstanzes – zumindest dem eigenen Verständnis nach – indexikalisch operiert, da sie auf einer ›natürlichen‹ Korrespondenz zwischen (innerer) Empfindung und Bewegung beruht, hat die Fotografie diese Bewegung als verwischte Spur ›objektiv‹ aufgezeichnet: »It is the order of the natural world that imprints itself on the photographic emulsion and subsequently on the photographic print. This quality of transfer or trace gives the photograph its documentary status, its undeniable veracity.«36 Dieses Verständnis eines dokumentarischen Wirklichkeitsbezugs der Fotografie wurde – auch wenn von den fotografischen Theorien der Piktorialisten vorgeprägt – für die historiografische Tanzforschung erst im Nachklang der Fototheorien der 1970er Jahre, wie Krauss’ Wiederentdeckung des Peirce’schen Index, Roland Barthes’ Studien zur Fotografie aber auch der Wiederentdeckung der Surrealisten und der Documents, theoretisch fassbar. Die Unschärfe konnte zum epistemologischen Kern der Tanzfotografie aufsteigen, da sie zur einer Aussage über das Unverfügbare des Tanzes selbst geworden ist. Mit dieser theoretischen Wende wurde Tanzfotografie für die Historiografie des Tanzes als Dokument erschlossen, aber auch der Moderne Tanz komplexer als in der historischen Tanzforschung zwischen Bildlichkeit und Bewegung, zwischen Flüchtigkeit und Stasis begriffen. Erfurths Fotografie von Mary Wigman im Götzendienst ist ein Dokument nicht nur der Form- und Formlosigkeitsexperimente des Modernen Tanzes, sondern lässt sich fotoästhetisch zwischen der Unschärfe der Kunstfotografie und dem ethnografischen Surrealismus der Documents einordnen, woraus sich weniger stilistische Affinitäten als epistemologische Fragen ableiten. Sie dokumentiert nicht nur eine ästhetische Entgrenzung im Modernen Tanz, sondern auch eine Verunsicherung der Wahrnehmung und eine Veränderung der Zeichenrelation im Tanz, die von der Fotografie dieser Zeit nicht nur festgehalten, sondern vielmehr ästhetisch aufgeworfen wurde.

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Ebd., S. 193. Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg: Junius 2009, S. 24. Zu einer Kritik dieses Modells vgl. ebd., S. 25—31. Rosalind Krauss: »Notes on the Index: Seventies Art in America«, in: October 3 (Frühling 1977), S. 68—81, »Notes on the Index: Seventies Art in America. Part 2«, in: October 4 (Herbst 1977), S. 58—67, hier S. 59. Zur Schwierigkeit, wenn nicht sogar Fragwürdigkeit der epochalen Eingrenzungen Modern und Postmodern Dance, vgl. das Vorwort zur Neuauflage von Sally

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Banes: Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance, Middleton: Wesleyan 1987. Mary Wigman: »Tanz«, in: Rudolf Bach, Das Mary Wigman-Werk, Dresden: Carl Reissner 1933, S. 19—20, hier S. 19. Dass in der künstlerischen Fotografie der dokumentarische Effekt sich oft erst nach starker Bearbeitung der Abzüge durch die Fotografen einstellt, also das Indexikalische stark ästhetisiert wird, tut dem Indexikalischen paradoxerweise keinen Abbruch, sondern verstärkt seinen dokumentarischen Anspruch. Krauss: »Notes on the Index […] 2«, S. 59.

NICKY VAN BANNING ANGEHALTENE BEWEGUNG DIE TANZFOTOGRAFIEN DES FOTOSTUDIOS MERKELBACH Anfang 2013 initiierte das Stadtarchiv Amsterdam ein groß angelegtes Projekt rund um das umfangreiche Glasnegativarchiv des Fotostudios Merkelbach.01 Dieses renommierte Porträtatelier wurde 1913 auf der obersten Etage des Modehauses Hirsch & Cie am Leidseplein in Amsterdam eingerichtet, das bis zu seinem Tod von Jacob Merkelbach (1877 — 1942) und anschließend von seiner Tochter Mies geleitet wurde. 1969 wurde das Studio aufgelöst und Mies Merkelbach (1904 — 85) übergab den größten Teil des Archivs an das damalige Gemeindearchiv. Das Stadtarchiv Amsterdam nahm den hundertsten Geburtstag des Porträtateliers zum Anlass alle erhalten gebliebenen Glasnegative und Originalabzüge aus öffentlichen Sammlungen in den Niederlanden zu digitalisieren.02 Dieses überaus umfangreiche Bildmaterial – insgesamt beinahe 40.000 Fotografien – enthält etwa 400 nahezu unbekannte Tanzfotografien. Da der größte Teil von Merkelbachs Kundenkartei erhalten geblieben ist, konnten diese Fotos auf der Basis von Negativnummern mit den korrespondierenden Kundenkarten in Verbindung gebracht werden.03 Im Folgenden werden einige Beispiele aus diesem sehr besonderen und seltenen Korpus einer näheren kunsthistorischen Betrachtung unterzogen und die Ästhetik des Fotostudios Merkelbach der tanzwissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht. Amsterdam bildete zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit Den Haag das unbestrittene Tanzzentrum der Niederlande: Dort waren regelmäßig Auftritte diverser Künstler zu sehen und dort gründeten bedeutende Tanzpädagogen ihre Institute. Im Laufe der Jahre sollte Merkelbach verschiedene Repräsentanten des Neuen Tanzes vor die Kamera bekommen, wie auch Kabarett- und Variétékünstler und Laien. In den ersten zwanzig Jahren fertigte er in seinem Atelier einige hundert Aufnahmen von Tänzern an. Damit betrat Merkelbach unerforschtes Terrain, denn Tanzfotografie war ein neues Phänomen in den Niederlanden. In der spärlichen Literatur, die über niederländische Tanzfotografie erschienen ist, fehlt bisher der Name Merkelbachs.04 Das bisher unbekannte Material aus seinem Archiv von Glasnegativen wirft ein interessantes neues Licht auf den Tanz und die Atelierpraktiken des Fotografen in der Zeit bis 1935.

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Tanzfotografie Aufgrund der technischen Beschränkungen der Fotografie war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht möglich, Tanzaufführungen oder Proben am Ort des Geschehens aufzunehmen. Zwar tanzten die Repräsentantinnen des Neuen Tanzes gerne barfuß an der freien Luft, Merkelbach aber folgte ihnen nicht nach draußen.05 Er entschied sich für sein Atelier, in das durch dünne Gardinen gefiltertes Tageslicht fiel. Das ermöglichte eine diffuse Beleuchtung, benötigte aber auch so lange Belichtungszeiten, dass das Fotografieren von Bewegung ausgeschlossen war. Nur starke Studiolampen hätten dem entgegenwirken können, doch es sollte noch Jahre dauern, bis Merkelbach diese in seinem Atelier einsetzen sollte.06 Für die Tänzerinnen gab es also keine andere Möglichkeit, als sich in ein Tanzkostüm zu hüllen, eine Tanzpose einzunehmen und diese einige Zeit lang zu halten.07 Die technische Herausforderung wird in einigen skurrilen Aufnahmen der Tänzerin Johanna Wittrock (1895 — ?) deutlich, die 1919 zu instrumentellen Hilfsmitteln Zuflucht suchte. [→ABB. 01A] Auf dem Abzug war davon nichts mehr zu sehen. [→ABB. 01B] Es war nicht so sehr der Fotoapparat, der Bewegung einfror, wie man die fotografische Praxis oft beschreibt, sondern der Tänzer, der eine eingefrorene Haltung einnahm. Viele Tanzfotos aus dieser Zeit wirken statisch und entbehren der Dynamik und Spannung, die dem Tanz besonders dieser Zeit zugeschrieben wird. Die Suggestion von Bewegung ist noch am stärksten in einer Aufnahme der Tänzerin Liedie Blankenberg (1890 — ?).08 Sie balanciert auf ihrem Standbein, das rechte Bein in ›attitude‹ gehoben; Merkelbach hält genau den Moment im Bild fest, in dem sie die Arme in einer expressiven Gebärde ausstreckt und den Kopf in den Nacken wirft. [→ABB. 02] 01

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Dieser Beitrag ist eine Bearbeitung des gleichnamigen Kapitels »Geposeerde beweging. Dansfoto’s van Merkelbach« aus: van Veen, Anneke (Hg.): Fotostudio Merkelbach. Portretten 1913—1969, Amsterdam: Uitgiverij Komma 2013, S. 85—114. Der ursprüngliche Artikel beinhaltet 54 Abbildungen von Negativen, Originalabzügen und Reproduktionen aus zeitgenössischen Publikationen von Merkelbachs Tanzfotos. Mit Dank an Anneke van Veen und Erik Schmitz vom Stadtarchiv Amsterdam für ihre Unterstützung bei diesem Projekt. Außer denen des Stadtarchivs wurden ebenso Negative und Abzüge aus dem Rijksmuseum Amsterdam, den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leiden, den Sondersammlungen der Universität von Amsterdam (die Sammlung des ehemaligen Theaterinstituts), dem Jüdischen Historischen Museum und dem EYE Filminstitut (ehemals Filmmuseum) digitalisiert. Siehe www.redeenportret.nl. Diese öffentlich zugängliche Webseite ist am 4. April 2013 online gegangen; die vollständige Präsentation der Scans hat zum Ziel, durch crowdsourcing mehr Informationen über die einzelnen Fotos zu erhalten. In diesem Artikel werden die folgenden Abkürzungen für Verweise auf die Herkunft der Fotos benutzt: RIJKS (Rijksmuseum Amsterdam), SA A (Stadtarchiv Amsterdam), TIN (Universität von Amsterdam) und UBL (Universitätsbibliothek Leiden). Außer dem Namen und einer oder mehrerer Sitzungsnummern, inklusive der zugehörigen Formate und Jahreszahlen, birgt eine Kundenkarte manchmal auch zusätzliche Informationen die Porträtierten, Auftraggeber (im Fall von Nachbestellung) und Bezahlung betreffend. Rooseboom, Hans: »Dansfotografie in Nederland en daarbuiten, 1860—1948/Dance Photography in the Netherlands and Abroad, 1860—1948«, in: Dansfotografie in Nederland/Dance Photography in the Netherlands, hg. v. Ger van Leeuwen u. Maartje Wildeman, Amsterdam: International Theatre and Film Books 1998, S. 13—26. Sein Kollege Henri Berssenbrugge (1873—1959) tat dies wohl und hielt mit seiner Kamera Sprünge und andere Tanzbewegungen fest. Berssenbrugges früheste Tanzfotos scheinen genau wie die von Merkelbach

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aus dem Jahr 1914 zu stammen und in seinem Atelier entstanden zu sein, das sich in Rotterdam – ab Oktober 1916 in Den Haag – befand. Ab 1915 machte er Tanzfotos von u.a. Lili Green, Angèle Sydow, Marion Gray, Elsa Dankmeyer und den Schwestern Johanna und Jacoba van der Pas, in Gärten, Wäldern oder am Meer tanzend, u.a. in Den Haag und Wassenaar. Siehe Leijerzapf, Ingeborg: Henri Berssenbrugge. Passie, energie fotografie, Zutphen: Walburg Pers 2001, S. 100—102, 134—135, Abb. S. 237—240 und van Banning, Nicky: De fotografische verbeelding van de Nieuwe Dans. Fotostudio Merkelbach en andere Europese pioniers 19001940, unpublizierte Masterarbeit, Universität von Amsterdam, Studiengang Kunstgeschichte, 2014. Nur der Dresdener Fotograf Hugo Erfurth (1874—1948) machte in dieser Zeit mit Hilfe von starkem Kunstlicht Tanzfotos in seinem Studio. Der Einsatz von Kunstlicht ermöglichte ihm, Tänzerinnen während ihrer Tanzbewegungen zu fotografieren; die Tanzfotos, die zwischen 1908 und 1927 in seinem Atelier entstanden, zeigen die Tänzerinnen in Bewegung. Siehe Peter, Frank-Manuel: »Das tänzerische Lichtbild. Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes«, in: Hugo Erfurth 1874-1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hg. v. B. von Dewitz u. K. Schuller-Procopovici, Köln: Wienand 1992, S. 45—52. »Man fotografierte bei jeder Wetterlage, hauptsächlich zwischen 10 und 15 Uhr. In die Kamera schob man eine Kassette mit zwei Glasplatten, deren empfindliche Beschichtung sehr träge auf das Licht reagierte, im Vergleich zu den blitzschnellen Filmen von heute. Eine Pose dauerte circa 10 Sekunden. Das war die Belichtungszeit.« Surendonk, H.: »Atelier Merkelbach: Foto’s van mensen, mensen, mensen…«, NRC-Handelsblad, 22. Januar 1977: Interview mit Mies Rosenboom-Merkelbach und Bobby Rosenboom. Auf Blankenbergs Kundenkarte ist bei der Sitzungsnummer die Jahreszahl 1914 notiert. Die Höhe dieser Nummer weist jedoch auf 1919 als Datierung hin. Aufgrund dessen vermag ich nicht mit Sicherheit zu behaupten, dass diese Aufnahme tatsächlich eine der ersten Tanzaufnahmen Merkelbachs darstellt.

[ABB. 01 A]

Fotostudio Merkelbach: Johanna Wittrock, 1919, Glasnegativ, SAA 010164019319.

Diese dynamische Momentaufnahme stellt im Korpus von Merkelbach eine Ausnahme dar, denn sie ist vermutlich im vollen Sonnenlicht auf dem flachen Dach neben dem Atelier angefertigt. Die zwei Assistenten, die das große Tuch im Hintergrund halten, verraten den improvisierten Charakter des Settings.09 Merkelbach schöpfte für seine Tanzfotos aus einem begrenzten stilistischen Vokabular und wählte daraus die Bildmittel, die zu Persönlichkeit und Tanzstil der Porträtierten passten. Er konzentrierte sich in seinen Tanzfotografien insbesondere auf die Beleuchtung: weiches, umhüllendes Licht, um einen ätherischen Effekt zu bewirken, oder starke hell-dunkel Kontraste, um ein expressiveres und dramatischeres Bild zu schaffen. Der Hintergrund bestand aus figurativer Malerei, die einen Kontext suggerieren sollte, oder aus losen Pinselstrichen, auf dem Glasnegativ angebracht, die die Haltung der Tänzer betonten und damit verlebendigen sollten.

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Der Neue Tanz und die Kamera Merkelbach fotografierte eine große Anzahl von Repräsentantinnen des Neuen Tanzes, sowohl niederländische als auch internationale. Die ursprünglich aus England stammende, in den Niederlanden wohnende Lili Green (1885—1977) war eine der ersten berühmten Tänzerinnen, die sich von Merkelbach fotografieren ließ. Vor der Kamera stellte sie 1915 Szenen aus ihren eigenen Choreografien dar, wie Valse, in der eine junge Frau in Reifrock einem Pierrot – dargestellt von Margaret Walker (1886 — ?) – den Kopf verdreht.10 Merkelbach fotografierte Green auch in geradezu meditativen Posen aus ihrem Tanz Orientale, so nah, dass die angespannten Muskeln und Adern ihrer nackten Arme sichtbar sind.11 [→ABB. 03] Für Green war persönliches Erleben von entscheidender Bedeutung. Diese Hingabe stellte sie auch vor der Kamera dar und Merkelbach verstärkte diese Intensität mit seiner Beleuchtung. Ein Foto aus dieser Serie wurde noch 1922 in J.W.F. Werumeus Bunings De wereld van den dans publiziert, als Green ihre Auftritte schon reduziert hatte, um sich stärker dem Tanzunterricht zu widmen.12 Der erzählende Charakter von Greens Choreografien verlangte nach erkennbaren Kulissen. Das konnte das Interieur des Ateliers selbst sein, mit seinem Parkettboden, den Schiebetüren und den schweren Gardinen (wie bei Valse), oder ein gemalter Hintergrund, dessen Details später auf dem Negativ während der Retusche weiter ausgearbeitet wurden (wie bei Orientale). Auf den Fotos von anderen Vertretern des Freien Tanzes fehlt dergleichen ›Beiwerk‹ und der Fokus liegt auf der Pose. Mien Loevendie (1901 — 90) steht vor einem einfarbigen Hintergrund, wodurch die Betonung vor allem auf ihrem träumerischen Gesichtsausdruck und der anmutigen Gestik ihrer Arme liegt. Weiches Licht umhüllt sie, wie auch bei der langen Serie der ursprünglich aus Deutschland stammenden Tänzerin Angèle Sydow (1890 — 1960), die Merkelbach 1916 anfertigte.13 Der expressive Anspruch Sydows ist am deutlichsten auf den Fotos zu sehen, auf denen sie frei im Raum vor einem nüchternen Hintergrund posiert. Äußerst plastisch wirkt die Aufnahme, in der wir sie vor der großen Glaswand des Tageslichtateliers abgebildet sehen, das Licht durch dünne Vorhänge gefiltert. [→ABB. 04] Es ist die einzige Aufnahme mit Gegenlicht, die wir von Jacob Merkelbach kennen. Wir sehen direkt durch den hauchdünnen Stoff hindurch, der die Nacktheit der Beine nicht verhüllt. Von diesem Foto nahm Werumeus Buning eine Reproduktion in De wereld van den dans auf.14 Merkelbach machte auch Nahaufnahmen von Sydow, ihr Haar offen 09

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De Camera, 12 (1919—20), Abb. auf S. 185: Auf der Reproduktion in dieser Fotografiezeitschrift ist nichts mehr von den Assistenten, die das Tuch hochhalten, zu sehen; der Ausschnitt ist so gewählt, dass Blankenberg den ganzen Raum innerhalb des Bildes einnimmt. In seinem Kapitel über Green gibt Edmond Visser kurz die Geschichte wieder: »Beim Walzer von Chopin bekam sie ›Green‹ eine Vision von ’nem Pierrot, der mit ’nem Luftballon spielt. ’n Fräulein mit ’ner Krinoline versucht seine Aufmerksamkeit zu bekommen, aber er achtet da nicht drauf. Dann auf einmal ändert er seine Meinung und er ignoriert sie nicht mehr. Aber sie entwischt ihm, während sie seinen Luftballon wegschlägt. Einsam bleibt er zurück.« Visser, Edmond: Het Nederlandsche cabaret, Leiden: Sijthoff 1920, S. 163. Nur vier Negative dieser Fotoserie sind erhalten geblieben (SA A & TIN). Von einer Nahaufnahme des Duos sind nur zwei Abzüge erhalten geblieben: ein Bromöldruck in roter Tönung (UBL PK-F-63.412), den Merkelbach unter dem Titel Colombine bei der sechsten jährlichen nationalen Ausstellung von Fotoarbeiten (1919) einreichte, und eine Vergrößerung aus dem Jahr 1920, die von Ton Blom mit Pastellkreide nachkoloriert wurde und jahrelang eingerahmt im Atelier hing (RIJKS RP-F-F18583).

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Diese Choreografie wurde zur gleichnamigen Komposition von César Cui entwickelt. Kloppers, H.: »Dans«, in: Ons Tooneel. Geïllustreerd jaarboek, Den Haag 1916, S. 52—60, Abb. und Bildunterschrift auf S. 54. Insgesamt sind vier Negative dieser Fotoserie erhalten geblieben (SA A & TIN). Dichter, Schriftsteller und Tanzkritiker avant la lettre J.W.F. Werumeus Buning vermeldet im ›Colofon‹ seines Buches explizit: »Die Fotos von Angèle Sydow und Lily Green sind aus Merkelbachs Fotografischem Atelier zu Amsterdam.« Die Fotografen der anderen (Tanz)Fotos – insgesamt beinhaltet das Buch 42 eingeklebte Reproduktionen – bleiben unerwähnt. Von dem Foto von Green (S. 175) ist das Negativ nicht erhalten geblieben. Negative aus diesem Jahr sind erhalten geblieben, darunter zwei Nahaufnahmen und zwei Halbporträts (SA A & TIN). Wahrscheinlich wurden ein oder mehrere Fotos auch als Postkarten benutzt, denn auf Sydows Kundenkarte ist neben dieser Sitzungsnummer ‹Postkarte‹ notiert. Werumeus Buning, J.W.F.: De wereld van den dans, Amsterdam: Querido 1922, S. 201; siehe FN 12.

[ABB. 01 B]

Fotostudio Merkelbach: Johanna Wittrock, ca. 1919 [Aufnahme 1919], Silbergelatine-Abzug, 23,4 × 17,6 cm, SAA 10164/35026.

und den Kopf etwas nach hinten gebogen, in einer Mischung aus Serenität und Verführung. Ganz offensichtlich schätzte er sie als Model, denn von diesem Porträt und einem Tanzfoto, auf dem sie sich – barfuß, mit tunikaartigem Kleid – in einem starken ›backbend‹ hintenüber beugt, fertigte er hochwertige Bromölumdrucke.15 Dieses Tanzfoto schickte Merkelbach für die sechste jährliche nationale Ausstellung von Fotoarbeiten (1919) ein, die von der niederländischen Amateur-Fotografen Vereinigung (NAFV) organisiert wurde, und wurde von Werumeus Buning in sein Buch aufgenommen.16 Außerdem ließ Merkelbach Sydow für eine Werbung für sein eigenes Atelier Model sitzen, mit einem Fotoalbum auf dem Schoß und losen Abzügen zu ihren Füßen.17 Merkwürdig sind die zweifellos für die Öffentlichkeit bestimmten Fotos, auf denen ihr Name in Großbuchstaben in das Bild eingefügt ist und die stark retuschiert wurden; der dekorative Stil sowie die Komposition erinnern an symbolistische Malerei und das Werk von Jugendstilkünstlern.18 Sydow hatte viele Bewunderer. Während

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ihrer erfolgreichen Tournee 1922 veröffentlichte Het nieuws van den dag voor Nederlandsch-Indië ein Porträt, das Merkelbach einige Jahre zuvor von ihr gemacht hatte, darunter eine Lobrede des bekannten Dichters und Schriftstellers Frederik van Eeden (1860 — 1932). Der 62jährige war von dem »grazilen, geschmeidigen Körper« beeindruckt und nannte das Glück, Sydow tanzen gesehen zu haben »ein kostbar, bleibend Gut«.19 Der Kontrast zwischen der ätherischen Sydow und der expressiven deutschen Tänzerin Mary Wigman (1886 — 1973) hätte kaum größer sein können. Als diese Pionierin des Ausdruckstanzes 1922 zum ersten Mal in den Niederlanden auftrat, stattete sie auch dem Studio am Leidseplein einen Besuch ab.20 Merkelbach fotografierte sie vor einem dunklen Hintergrund, gegen den ihre Haut hell absticht. [→ABB. 05] Die Serie macht deutlich, warum Wigman ›Bildhauerin des Tanzes‹ genannt wurde.21 Stark akzentuierende Retusche betonten die Form ihrer Körperhaltung und die Dramatik, die aus ihren expressiven Gebärden spricht. In einer Nahaufnahme von ihrem Gesicht hielt Merkelbach ihre allerorten gerühmte Mimik fest: das Gesicht durchdrungen von Emotion, ihren tiefsten Seelenregungen Ausdruck gebend.22 Cinema en theater fand die Aufnahmen »besonders gelungen« und veröffentlichte zwei.23 Sehr viel weniger extrem sind die hell-dunkel Kontraste und Retuschen in einer Reihe von Aufnahmen der englischen Tänzerin Mary Gayford (1894 — ?), die Anfang der zwanziger Jahre ein paar Mal in Amsterdam auftrat. Barfuß, in einem folkloristischen Kostüm, führt sie einen Tanz mit einer Schlange aus – die Choreografie trug den passenden Titel La Serpente.24 Cinema en theater setzte auf das Cover der ›Tanznummer‹ ein Foto von Gayford ohne das sich windende Tier.25 Für eine Anzahl Fotos von dem vielversprechenden Tanzduo Gerie Folmer (1901 — 83) und Claire de Jongh (1902 — 85) machte Merkelbach 1927 wiederum Gebrauch von Retusche, um den expressiven Posen ihres Ausdruckstanzes Kraft zu verleihen. Anders jedoch als bei Wigman, ist hier nicht die Rede von bedeutungsschwangerer Dramatik. Ihre Gesichter und Körper, in sportliche Trikots oder weich fallende, kurze Tunikas gehüllt, strahlen jugendliche Frische aus. Ein Foto sticht heraus: es bildet einen 15

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Beide Aufnahmen datieren auf das Jahr 1916: Es geht um die Negative SA A 010164027076 und SA A MBCH00001000370. Von jedem machte er zwei Abzüge, einen in graubrauner und einen in roter Tönung: UBL PK-F-63.399 & UBL PK-F-63.400 und UBL PK-F63.402 & UBL PK-F-63.401. Der Bromölumdruck gehörte ebenso wie der Bromöldruck, der Gummidruck und der Pigmentdruck zu den Edeldruckverfahren, die bei Fotografen der pictorialistischen Tradition beliebt waren, wie Merkelbach und Berssenbrugge; beide adaptierten u.a. auch im Auftrag entstandene Tanzfotos für ihre eigene, freie Arbeit als künstlerische Fotografen. Siehe Rooseboom: »Dansfotografie« und Van Banning: De fotografische verbeelding van de Nieuwe Dans. De Camera, 12 (1919—20), Abb. und Bildunterschrift auf S. 105. Werumeus Buning: De wereld van den dans, S. 181; siehe FN 12. Zwei Abzüge sind erhalten geblieben: UBL PK-F61.980 und RIJKS RP-F-F04016. Beide stammen, wie alle Merkelbach-Abzüge in der Sammlung der UBL und des RIJKS aus dem Nachlass des Fotostudios Merkelbach. Es ist nicht bekannt, ob diese Reklamefotos im Schaufenster und/oder im Atelierraum des Fotostudios Merkelbach ausgestellt wurden, es ist aber anzunehmen. Das letztgenannte Exemplar ist, was die Komposition betrifft, etwas mehr ausgearbeitet; außer dem Text ›Fotografie Merkelbach‹ wurde auch die Adresse ›Leidscheplein 29 Amsterdam‹ hinzugefügt, und links unten war ursprünglich ein Etikett, auf dem in zierlicher Handschrift ›Angèle Sydow‹ stand. Ihr Name stand ursprünglich auch vertikal in Großbuchstaben am linken Rand des Fotos; offensichtlich wollte

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der Retuscheur das wieder rückgängig machen. Das Negativ ist nicht erhalten. Es sind zwei Negative aus diesem Jahr erhalten geblieben, eines davon eine Rückenansicht von Sydow im Halbporträt (SA A & TIN). van Eeden, F.: »Angèle Sydow«, in: Het nieuws van den dag voor Nederlandsch-Indië, 27. Januar 1922. Es ist nicht bekannt, ob Wigman auf eigene Initiative – vielleicht auf Empfehlung – ins Fotostudio Merkelbach kam oder ob der Fotograf sie eingeladen hat; in jedem Fall war Merkelbach sich darüber im Klaren, dass er es mit einer international berühmten Tanzpersönlichkeit zu tun hatte, denn sie bildet eine der Ausnahmen, bei denen er sich die Sitzung nicht bezahlen ließ. Auf Wigmans Kundenkarte wurde ›gratis‹ notiert. Es sind fünf Negative erhalten geblieben (SA A & TIN). Anonym: »Mary Wigman«, in: Cinema en theater, 1 (1921) 52, S. 8. Cinema en theater erschien seit 1921; das der internationalen Unterhaltungsindustrie gewidmete Wochenblatt publizierte regelmäßig glamouröse Fotos von schönen und berühmten Tänzerinnen und Tanzpaaren, von internationalen sowie niederländischen Fotografen, u.a. Merkelbach. Von diesem Halbporträt fertigte Merkelbach einen hochwertigen Abdruck für sich selbst: RIJKS RPF-F03936. Anonym: ›Mary Wigman‹, in: Cinema en theater, 2 (1922) 65, S. 7. Anonym 1923. Sieben Negative sind erhalten geblieben, darunter eine Nahaufnahme (SA A). Cinema en theater, 2 (1922) S. 90.

[ABB. 02] Fotostudio Merkelbach: Liedie Blankenberg, 1914 oder 1919, Glasnegativ, SAA 010164004026.

wirbelnden Moment aus einer Art Volkstanz ab. Ausnahmsweise kann man hier von Dynamik und Spannung in der Interaktion zwischen den Frauen sprechen. Noch im selben Jahr erschienen drei der Bilder in der neuen Zeitschrift Rythme, in der Hendrik Minne Merkelbach, Direktor des Amsterdamer Schauspielhauses und zufällig Namensvetter des Fotografen, ein Plädoyer für die Förderung von jungen niederländischen Talenten hielt und ihm das Tanzpaar Folmer-De Jongh dabei als Vorbild diente.26 Am Ende dieses Jahrzehnts sehen wir Merkelbach zum ersten Mal einen Scheinwerfer auf eine Tänzerin richten. Es handelt sich um Ingetje Carolina van Kekem (1892 — 1986), die unter dem Namen Marion Gray auftrat.27 Das gleißende Licht wird dabei jedoch auch nicht zur Darstellung von Bewegung oder als glamouröser Effekt eingesetzt, sondern um eine andächtige Atmo-

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[ABB. 03] Fotostudio Merkelbach: Lili Green in »Orientale«, 1915, Glasnegativ, SAA MBCH00001000354.

sphäre zu schaffen. Auf allen Fotos hat Gray die Augen niedergeschlagen oder gen Himmel gerichtet, das Kreuz an ihrem Hals ist oft deutlich sichtbar. Mit den ihm begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln schaffte es Merkelbach, jeder Tänzerin ihren eigenen Ausdruck zu verleihen, von Serenität und Dramatik, zu jugendlicher Frische und stiller Andacht. Eine Tanzkarriere im Bild Drei Jahre nach ihrer Sitzung als Solistin bei Merkelbach betrat die oben genannte Mary Gayford aufs Neue den Aufzug zum Studio – nun mit einer Gruppe Ballettschülerinnen und Kartons voller Kostüme. »Ah, sehr gut. Daraus können wir etwas machen«, soll Merkelbach gesagt haben, als dann sechs kleine Mädchen in Ballettanzügen aus der Umkleidekammer 26

Merkelbach, Hendrik Minne: »Jongedansers«,in:Rythme. Blad gewijd aan de bewegings- kunst op het tooneel, dans, musichall, film, 1 (1927) 3, S. 6—10, Abb. auf dem Cover »Geri Folmer in ›Prélude Rachmaninoff‹«, S. 9 »Claire de Jongh in l’ArlésienneBizet«undS.10»Folmer-DeJongh.Schetsvoor Faust (Skizze für Faust)«. Rythme erschien ab 1927. Auf der

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gemeinsamen Kundenkarte von Folmer und De Jongh ist ›Diverse (gratis)‹ notiert. Von ihrer Sitzung sind 13 Negative erhalten geblieben, darunter vier Aktfotos (SAA). Von ihrer Sitzung aus dem Jahr 1929 sind zehn Negative erhalten geblieben, auf fünf davon wird sie mit einem Spotlight beleuchtet (SA A).

[ABB. 04] Fotostudio Merkelbach: Angèle Sydow, 1916, Glasnegativ, SAA 010164027072.

zum Vorschein kamen, komplett mit Tutus.28 Zusammen mit ›Miss‹ Gayford arrangierte er ein ›tableau de la troupe‹ der sechs, auf und um die Bank herum gruppiert. [→ABB. 06] Die Mädchen waren Schülerinnen des Tanzinstituts von James Meyer Fils (1872 —1929), wo Gayford seit 1921 als Lehrerin arbeitete.29 Meyer und seine Schule waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Begriff in den Niederlanden, aber bis jetzt war kein originales Bildmaterial bekannt. Das Lehrangebot war vielfältig und breitete sich im Laufe der Jahre immer weiter aus, von Gesellschaftstanz und rhythmischer Gymnastik bis Ballett und ›plastischer Tanzkunst‹. Gayford hatte die Leitung der Klassen für die Allerkleinsten ab fünf Jahren inne. Nach einem Kostümwechsel stellte sie mit fünf Schülerinnen das Stück De marskramer en zijn koopwaar (Der Krämer und seine Waren) dar, sie selbst in der Rolle des Krämers

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und ihre Schülerinnen als Knecht und Waren (Spitze, Bänder, Girlanden und Perlen).30 Meyers Plan, die Tanzkunst in breiteren Kreisen einzuführen, scheint aufgegangen zu sein. 1922 meldete Cinema en theater: »Alle diese Schülerinnen sind schließlich Mädchen und Damen aus bessergestellten Familien, die die Kunst zu ihrem Vergnügen ausüben und nicht als Beruf. Bald aber soll nun auch ein Kursus eingerichtet werden für diejenigen, die die Tanzkunst als ihren Beruf ausüben wollen.«31 Es ist nicht klar, ob das tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde, aber Schülerinnen von Meyer kamen sehr wohl in Kontakt mit dem echten Theater dank der Tanzmatinées, die er in der Amsterdamer Schauspielhaus organisierte.32 Zeitungen und Zeitschriften kündigten die informellen Vorstellungen immer wieder an und die Rezensionen waren meistens positiv. Das Programmheft zur Vorführung De dans door alle tijden. Historisch-aesthetisch overzicht van de dans 1570 —1922 (Der Tanz durch alle Zeiten. Historisch-ästhetische Übersicht des Tanzes 1570 —1922) von 1922 meldet die Mitarbeit von rund 100 Schülerinnen. Musik, Kostüm, Haar und Maske wurden von prominenten Personen übernommen.33 Eines der Mädchen aus der Klasse von Miss Gayford war Maria Tine (Rita) Nauta (1913 — 2014). Seit ihrem neunten Lebensjahr nahm sie Ballettunterricht an Meyers renommierten Institut. Die Aufnahmen von Merkelbach dienten vermutlich primär als Werbefotos für Meyers Matinées.34 Dank der großen Anzahl erhalten gebliebener Glasnegative können wir Nautas Entwicklung in Etappen nachverfolgen. 1927 tanzt sie auf Spitze den Schwan in dem Stück De zwaan en de woudgeest (Der Schwan und der Waldgeist) und schafft es mit dem Foto in die Spalten des kunstsinnigen Wochenblatts De kunst.35 Auf einem der Glasnegative ist zu sehen, wie sie sich für die lange gehaltene Pose ›sur les pointes‹ mit einer Hand an der Rückwand abstützt. Auf vielen Fotos ist sie als Solistin abgebildet, in zwei Sitzungen zusammen mit einem männlichen Tanzpartner: in klassischen Ballettposen aus Pas de deux (1928) und in dem Tanzstück Harlekijn en Columbine (Harlekin und Colombina) (1929). In Nautas Erinnerung war dieser junge Mann der einzige männliche Ballettschüler in Meyers Tanzinstitut.36 Doch auch für Mädchen war das Tanzen nicht selbstverständlich. Auf einem Schülerinnenabend an ihrer christlichen Mädchenschule wollte Rita gerne einen Tanz aufführen, doch davon wollten ihre prüden Lehrerinnen nichts wissen. »Ich taugte natürlich nichts in ihren Augen, weil ich tanzte. Tanzen, niveaulos.« Ihre Eltern unterstützten sie jedoch voll und ganz, und nach einem Gespräch mit der Schulleitung durfte sie doch auftreten, unter der Bedingung, dass sie den Körper bedeckende Kleidung trug – daher die lange Hose in La Charmeuse (1929). 1931 posierte Rita zum letzten Mal im Studio am Leidseplein. Anfang der dreißiger Jahre zog Nauta nach England um sich einer akademischen Tanzausbildung zu 28 29 30 31 32 33 34

Dieses Zitat und das folgende stammen aus einem Interview der Autorin mit Maria Tine Heering-Nauta (Rita Nauta), Rotterdam, 5. Juni 2013. Anonym: »James Meyer Fils & Miss Mary Gayford«, in: Cinema en theater, 1 (1921) 45, S. 10; Anonym: »Miss Mary Gayford«, in: Cinema en theater, 2 (1922) 54, S. 3. Programmheft 1925. Anonym: »Miss Mary Gayford«, S. 3. Anonym, in: Cinema en theater, 2 (1922) 67, S. 3; Programmheft 1922; Programmheft 1925. Anonym: »De dans door alle tijden«, S. 3; Programmheft 1922. Einige Fotos erschienen in Zeitungen und Zeitschriften als Teil von Artikeln über Meyers Tanzmatinées und es ist gut denkbar, dass Meyer Abzüge in seinem Tanzinstitut oder in Vitrinen im öffentlichen Raum als Werbung ausstellte. Einige der Schülerinnen bestellten Fotos für sich selbst nach. So wird auf der Kundenkarte von Hool-

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werff (Schülerin Johanna Jacoba Hoolwerff) auf Meyer verwiesen. M.T. Heering-Nauta (Rita Nauta) besaß ein Fotoalbum mit insgesamt 25 Fotos von sich als Tänzerin aus den Jahren 1922—31, von denen 13 vom Fotostudio Merkelbach angefertigt wurden–im Auftrag von Meyer, wie aus der Kundenkartei von Merkelbach hervorgeht. Jedes Foto im Album wurde von Ritas Mutter mit einer Bildunterschrift versehen, die den Titel des betreffenden Tanzstückes und das Datum wiedergibt. Programmheft 1927; N.H.W. [Nathan Hijman Wolf]: »Dans en Liefdadigheid«, in: De kunst. Een algemeen geïllustreerd en artistiek weekblad, 19 (1927) 1008, S. 424—426. De kunst wurde 1908 ins Leben gerufen. Es beschäftigte sich regelmäßig mit dem Tanz in Wort und Bild. Aus einer Rezension geht hervor, dass es sich um einen gewissen F. Mastenbroek handelt: U.: »Dansdemonstratie«, in: Algemeen Handelsblad, 22. April 1928.

[ABB. 05] Fotostudio Merkelbach: Mary Wigman, 1922, Glasnegativ, SAA MBCH00001000343.

unterziehen, die es zu dieser Zeit in den Niederlanden nicht gab. Nach ihrer Rückkehr tanzte sie in der Ballettgruppe von der ursprünglich aus Deutschland stammenden Yvonne Georgi (1903 — 75), und beendete 1938 abrupt ihre Tanzkarriere aus persönlichen Gründen. Nauta wurde von Merkelbach in der erprobten Art und Weise fotografiert, mit diffuser Beleuchtung und einfarbigem Hintergrund – anschließend wurden auf dem Negativ die Silhouetten der Tanzposen mit einigen künstlerischen Strichen vergrößert. Dies ist auf dem Bild von Rita als Primaballerina in der Mitte einer Gruppe von Mitschülerinnen, in Wolken von Tüll gehüllt, unterlassen worden. Diese Form des Arrangements in einem perfekten symmetrischen ›tableaux de la troupe‹ findet sich bis heute übrigens häufig bei professionellen, klassischen Tanzkompagnien.

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[ABB. 06] Die operatic-Klasse von Mary Gayford in Seringen (Flieder), in der Mitte Rita Nauta, 1925, Glasnegativ, SAA 010164020726.

Kabarett und Varieté Die Welt der ›leichten Kunst‹ war eine der kurzlebigen Karrieren und unsteten Identitäten. Tänzer, die im Kabarett und in Revuen auftraten, blieben nicht lange an einem Ort, sondern zogen von Stadt zu Stadt und von Land zu Land. Während ihres Aufenthaltes in Amsterdam besuchten sie oft einen Fotografen um Pressefotos machen zu lassen. Das polnischdeutsche Tanzpaar Albert Tschetschorke (1890 — ?) und Luise Marheineke (1890 — ?) kam im September 1916 in Amsterdam an, hielt sich abwechselnd in der Hauptstadt und Den Haag auf, um danach wieder in Richtung Ausland aufzubrechen.37 Cinema en theater heißt sie 1922 wieder in Amsterdam willkommen und erinnert daran, wie bahnbrechend ihre früheren Auftritte waren.38 Ihr erstes Engagement hatte das Tanzpaar im Palais de Danse in der Warmoesstraat, das zwei Jahre zuvor seine Türen geöffnet hatte, und das die Behörden herausforderte, indem dem männlichen Publikum erlaubt wurde in den Pausen mit den professionellen Tänzerinnen zu tanzen.39 Tschetschorke und Marheineke ließen sich 1919 von Merkelbach in einigen spektakulären Tanzposen verewigen.40 Die nur 1,60 m messende Marheineke balanciert auf der Schulter ihres Partners, der mit ausgebreiteten Armen triumphierend in die Kamera blickt. [→ABB. 07] Dass es bei solchen Auftritten mehr um Schnelligkeit und Glanz als um technisches Können ging, beweisen die ausgelassenen Darstellungen Marheinekes und das ›Stativ‹, das ihr bei wackeligen Posen helfen musste. Der Fotograf 37

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Fremdenregister Amsterdam, 7. September 1916; Gerard: ›Tschetschorke en Marheineke‹, in: De kroniek. Geïllustreerd maandblad voor Noord- en Zuid-Nederland, 5 (1919) 3, S. 74. Anonym: »Tscheschorke & Mareincke«, in: Cinema en theater, 2 (1922) 68, S. 10. Groeneboer, J.: »Verboden te dansen«, in: Ons Amsterdam, (Oktober 2001) 10, zuletzt eingesehen: Juli 2013 via www.onsamsterdam.nl/tijdschrift/.

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Sieben Negative sind erhalten geblieben (SA A). Fremdenregister Amsterdam, 21. November 1917. Von diesen drei Aufnahmen sind die Negative erhalten geblieben (SA A). Die zwei Nacktfotos scheinen künstlerische Aktstudien darzustellen; auf dem einen hockt sie elegant vor einem auf dem Negativ eingezeichneten Lilienteich, auf dem anderen liegt sie in einer klassischen Pose, während sie in einen Spiegel in ihrer linken Hand schaut.

[ABB. 07] Albert Tschetschorke und Luise Marheineke, 1919, Glasnegativ, SAA 010164019091.

unterstützte sie buchstäblich; auf einer Aufnahme ragt sein Kopf ganz außen rechts gerade noch ins Bild, von seinem Arm und der Stützhilfe bleibt nur eine retuschierte Silhouette. [→ABB. 08] Eine andere Künstlerin, die sich zeitweise in Amsterdam niederließ und während ihres Aufenthalts zu einer Sitzung zum Leidseplein kam, war die schon genannte deutsche Variététänzerin Johanna Wittrock. Sie trug den Künstlernamen Claus und war bei den Folies Bergères unter Vertrag, was vielleicht erklärt, warum sie keine Probleme damit hatte, sich vor Merkelbach ihrer Kleider zu entledigen. Er machte bei derselben Sitzung 1918 auch ein beeindruckendes impressionistisches Porträt von der jungen Frau, auf dem sie über ihre Schulter blickt, gerade an der Kamera vorbei.41 Ein Jahr später lässt sie sich in sechs verschiedenen Kostümen in 24 unter-

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[ABB. 08] Fotostudio Merkelbach: Luise Marheineke, 1919, Glasnegativ, SAA 010164019094.

schiedlichen Tanzposen abbilden.42 Wie bereits erwähnt, benötigte sie eine Stütze um bestimmte Haltungen lange genug durchhalten zu können. Die Fotos, auf denen sie einen Tanz mit einer Lichtquelle ausführt, zeigen das pictorialistische Interesse von Merkelbach. Von einer stehenden Pose machte er zwei Aufnahmen in unterschiedlicher Beleuchtung, von denen er eine zu einem hochwertigen Bromölumdruck mit symbolistisch aufgeladenem Inhalt umarbeitete, eine wirklich ›schöne Darstellung eines erhabenen Gedankens‹, wie der Neue Tanz oft bezeichnet wurde.43 Vielleicht lagen dort Wittrocks eigentliche Ambitionen und sie konnte diese unter Jacob Merkelbachs kundigen Händen in hohem Maße umgesetzt sehen. Der Fotograf schickte die Arbeit unter dem Titel Lichtspel (Lichtspiel) bei der siebten jährlichen nationalen Ausstellung von Fotoarbeiten (1920) der NAFV ein.

[ABB. 09] Fotostudio Merkelbach: Maria van Daalen [?], 1933, Glasnegativ, SAA 010164022148.

Stillstand Tanz als ›Bewegung im Raum‹ wurde in den 1910er und 20er Jahren in Merkelbachs Tageslichtstudio bestenfalls suggeriert, mittels statischer, tänzerischer Posen und Gestik. Kunstlicht wurde selten eingesetzt und diente dann ausschließlich, wie in der Sitzung mit Marion Gray, der Komposition. Im Laufe der 1930er Jahre wurde u.a. unter dem Einfluss von Operateur Bobby Rosenboom (1904 — 78) und dessen Reklame- und Filmfotografie immer öfter Kunstlicht für Porträtaufnahmen eingesetzt, zu einer radikal anderen Herangehensweise an Tanzfotografie führte das jedoch nicht.44 In einer Serie von Fotografien von der Tänzerin Maria van Daalen (1903 — 84) sehen wir eine Kombination von älteren und neueren

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Stilmitteln.45 Vor dem erprobten Hintergrund von dunklen und hellen Strichen zeichnet sich ihr Tänzerkörper scharf ab und ist sorgfältig ausgeleuchtet. Die Dynamik des Bildes ergibt sich aus der diagonalen Haltung ihres Oberkörpers, den rechtwinkligen Haken, den ihre Oberarme bilden und der Tatsache, dass ihr linkes Bein durch den Bildrand abgeschnitten wird. Auf raffinierte Art und Weise wechseln dunkle und helle Flecken einander ab, ein ästhetischer Effekt, der noch einmal durch das Muster der breiten Streifen in ihrem Kostüm verstärkt wird. Die schwerfällige Studiokamera beschränkte die Auswahl von Standpunkten, sodass wir auch in dieser Serie nur frontale Aufnahmen sehen. Durch den Gebrauch von Lampen kommen die angespannten Muskeln der unbedeckten Arme und Beine viel prominenter heraus als bei Tageslichtaufnahmen. Durch den geflexten Fuß und die expressiven Gesten reiht sie ihre Posen in die orientalistischen Stereotypen ein, die zu Beginn der Moderne im Tanz häufig zu finden waren. In einer der Aufnahmen ergänzen sich die Qualitäten der Künstlerin, das Charakteristische ihres Tanzes und die eingesetzten fotografischen Mittel. Boden und Hintergrund sind dieses Mal hell gehalten und die Lampen sind so ausgerichtet, dass ihre kraftvolle Armbewegung und die Hände mit den gespreizten Fingern auf die Rückwand projiziert werden. [→ABB. 09] Von der polnischen Chaja Goldstein (1908 — 99), Tänzerin und Sängerin des jüdischen Repertoires, bestehen ausführliche Serien aus den Jahren 1937 und 1938, in denen kreative Lösungen für das Darstellen und Suggerieren von Bewegung gefunden wurden, z. B. wird mit den Effekten von Spotlights und Schlagschatten ihrer Silhouette gespielt. Von zwei Aufnahmen von Goldstein in geradezu identischer Pose machte Merkelbach einen Doppelabzug, der Bewegung suggeriert.46 Doch es waren andere Fotografen, wie Meinard Woldringh (1915 — 68), die in ihren Studioaufnahmen zu einer wirklich erneuernden Darstellung von Tanz kamen.47 Nach dem Krieg begann eine jüngere Generation, der Tanz- und Theaterfotografie ihren Stempel aufzudrücken. Nach und nach verlagerte sich diese auf die Bühnen und in die Proberäume. Mies Merkelbach, die das Studio nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1942 weiterführte, fotografierte in den 1950er Jahren nur noch selten Tänzerinnen, meist aus Nachtclubs und der Unterhaltungsbranche. Die Zeit von Jacob Merkelbachs subtilen Beleuchtungen und künstlerischen Retuschen ist da schon lange vorbei.

Von diesen 24 Aufnahmen sind die Negative erhalten geblieben (SA A). Dieser Druck ist erhalten geblieben: RIJKS RPF-F03985. Fünf Negative zeigen, dass es nicht einfach war, die richtige Pose und Ausstrahlung zu realisieren. Es ist nicht herauszufinden, ob diese Reihe auf Veranlassung der Künstlerin oder des Fotografen zustande gekommen ist, aber die Serenität und die Feierlichkeit, die dieses Foto ausstrahlt, die in starkem Kontrast zu den spektakulären Kostümen und den manchmal fast drolligen Posen auf den anderen Aufnahmen von Wittrock stehen, lassen vermuten, dass Merkelbach hier stark in die Regie eingegriffen hat: Vom Girl aus Variétékreisen wurde Wittrock in eine elegante Tänzerin des künstlerischen Tanzes verwandelt – und damit als Motiv außerordentlich geeignet für einen Fotografen in der pictorialistischen Tradition. 1932 stellte Merkelbach Rosenboom, zu dieser Zeit noch der Verlobte seiner Tochter Mies, die er 1939

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heiraten würde, als Operateur ein. In größeren Porträtstudios, in denen mit einer Plattenkamera gearbeitet wurde, gab es oft einen Operateur oder Assistenten, der die Kamera bediente während der Fotograf selbst die Beleuchtung regulierte und dem Porträtierten Anweisungen gab. Van Veen, Anneke: »Merkelbach: een studio en zijn klanten«, in: Fotostudio Merkelbach. Portretten 1913—1969, hg. v. Dies., Amsterdam: Uitgiverij Komma 2013, S. 7—50, S. 30 und 40. Möglicherweise Maria Elisabeth Jakoba Wilhelmina van Daalen (1903—?, geboren in Kota Radja). Sieben Negative sind erhalten geblieben. Siehe Alting van Geusau, S.: »De vinger van Salomé. De theaterfoto’s van Fotostudio Merkelbach«, in: Fotostudio Merkelbach. Portretten 1913—1969, hg. v. Anneke van Veen, Amsterdam: Uitgiverij Komma 2013, S. 51—84, S. 70, 72 und Abb. auf S. 72—75. Der Doppelabzug ist erhalten geblieben: RIJKS RP-F-F04020. Rooseboom: »Dansfotografie«, S. 23—25.

NICOLE HAITZINGER VOM GEFANGENEN VOGEL (1918) ZUM NACHTFALTER (2007) NIDDY IMPEKOVEN ALS METAMORPHES MOTIV 2007 kündigt ein Plakat die Saison des Tanzquartiers Wien an, dessen Sujet ein fantasievolles Gebilde und eine detailreiche Collage in Insektenform aus historischen Tanzfotografien (1900 — 20) aus der Sammlung der Derra de Moroda Dance Archives ist. [→ABB. 01] Die Grafikabteilung der Werbeagentur Draftfcb Kobza figurierte in enger Zusammenarbeit mit dem Tanzquartier Wien (Sigrid Gareis, Marlene Ropac) einen ›Nachtfalter‹, der sich hauptsächlich aus teilweise fragmentierten Tanzfotos von Niddy Impekoven [→ABB. 02] und Anna Pavlova [→ABB. 03+04] aus den 1910er Jahren zusammensetzt und als zeitgenössisches Bild-Motiv in Erscheinung tritt.01 Die sich mit den Sujets Käfer, Skorpion und Wespe fortsetzende Plakatserie gewann unter anderem den Preis für die »besten 100 Plakate« aus Österreich, Deutschland und der Schweiz und entfaltete eine ungeahnte Breitenwirkung. Das Plakat in seiner Funktion als Gebrauchsgrafik basiert auf der doppelten Entfaltung von Wirkung auf Nähe und Distanz, von Zoom und Totale. Dieses Prinzip wird mir als Vehikel für die Bestimmung der historischen Fotografie und der zeitgenössischen Rezeption dienen. Meinen folgenden Ausführungen unterliegt die Anerkennung der gegenseitigen Bedingtheit von gegenwärtiger Distanzprojektion auf historische Tanzphänomene und der spezifisch affektiv-medialen Wirkungsweise von Tanzfotografie/-grafik jenseits von Historizität. Jenseits versteht sich nicht als eine Zuschreibung von Zeitlosigkeit. Es wird vielmehr versucht, durch den Akt der affektiv aufgeladenen Sichtung das temporär ausgesetzte repräsentative und auf kanonisiertem Wissen basierende Referenzsystem um ein Erfahrungswissen in motu zu erweitern. Totale (historiografische Verortung) und Zoom (Detailanalyse) werden zuerst modellhaft getrennt, um schließlich den multiperspektivischen Rezeptionsakt in der historiografischen Analyse von Tanzfotografie zu verdeutlichen. Damit korrespondierend entlehne ich einen Aspekt von Rolands Barthes Differenzie-

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rung zwischen »punctum« und »studium«, die er in einer der bekanntesten Schriften zur Fotografie im 20. Jahrhundert, sprich in Die helle Kammer 02 ausführt, nämlich die (nicht trennscharfe) Unterscheidung zwischen gegenwärtiger, unmittelbarer Affizierung, wenn auch ohne deren unbedingte Verbindung zur Wunde und zum Tod, und der intellektuellen Referenzierung der Bilder. Außerdem operiere ich mit der Annäherung über die dort eingeführten drei (Such-)Begriffe, nämlich Referentin (die Tänzerin und Choreografin Niddy Impekoven), Operator (der Fotograf Hanns Holdt) und Spectator (meine gegenwärtige strukturell-phänomenologische Doppelperspektivierung). Ich gehe davon aus, dass Bild- und Bewegungsformeln, Posen im Tanz und in der Fotografie ähnlich sein können und zugleich fundamental voneinander unterscheidbar sind: Es kommt zu Überformungen im Bild, zu einer uneigentlichen Stilisierung, zu einem – nicht mehr und nicht weniger – Zitat der Aufführung: »Der Tanz ist vor der Kamera so gewesen und war vielleicht dennoch auf der Bühne nie so.«03 Und ich verstehe das mediale Bild als eigensinniges Bild, das andere Sinne in der Betrachtung aufruft, als die Betrachtung von Tanz im Moment des theatralen Ereignisses. In der folgenden Annäherung an die Fotografie aus den 1910er Jahren mit Niddy Impekoven als Motiv und an das Plakatsujet Nachtfalter sollen zwei Fragen aufgefächert werden. Die erste lautet: Welcher im Kanon der Geschichtsschreibung marginalisierte Aspekt der Tanz- und Kunstvorstellung der Moderne ist in der Fotografie Der gefangene Vogel (1918) (re-)präsentiert, beziehungsweise tritt gegenwärtig noch im Bild und als Bild in Erscheinung? In unserer Distanzprojektion auf den mitteleuropäischen Ausdruckstanz imaginieren wir Niddy Impekoven als eine der vergessenen Tänzerinnen,04 der im Gegensatz zu Mary Wigman, Rudolf von Laban oder aktuell auch Valeska Gert, die Aufnahme in den Kanon der Tanzgeschichtsschreibung ver wehrt blieb.05 Ich möchte hier thesenhaft behaupten, dass das Vergessen dieser Tänzerin auf zwei Faktoren basiert: Erstens auf einer vermehrt literalen Historiografie, die ihre Befunde und Thesen auf Texte stützt, und zweitens auf die einseitige Profilierung des Begriffs Ausdruckstanz06, der retrospektiv einen, wenn auch wichtigen Aspekt des historisch eigentlich heterogenen Phänomens zentral setzte, nämlich den unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen. Paradoxerweise versucht man den Tanz als autonome Kunstform zu etablieren und zu legitimieren, indem man seine Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit herausstellt, seine 01 02 03 04

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In meinen Ausführungen werde ich mich auf Niddy Impekoven konzentrieren, da sie das Hauptmotiv der zeitgenössischen Grafik bildet. Barthes, Roland: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Wittrock, Eike: »Laborbericht: Tanzfoto 1900—1920«. http://www.perfomap.de/map5/ew-laborbericht/laborbericht-tanzfoto-1900-1920, 14.5.2014. Aktuell beschränkt sich unser tanzhistorisches Wissen über Niddy Impekoven auf einige biografische Fakten, ihre Nennung in Publikationen zum »Künstlerischen Tanz« der 1920er Jahre, Rezensionen, zwei Autobiografien und Filmmaterial (vor allem bekannt aus Wege zur Kraft und Schönheit (1925)) und einigen Tanzfotografien. Der im Tanz existierende Kanon ist im Vergleich mit anderen Künsten eng. Man könnte sogar eine ›verborgene Konstruktion‹ des Kanons behaupten, der auf der Verhandlung von einer limitierten Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern und/oder Inszenierungen basiert. Dabei ist zwischen dem Kanon der Disziplin und dem Kanon des Repertoires zu unterscheiden, die sich nicht entsprechen müssen. Seit den 1990er Jahren

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werden Re-Lektüren des existierenden Kanons vorgenommen, die zu einer Erweiterung des Tanz-Wissens beitragen. Vgl. beispielsweise Jeschke, Claudia: »Canon and Desire. Seven approaches to historio-grafical lecture/Performances«, in: Tanz und Archiv: ForschungsReisen. Geste und Affekt im 18. Jahrhundert, hg. v. Irene Brandenburg, Nicole Haitzinger u. Claudia Jeschke, Heft 4. München: epodium 2013, S. 108—117. Johanna Laakkonen kristallisiert in Canon und Beyond vier Faktoren für die Kanonbildung heraus: Erstens die Existenz eines literalen Tanzkorpus, der gegenwärtig durch andere Medien ergänzt oder ersetzt sein kann, zweitens der geografische Faktor und die Nähe zu einem (Tanz-)Zentrum, drittens die Suche nach Neuheit und Reform und viertens Diskursivierung (und akademische Tradierung). Vgl. Laakkonen, Johanna: Canon and Beyond. Edvard Frazer and the Imperial Russian Ballet 1908—1910, Helsinki: Academia Scientarium Fennica 2009. Der Begriff Ausdruckstanz wird erst retrospektiv »erfunden«. In den 1910er und 1920er Jahren spricht man vom »Freien Tanz«, vom »Künstlerischen Tanz« oder vom »Modernen Tanz«.

[ABB. 01] Plakat des Grafibüros Draftfcb Kobza, Tanzquartier Wien 2007.

Medialität quasi konzeptuell ausstreicht.07 Die stilistische Ordnungskategorie Ausdruckstanz schließlich verstellt den Blick auf die spezifische Struktur und Ästhetik des Dekorativen im Tanz der Zeit, die sich – wie wir später sehen werden – über die Detailanalyse einer Tanzfotografie in ihrer affektiv-medialen Wirkungsweise (»punctum«) (wieder-)entdecken lässt. Perspektive 1: Totale oder zum »studium« Die Tänzerin, geboren 1904 in Berlin, ist eine der zahlreichen mitteleuropäischen Ausdruckstänzerinnen, die inspiriert und beeinflusst von Isadora Duncan solistische Arbeiten präsentierten, in denen mehrere stilistische Konzepte der Zeit (Jugendstil, Expressionismus, Dada) verkörpert sind. Für das Wunderkind Impekoven – das zunächst als »Ballerina der Zukunft«

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gefeiert, doch schließlich im Seminar für »Klassische Gymnastik« in der Loheland-Schule ab 1917 zur Entwicklung ihres eigenen künstlerischen Ausdrucks im Sinne einer Vorstellung des »Absoluten Tanzes« animiert wurde, war der Bewegungsimpuls weniger wichtig als die Formung und Gestaltung von Phantasie-Figuren, die ihr – laut Selbstaussage – in ihren leichten Fieber-Träumen begegneten.08 Als 14-jährige tritt sie in ihrem ersten Abendprogramm auf, mit dem sie in Mitteleuropa für Furore sorgte. Die in der Moderne wichtige und weit verbreitete künstlerische Positionierung als »geborene«, »wahre« und – das ist ein zweites starkes Motiv bei Impekoven – »feinnervige« Tänzerin entspricht dem Zeitgeist. Ihre Autobiografie Werdegang (1921) zeigt ein individualistisches – in ihren Worten auf dem »Selbstschöpferischen« basierendes – und wenig theoretischreflektiertes Tanz- und Kunstverständnis: »Das Studium des Balletttanzes befriedigte mich nicht mehr. Es beengte mich. Ich sehnte mich danach, wieder wie als kleines Kind nach eigenem Empfinden und Impuls herumtanzen zu können […]«09 Wiederholt spricht sie von »Gemütsdrückungen« und »seelischen Verkrampfungen«, die sie vor und nach Der gefangene Vogel (1918) durchlitt.10 Der Übersensibilisierung des Nervensystems (Melancholie, Traurigkeit) entspricht das Motiv des gefangenen Vogels im tänzerischen Zeitgeist, der schließlich gegen sein Eingesperrt-Sein rebelliert. Übertragen auf ihre Lebenswirklichkeit sind es die bedrohlich empfundene Industrialisierung und letztlich auch die Kunstwelt, denen sie durch den Rückzug in die Natur und die Berge zu entkommen behauptet. Vögel tauchen im Œuvre der Moderne – die bekanntesten sind sicher die aus den Inszenierungen von und im Umfeld der Ballets Russes – und in verschiedenen Varianten auf: Als Symbol (wie beispielweise Der sterbende Schwan), als mythische Figuren der Märchenwelt (Feuervogel oder Der goldene Hahn) oder als dekoratives oder abstraktes Motiv in der Bühnenbildgestaltung. Der bekannteste Vogel im Tanz um 1900, nämlich der von Anna Pavlova solistisch getanzte sterbende Schwan (1905), wird zum großen Vorbild für Niddy Impekoven. In ihm zeigt sich die Ästhetik des Übergangs von der alten in die neue Welt und die alles durchdringende Präsenz der Vergänglichkeit. Im Vergleich ist Niddy Impekovens gefangener Vogel kein Encore des klassisch gewordenen weißen Balletts des 19. Jahrhunderts, sondern eine in seiner Erscheinungsform die Ästhetik der Sezessionisten aufgreifende Performance. Bezeichnenderweise ist heute eine Jugendstil-Keramikfigurine von Joseph Lorenzl aus der Wiener Goldscheider Manufaktur mit dem Titel Der gefangene Vogel bekannter als die Tänzerin selbst. Die zeitgenössische Grafik schließlich setzt den ›Nachtfalter‹ (2007) aus den fragmentierten Figuren beider ›Vogel‹-Tänzerinnen (Impekoven, Pavlova) zusammen. Perspektive 2: Zoom oder zum »punctum« Die Aufnahme Der gefangene Vogel wurde 1918 oder 1919 von dem in München arbeitenden Fotografen Hanns Holdt gemacht, der sich auf Tanzfotografie spezialisiert hat; in einer Zeit, in der sich Tanz und Fotografie gleichzeitig als autonome Künste zu etablieren versuchen. Zu seiner 07

»Die Mißbewertung, so etwas wie ein arabeskenhaftes Kunstgewerbe zu sein, in einer technisch einfachen und leicht erlernbaren Bewegung zu einer Musik zu bestehen, hat man überwunden.«, in: Böhme, Tanzkunst, 1926, S. 26. Ich danke Eike Wittrock für diesen Hinweis.

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Vgl. den unveröffentlichten Artikel von Jeschke, Claudia: Wege zu Kraft und Schönheit. Ich danke der Autorin für das Manuskript. Impekoven, Niddy: Werdegang, Dresden: Huhle 1921, S. 20. Ebd.

[ABB. 02] Hanns Holdt, Niddy Impekoven »Der gefangene Vogel«, 1918/19, Derra de Moroda Dance Archives, Salzburg.

künstlerischen Praxis publiziert er 1920 im Deutschen Kamera Almanach einen Artikel mit dem Titel »Betrachtungen über Bühnen- und Tanzaufnahmen«: »Man sehe sich den Tanz aufmerksam an, merke oder notiere sich die bildwirksamsten Stellen und veranlasse die Tänzerin, diese Stellen langsam zu wiederholen. Am besten wähle man Übergangsstellungen, wo der Körper einen Moment in ruhiger Pose verweilt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß eine ruhige Bewegung viel tänzerischer wirken kann, als eine sehr bewegte, die im Bilde erstarrt wirkt. Alle zu starken Kürzungen sind zu vermeiden, die ganze Bewegung sei mehr im Relief.«11 Im Unterschied zu Tanzfotografen wie Hugo Erfurth, für den die Bewegung und die durch sie bedingte Unschärfe zum gestaltenden Prinzip wird,12 privilegieren Hanns Holdt und Niddy Impekoven aus gegenwärtiger Sicht die Idee des Dekorativen, die in der Tanzfotografie in seiner doppelten Funktion als künstlerisches Lichtbild und als Zitat der Aufführung durchscheint.

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[ABB. 03] Becker und Maass, Berlin W. 9, Anna Pawlowa [Christmas], Derra de Moroda Dance Archives, Salzburg, DDMf009-010.

Das Erscheinungsbild der Tänzerin wird auf dem Foto hauptsächlich bestimmt durch das (von Niddy Impekovens Mutter angefertigte) Kostüm, in dem die Federn des Vogels abstrahiert auf einen leichten Stoff gemalt sind, der weit über Oberkörper und Arme fällt. Über das Zusammenspiel von Bewegung und Stoff stellt sich der Eindruck eines weiten Schwingens der Flügel ein. Es zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zu Loïe Fullers Serpentinentanz, nur werden in Der Gefangene Vogel die Beine nicht verhüllt, sondern sind relativ weit über die Knie nackt sichtbar. Eine schwarze Kappe und eine Halskrause sind weitere Teile des Kostüms, die den Vogelcharakter betonen. Die nackten Füße sind ein Verweis auf die zeitgeistige Vorstellung von »Freiem Tanz«. 11 12

Holdt, Hanns: »Betrachtungen über Bühnen- und Tanzaufnahmen«, in: Deutscher Kamera Almanach, Band 11, 1920, S. 45—50, hier S. 48. Peter, Frank-Manuel: »Das tänzerische Lichtbild. Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes«,

in: Kataloghandbuch des Agfa Foto-Historama: Hugo Erfurth, 1874—1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hg. v. Bodo von Dewitz u. Karin Schuller-Procopovici, Köln: Wienand, 1992, S. 45—52.

[ABB. 04] Edw. S. Curtis Studios, Biltmore Hotel, Los Angeles, Anna Pawlowa [Don Quijote], Derra de Moroda Dance Archives, Salzburg, DDMf009-015.

Das, was heute noch affiziert, ist – so meine These – das besondere Verhältnis von Ausdruck und Dekoration, das sich im Bild zeigt. Die »Rehabilitation des Dekorativen« (Gottfried Boehm) und seine produktiven Impulse lassen das Faszinosum für die Tänzerin als Künstlerin um 1920 verstehen. Im Bild erscheinen Mimik, Gestik und Körperhaltung der Figur, der ikonisch wirkenden Tänzerin entbunden vom unmittelbaren emotionalen Ausdruck im Sinne eines nach Nach-Außen-Tretens, Sich-Externalisierens oder der Verkörperung eines inneren Zustandes: »Ausdruck manifestiert sich im Spannungszustand nicht der einzelnen Figur, sondern in der Totalität der Darstellung.«13 Ausdruck wird zur Frage des Verhältnisses zwischen Körper und Kostüm; beide werden untrennbar miteinander verbunden.14 Der Blick des Betrachters schließlich changiert zwischen Flächigkeit der Figur im Bild und ihrer imaginierten Plastizität im Akt des Tanzens. In der Hochzeit der Moderne – paradoxer und gleichzeitig konsequenterweise in den vielschichtigen Strömungen des neuen freien Tanzes, des »Ausdruckstanzes« –

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präsentiert sich Ausdruck in dieser Tanzfotografie als etwas Mediales. Im Bild zeigt sich ein Modus Operandi des Dekorativen, der jenseits eines selbstbezüglichen Ausdrucks angesiedelt ist. Das Motiv des gefangenen Vogels ist in eine artifizielle und dekorative Ordnung übersetzt. Erst dieser Grad der Abstraktion erlaubt eine gegenwärtige Nähe und macht das Bild zur zeitgenössischen Projektionsfläche. In der Betrachtung ereignet sich das Entscheidende nicht auf der Ebene des bildlichen Inhalts, sondern in der Aufrufung einer Fülle von reflexiven und affektiven Schwingungen, die – so meine These – im Plakat resonieren. Während in literalen Medien wie (Auto-)Biografien, Rezensionen und enzyklopädisch vermitteltem Tanzwissen das Motiv der Empfindsamkeit der (Ausdrucks-)Tänzerin Impekoven favorisiert wird, tritt in der Analyse von Tanzfotografie ein alternativer Aspekt in Erscheinung, den ich mit dekorativ benennen möchte. Seine gegenwärtige Rehabilitierung als ein vernachlässigtes Signum der Moderne basiert auf einer struktuell-phänomenologischen Doppelperspektivierung von Bildern und könnte zu einer breiteren Re-Vision des Ausdruckstanzes herangezogen werden. Schließlich scheint mit einem nicht-pejorativen Blick auf das Dekorative die Ästhetik um 1900 eine unvermutete Ähnlichkeit mit der Ästhetik des Zeitgenössischen zu haben. Zur zweiten Frage: Könnte nicht die Ähnlichkeit (und Differenz in) der Erscheinungsform von historischem »Original«-Foto und zeitgenössischer Collage einen Blick auf die gegenwärtige (Tanz-)Ästhetik ermöglichen? In der Grafik des Nachtfalters tauchen Aspekte des Impekovschen Gefangenen Vogels in transformierter Form auf: Erstens ist die noch stärkere Gewichtung des dekorativen Modus durch die Entindividualisierung der Tänzerin (der Kopf und die Mimik werden wegretuschiert) auffallend. Zweitens kommt es zu einer Fragmentierung und Defiguration der historischen Vorlagen und einer anschließenden Refiguration. Mit einem Blick aus der Nähe kann man erkennen, wie das Insekt konstruiert ist. Die Fühler des Nachtfalters werden aus der verdoppelten Figur der Anna Pavlova zusammengesetzt. [→ABB. 03+04] Beide fragmentierten Körper (Oberkörper, Beine, Arme, aber auch Teile des Kostüms) bilden zusammen das zeitgenössische Insekt. Das Begehren nach konzeptueller Transgression des Körpers manifestiert sich hier in der Ästhetisierung des Insekts.15 Der gefangene Vogel erfährt mittels Collage mit historischen Tanzfotografien von Anna Pavlova eine Metamorphose zum Nachtfalter und tritt in der Perspektive der Totalen abstrakter und zeitloser in Erscheinung als im Originalbild. Die Ausstellung des Konstruktionsprozesses ist im Bild immanent, gleichzeitig bleibt die illusionistische Wirkung bestehen. Während in der Tanzfotografie Der gefangene Vogel (1918) die Doppelfunktion von Kunstbild und Zitat der Aufführung augenscheinlich ist, operiert die Grafik mit einer Steigerung von Abstraktion, die mit einer Referenzferne einhergeht: Weder Niddy Impekoven noch Anna Pavlova sind als historische Tänzerinnenfiguren auf den ersten Blick erkennbar. 13

Vgl. Boehm, Gottfried: »Ausdruck und Dekoration. Matisse auf dem Weg zu sich selbst«, in: Matisse. Figur. Farbe. Raum, hg. v. Pia Müller-Tamm, Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 277—289, hier S. 283.

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Loïe Fullers Serpentinentanz wären hier ebenso zu nennen wie Anna Pavlovas Sterbender Schwan. Vgl. Aloi, Giovanni: »Talking Insects–Eric Brown [Interview]«, in: Antennae. Insect Poetics, Volume 1. Autumn 2007.

Drittens wird in der Wahrnehmung des Betrachters/der Betrachterin über die Erscheinung des Insekts etwas Unheimliches, etwas Obskures aufgerufen. Das Faszinosum und Tremendum ist die ›unheimliche Ähnlichkeit‹ der ›Körper‹ von Insekten und Menschen: Es existieren Arme und Beine, doch in der anthropomorphen Vorstellungswelt disproportional zu Augen und Mund, das Skelett scheint von innen nach außen gekehrt und das Abdomen ist ohne sichtbaren Sexualorgane. Insekten verkörpern gleichzeitig Exzess und Verlust: »Their alien appearance is really an uncanny resemblance – arms and legs, but with disproportionate eyes and mouth and ›ears‹: a skeleton, but on the outside instead of the inside; and a prominent abdomen but no apparent sex organs. They embody both excess and loss.«16 Wie der Literaturwissenschaftler Eric Brown vorschlägt, lassen sich Insekten wegen ihrer Vielheit, ihrer Gefräßigkeit und ihres »Raubverhaltens« kulturwissenschaftlich im Zwischen-Raum von Plage und Wunderding verorten und uns das Sublime im Alltäglichen erkennen.17 Der sicher bekannteste Vertreter und ein Pionier des zeitgenössischen Tanzes, bei dem das Insekt in seinem Œuvre eine entscheidende Rolle spielt, ist der belgische Bildende Künstler, Theatermacher und Choreograf Jan Fabre.18 Er selbst positioniert/inszeniert sich als Urenkel des renommierten Entomologen Jean-Henri Fabre, der mit Études sur l’instinct et de moeurs des insects (1951) ein Standardwerk der Insektenforschung veröffentlicht hat: »Die Krieger der Schönheit sind Insekt, Schauspieler, Tänzer. Soziale Insekten sind wir alle.«19 In seiner künstlerischen Arbeit und speziell in De Danssecties, im Jahr 1987 in Kassel uraufgeführt, geht es weniger um die illustrative Darstellung von Insekten, als vielmehr um choreografische Adaptierungen zweier Aspekte, die signifikant für Insekten sind: nämlich erstens das Ätzen/Ritzen (»etching«) und zweitens die Metamorphose im Sinne einer Defiguration oder spezifischer einer »defigurativen Choreografie«: »The idea of etching into space also dominates Fabre’s choreography. The etching cuts the physical form, the unity of the figure, in two. The ›insect‹, as the figure of the divided, segmented form, replaces the individual as a figure of indivisible unity of form. In Fabre’s ballet works De Danssecties (The Dance sections, 1987) and The Sound of One Hand Clapping (1990, a collaboration with Forsythe), the figures of the dancers – some of them in armor, appearing like shining insects – cut through the space in extremely slowed down, extremely precise movement and poses.«20 In entschleunigten choreografischen Anordnungen treten die Tänzer in Harnischen in Erscheinung, die Ähnlichkeit mit Jan Fabres Lieblingsinsekt, dem Blatthornkäfer, haben.21 Der (Tanz-)Theatermacher Fabre greift in De Danssecties Grundbewegungen des klassischen Balletts auf und transformiert sie durch extreme Verlangsamung der motorischen Aktionen, um die Bewegung als »Ereignis«, als »Wuchern von Energie«, als »Stille im Sturm« und andere Raumvorstellungen ästhetisch erfahrbar zu machen: »Insekten haben keinen Herrn, sie sind immer unterwegs. Sie kennen keine Höhe, keine Tiefe und haben ein anderes Raumgefühl als wir«.22 In Fabres Inszenierung scheinen Motive (das Obskure, die Metamorphose) und Methoden des romantischen Balletts (wie Fragmentierung, Dekonstruktion und die experimentelle Erweiterung des Körpers und des Raumes) durch. »Wenn die Nachttiere schlafen gehen und die Tagtiere aufwachen, gibt es in der Natur einen Moment von sublimer Stille, in dem alles aufreißt, aufbricht und sich verändert. Diesen Moment habe ich gesucht,

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eingefangen. Es ist ein Raum zwischen Tag und Nacht, zwischen Leben und Tod, in dem unerklärliche Dinge geschehen.«23 In den späten 1990er Jahren lässt sich im zeitgenössischen Tanz, der zu dieser Zeit eine intellektuelle, reduktionistische Sicht auf Choreografie wie auch auf ihre Geschichte, ihre performativen Aspekte wie die soziokulturellen Kontexte favorisiert, zwei Aspekte wiederentdecken: nämlich die choreografische Zerlegung – im weitesten Sinne und ohne Wortspiele überstrapazieren zu wollen: ein ›insecare‹ (einschneiden/zerschneiden – und das rezeptionsästhetische Phänomen der Metamorphose. In seinem Solo Self Unfinished (1998) dekonstruiert der Choreograf und ausgebildete Molekularbiologe Xavier Le Roy die soziokulturelle Organisation des Tanzes und erkundet die Repräsentation des Körpers im Raum. Nicht zufällig argumentiert er das unvollendete und performative Selbst mit der Aufrufung einer Ähnlichkeit von Insekt und Mensch in der ästhetischen Rezeption: »Mich faszinieren Zwischenbereiche, die man nicht mehr eindeutig benennen kann. Bin ich Insekt oder Mensch? Ist mein Körper deformiert oder formlos […] Das Kleid signalisiert zwar Frau, aber ich bin keine. Das soll deutlich werden. Kurz darauf bin ich ein Frosch, dann ein Torso...« 24 Und schließlich: »Die Verwandlung geht immer weiter.« 25 Zeitgenössischer Tanz und Insektengrafik operieren beide mit fluiden Grenzen zwischen (und Mutationen von) Naturschönem und Kunstschönem, wobei die Gebrauchsgrafik – so sei hier behauptet – Motiv, Struktur und Ästhetik der Kunst aufgreift, abstrahiert und auf spezifische Weise popularisiert. Das Studium des tanzhistorischen Wissenskanons und die Berücksichtigung von kontextbedingter Medienwahl und -spezifik bilden die Basis für die experimentellen und intermedialen Transfers zwischen Geschichte (Ausdrucktanz) und Gegenwart (zeitgenössischer Tanz) und vice versa. Gleichzeitig präsentiert sich das Motiv Impekoven in der Tanzfotografie Der gefangene Vogel (1918) und in der Grafik Nachtfalter (2007) im Modus des Dekorativen. Dessen (strukturelle und ästhetische) Rehabilitierung scheint mit einem multiperspektivischen und meta-morphen Blick auf Tanz-Bilder zu korrespondieren, der wiederum tradierte stilistische Zuordnungen herauszufordern vermag. 16 17

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Ebd., S. 7. »But I suppose what might be interesting in the ›pest‹ and the ›marvel‹ dichotomy is how much these terms in fact overlap. I would argue that the very things that annoy us about insects – their multiplicity, their voracity, their predation upon humans […] are also most marvelous […] I’d say they remove us sometimes harshly from a quotidian existence and, like other innumerable – the stars, the sands on the beach – help us see the sublime in the everyday.« Vgl. Giovanni: »Talking Insects«, S. 6. Zur Verortung Jan Fabres als einer der wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen Tanzes und seiner Ästhetik vgl. Laermans, Rudi u. Gielen, Pascal: »Construction identities: the case of ›the Flemish dance wave‹, in: Europe Dancing. Perspectives on Theatre Dance and Cultural Identity, hg. v. Andrée Grau u. Stephanie Jordan, London, New York: Routledge 2000, S. 12—28, besonders: S. 16—18. Zitiert nach Jan Fabre im Gespräch mit Jan Hoet und Hugo de Greef, Ostfildern: Cantz Verlag 1994, S. 13. Brandstetter, Gabriele: »Ulavaeus Marta: Defigurative Choreography: From Marcel Duchamps to William Forsythe«, in: TDR, Volume 42, No. 4, Winter 1998, S. 37—55, hier S. 43. JF: »I mean, look as for example a scarab beetle and

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look human beings: in the 40 thousand millions of years we have developed and changed a lot; and scarab beetles almost didn’t change. So, it means that they had a kind of intelligence long before us. They were, for example, first warriors; the first chemical warriors in the world were the scarab beetles. They contain an old knowledge that we have even lost in our development. So, that’s the reason why I call them the oldest computers, the oldest memory in the world. Don’t forget we are in that sense quite vulnerable; because we live in our inner skeleton and scarab beetles live in their outer skeleton. Scarab beetles survived a lot of catastrophes on the planet that we could not survive. I think animals are the best doctors and philosophers in the world. We still have to study them well to give ourselves again progress.« http://www.body-pixel.com/2008/09/23/ interview-with-jan-fabre-insects-are-the-oldest-computers/, 30.6.2014. Zitiert nach Jan Fabre im Gespräch, S. 20—24. Jan Fabre zitiert in: Klüser, Bernd: »Einleitung«, in: Jan Fabre im Gespräch mit Jan Hoet und Hugo de Greef, Ostfildern: Cantz Verlag 1994, S. 7—8, hier: S. 8. http://www.zeit.de/1999/36/Bin_ich_ein_Insekt_ Bin_ich_ein_Mensch, 2.7.2014. http://www.zeit.de/1999/36/Bin_ich_ein_Insekt_ Bin_ich_ein_Mensch, 2.7.2014.

CLAUDIA JESCHKE 122 UND RAINER KRENSTETTER TÄNZERISCHCHOREOGRAFISCHE INTERMEDIALITÄTEN ALEXANDER SACHAROFF IN BILD UND BEWEGUNG

Alexander Sacharoff (1886 — 1963) provozierte und faszinierte das Publikum mit seinem spektakulären Kunstwillen, seiner damals als riskant empfundenen Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und seiner utopistischen und ästhetisierten Spiritualität. In Fotografien, Texten, Tanznotaten und einem Film lassen sich Spuren des revolutionären Gestus seiner Kunst finden, der sich in der artifiziellen, retrospektiven Gestaltung von – häufig als androgyn rezipierten – Tanzfiguren, Stereotypen, Rollen verdichtete. Im Folgenden wird es weniger um die diskursive oder tänzerische Re-Konstruktion dieser Tanzfiguren gehen, als um eine durch die Tanzpraxis gefilterte Lektüre medienbedingter Übertragungen von Spuren vergangener Tänze – in diesem Fall: Spuren der Tänze Sacharoffs – in einen heutigen Tänzerkörper.

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Spurensuche Von Sacharoffs Tänzen existieren Daten, Dokumente (unterschiedlichster Art); und in diesen Dokumenten gingen wir, der Tänzer Rainer Krenstetter und ich, Tanzwissenschaftlerin und (Historio-)Choreografin, den für uns relevanten Spuren tänzerischer Aktionen nach. Rainer Krenstetter ist klassisch geschult – sein handwerkliches Können und das darin verkörperte Wissen um Theatralität war ein wesentliches Referenzsystem in unserem gemeinsamen Prozess der praktischen/tänzerischen wie theoretischen/ verschriftlichten Vermittlung.01 Wir versuchten eine flexible wie kritische Vernetzung der vorhandenen Quellen – eine Vernetzung, die immer einen doppelten Medienwechsel beinhaltet, d.h. den Transfer vom Tanz zu Aufzeichnungen, Abbildungen und einen weiteren Transfer dieser Daten in den Körper eines anderen, heutigen Tänzers: Vom Körper distanzierte, entfremdete Informationen werden wieder zum bzw. in den Körper und seine Bewegungen zurück geführt. Die immaterielle Lücke, der Durchgang wird re-materialisiert. Und zwar durch das Verfahren einer tänzerisch verstandenen Intermedialität, die eben die verschiedenen Daten, Dokumente als Medien akzeptiert und sie miteinander kombiniert, sie transformiert, überformt oder als Referenzsysteme ver wendet. Unter dieser Perspektive vermittelt sich Tanz als konditionelles System, als »postproduction«02: Es entsteht eine getanzte Partitur, ein physischer, verkörperter ›score‹, der die vorhandenen Daten auf der Basis eines Dialogs zwischen historiografischer Wissensproduktion und tänzerischer Verkörperung ordnet und in Zeit und Raum gestaltet. So gesehen, ist der ›embodied/corporeal score‹ gleichermaßen eine Nachschrift wie eine Vorschrift, da er sowohl Spuren sichert und tänzerisches Material sammelt als auch potentiell Instruktives, Wissenswertes, also Vorschläge für ein zukünftiges ›Was‹ und ›Wie‹ beinhaltet. Postproduktion: ›embodied/corporeal score‹ Wie Alexander Sacharoff in seinen späten Performances getanzt hat, ist in einem Film aus den frühen fünfziger Jahren dokumentiert.03 Zudem hat Sacharoff zwei seiner Tänze notiert; diese Notate sind gezeichnete Strichfiguren-Sequenzen. Im Fall eines ›griechischen Tanzes‹ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beinhalten sie eine Reihe von Körperposen auf ihrem Weg durch den Raum.04 Im Fall der Bourrée Fantasque zur Musik von Emanuel Chabrier05, deren Ausführung auch im Film zu sehen ist, ergänzt Sacharoff die Posen durch farbige Bewegungslinien von Armen, 01

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Der Anlass für unsere Auseinandersetzung mit Alexander Sacharoff war die Arbeit an einem Dokumentarfilm Poeten des Tanzes. Die Sacharoffs unter der Regie von Stella Tinbergen. Der vorliegende Text ist Teil umfangreicherer Recherchen und Proben, die vom TANZFONDS ERBE, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, unterstützt wurden (vgl. www.tanzfonds.de). Vgl. Bourriaud, Nicolas: Postproduction. Culture as Screenplay: How Art Reprograms the World, New York: Sternberg Press 2005. Poesia della danza, Lux Film, 1952—54. Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller 1913, Tafel IX und 1921, 3. Aufl., Tafel XIV. Abb. auch in Peter, Frank-Manuel u. Stamm Rainer (Hg.): Die Sacharoffs. Zwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters, Köln: Wienand 2002, S. 53. »Er [Sacharoff] nahm das viereckige Blatt als Bühnenboden an und fixiert darauf in Flächenprojektionen die Bewegungsreihen von Tänzen. Dadurch, dass er auch die Wiederholun-

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gen von Bewegungsmomenten, also genau dieselben Bilder mehrmals, einzeichnet, kann er den Rhythmus darstellen; da die fortlaufende Gestaltenreihe aber immer ein fortlaufendes Schreiten bedeutet, merkt er die Bewegungen auf der Stelle, welche dies Schreiten unterbrechen, als Figuren-Rosetten am Rande an. So wenig dies Verfahren natürlich das tausendfache Spiel der Bewegung wiedergeben, so wenig es Tanz ersetzen oder auch nur indirekt als Vorstellung vermitteln kann, so war es doch für ihn ein bedeutendes Studienmittel, und da es das Nacheinander der Tanzbewegung, das im architektonischen Sinne immer auch ein Gleichzeitiges sein muss, eben durchaus als Gleichzeitiges festhält, so konnte er hier über die struktiven Gesetze des Tanzes Rechenschaft ablegen.« (Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller 1921, 3. Aufl., S. 149.) Veroli, Patrizia (Hg.): I Sakharoff, un mito della danza fra teatro e avanguardie artistiche, Bologna 1991, S. 34, Abb. 21: Alexandre Sakharoff: Notazione coreografica di »Bourrée Fantasque«, 1952.

Beinen, Kopf innerhalb des Körperumraums; zudem entwickelt er abstrakte Zeichen für das verwendete Schrittvokabular und vermerkt die Dauer der Bewegungen durch die Korrelation der notierten Posen zu einer vereinfachten Partitur.06 Mehr, vor allem frühere, Transfers seiner Tänze finden sich auf den zahlreichen Fotografien, dem damals sich neu entwickelnden und bald weit verbreiteten (künstlerisch wie kommerziell genutzten) Medium des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der ›direkte‹ Informationswert von Fotografien07 für die ›in actu/in motu‹-Re-Konstruktion von Tanz ist schwer einzuschätzen, vor allem dann, wenn wie im Fall Sacharoff die Kostüme Körperlichkeit und Bewegungsansatz camouflieren. Zweifellos aber liefern sie wertvolle – indirekte – Informationen zur visualisierten Rezeption von Tanz. Zum Beispiel finden sich auf den vielen, wenn auch nicht vielfältigen, Sacharoff-Fotografien Informationen zu Körper, Raum und Komposition des Körpers, die offensichtlich für die Fotografen der Zeit reizvoll waren: Es sind Arrangements mit vor allem spektakulärem, dekorativem Gestus, die zwischen der Abbildung eines Tanzkonzepts (und dessen – aus heutiger Sicht nur spekulativen – Nähe zur damaligen Tanzrealität) und der Wahrnehmung des Fotografen (und den durch die Übertragung in die vom Medium abhängigen Konditionen) oszillieren. Als vielfach verschränkte Dokumente von Tanz und Fotografie sind sie so fragmentarisch wie komplex; nichtsdestotrotz (oder gerade deshalb) dienen sie der re-konstruktiven Erinnerung an vergangenes Tanzen und der kreativen Vorstellung von zeitgenössisch relevanter tänzerischer und choreografischer Potenzialität. Für unsere Suche nach der spezifischen Körperlichkeit und Bewegung von Alexander Sacharoff liefern Film, Notate und Fotografien demnach zumindest konkretisierbare Hinweise: Im Film zeigt sich u. a., dass Sacharoff ohne Bodenbezug, ohne explizite Verwendung von Körperschwere tanzte. Die Notate sind Nachweise seiner bildkünstlerischen Ausbildung und der dabei erworbenen Fähigkeiten, Bewegung zeichnerisch und analytisch zu erfassen, zu konzipieren und darzustellen. Und die Fotografien vermitteln seine Vorliebe (oder die der Fotografen) für die Verwendung von Profil, Betonung der Linie, von Arm-, Hand- und Kopf-Gesten; Sacharoff stellt sich und seinen Tanz aus, er spielt bewusst mit dem wahrnehmenden Blick der Zuschauer/Fotografen und in der Folge auch der Betrachter von Tanz/Fotografien.08 Visualisierung/Wahrnehmung: ein Tanzalbum Vor allem die Fotografien in ihrer komplexen Schichtung von Bewegungsabbildung und Bild der Wahrnehmung ermöglichten die explosiven interaktiven Momente in unserer performativen Annäherung09 an das Bewegungsverständnis und -konzept von Sacharoff. Zum Beispiel: der »wohl von der italienischen Frührenaissance inspiriert[e]«10 Tanz (im Folgenden ›Renaissance-Tanz‹), zu dem uns eine große Anzahl von Fotografien vorlagen.11 Von diesem Renaissance-Tanz kennen wir weder den genauen Titel noch die Musik. Auf den ersten Blick scheint die Anzahl der Motive zu suggerieren, dass eine Sequenzialisierung der Posen zu einem choreografischen Ablauf möglich sei. Nach einigen im tänzerischen Resultat nicht sehr überzeugenden Versuchen haben wir uns entschieden, einige

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der Bilder zu selektieren und mit einem offenen choreografischen System zu arbeiten. Mit der Selektion parallelisierten wir, so unsere Überlegung, das Verfahren, nach dem Fotografien in dieser Zeit produziert und publiziert wurden; vor allem aber übersetzten wir die Arbeitsweise Sacharoffs in einen ›embodied/corporeal score‹ – eine am Entwurf orientierte Arbeitsweise, die der Zeitzeuge Hans Brandenburg zu Beginn der Karriere des Tanzkünstlers, also vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beobachtete: »Und doch entrang Sacharoff dieser Schule [dem Ballett] die Möglichkeit, das Problem am eigenen Leibe zu erleben, den Weg der Technik als einen Weg zum Können zu beschreiten. Bei seinem schrittweisen Vordringen zerlegte er sich nun die Aufgabe, und seine ersten Tänze zerfielen nur daher in Einzelbewegungen, weil er zunächst die Einzelbewegung durchgestalten wollte. Sie waren durchaus Übungsstudien, ausgeführt mit dem sehnsüchtigen Blick auf die Schönheit der Antike, und nur weil diese Studien mit so viel Aufwand von nicht überwundener Technik und mit so viel oft feminin anmutendem Raffinement des dekorativen Geschmacks verbunden waren, konnten sie verletzen, während ihr analytischer Charakter als steril erschien und den skeptischen Zuschauer ermüdete. Und es wirkte selbstgefällig, was in Wirklichkeit selbstlose Arbeit war, […].«12 Und: »Wohl ist es noch immer ein langsames Schreiten, ein Knien und Beten, aber dies alles zerfällt nicht mehr in Posen, in Einzelbewegungen, sondern jedes Einzelne leitet ins Ganze, es geht aus ihm her vor und kehrt zu ihm zurück, es schließt sich zusammen, wie sich Anfang und Ende jedes dieser Tänze zusammenschließen, und wenn man den Anteil prüft, den das Kostüm gleichfalls als notwendiger Koeffizient daran hat, so bleibt nirgendwo mehr etwas Schmückendes, nirgendwo etwas Dekoratives, nirgendwo ein Beiwerk ausstehen, sondern es ist ein Organismus zustande gekommen, dessen Schönheit auf innerer Geschlossenheit beruht.«13 Während wir uns mit dem Notat zum ›griechischen Tanz‹ auch motorisch-tänzerisch befassten, weil er exklusiv den Verlauf einer Bewegung skizziert, erscheint Sacharoffs Verschriftlichung der Bourrée Fantasque als überanalysierte Artifizialisierung seiner Tanzbewegungen, die sich der Rückführung in den Tänzerkörper widersetzten und in ihrer gezeichneten Verdichtung – paradoxerweise – die von uns intendierte praktische Annäherung an Konzept und Vokabular Sacharoffs verunklärten. Ein Beispiel aus den 1910er Jahren, in dem die tänzerisch-motorische ›Korrektheit‹ von Fotografien zunächst gegeben erschien, weil sie sich durch den Abgleich mit einer tanzschriftlichen Partitur nachweisen ließ, ist Vaclav Nijinskys erste Choreografie L’Après-midi d’un Faune. Die Fotografien stammen von Baron Adolphe de Meyer, entstanden in London im Jahr der Uraufführung des Balletts 1912; eine Auswahl wurde 1914 als Album veröffentlicht. Die tanzschriftliche Partitur zu seinem Erstlingswerk schuf Nijinsky jedoch ca. drei Jahre nach der Uraufführung des Balletts, 1915—16, so dass es auch möglich wäre, dass der Choreograf – wenigstens teilweise – seine Notation den bereits veröffentlichten visualisierten Dokumenten angepasst hat. Vgl. Néagu, Philippe: »Nijinskij und de Meyer«, in: Nachmittag eines Fauns, hg. v. Jean-Michel Nectoux, München: Schirmer Mosel 1989, S. 55—63. Es muss nicht betont werden, dass sich weitere Spuren zu Bewegungsverständnis und -konzept in nicht-visuellen Dokumenten finden lassen, die allerdings während dieser Forschungsphase in nur sporadischen Dialog mit den von uns erarbeiteten ›embodied scores‹ traten, da wir genauso wenig Texte illustrieren wollten wie wir beabsichtigten, Fotografien zu kopieren. Zu diesen Spuren gehören Kritiken, die die metaphorische, poetische oder politische Dimension der Kunst Sacharoffs betonen (z. B. in den Artikeln von Hans Brandenburg)

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oder Sacharoffs eigenem (bislang nur unvollständig datierten und unkritisch übersetzten) Texte, in denen er die Bedeutung von Tanz begründet. »Statt die Aufführung als solche zu problematisieren, die aufgrund ihrer Flüchtigkeit mit ihrem Ende unwiederbringlich verloren geht, kommt die Aufführung mehr als Durchgangsphase in einem Performativitätsund Erfahrungskontinuum in den Blick.« Eiermann, André: »Vor-Schriften: Skizzen, Skripte und Scores im Tanz und in der Bildenden Kunst«, in: Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, hg. v. Isa Wortelkamp, Berlin: Revolver 2012, S. 159—183, hier S. 164. Bildunterschrift zu vier Fotografien eines Sacharoff-Tanzes von 1912 von Heinrich Hoffmann und Hans Holdt in Peter u. Stamm, Die Sacharoffs, S. 24. Vier Fotografien sind aktuell publiziert in Peter u. Stamm: Die Sacharoffs, S. 24; Veroli: I Sakharoff, S. 52, zeigt drei Abbildungen, von denen zwei mit Peter u. Stamm identisch sind. Hans Brandenburg veröffentlichte in allen drei Ausgaben seines Buches Der Moderne Tanz (München 1913, 1917, 1921) Fotografien des sog. ›Renaissance Tanzes‹ von H. Hoffmann München: 1913 erscheinen vier Abbildungen (S. 40—43), 1917 führt Brandenburg eine Serie von fünf Abbildungen an (S. 41—45), und 1921 findet sich nur noch eine einzige Fotografie zum ›Renaissance Tanz‹ (S. 53). Das Bildgedächtnis zu dieser Gestaltung Sacharoffs umfasst in Brandenburgs Publikationen mit ihren zehn Fotografien sechs verschiedene Posen, von denen eine auch in Peter u. Stamm (plus drei differente) wie Veroli wieder aufgegriffen wurde und eine weitere (1917) noch einmal bei Veroli erscheint. Das Bildarchiv der heute leicht zugänglichen Publikationen umfasst also elf unterschiedliche Haltungen. Für unseren Arbeitsprozess lagen uns Fotografien von 23 ungleichen Posen vor; sie wurden uns von Stella Tinbergen zur Verfügung gestellt. Brandenburg: Der Moderne Tanz, 1913, S. 127. Ebd., S. 129.

[ABB. 01] Rainer Krenstetter in Poeten des Tanzes (Filmstill)

Performance – Choreografie Entscheidend für unsere tanzorientierte Auswahl ist zunächst die Varianz der fotografierten Fußpositionen, Körper- und Kopfhaltungen, Blickrichtung, Armgesten; gleichermaßen bestimmt sich die Anzahl der für die Performance verwendeten Bilder durch die jeweilige Größe des zur Verfügung stehenden Tanzraums. Für die Performance legen wir diese Bilder in zufälliger Ordnung (und in einer dem Tanzraum angepassten Zahl) in einem Kreis aus, um auch räumlich den Eindruck zu vermeiden, es entwickle sich ein Tanz mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Rainer Krenstetter entscheidet erst in dem Moment, in dem er zwar – unvermeidlich – als im klassischen Tanz habitualisierte Person14, nicht jedoch mit intendiertem gestalterischen Gestus, den Kreis betritt, mit welchem Bild er beginnen will, auf welche Fotografie er als Erstes blickt. Auch die Wege zu den weiteren legt er erst während des Tanzes fest, entsprechend einer aus dem Ereignis des Tanzens entstehenden Selektion; und ebenso bestimmt er dessen Ende extemporierend. Da wir nicht wissen, zu welcher Musik Sacharoff den ›Renaissance Tanz‹ ausgeführt hat, ob er überhaupt Musik verwendete, ja, ob es sich überhaupt um einen Tanz handelte oder vielmehr um Studien, in denen der Künstler vor mindestens zwei Fotografen mit Posen in Kostüm und Maske experimentierte, haben wir uns für eine quasi atmosphärischassoziative Lösung der Frage nach der möglichen Dauer unserer Performance entschieden, indem wir die imperfekte Tonaufnahme eines von einem Sacharoff-affinen Pianisten gespielten Musikstücks zu Gehör brachten, das in Länge und Manier dem Musikgeschmack der Sacharoffs entsprochen haben könnte.15

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[ABB. 02] Tamara Kronheim in Poeten des Tanzes (Filmstill)

Performance – Bewegungsmaterial Wir arbeiteten daran, den Tanz in jeder fotografierten Pose, in jedem einzelnen Bild zu entdecken, auf das Rainer Krenstetter blickte, auf das er sich zubewegte. Was bedeutete, dass wir versuchten, uns mit der Konstruktion von Sacharoffs Körperlichkeit in der Zuordnung der sichtbaren Körperteile – Hände und Arme, Kopf – zu den Körperhaltungen unter dem Kostüm auseinanderzusetzen. Beide sind angelehnt an die Bildhaftigkeit sakraler Kunst aus der Renaissance16; wie bei den Notaten hat sich Sacharoff auch mit diesen Haltungen zeichnerisch befasst. Zusätzlich zu den strukturellen Analysen durch die Skizzen werden auf den Fotografien Kontraste augenscheinlich zwischen dem dunklen, flächig verwendeten Kostüm und den hellen, ausdruckstarken, detailliert gestalteten Hand- und Kopf-Positionen. Letztere nehmen die Ornamentik der Kostüm-Textur auf und übertragen sie auf die Gesamthaltung und ihre Wirkung. Um die jeweilige Gesamthaltung wie die dazu gehörigen extremen und extrem detaillierten Hand- und Kopf-Positionen herzustellen, entwickelten wir die Strategie, diese Stellungen – in einzelnen Mikro-Choreografien – von unten nach oben und gleichzeitig von innen nach außen aufzubauen. Rainer Krenstetter beschrieb den tänzerischen Prozess als ein ›Hineingehen in den Körper Sacharoffs‹. Er generiert durch diese ›historische Phantasie‹ die ereignishafte Kommunikation zwischen den Abbildungen von einem 14

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Vereinfacht ausgedrückt arbeitet die klassische Schule an Präzision und Artikulation, muskulärer Kraft und Elastizität, räumlicher Ausdehnung und Klarheit in Linienführung und Raumrichtung. Wir verwendeten die Aufnahme eines nicht genau identifizierbaren Klavierstücks, das der ehemalige Pianist

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von Clotilde Sacharoff, Vincenzo Montenovesi, – wahrscheinlich nach Motiven von Girolamo Frescobaldi – im Sacharoff-Stil improvisierte/interpretierte. Unser Dank geht an Stella Tinbergen, die unsere Aufmerksamkeit auf diese private Einspielung lenkte. Siehe Peter u. Stamm: Die Sacharoffs, S. 15.

[ABB. 03] Heinrich Hoffmann: Alexander Sacharoff, in: Hans Brandenburg, Der Moderne Tanz, 1. Auflage, München 1913, S. 40—43.

kulturellen, künstlerischen Körper und von seinem eigenen Körper, den er nicht als Bild, sondern als Erfahrung wahrnimmt. Rainer Krenstetter produziert und erlebt eine provokativ künstliche Körperlichkeit, die, so wird sichtbar und erfahrbar, riskiert aus der Balance zu geraten, jedoch immer höchste Kontrolle wahrt und offensive Form offeriert. Der Tänzer löst die einzelnen Positionen auf umgekehrtem Weg wieder auf und beendet die einzelnen Mikro-Choreografien, indem er – in einer Lektüre des Auslassens, Übergehens – eine weitere Fotografie in den Blick nimmt und den Raum zu dieser quert und von neuem eine kleine Choreografie gestaltet. Sein Körper ist während des tänzerischen Prozesses nicht nur in der Ansicht sondern von allen Seiten sichtbar, verlässt die Flächigkeit der fotografischen Abbildung und entwickelt Plastizität, Skulpturalität. Im Entwurf von intermedialer Raumzeit generiert der Tänzerkörper ein ›embodied/corporeal score‹ vom tänzerischen Programm Sacharoffs und gleichermaßen verdeutlicht und kommentiert er die Medienspezifik von Bild und Bewegung.

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129 GERALD SIEGMUND EMPFINDUNG UND RISS KÖRPER, RAUM UND WAHRNEHMUNG IN TANZFOTOGRAFIEN VON GERTRUD LEISTIKOW UND GRETE WIESENTHAL

Gegenstand dieses Textes sind zwei Tanzfotografien. Die erste Abbildung zeigt die Tänzerin Getrud Leistikow (1885 — 1948), die zweite Grete Wiesenthal (1885 — 1970). Beide Fotografien zeigen Solotänzerinnen im Sprung. Es sind Fotos, die nicht in einem Studio oder gar im Theater während einer Vorstellung aufgenommen wurden, sondern in der freien Natur. Es sind Außenaufnahmen, die den tanzenden weiblichen Körper mit einer Natur in Beziehung setzen, die sich in beiden Fällen als gestaltete Kulturlandschaft erweist. Mein Hauptinteresse gilt dabei weniger den Bildern als Bildern von Bewegung (die dynamische Offenheit ihrer Sprünge), sondern der Konzeptionalisierung der Wahrnehmung, die die Bilder durch die Figuration der Körper in ihrem auffälligen Verhältnis von Vorder- und Hintergrund thematisieren. Die Art und Weise, wie sich die Körper der Tänzerinnen zur oder in der abgebildeten Natur verhalten, figuriert die Wahrnehmung dieser Körper durch den Betrachter. Die Frage nach der Wahrnehmung des tanzenden Körpers im Verhältnis der ihn umgebenden Natur wird zunächst

[ABB. 01] Fotograf unbekannt, Gertrud Leistikow, in: Hans Brandenburg: Der Moderne Tanz, 3. Auflage, München: Georg Müller 1921, S. 68.

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an der Komposition und dem formalen Bildaufbau der Fotografien erörtert. In einem zweiten Schritt werden wahrnehmungstheoretische Fragen angestellt. Hier ergeben sich zentrale Differenzen zwischen den beiden Fotografien, die bei allen struktural gleichen Inhalten doch zwei gänzlich verschiedene Wahrnehmungsweisen und Grund-Figur-Verhältnisse implizieren. Das Foto von Gertrud Leistikow [→ABB. 01] entstammt der dritten, nochmals erweiterten und überarbeiteten Auflage von Hans Brandenburgs Buch Der Moderne Tanz aus dem Jahr 1921. Das Buch war 1913 »mitten im Drange der ersten Entwicklung des modernen Tanzes entstanden«, wurde gleich darauf überarbeitet und konnte jedoch aufgrund des ausgebrochenen Ersten Weltkriegs in seiner zweiten überarbeiteten Fassung erst 1917 wieder erscheinen.01 Brandenburg, der für sich reklamiert, mit seinem Buch »entschiedenen Anteil an der Entwicklung des modernen Tanzes gehabt«02 zu haben, war mit dem Laban-Kreis auf dem Monte Verità bei Ascona in der Schweiz vertraut und kannte auch Gertrud Leistikow persönlich.03 Seine Frau, die Malerin Dora Brandenburg-Polster, hatte 1911 zahlreiche Zeichnungen und Bewegungsstudien von Leistikow angefertigt, die zum Teil ebenfalls in Der Moderne Tanz abgedruckt wurden. Entgegen der sonstigen Praxis des Buches, finden sich unter dem Foto von Gertrud Leistikow auf Seite 68 des Bildteiles keinerlei Angaben zu Fotograf, Gegenstand, Ort oder Zeit der Entstehung des Bildes. Karl Töpfer datiert es in seinem Werk Empire of Ecstasy auf das Jahr 1914 und unterschreibt es mit »Gertrud Leistikow performing in a meadow near Ascona, 1914«.04 Da sich Leistikow zur damaligen Zeit bei Laban in Ascona aufhielt, wo sie u.a. zusammen mit Mary Wigman in Hans Brandenburgs Stück Sieg des Opfers tanzte, ist die Datierung wahrscheinlich korrekt, zumindest naheliegend. Es liegt auch nahe, dass es sich um ein privates Foto handelt, das sich in Brandenburgs Besitz befand. In der zweiten Auflage 1917 ist das Bild noch nicht enthalten, wohl weil Leistikow dem Abdruck zunächst nicht zugestimmt hatte, wollte sie doch nicht als »Nackttänzerin« wahrgenommen werden,05 einer Kategorie, unter die sie auch Karl Toepfer in seinem Buch rubriziert. Toepfer wendet sich gegen Brandenburgs Charakterisierung der Tänzerin als Tragödin des modernen Tanzes, als jemand, der in den dionysischen Abgrund des menschlichen Lebens geschaut und die Erfahrung zur absoluten Form und zur geformten Bewegung verdichtet habe.06 Toepfer sieht in der Nacktheit Leistikows weniger die große Tragödin, sondern die Nacktheit »made her body a powerful sign of power and freedom«.07 Leistikow übersiedelte nach dem Ersten Weltkrieg in die Niederlande und war dort maßgeblich an der Durchsetzung des modernen Tanzes und der Gründung der Rotterdamer Tanzakademie beteiligt. Bildaufbau Das Foto von Gertrud Leistikow zeichnet sich durch eine Grundspannung zwischen horizontalen und vertikalen Linien aus. Der Bildhintergrund ist in vier Ebenen oder Flächen unterteilt, wobei ungefähr zwei Drittel des Bildes durch eine Wiese eingenommen werden. Darüber erstreckt sich von links 01 02 03 04

Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller 1921, 3. erw. Aufl., S. 1. Brandenburg: Der Moderne Tanz, S. 1. Ebd., S. 176. Toepfer, Karl: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1910—1935, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1997,

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Bildteil, figure 6. Diesen Hinweis verdanke ich Jacobien de Boer, die eine Biografie über Gertrud Leistikow verfasst hat: de Boer, Jacobien: Gertrud Leistikow – dans voluit, dat is leven, Amsterdam: De Kunst 2014. Brandenburg: Der Moderne Tanz, S. 157—173. Toepfer: Empire of Ecstasy, S. 26.

nach rechst abfallend eine farblich dunklere Baumreihe, wobei ein Baum den ganzen linken Bildrand bis nach oben hin abschließt. Hinter der Baumreihe erhebt sich eine Bergkette, ebenfalls in einer zum rechten Rand hin leicht abfallenden Bewegung. Darüber befindet sich ein wolkenloser Himmel, dessen heller Grauton das Bild nach oben hin zu öffnen scheint. Vor diesem horizontal gegliederten Hintergrund hebt sich der nackte Körper Gertrud Leistikows in einer geschwungenen vertikalen Linie ab. Der Körper befindet sich im Sprung; die beiden Füße haben den Boden verlassen, der Kopf ist weit zurückgelegt, sodass sich der Körper nach links hin wölbt und aus dem Bild heraus drängt. Der Raum vor dem Körper ist signifikant kleiner als jener hinter dem Körper. Der vertikal ausgerichtete Körper durchschneidet die Flächen der Wiese, der Baumreihe sowie des Gebirges, wobei er den Himmel allerdings nicht berührt und lediglich anblickt. Aus der Grundspannung zwischen dem scharf konturierten Körper als Vordergrund und der leicht verschwommenen und unfokussierten Natur als Hintergrund ergibt sich nun ein Spiel der Äquivalenzen zwischen Körper und Natur. Die gestreckte Partie zwischen den zu Dreiecken gewordenen Brüsten und dem hochgereckten Kinn korrespondiert mit der Linie des Bergkamms, wobei Brustwarzen, Kinn und Nase die Bergspitzen bilden. Der nach vorne gewölbte Körper greift, in die Vertikale gekippt, die abfallenden Linien der Bäume und Berge auf. Der kurze Haarschopf der Leistikow fällt, allerdings auch hier scharf vom Grund geschieden, in die Baumreihe, auf der der Kopf der Figur regelrecht aufsitzt. Aus der nach hinten gezogenen Schulter der Tänzerin fällt ein durchgestreckter Arm lotrecht nach unten; der ganze Körper ist sichtbar angespannt, gedehnt. Aus dem Handgelenk kippt in einer unnatürlichen Stellung die Hand im 90-Grad Winkel nach hinten weg und bildet auf diese Weise eine imaginäre horizontale Linie, die nun ihrerseits die Wiese durchtrennt. Der ganze Körper ist zu einer geometrischen Abstraktion aus Halbkreisen (der gewölbte Körper), Linien (diagonale und vertikale Linien der Arme, Unterschenkel, Oberschenkel, Bauch, der Brust) und Dreiecken (die Brüste, der Bereich zwischen Rücken, Po und Arm) geworden. Denkt man den Körperbogen der Tänzerin zu Ende, so beschreibt sie mit ihrem Sprung einen nahezu perfekten Kreis, der die Geschlossenheit und Abgeschlossenheit ihrer Gestalt betont. Die Tendenz zur Abstraktion wird noch dadurch unterstrichen, dass der Betrachter der Fotografie das Gesicht von Gertrud Leistikow nicht sehen kann. Dem offenen Himmel entgegengestreckt, bleibt es vom Betrachter abgewandt. Gleichsam entpersönlicht wird der Blick des Betrachters auf den nackten Körper gelenkt, der zugleich entsinnlicht und abstrahiert dargestellt wird. Der nackte Körper rückt durch diese Art der Darstellung unmissverständlich ins Zentrum der Betrachtung. Dieser Körper zeigt sich und er zeigt ostentativ auf sich, indem er von der individuellen Person absieht, die ins Allgemeine der Geometrie überführt wird. Die Verbindung zwischen dem nackten ›natürlichen‹ Frauenkörper und der natürlichen Landschaft (genaugenommen ist auch sie bereits eine Kulturlandschaft aus Wiesen und Bäumen), stellt sich einzig und allein über die kompositorischen Elemente und Äquivalenzen zwischen ihnen her. Der nackte Körper der Frau, die auf mehrfache Weise Natur symbolisiert, und die ihn umgebende Natur beziehen sich über ihre Formen und Prinzipien aufeinander und nicht aufgrund einer körperlichen Dynamis, einer Energie, einen Schwung, der den Körper in die Landschaft einschreiben würde. Der Körper wird zur Idee von Natur, die dann erscheint, wenn der Körper sich entkörperlicht und transformiert.

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Körper und Raum im Riss Der nackte Körper im Sprung, der die Zentralität des Körpers nicht nur für den Tanz der Moderne, sondern auch der ganzen Lebensreformbewegung und die Kultur der Moderne unterstreicht,08 fügt sich auf diesem Bild nicht harmonisch in die Natur ein. Körper und Natur werden durch die scharfen Linien seiner Konturen getrennt. Obwohl die Tänzerin auf einer Wiese springt, sieht ihr schwebender Körper aus, als sei er ins Bild und die Natur hinein montiert worden. Das Bild wirkt inszeniert. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass der Körper auf der Wiese keinerlei Schatten wirft. Der nackte, weiße Körper erscheint vielmehr selbst wie ein Sonnenstrahl, der die Wiese erleuchtet. Der Körper erscheint in seinen Umrissen derart scharf, weil der Hintergrund unscharf bleibt. In der Rede vom Sonnenstrahl, der die Wiese erhellt und dadurch erst sichtbar macht, verbirgt sich ein grundsätzlicheres Problem, nämlich das von Körper und Raum und deren wechselseitiger Hervorbringung. In der Forschung ist besonders in Bezug auf Rudolf von Laban und Mary Wigman immer wieder auf die Wichtigkeit des Körper-Raum Bezugs in ihrer Vorstellung eines absoluten oder freien Tanzes hingewiesen worden. So schreibt etwa Hans Brandenburg über Mar y Wigman: »Sie baut in den Raum hinein einen zweiten Raum, indem ihr Tanz schwebt wie ein Weltkörper in seinen unsichtbaren Angeln und der wie ein gläsernes Firmament zersplittern müsste, wenn sie seine Wölbungen überschritte.«09 Susan Manning hat für Wigmans Ästhetik den hilfreichen Begriff »Gestalt im Raum« geprägt, worunter sie die raumplastische Formung von Energie versteht: »configuration of energy in space«10, eine Konfiguration von Energie, die das tanzende Subjekt, oft mit Hilfe von Masken, transformiert und in einen Anderen verwandelt. Diese Bündelung von Energie zu einer erkennbaren Gestalt, die sich von ihrem Hintergrund räumlich absetzt, wirft über das Phänomen der erzielten oder zumindest angestrebten Verwandlung der Tänzerin hinaus die grundsätzliche Frage nach der Konstitution von Räumen durch die tänzerische Gestalt auf. Das Wechselspiel von Vorder- und Hintergrund, von Figur und Grund durch die körperliche Gestalt Gertrud Leistikows in der anonymen Fotografie setzt nicht nur zwei Bildbereiche miteinander in Beziehung. Die Gestalt eröffnet allererst den Raum, der sie doch scheinbar immer schon umgibt. Juliane Rebentisch hat dies in ihrer Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Denken des Raumes herausgearbeitet: Für Heidegger ist es zunächst der Ort – ein Tempel, eine Brücke –, der den Raum »im Sinne einer gegendhaften Umwelt« allererst erschließt.11 Der Raum wird – im Gegensatz zum mathematisch-euklidischen Raum – zum lebensweltlichen Raum, der sich durch das Einräumen von Orten als Raum herstellt. Dieser Raum nun ist in Bezug auf das Ding, das ihn hervorbringt, gekennzeichnet durch eine Wechselbeziehung zwischen dem, was Heidegger Erde und Werk nennt. »Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene der Welt. Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.«12 Zwischen Erde und Welt entspinnt sich nun ein »Streit«, 08 09 10

Vgl. ebd., S. 1. Brandenburg: Der Moderne Tanz, S. 201. Manning, Susan A.: Ecstasy and the Demon. Feminism and Nationalism in the Dances of Mary Wigman, Berkeley/Los Angeles: University of Minnesota Press 1993, S. 41.

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Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Surhkamp 2003, S. 238. Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerks«, , in: Martin Heidegger: Holzwege Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2003, S. 7—74, hier: S. 35.

weil im gleichen Moment, wie das Werk die Erde herstellt, sich das Werk auf die Erde zurück zieht. Es stellt sich zurück und verbirgt sich im gleichen Zuge, wie es sich zeigt. Dieses Zurücknehmen oder Verstellen des Werkes in der Erde kann zweierlei bedeuten. Zum einen meint das Zurücknehmen in die Erde das Zurücknehmen des Sinns in die Materialität des Kunstwerks, »in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, in die dunkle Glut der Farben«.13 Zum anderen bedeutet es auch ein Eröffnen oder »Einräumen« des Raumes durch den Riss, den das Werk dem Raum zufügt, damit dieser sich als Grund zeigt. Der Raum als Grund wird zum Teil des Werkes, mit dem er durch die oszillierende Bewegung zwischen Figur und Grund interagiert. Die Gestalt fügt demnach der Welt einen Riss zu, der für einen nicht stillzustellenden Umschlag verantwortlich ist, ein Umschlag zwischen Sinn und Entzug von Sinn, Gehalt und Materialität, Raum und Körper. »Tatsächlich ist die festigende Grenze, der rahmende Umriß der Gestalt, bei Heidegger alles andere als statisch gedacht«, fasst Juliane Rebentisch in Bezug auf Heideggers Text »Der Ursprung des Kunstwerks« (UdK) zusammen. »Die Grenze ist ›das Ruhende‹ nach Heidegger nur ›in der Fülle der Bewegtheit‹. (UdK 71) Grenze ist der Umriß der Gestalt nur insofern dieser zugleich als Durchriß, Grundriß nur, insofern dieser zugleich als Aufriß verstanden wird. (Vgl. UdK 51) Die Grenze ist bei Heidegger ›in den Riß gebracht‹ (vgl. UdK 52); sie ist gleichsam der Ort des Streits, durch den sich das plastische Werk als Kunstwerk konstituiert.«14 In diesem Sinne verstehe ich den nackten Körper von Gertrud Leistikow, wie er sich in der anonymen Fotografie zeigt, als das Bild eines skulpturalen Volumens, das sich durch seinen Riss mit der ihn umgebenden Natur »als Kunstwerk konstituiert«. Ihr nackter Körper ist ein Ge-Stell (er stellt den Raum her, indem er sich als Ort aufstellt und exponiert) und ein Dispositiv, das die Natur als vermeintlich signifikanten Umraum durch den Körper produziert. Der Raum spielt in der Gestalt mit, und zwar auf eine bewegte Weise, die sich in der ästhetischen Komposition der Fotografie durch die oben herausgearbeiteten Korrespondenzen von Linien und Formen wohl am deutlichsten zeigt. Die Wichtigkeit des Raumes für den Tanz der Moderne, wie er sich von Laban über Wigman und in diesem Falle Leistikow in ihrer Zeit bei Laban in der Schweiz ergibt, wird vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich. Die Fotografie von Gertrud Leistikow stellt nahezu ikonisch die Korrespondenz zwischen Körper-Ort und Um-Raum als zugleich unterbrochene und raumstiftende Verbindung aus. Der Körper als natürlicher kann sich nur über den Bruch mit der Natur im Riss zwischen Gestalt und Grund ereignen. Der Körper der Tänzerin auf der Fotografie tanzt im Riss, der der Körper selbst ist, auf der Grenze zwischen Vorder- und Hintergrund. Die Wahrnehmungsweise, die die Fotografie nahelegt, ist demnach eine, die sich an den scharfen Rändern oder Umrissen des Körpers abarbeitet, an denen die Figur kippt, sich auf den Raum hin öffnet, nur um sich in ihm wieder zu verschließen. Die Opazität des Körpers, seine physische Materialität, die sich in ihrer Abstraktheit in der Fotografie als geformte weiße Fläche manifestiert, nimmt den Raum in sich auf, nur um sich vor ihm abzuschließen. Die Eröffnung einer Welt in der Fotografie erfolgt über das Setzen von Orten, also dem Körper der Tänzerin, an dessen Gestalt sich das Auge zunächst festhält. Der Riss, den dieser Körper dem Raum zufügt, um diesen als für den Körper und den Betrachter signifikanten herzustellen, impliziert

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aber auch, dass andere Dinge aus dem Hintergrund zum Vordergrund werden können. Der Riss eröffnet auch eine Leere, die den Raum in »seinem Darstellungspotenzial«15 erscheinen lässt. Der Hintergrund kann umschlagen und ganz andere Dinge in den Vordergrund heben, die wiederum aus einem anderen Blickwinkel heraus andere Räume eröffnen. Das Eröffnen von Räumen hängt phänomenologisch betrachtet an der grundlegenden Perspektivstruktur der Körper-Orte. Raum ist auch nach dem Ende des zentralperspektivischen Dispositivs immer noch eine Sache der Perspektive. Ein anderes, vielleicht älteres Wahrnehmungsmodell zeigt sich in einer anderen Fotografie aus Hans Brandenburgs Buch. [→ABB. 02] Es handelt sich um eine Fotografie der Tänzerin Grete Wiesenthal, die der Fotograf Rudolf Jobst aus Wien hergestellt hat.16 Es hält einen Moment aus Grete Wiesenthals Tanz Donauwalzer fest und ist eingebettet in eine ganze Serie anderer Bilder sowohl aus dem Donauwalzer, als auch aus anderen Tänzen der Wiesenthal und ihrer Schwestern. In Brandenburgs Buch ist dem Foto kein Datum zugewiesen. Das Österreichische Theatermuseum in Wien datiert das Bild auf ca. 1908. Katja Schneider verweist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Foto auf einem Tennisplatz aufgenommen wurde.17 Ich habe das Foto zum Vergleich ausgewählt, weil es wie das Foto von Gertrud Leistikow ebenfalls eine Solotänzerin im Sprung beim Tanzen im Freien zeigt. Neben diesen Ähnlichkeiten weist die Fotografie aber auch eine Reihe signifikanter Differenzen zu dem Bild von Leistikow auf, um die es mir hier gehen soll. Bildaufbau Zunächst ist festzustellen, dass der Hintergrund sich lediglich in zwei Hälften teilt: eine hellerer vorderer Teil, der Tennisplatz, als Tanzplatz und die dunklere obere Hälfte aus Bäumen oder Büschen. Der Hintergrund wirkt optisch geschlossen wie eine Fläche, ohne dass der Himmel zu sehen wäre. Wiesenthals Körper wirft einen Schatten, der am linken unteren Bildrand als dunkler Fleck zu sehen ist. Im Gegensatz zu Leistikow tanzt Wiesenthal in einem dunklen knöchellangen Kleid. Ihr Gesicht bleibt wie auf allen Fotos von ihr in Brandenburgs Buch, sei es im Profil, sei es leicht zur Seite oder nach hinten geneigt, dem Betrachter doch stets lächelnd zugewandt. Ihr Körper befindet sich im Sprung, das rechte Bein ist dabei leicht angewinkelt, sodass der Fuß nach hinten zeigt, das linke Bein wirkt gestreckter, sodass der Schuh des linken Fuße nach vorne zeigt. Ihr ganzer Körper ist geschwungen, die Hüfte zum linken Bildrand zeigend, die Arme sind auf Schulterhöhe angewinkelt und doch schwebend ausgebreitet, die Handflächen beider Hände sind leicht nach oben geöffnet. Körper und Raum als Empfindung Was zeigt sich auf dem Bild von Grete Wiesenthal nun im Gegensatz zum Bild von Gertrud Leistikow? Welche Wahrnehmungsweise wird hier figuriert? Das Bild des Körpers von Grete Wiesenthal erscheint weit weniger als ein entpersönlichtes, körperliches Abstraktum als jener von Gertrud 13 14 15 16 17

Ebd., S. 51. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 255. Ebd., S. 256f. Brandenburg: Der Moderne Tanz, S. 8 (Bildteil). Schneider, Katja: »Bewegung wird Bild. Der freie Tanz

der Wiesenthals und die Tanzfotografie«, in: Gabriele Brandstetter und Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal, München: Kieser 2009, S. 215—250. vgl. S. 250, Fn 82.

[ABB. 02] Rudolf Jobst, Grete Wiesenthal (Donauwalzer), in: Hans Brandenburg: Der Moderne Tanz, 3. Auflage, München 1921, S. 8.

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Leistikow. Durch ihre in den Umraum ausgreifenden Gesten (Arme, Hände, Füße, der Schatten, der den Körper auf die Wiese wirft) wirkt der Körper der Wiesenthal verbunden mit dem Hintergrund. Er greift aus. Diese Verbindung geht sogar bis zur Auslöschung des Körperumrisses, wenn etwa ihre langen fliegenden Haare sich gleichsam mit dem Laubwerk der Bäume vermischen oder wenn die Falten des Kleides wie Laub im Wind ihren Köper umspielen. Die Verbindung zur umgebenden Natur, in der getanzt wird, erfolgt hier also nicht über ästhetische Korrespondenzen, sondern über die Dynamis des Sprungs, der den Körper in seiner Gestalt gerade aufzulösen trachtet. Auf dem Foto von Grete Wiesenthal wird der Körper (noch) nicht als raumeröffnend begriffen, die Wahrnehmung als eine das perspektivische Sehen gebundene Kippfigur von Figur und Grund. Der Körper verbindet sich mit dem Umraum der Natur zu einer Fläche, auf der seine Teile umherfliegen wie die Haare der Wiesenthal. Die öffnende Dynamik des Sprungs erzeugt, anders als bei Leistikow, eine Unmittelbarkeit des Tanzes und des tanzenden Körpers, an dem der Bildbetrachter Teil zu haben scheint. Man sieht und spürt den Tanz und die Luftwirbel regelrecht, die seine Bewegungen erzeugen. An anderer Stelle habe ich diese Veränderungen hin zu einem »subjektiven Sehen«, das den Akt der Bildkonstitution in den Betrachter hinein verlegt und ihn zugleich zum Produzenten und zum Schauplatz der Sinneswahrnehmung macht, in Bezug auf das romantische Ballett beschrieben.18 Wie der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crar y dargelegt hat, erzeugte dieser Bruch in der Konzeption des Sehens die Vorstellung eines Auges, das sich selbst im Akt des Sehens sieht, indem es aktiv das Wahrnehmungsbild erzeugt. Damit wurde die alte Vorstellung abgelöst, das Auge nehme nur passiv Bilder auf, die unabhängig vom Betrachter in der Welt existierten. »Das optische System ist hier nicht mehr so beschaffen, daß die Welt dem Subjekt als Spiegelung, Korrespondenz oder Repräsentation gegenwärtig wäre. Das Auge hört auf, ein Fenster zu sein, das mit den Eigenschaften der Transparenz und der Durchlässigkeit begabt ist. Stattdessen ist das ruhige Kreisen der rezeptiven Antizipation in der Epiphanie dieses Bildes untrennbar verbunden mit der Möglichkeit, mit dem Traum von einer neuen und modernen Unmittelbarkeit.«19 Gesteigert wird diese Subjektivierung des Sehens und der optischen Wahrnehmung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer für den zeitgleich aufkommenden freien Tanz signifikanten Weise. Hatte Hermann von Helmholtz Mitte des 19. Jahrhunderts, wie Crary darlegt, das Auge und das Sehen noch körperlich isoliert und damit einen autonomen Sehsinn postuliert, rückten gegen Ende des 19. Jahrhunderts physiologische Theorien ins Blickfeld, die die Einflüsse des Sehens auf das motorische Zentrum des Körpers untersuchten. War das Sehen bereits vorher ins Innere des Subjekts verlegt worden, wurde es nun körperlich. »Wenn unser Auge von Strahlen aus rotem Licht getroffen wird«, schreibt etwa Charles Féré, »dann sieht unser ganzer Körper Rot, wie die dynamometrischen Reaktionen zeigen.«20 Féré hatte als Assistent von Jean-Martin Charcot in der Salpetrière in Paris Messungen an Menschen durchgeführt, die deren physiologische Reaktionen auf unterschiedliche Reize festhalten sollten und festgestellt, dass 18

Siegmund, Gerald: »Giselle, oder: das Sehen auf dem Weg in die Moderne«, in: Claudia Jeschke und Nicole Haitzinger (Hg.): Tanz & Archiv: ForschungsReisen, Band 3, Historiographie. München: epodium 2010, S. 120—129.

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Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 70. Zitiert nach Crary 2002, S. 140.

sensorische Reize beim Betrachter einen motorischen Ausdruck hervorrufen. Damit einher geht ein anderes Subjektverständnis, welches das Subjekt herauslöst aus dem Kontext der (visuellen) Repräsentation und in die physiologische Empfindung hineinverlagert. Auch in ihrer unterschiedlichen Auffassung von Subjektivität unterscheiden sich die beiden hier analysierten Fotografien. Die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung durch die Verflechtung des in der Dynamik erfassten Körpers mit der Natur, die die Fotografie anstrebt, korrespondiert mit der Unmittelbarkeit der körperlich-sensorischen Wahrnehmung, in die das Sehen unter Umgehung des Auges eingebettet wurde. Dass die Wiesenthal auf dem Foto einen Walzer tanzt, ist sicher nicht unbedeutend. Jener Gesellschaftstanz, der für Hans Brandenburg wenig »an gewollter Bewegungsplastik«21 zu bieten hatte, ersetzte diesen Mangel durch die Unmittelbarkeit der Erfahrung: »Und wenn er (der Walzer als Gesellschaftstanz, Anm. GS) auch keine Zuschauer braucht, so kann sich das Auge doch an dem Rausche der wirbelnden Menschen, der im Taumel zerfliessenden Gruppen, des stiebenden Lichtes sättigen.«22 Die Auflösung, das Durcheinanderwirbeln der festen Betrachterposition zugunsten von Sinneseindrücken, die motorisch umgesetzt werden, steht hier gegen eine plastische Positionierung des Körpers im Verhältnis zum Raum. Der Text verfolgte die These, dass in den Tanzfotografien bestimmte Wahrnehmungsweisen und, damit verbunden, Subjektpositionen figuriert werden. In der Gegenüberstellung der beiden Fotografien von Gertrud Leistikow und Grete Wiesenthal konnten zwei unterschiedliche Arten des Sehens und Wahrnehmens herausgearbeitet werden. Beide verbindet die Figuration eines subjektiven Sehens, das jedoch jeweils unterschiedlich gedacht wird. Auf der einen Seite steht das subjektive Sehen als eine Art inneres Sehen und Empfinden, das Subjekt und Raum gleichermaßen aufzulösen droht. Auf der anderen Seite steht ein subjektives Sehen, das nach außen gerichtet ist und raumkonstituierend wirkt. Das Subjekt wird in Form einer Gestalt zur Perspektive, die den Raum allererst erzeugt. An den beiden untersuchten Fotografien lassen sich daher auch exemplarisch verschiedene Tanzmodernen ausmachen: jene die, auf das romantische Ballett rekurrierend, an der dynamischen Flüchtigkeit der Bewegung festhält und diese energetisch umformuliert, sowie jener, die das tanzende Subjekt in Auseinandersetzung mit dem Raum konzeptionalisiert, den es hervorbringt.

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Brandenburg: Der Moderne Tanz, S. 41. Ebd., S. 41.

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139 CHARLOTTE RIGGERT DIE SICHTBARMACHUNG DES UNSICHTBAREN ZUM SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON TANZFOTOGRAFIE UND PARAPSYCHOLOGISCHEN FORSCHUNGEN

Wie gelangt die Fotografie einer Tänzerin in ein medizinisches Traktat? Den Ausgangspunkt zu den folgenden Überlegungen bildet das überraschende Auftauchen von Tanzfotografien im medizinischen Diskurs. Wie fanden künstlerische Fotografien – im doppelten Sinne als Fotografien von Kunst wie auch Fotografien als Kunst – Eingang in wissenschaftliche Veröffentlichungen? Welche Funktion erhält Tanzfotografie im medizinischen Diskurs und warum erwies sie sich in damaligen Publikationen als so wirkungsmächtig? Fragen wie diesen widmet sich der folgende Beitrag hinsichtlich der Fotografien der sogenannten Traumtänzerin Magdeleine G., die in Émile Magnins Publikation L’art et l’hypnose. Interprétation Plastique d’Oeuvres Littéraires et Musicales abgebildet sind. Im Zentrum steht dabei die Erzeugung von Sichtbarkeiten im Medium der Fotografie, die hier im Dienste der medizinischen Wissensvermittlung steht. Es wird untersucht, welche Funktionen

diesen Fotografien zum Zeitpunkt ihres Erscheinens (ca. 1905 — 06) zugeordnet wurden und wie dieser spezifische Einsatz der Fotografien zu parapsychologischen Forschungen und ihren Legitimationsstrategien in Wechselbeziehung stand. Betrachtet man die Bilder der Traumtänzerin und berücksichtigt ihren Erscheinungskontext, so lässt sich die These aufstellen, dass diese Tanzfotografien ein ideales Medium für die Sichtbarmachung paranormaler Phänomene darstellte. Durch sie und vor allem durch ihr Erscheinen in medizinischen Studien, sollte das abgebildet und beweisbar gemacht werden, was sich mit dem bloßen Auge nicht hatte manifestieren lassen: die Krankheit (und ihre Heilung). Die Nähe zu der sogenannten Geisterfotografie, die vermeintliche Erscheinungen und Ektoplasma-Auswürfe ihrer Medien visualisieren sollte, ist unverkennbar und verweist zudem auf ein zur Zeit ihrer Entstehung vorherrschendes Verständnis von Fotografie als Abbildung von Wirklichkeit, die hier jedoch eine Wirklichkeit hinter der Erscheinung meint, die sich dem bloßen Auge entzieht. Besonders die Bildunterschriften, wie sie beispielsweise in der Studie L’art et l’hypnose des Pariser Arztes und Hypnotiseurs Émile Magnin zu finden sind, sind bei der Beweisführung paranormaler Phänomene von nicht zu unterschätzender Relevanz. Indem die Realität dieser Erscheinungen behauptet und gleichzeitig durch die Fotografie nachweisbar waren, erhielten die Parapsychologen und Forscher die Möglichkeit, sich von der Kritik des Betrugs und der Fingierung zu befreien. »Magdeleine G. dansant sur hypnose« Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beauftragte der an der École de Magnétisme in Paris lehrende Magnetograf und Hypnotiseur Émile Magnin den Genfer Fotografen Fred Boissonnas, seine Studie zu Verfahren der Hypnose und ihren Einfluss auf die Kunst, L’art et l’hypnose. Interprétation Plastique d’Oeuvres Littéraires et Musicales (ca. 1905 — 06), mit einer Serie von Fotografien zu illustrieren. In diesem Zusammenhang entstanden etwa 500 — 1000 Fotografien01, die bemerkenswerter Weise allesamt ein Sujet haben: Die, vermeintlich nicht als solche ausgebildete, Tänzerin Emma Guipet, genannt Magdeleine G., in kataleptischem Zustand (kurze Gliederstarre). Magnin hatte Magdeleine, laut eigener Aussage02, bereits 1902 kennengelernt, als sie ihn zur Behandlung ihrer Kopfschmerzen aufsuchte, jedoch behandlungsresistent zu sein schien. Statt Anzeichen einer Genesung zeigten sich bei Magdeleine unter Magnins Hypnose allerdings ganz andere Phänomene, die ihr in dem kurzen Zeitraum von 1904 — 06 zu großer Bekanntheit verhalfen: Sich ihrer eigenen Begabung angeblich nicht bewusst und ohne jemals Tanzunterricht genossen zu haben oder sich an ihre Darbietungen im Nachhinein erinnern zu können, tanzte sie zu den Kompositionen von Chopin, Schubert und Wagner mit, wie Augenzeugen berichteten, »höchste(m) Grad von Harmonie und Ausdruckfähigkeit« und »absolute(r) Schönheit«.03 In privaten Salons und Studios von Boissonnas, Auguste Rodin oder Albert Besnard bot Magdeleine, die in Deutschland unter dem Namen »Die Traumtänzerin« oder »Die Schlaftänzerin« Berühmtheit erlangen sollte, ihre Kunst dar und wurde vielfach porträtiert, u.a. von den Malern Albert von Keller und Friedrich August von Kaulbach.04 Sie versuchten Magdeleines Transformation von der einfachen Frau zur Bühnenkünstlerin einzufangen, während die Presse sie mit Isadora Duncan und Loïe Fuller verglich.05

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1904 verbrachte Magdeleine G. auf Einladung des Münchener Arztes und Psychologen Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, Mitbegründer der Münchner Psychologischen Gesellschaft, einige Tage in München. Es fanden mehrere Tanzabende statt, die für geladene Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Wissenschaft und Kunst von Schrenck-Notzing als Zeugenschaft einer Sensation inszeniert worden waren. Wie er in der Einleitung seiner Studie Die Traumtänzerin Magdeleine G. Eine psychologische Studie über Hypnose und dramatische Kunst bemerkt, handele es sich bei der Fusion von Hypnose und Tanz um ein absolutes Novum: Es betrete »zum ersten Mal (in der Suggestionslehre und in der Theatergeschichte gibt es keinen ähnlichen Fall) eine hypnotisierte Künstlerin die Bühne eines öffentlichen Theaters, beschäftigt allein den ganzen Abend das Publikum, ohne ein einziges Mal zu versagen oder in Verlegenheit zu geraten und liefert außerdem in ihrer pantomimischen Interpretation der musikalischen und deklamatorischen Vorträge eine Kunstleistung, die sich dem höchsten dramatischen und choreografischen Können ebenbürtig an die Seite stellen kann, ja dasselbe nach dem massgebenden Urteil erster Bühnenkünstler in einigen Punkten sogar übertrifft!«06 Diese Beschreibung des Geschehens, welche die psychologische Perspektive Schrenck-Notzings verrät, wird ergänzt durch eine später folgende Äußerung zu den Fotografien, die Magnin und Boissonnas inzwischen auch zu Werbezwecken verkauften und die hier als Dokumentationsinstrument identifiziert werden: »Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die von der Schlaftänzerin gelieferten Aufnahmen das Höchste darstellen, was auf dem Gebiete dramatischer Darstellung durch menschliche Ausdrucksmittel im Bilde erreicht worden ist.«07 Es folgen in Kapitel IX der Studie, welches »Zur psychologischen und künstlerischen Würdigung des Schlaftanzes« übertitelt ist, weitere Ausführungen zum Medium der Fotografie und der ihr zugeschriebenen Funktion als künstlerisches Studienmaterial – Schrenck-Notzing lobt dabei ausdrücklich die Verdienste Magnins und Boissonnas und führt aus, dass ihre Fotografien in der Lage seien, Affekte und tänzerischen Ausdruck so zu fixieren, dass sie Malerinnen und Maler, Bildhauerinnen und Bildhauer und auch Schauspielerinnen und Schauspielern für ihre Darstellungen »die gewünschten Vorbilder nach der Natur«08 böten. Sie seien besonders dafür geeignet, den komplizierten, somnambulen Zustand zu zeigen, und zwar so exakt, dass man »fast daraus allein die seelische Stimmung ablesen könnte.«09 Einerseits wird die Fotografie so als Realität abbildendes Medium verortet, andererseits aber kann nur durch sie die »psychisch(e) somnambul 01

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Vgl. Eidenbenz, Céline: »Hypnosis at the Parthenon. Magdeleine G. photographed by Fred Boissonnas«, in: Études photographiques, hg. v. Societé Française de Photographie, Nr. 28, November 2011: J.M. Cameron/ Discours critiques/Photographies de l’Insonscient, S. 200—224. Schrenck-Notzing hingegen spricht von etwa 1000 verschiedenen Fotografien, vgl. Freiherr von Schrenck-Notzing, Albert: Die Traumtänzerin Magdeleine G. Eine psychologische Studie über Hypnose und dramatische Kunst, Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1904, S. 118. Magnin, Émile: L’art et l’hypnose. Interprétation Plastique d’Oeuvres Littéraires et Musicales, Genf: Atar ca. 1906, S. 9. Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 83f. Vgl. Eidenbenz, »Hypnosis at the Parthenon« und Linse, Ulrich: »Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur. Die Hypnose-Experimente der Münchner ›Psychologischen Gesellschaft‹«, in: Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf

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die Moderne, hg. v. Marcus Hahn u. Erhard Schüttpelz, Bielefeld: transcript 2009, S. 97—145, hier S. 111. Das tanz- und theaterwissenschaftliche Interesse an der Traumtänzerin richtete sich bisher vornehmlich auf Magdeleine als Beispiel für das Zusammenwirken von Lebensreform, Psychiatrie und Parapsychologie bei der Entwicklung einer neuen Tanzkultur, während die Fotografien zwar immer erwähnt, aber kaum in ihrer eigenen Medialität verhandelt werden. Vgl. u.a. Hans Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München: Fink 2005. S. 202-215; Inge Baxmann: »Traumtanzen oder die Entdeckungsreise unter die Kultur«, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 316—340. Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 9f. Ebd., S. 80. Ebd., S. 118f. Ebd., S. 120.

veränderte Individualität« sowie der tänzerische Ausdruck dauerhaft zugänglich gemacht werden. Der Status der Traumtänzerinnen-Fotografien scheint somit ein doppelter zu sein: Sie hat sowohl die Qualität eines Wissensobjektes in Bezug auf (pseudo)akademische Beweisführungen zum psychischen Zustand der Tänzerin, als auch künstlerischen Wert weniger als ästhetisches Objekt selbst, sondern vielmehr als Vor-Bild für künstlerische Werke oder gar (tänzerische) Bewegungsstudien. Die Fotografien der Traumtänzerin Magdeleine dienten vor allem der Sichtbarmachung von Krankheit und als Bekräftigung wissenschaftlicher Erkenntnisse, und zwar anhand des dokumentarischen Verfahrens der Fotografie. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Bekräftigung lieferten zudem die Bildunterschriften, die den Blick der Betrachterinnen und Betrachter maßgeblich beeinflussen. Anlässlich der Auftritte Magdeleines wurden multiple mediale Stränge miteinander verflochten: Magnin und Boissonnas verkauften Werbefotos, die Psychologische Gesellschaft, allen voran ihr Mitbegründer SchrenckNotzing, fertigte experimentelle Fotostudien von (primär weiblichen) Medien in somnambulen Zuständen an, Magdeleine tanzte auf der Bühne und Münchner Maler wie Albert von Keller fertigten Porträts der Tänzerin nach Vorlage der Fotografien an, die dann wiederum in Magnins Buch ihren Platz fanden.10 Allerdings fungieren die Fotografien in Magnins und Schrenck-Notzings Studien zur Hypnose in erster Linie als visuelles Material, um Krankheit und mögliche Heilung glaubhafter zu präsentieren und parapsychologische Untersuchungen, die beständig in der Kritik standen, zu rechtfertigen. Das Buch Magnins L’Art et l’Hypnose, welches 437 Seiten und um die 200 Fotografien umfasst, fällt, seinem vermuteten Publikationsdatum 1905 — 06 nach, in den Zeitraum nach Magdeleines Bekanntwerden in Pariser Künstlerkreisen und ihren Auftritten in München. Interessant an dieser Publikation ist vor allem die Diversität der Fotografien Magdeleines, die die Spannung zwischen ästhetischer Gestaltung der Fotografien und ihrer Funktion in diesem Publikationskontext deutlich vor Augen führt. Die in L’Art et l’Hypnose erschienenen Fotografien lassen sich in drei Serien aufgliedern: Jede für sich zeichnet sich durch eine spezifische ästhetische Gestaltung aus, welche vor allem durch die Wahl des Aufnahmeortes, den Bildausschnitt und die Positionen des Körpers im Bild bestimmt ist. So finden sich Inszenierungen Magdeleines, die an klassisch bürgerliche Porträtfotografien aus dem 19. Jahrhundert erinnern ebenso wie posenhafte Theateraufnahmen. Auffallend ist, dass die Fotografien, wie sie im Buch erscheinen, stark bearbeitet sind. Vergleicht man die Abbildungen in Magnins Publikation, welche der Verfasserin im Original vorlag, mit den Originalabzügen, die als Digitalisate über das Centre d’iconographie genevoise der Bibliothèque de Genève online zugänglich und hochauflösend vergrößerbar sind, so sind deutliche Differenzen erkennbar.11 Während die Originale beispielsweise den Hintergrund der Aufnahme, aber auch die Materialität der Fotografie, die sich durch erkennbare Gebrauchsspuren und kleine Beschädigungen der Oberfläche vermittelt, sichtbar machen, zeigen die Abbildungen bei Magnin keinerlei Makel. Einige Fotografien sehen gar aus wie Zeichnungen, deren Hintergrund mit einem Wolkenambiente weichgezeichnet ist. Auch Füße und Körperumrisse sind hier so verändert worden, dass keine klaren Konturen zu sehen sind, sondern den betreffenden Fotografien den Charakter eines Gemäldes verleihen. Teilweise verkleinert und mit angeglichenen Umrissen in den Fließtext des

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Buches eingefügt, sind die Fotografien aber auch eng mit dem Text verbunden und illustrieren auf diese Weise die Aussagen und Ergebnisse Magnins. So wird in Kapitel VI »Les facteurs du phénomène« beispielsweise der Verlauf einer Sitzung mit Magdeleine beschrieben, an der auch SchrenckNotzing und der deutsche Arzt Dr. Otto Schulz teilnahmen. Optisch prägnant fließt der Text an drei kleinformatigen Abbildungen vorbei, die Magdeleine in drei verschiedenen Posen während der Interpretation von »Orphée aux enfers« zeigen, sofern man den Bildunterschriften Glauben schenkt.12 Sofort formiert sich die Vorstellung, dass Magdeleine während der hier beschriebenen Sitzung wohl ähnlich ausgesehen haben muss – eine Wirkung, die Magnin vermutlich beabsichtigte. Denn die Bildunterschriften tragen wie die nachträgliche Manipulation und Retusche der Fotografien dazu bei, eine bestimmte Lesart des Bildes zu provozieren. Lesen die Betrachterinnen und Betrachter zum Beispiel »Valse de Chopin« oder »La coquetterie«, so setzen sie diese Unterschriften mit dem betrachteten Bild in Verbindung und unmittelbar wird eine Magdeleine sichtbar, die einen Walzer von Chopin tanzt oder eine Magdeleine, die kokett lächelnd ein Stück Papier oder einen Brief betrachtet; zugleich zeigen die Bilder aber auch eine unter Hypnose zur Künstlerin gewordene, von ihrer Krankheit geheilte Frau und suggerieren so, die Methode der Hypnose sei eine medizinische Errungenschaft, um Hysterie zu kurieren. In diesem Sinne gibt die Unterschrift als vermeintlich objektive Beschreibung des Sichtbaren immer schon vor, was zu sehen ist (oder zu sehen sein soll). Als »Beweisstücke im historischen Prozeß« fordern die Fotografien eine bestimmte Rezeption heraus: »Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt, zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder falsche gleichviel. In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden. Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes. Die Direktiven, die der Betrachter von Bildern in der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält, werden bald noch präziser und gebieterischer im Film […].«13 Walter Benjamin beschreibt treffend, wie einflussreich Bildunterschriften für die Wahrnehmung des Bildes selbst sind. Was er hier für die illustrierten Zeitschriften herausarbeitet, kann in gleichem Maße für die Studie Magnins gelten, in der die Leserinnen und Leser gezielte ›Direktiven‹ für die Interpretation der Fotografien erhalten, die wiederum mit der erwünschten Wirkung der Untersuchungen Magnins korrespondieren. Die Fotografien agieren in diesem Sinne als Beweisstücke, die den abstrakten Beschreibungen der Versuchsabläufe etc. eine bildliche Ebene hinzufügen. Insofern ging es Magnin bzw. seinem Fotografen Boissonnas nicht darum, die Ästhetik des Tanzes fotografisch stillzustellen, sondern darum, die Heilung der Hysterie durch Hypnose präsentierbar zu machen. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine Konkurrenz zwischen der Medialität des Tanzes und der der Fotografie, wobei dem Tanz eher eine instrumentalisierende Funktion zukommt. Es geht im Falle Magdeleine weniger um 10 11

Vgl. Linse: Mit Trancemedien und Fotoapparat, S. 126. Vgl. zum Beispiel http://www.ville-ge.ch/musinfo/ bd/bge/cig/detail.php?criteria=boissonnas&type_search=searchAdvanced&terms=&pos=64&id=1581950, letzter Aufruf 11.11.2014.

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Magnin: L’art et l’hypnose, S. 240f. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 445.

[ABB. 01] François Frédéric gen. Fred Boissonas: Magdeleine G. hypnotisée par Emile Magnin, 1902—04, Bibliothèque de Genève, Centre d’iconographie genevoise, FBB N13X18 Magd 63000-1011-E.

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den Tanz als Kunstform, als um die medizinischen Verfahren (wie beispielsweise die durch die Methode der Hypnose hervorgerufene ›Natürlichkeit‹, die als Befreiung von den unterdrückten Zwängen, an denen die hysterische Frau krankte, gewertet wurde), die durch den (fotografierten) Tanz zugänglich gemacht werden. Der Einsatz von Fotografie als Abbildungsmedium medizinischer Sachlagen hatte somit eine primär dokumentierende Funktion und implizierte gleichsam eine Reduktion auf diesen abbildenden Charakter, ohne dabei die ästhetische Gestaltung der Fotografie weiter zu berücksichtigen. Aus Sicht des Lyrikers und Kunstkritikers Ernst Schur zeigt sich diese Differenz besonders deutlich am Beispiel der Traumtänzerin. In seiner Abhandlung zum modernen Tanz widmet er seinem Aufführungsbesuch von Magdeleines Darbietungen ein ganzes Unterkapitel, in dem er sich neben der Frage nach der Echtheit oder Suggestion der Hypnose insbesondere auch mit der Stillstellung des Tanzes durch die Fotografie auseinandersetzt. So bescheinigt er der Aufführung trotz vehementer Zweifel an Magdeleines hypnotischem Zustand einen »eigentümliche(n) Reiz«14, der von der Schönheit der Bewegungen ausgehe. Die schnelle Folge unterschiedlichster Bewegungsmotive mache die Außergewöhnlichkeit des Tanzes aus, dessen besonderer Reiz im momenthaften Sehen liege. Aus eben diesem Grund befindet Schur, dass die Fotografie zur Abbildung von Bewegung ungeeignet ist: »Photographien können diesen flüchtigsten Reiz des Unbewussten schwer wiedergeben. Die Photographie fixiert den Moment. Hier aber ist alles Vorübergang, Wechsel und darin liegt der Reiz.«15 Was auf der Bühne passiert, kann in seiner Intensität durch die Fotografie also nicht gebannt werden, insbesondere im Fall Magdeleine, den Schur detailliert analysiert. Besonders interessant ist dieses Urteil Schurs in Hinblick auf das Auftauchen der Tanzfotografien der Traumtänzerin in medizinischen Publikationen, denn hier sollen sie eben jene Funktion übernehmen, die Schur ihnen abspricht. Ist die Fotografie aber nicht geeignet, Magdeleines Zustände abzubilden, so wird ihr zugleich, wenn auch nur implizit, eine medizinische Beweiskraft aberkannt. Schur nimmt damit eine Gegenposition zu jener der Mediziner/Parapsychologen ein, die die Fotografien gezielt für die Beweisführung ihrer medizinischen Erkenntnisse einsetzten. Denn die Fotografien Boissonnas sollten genau diese, von Schur als unmöglich befundene, Wiedergabe des Unbewussten darstellen. Die Fotografien weisen neben der pointierten Erzeugung von Gegensätzen nämlich eine weitere Besonderheit auf, die sie von anderen Tanzfotografien unterscheidet: Magdeleines Gesicht ist stets deutlich zu sehen und es scheint vor allem ihre expressive Mimik (weit aufgerissene Augen, zusammengekniffene Augenbrauen, in Falten gelegte Stirn etc.) zu sein, die den tranceartigen Zustand der Tänzerin vermitteln oder vielleicht sogar beweisen soll. Denn neben der euphorischen Begeisterung über die Darbietungen Magdeleines, wurden von Gegnerinnen und Gegnern der parapsychologischen Forschungen immer wieder Fragen nach der Echtheit oder Simulation des hypnotischen Zustandes laut. Schrenck-Notzings Abhandlung zur Traumtänzerin etwa enthält verschiedenste Vorwürfe, mit denen vermutlich auch Magnin zu kämpfen hatte. So schreibt der Schriftsteller Dr. Walter Bormann über Magdeleines Gesichtsausdruck während einer der Vorstellungen: 14

Schur, Ernst: Der Moderne Tanz, München: Lammers 1910, S. 60.

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Ebd., S. 60.

»Zur richtigen Schätzung von alledem verdient nicht die wenigste Beachtung die Augensprache der Dame. Diese rege, vielgebrochene Beweglichkeit im raschen Flusse des wirklichen Lebens ist es ganz und gar nicht, was wir darin erblicken; immer bloss den Ausdruck eines höchsten, im Innersten gesteigerten Lebens sehen wir wundersam in diesen gespannten und zuweilen schielenden Blicken; und wie mit den Augen verhält es sich mit der ganzen Körpersprache.«16 Schrenck-Notzing zitiert diese Zeilen, wie auch andere Kritikerstimmen, die das Mienenspiel der Traumtänzerin betreffen, um sie sogleich wieder zu entkräften und zwar mittels einer Argumentation, die den Fotografien Boissonnas eine Beweiskraft zuordnet: »Wer sich die Mühe nimmt, die ca. 1000 verschiedene Aufnahmen der hypnotisierten Künstlerin umfassende Kollektion von Photographien (Böissonas Genf) durchzustudieren, wirdfinden, wie unrichtig die Verallgemeinerung [...] ist.«17 Für Schrenck-Notzing stellen die Fotografien also eine Instanz dar, die in der Lage ist, spontane Beobachtungen revidierbar zu machen, indem sie zeigt, was wirklich zu sehen ist (bzw. sein soll). Er selbst betätigte sich später für seine Studien mit dem Medium Eva C. als Fotograf, um Evas Materialisierungen sichtbar zu machen und als Beweis der Richtigkeit seiner Untersuchungen zu fixieren.18 Charcot und die fotografische Klinik Diese Handhabung der Fotografien folgt einer Tradition, die vor allem mit dem französischen Arzt Jean-Martin Charcot in Verbindung gebracht wird. Charcot etablierte in den 1870er Jahren mit seiner »fotografischen Klinik« eine Ikonografie der Hysterie und »gilt als exemplarischer Beleg für die Wirksamkeit eines kulturellen Bildrepertoires innerhalb des medizinischen Diskurses.«19 Indem Charcot Patientinnen der Pariser psychiatrischen Salpêtière während ihrer ›hysterischen‹ Anfälle fotografieren ließ, schuf er gleichsam eine Bildergalerie der Krankheit, die die Auffassung über die Hysterie wesentlich prägten. Georges Didi-Huberman geht in seiner wegweisenden Arbeit Erfindung der Hysterie – Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot in diesem Zusammenhang der Frage nach, wie Fotografie und medizinischer Diskurs miteinander korrelieren – eine Frage also, die auch in Bezug auf die Traumtänzerin von Wichtigkeit ist: »Wie wird der Schmerz ins Werk gesetzt, was könnte die Form und die Zeitlichkeit seines Auftauchens oder seines Wiederauftauchens sein, und das vor und in unserem Blick? Damit stellt sich auch die Frage, über welchen Umweg ein wirklicher Schmerz uns stillschweigend, aber doch, zum Problem der Formen und der Signifikanten gelangen läßt.«20 Die Begeisterung der Mediziner über die Bilder, die als Schnittstelle zwischen dem »Phantasma der Hysterie« und dem »Phantasma des Wissens«21 aufgefasst werden können, speiste sich vor allem aus der Möglichkeit, ›Erfindungen‹ wie Hysterie oder Materialisierungen sichtbar zu machen. Die Fotografien sollten in diesem Sinne als Methode fungieren, das Phänomen der Hysterie zu verstehen, auch wenn sie dabei durch ihre »festgelegte Sichtbarkeit«22 bestimmte Eindrücke provozierten. Charcot selbst griff diese zum Vorwurf gewendete Vermutung auf, er würde die Krankheit durch solcherlei Verfahren heranzüchten, indem er der Fotografie eine wahrheitsabbildende Kraft zusprach: »Das ist die Wahrheit. Ich habe nie etwas anderes gesagt; gewöhnlich treibe ich die Dinge, die sich nicht versuchsweise vorführen lassen, nicht

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weiter voran. Sie wissen, daß ich den Grundsatz habe, mich nicht um die Theorie zu kümmern und alle Vorurteile beiseite zu lassen: Wenn sie klar sehen wollen, müssen Sie die Dinge nehmen, wie sie sind. Es scheint, als ob die Hystero-Epilepsie nur in Frankreich vorkäme, ich könnte sogar sagen und man hat auch gesagt, nur in der Salpêtière, als ob ich sie durch meine Willenskraft ausgeheckt hätte. [...] Aber in Wahrheit bin ich hier gänzlich nur Photograph; ich schreibe auf, was ich sehe...«23 Diese Aussage lässt sich als argumentative Unwiderlegbarkeit lesen, denn sie impliziert die Unnötigkeit einer Kritik an der Wahrheit. Die Fotografien gaben Charcot ein Instrument an die Hand, durch welches er seine Forschungen rechtfertigen konnte: Er erfindet die Krankheit nicht – die Fotografie ist schließlich der Beweis dafür, dass er die Dinge abbildet, wie sie sind. Sie wäre demnach die Form des absoluten medizinischen Blicks, dem nichts entgeht und der sich gleichsam von der Unsichtbarkeit der Krankheit emanzipiert. Für Charcot nahm sie deshalb eine zentrale Stellung ein, und zwar auf multiplen Ebenen als »experimentelles Verfahren (ein Laborwerkzeug), [als] museales Verfahren (wissenschaftliches Archiv) und [als] Unterrichtsverfahren (ein Werkzeug der Vermittlung).«24 Die Fotografie wurde so zu einem Instrument der Objektivierung, zu einem Objekt gar, das Wissen vermittelte, ganz ohne missverständliche Worte und nur anhand des Sichtbaren. Gleichzeitig aber war sie in der Lage, Prognosen abzugeben, weil sie mehr »sehen« konnte als das menschliche Auge – dies hat ein Schüler Charcots den »ikonographischen Impuls« der Arbeit seines Mentors genannt: »Weil er wußte, daß die Bilder dem Geist lebhafter zusprechen als Worte, wies er den Bildern einen erstrangigen Platz zu.«25 Die Fotografie zwischen Epistemen und Ästhetik Schrenck-Notzings und Magnins Umgang und Bewertung des Mediums Fotografie ist mit der Auffassung Charcots vergleichbar – sie alle nutzten es als Legitimationsstrategie für die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Forschungen. Gerade in Zusammenhang mit den Studien zu Hysterie und Hypnose als mögliche Heilmethode der Hysterie, dienten die Bilder von der hysterischen Frau in kataleptischem Zustand – in Magdeleines Falle angeblich deutlich zu sehen am Innehalten der Tänzerin in ausdruckstarken Posen (und den Fotografien davon) – vor allem dazu, Krankheitsbilder abzubilden und dadurch diagnostizierbar zu machen. Gleichwohl faszinierte das »schillernde, bisweilen bizarre Erscheinungsbild der Hysterikerin«, welches in neueren Untersuchungen gar als »›weibliche[r] Sozialcharakter‹ der viktorianisch-wilhelminischen Epoche«26 gedeutet wird. Die Verbindung von Ästhetik und Therapeutik, deren Wechselwirkung Schrenck-Notzing in seiner Studie über die Traumtänzerin wiederholt betont hat, wird in dem Moment offenbar, in dem die ihr eingeräumte 16 17 18 19

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Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 97. Ebd., S. 97. Rechtschreibfehler im Original. Freiherr von Schrenck-Notzing, Albert: Materialisations-Phänomene, München: Reinhardt 1914. Holschbach, Susanne: »Vom Bild der Leidenschaften zur Aufzeichnung der Symptome. Zu den zwei Visualisierungsparadigmen an Charcots ›photographischer Klinik‹«, in: Krankheit und Geschlecht: diskursive Affären zwischen Literatur und Medizin, hg. v. Tanja Nusser u. Elisabeth Strowick, München: Königshausen & Neumann 2002, S. 123—143, hier S. 123. Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Wilhelm Fink 1997, S. 13. Ebd., S. 8.

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Ebd., S. 29. Charcot 1887/1888, S. 178, zitiert nach Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie, S. 39 [in einer Übersetzung nach dem französischen Original, da die angeführte Stelle in der deutschen Übersetzung von Freud fehlt]. Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie, S. 40. Alexandre-Achille Souques, Schüler Charcots, zit. nach Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie, S. 44. Brandstetter, Gabriele: »Psychologie des Ausdrucks und Ausdruckstanz. Aspekte der Wechselwirkung am Beispiel der ›Traumtänzerin Madeleine G.‹«, in: Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Gunhild OberzaucherSchüller, Wilhelmshaven: Noetzel 1992, S. 199—211, hier S. 200.

Wichtigkeit als Rechtfertigungsstrategie für (von zeitgenössischen Expertinnen und Experten angezweifelten) wissenschaftlichen Erkenntnisse fungiert. Indem Schrenck-Notzing die Hypnose als eine Methode zur Erlangung künstlerischen Ausdrucks klassifiziert und diese durch Bilder (von Magdeleine und anderen »Medien«) sichtbar macht, trägt er zu einem »Phantasma des Wissens« bei: »Dem Psychologen aber«, so der Münchner Arzt im Schluss-Plädoyer der Studie, »beweist der Fall Magdeleine G., dass wir in der hypnotischen Methode ein sicheres Mittel besitzen zur Steigerung der psychischen resp. künstlerischen Leistungsfähigkeit, zur Einengung des Bewusstseins auf die gestellte Aufgabe, zur Befreiung gewisser in einem Individuum liegender Kräfte von hemmenden und störenden, mitunter das Zustandekommen der Leistung überhaupt verhindernden psychischen Faktoren. Endlich bietet die psychologische Analyse des Traumtanzes neues wichtiges Material zur Beurteilung der noch durchaus nicht hinlänglich aufgeklärten Frage nach den Beziehungen zwischen Hysterie und Kunst […]«.27 Die Fotografie stellt in Bezug auf die »psychologische Analyse« vermutlich eine entscheidende Instanz dar, denn sie muss zweifellos sowohl als Gedächtnis des Gesehenen als auch als Beweis der Wahrhaftigkeit des medizinischen Diskurses gedient haben. Gleichwohl stellt sich die Frage, welches Wissen durch eine Fotografie überhaupt vermittelbar ist und welche Aussagekraft sie im medizinischen Diskurs besitzen. Der Zusammenhang von Epistemen und Ästhetik wird hier in dem Maße erkennbar, als die Fotografie zum einen die Entstehung von Wissen über Krankheit (und über Tanz)28 vor Augen führt und zum anderen eine doppelte Kodierung markiert, die das Zeigende und das Gezeigte miteinschließt. Fotografien zu betrachten heißt deshalb, »eine durch sie bezeichnete, ihnen vorausgesetzte Wirklichkeit in Betracht ziehen zu müssen. Umgekehrt aber untersteht jedes hierbei in den Blick genommene Referenzverhältnis zugleich der Prämisse einer ästhetischen Eigenlogik des Bildes.«29 Insofern lässt sich das vordergründig Eindeutige einer Fotografie, welches oft als Fixierung von Wirklichkeit gedeutet wird, durch den Einbruch des Uneindeutigen und den Zweifel über das Gezeigte in Frage stellen. Für das Verständnis von Medizin heißt das in diesem Falle, dass der Tanz als Visualisierungsstrategie fungierte, um die Konstruiertheit von Krankheitsbildern wie der Hysterie zu kaschieren. Im Falle Charcot beispielsweise wurden die medizinischen Erkenntnisse zunehmend plausibler, je größer die Bildergalerie der fotografierten Hysterikerinnen wurde. Dass Tanz und Medizin nicht nur bezüglich einer Therapeutik (man denke an die Tanztherapie) in Zusammenhang stehen können, sondern auch in Hinblick ihrer performativen Elemente und Inszenierungsweisen, darauf rekurrieren die hier betrachteten Fotografien. Anna Furse weist in ihrem Aufsatz »Making a Spectacle of Herself: Charcot´s Augustine and the Hysteric Dance« noch einmal darauf hin, dass es Charcot nicht primär um die Heilung der Hysterie ging, sondern darum »to collect, perfect and stage it.«30 Es ist eben diesen Überlegungen geschuldet, dass der Einsatz der Fotografien der Traumtänzerin Magdeleine durch Vertreterinnen und Vertreter der Parapsychologie eine Ambivalenz zu Tage treten lässt, die nicht nur die Betrachtung der Fotografien betrifft, sondern vor allem die Fotografie als Medium in ihrem Verhältnis zur (Pseudo-)Wissenschaft. Denn die Ver wendung der Fotografien einer Patientin unter Hypnose, die plötzlich im Stande war, höchste Kunst her vorzubringen, diente dazu, das Unsichtbare sichtbar zu machen und die Parapsychologie aus ihrem

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Legitimitätsproblem als ernstzunehmender Wissenschaft zu befreien. Paradox ist – aus heutiger Perspektive – dass diese Legitimierung gerade über künstlerische Verfahren ablief. Gerade der moderne Tanz wurde – zumindest von seinen Zeitgenossen – viel weniger als abstrakte, stilisierte Handwerksleistung betrachtet, als vielmehr als Schlüssel zum Unbewußten.31 Gerade die Kunst bot nun ein Instrumentarium, mit dem sich die psychischen Gebiete besser erschlossen, als durch ›objektive‹ Betrachtungen. Kunst bot eine Objektivität, die – gerade weil sie sich als fähig erwies, ›tiefere‹ Objektivitäten aufzuzeichnen – sich einem rationalen Zugang überlegen erwies. Dem beständigen Vorwurf des Schwindels der hypnotischen Methode, mit dem Schrenck-Notzing sich auseinandersetzen musste, wird nun die Fotografie als Beweis entgegengesetzt und markiert so eben jenes Schwanken der Kritikerinnen und Kritiker/Befürworterinnen und Befürwortern zwischen Faszination und Distanz. Was rational nicht sein kann oder wissenschaftlich nicht bewiesen ist, wird sichtbar durch die Fotografie. Diese Ambivalenz gegenüber der Verbindlichkeit der so präsentierten wissenschaftlichen Ergebnisse zeigt sich vor allem an der Betrachtung der Fotografien Magdeleines: Je intensiver das Suchen nach Details, je fokussierter die Wahrnehmung, desto zweifelhafter erscheint plötzlich das Gesehene. Zweifellos besteht ein Zusammenhang von Bild und Wirklichkeit – die Spuren des Wirklichen aber sind es nicht, die die Faszination für den Einsatz von Fotografien in medizinischen Publikationen ausmachen; diese ergibt sich vielmehr aus einer Perspektive, die ihr Interesse auf die Entstehung von Wissen durch den Einsatz von Fotografien lenkt. So wird Erkenntnis via Sichtbarkeit hinterfragbar – denn Sichtbarkeiten werden ebenso produziert, wie das mit ihnen verbundene Wissen. In diesem Sinne markieren die Fotografien von der Traumtänzerin Magdeleine, wie sie bei Magnin und Schrenck-Notzing erscheinen, vermeintlich medizinisches Wissens, das, gerade weil die visuelle Eindeutigkeit nur durch den Kontext oder Bildunterschriften der Fotografien hergestellt wird, immer auch in Zweifel zu ziehen ist.

Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin, S. 121. Auch in Ernst Schurs Publikation Der moderne Tanz von 1910 zu verschiedenen Tanzästhetiken taucht in dem Kapitel »Die Traumtänzerin« eine Fotografie von Magdeleine G. zur Illustration der Analyse Schurs auf. Siegel, Steffen: »Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Auflösung des Bildes«, ZÄK 58/2, 2013, S. 184. Furse, Anna: »Making a Spectacle of Herself: Charcot´s Augustine and the Hysteric Dance«, in: Tanz und WahnSinn, hg. v. Johannes Birringer u. Josephine Fenger, Leipzig: Henschel 2011. S. 197—211, hier S. 198. Hervorhebung der Verfasserin. Vgl. Baxmann: »Traumtanzen«.

SUSANNE FOELLMER KIPP-MOMENTE BILDKRITIK ALS PRAXIS DER HISTORISCHEN TANZAVANTGARDE AM BEISPIEL VALESKA GERTS

Auf den ersten Blick fallen die hochgerissenen Arme und die extrem geweiteten Augen der Darstellerin auf. [→ABB. 01] Auch die Beine sind exponiert, teils entblößt durch das nur bis knapp oberhalb der Knie reichende Gewand und offenbar durch entsprechende Lichtquellen gezielt in Szene gesetzt. Kostüm und Schminke lassen oberflächlich betrachtet zunächst keine geschlechtliche Zuordnung erkennen: Scheint der Kopf mit seiner Halbglatze eher männlich konnotiert, verweisen die gerundeten Knie sowie die an Ballettschläppchen erinnernden Schuhe möglicherweise auf eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts – ein Verfahren des Kontrasts, das die Darstellung der fotografierten Person bestimmt. Bei näherer Betrachtung des Bildes fallen weitere Entgegensetzungen auf: So streben die zu Fäusten geformten Hände in einer beinahe stürzenden Bewegung nach hinten weg, stehen in ihrer energetischen Ballung aber in Diskrepanz zu der eher Leichtigkeit signalisierenden halben Elevation der Füße. Den Blick nach vorne gerichtet, scheint die gesamte Figur in den Hintergrund des Bildes zu kippen, vom Punkt des von ihr Angeblickten, sich außerhalb des Bildes befindenden, wegstrebend. Auch hier befördert ein Kontrast die Dynamik des im Foto Dargestellten: Jener der Rückwand, die vom hellen Boden über verwischte Schraffuren nach oben hin dunkler wird und die rückwärtige Kippung der Person zu unterstützen scheint. Befördert wird dieser Eindruck durch die tendenzielle Übergangslosigkeit von Boden und Rückwand, die beide nicht gänzlich voneinander geschieden sind. So entstehen Schwebeeffekte, die durch die Position der halben Spitze der Füße verstärkt werden.

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Die Differenz zwischen der Wucht der Arme und dem eher leichten Schwebezustand der Beine sowie die eigentümlich Starrheit der Position veranlassen mich zu einem Selbstversuch: Ich bemühe mich, dieselbe Haltung einzunehmen, indem ich die Position der Arme, die Stellung der Füße und die Neigungen von Rumpf, Beinen und Kopf sowie die Kippung des Beckens körperlich nachvollziehe. Dabei wird klarer, was das Foto selbst nur andeutet: Zum einen ist das vorgebliche Stürzen der Person nicht so eindeutig zu belegen. Erstaunlicherweise lässt sich die Position gut balancieren, selbst wenn man nicht besonders geübt ist. Zum anderen ist die Kipprichtung längst nicht so eindirektional und somit ein Sturz unausweichlich, wie das Bild es zunächst suggeriert. Dies führt zu weiteren Überlegungen: Handelt es sich bei der mithin vorgeblichen Bewegung im Bild vielmehr um eine Pose, eine für das Bild gestellte körperliche Formierung, die sich über einen längeren Zeitraum halten und fixieren lässt? Dafür würde unter anderem das Kostüm sprechen, dessen Ärmel sich zwar mitbewegen, dessen Stoff jedoch (das zeigen die Säume) halbsteif ist, also keine verlässliche Aussage über Bewegung erlaubt. Die obige erste Bildbetrachtung betont den Eindruck, dass die Bewegung der Person im Bild offenbar weniger von dieser selbst, ›in situ‹, ausgeht als vielmehr durch die Komposition des fotografischen Bildes hergestellt und vermittelt wird. Besonders der als Bildaufbau gewählte ›fliehende‹ Hintergrund befördert die Annahme des Stürzens, das sich nun vielmehr als ein medial erzeugtes zeigt. Hat sich diese erste Betrachtung mit der vorderen Bild-Fläche des Fotos befasst, gibt nun beim Umwenden ein auf der Rückseite angebrachter Aufkleber folgende Auskunft: »Valesca [sic!] Gert von den Münchner Kammerspielen«. Als Fotograf/in ist die »Berliner-Illustrationsgesellschaft m.b.H., Berlin SW11, Königgrätzer Str. 62« angegeben.01 Laut FrankManuel Peters Biografie bildet das Foto die Tänzerin Valeska Gert ab, in ihrem Solo Japanische Groteske (1917).02 Engagiert an dem Münchner Theater hat Gert auch immer wieder Solo-Auftritte an anderen Orten, in denen sie ihre kurzen Nummern tanzt, für die sie seit 1916, nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt, bekannt ist.03 Dabei verfolgt sie eine sozial-, kultur- und kunstkritische Strategie: Als Sujets dienen ihr Themen oder auch (sozial marginalisierte) Protagonistinnen und Protagonisten der Gesellschaft sowie häufig das Typisieren und Überzeichnen gängiger, als avantgardistisch betrachtete Kunstformen und Exotismen ihrer Zeit – auch gefeierte (Tänzer-)Kolleginnen entgehen ihrer kritischen, hier als metatänzerisch zu bezeichnenden Strategie nicht.04 Als darstellerisches Mittel dient Gert der präzise Nachvollzug markanter Bewegungs- und Ausdrucksmomente des gewählten ›Gegenstands‹, den sie dann in Übertreibungen und Überspitzungen etwa mithilfe von Kontrastierungen verdichtet. Jene Kontraste werden unter anderem in der Wahl der Auftrittsorte evident. So finden Soli wie zum Beispiel die Japanische Groteske – in der Gert das darstellerische Repertoire des zu dieser Zeit aufmerksam rezipierten Kabukis aufgreift und mit dem Expressionismus europäischer Provenienz amalgamiert – in den Räumlichkeiten der Berliner Hochschule

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Laut Rückfrage beim Deutschen Tanzarchiv Köln haben Fotograf/innen dieser Gesellschaft nach Honorierung auf die Nennung des Namens verzichtet, im Falle solcher zu Pressezwecken verwendeten Fotos. Email mit Frank-Manuel Peter, Leiter Deutsches Tanzarchiv Köln, vom 31.10.2013.

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Peter, Frank-Manuel: Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin, Berlin: Hentrich 1987, S. 33. Vgl. Gert, Valeska: Ich bin eine Hexe (1968), München: Knaur 1989, S. 31 f. Vgl. Foellmer, Susanne: Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre, Bielefeld: transcript 2006, besonders S. 123 ff.

[ABB. 01] Berliner Illustrations-Gesellschaft m.b.H. Berlin: Valesca [sic!] Gert v. den Münchener Kammerspielen wurde für das Residenz-Theater (Berlin) verpflichtet. No. 20/10: Die Künstlerin in einer ihrer Tanzgrotesken. Japanische Karikatur, 1917, Silbergelatine, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln, Courtesy Deutsches Tanzarchiv Köln.

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für Musik statt, einem eher ›gediegenen‹ Ort der sogenannten E-Kultur. Über diesen Gegensatz berichtet der Autor und Theatermacher Rudolf Frank in der Vossischen Zeitung 1917: »Valeska Gert tanzt in der Hochschule für Musik zwischen grauen Behängen. Ganz woanders müsste sie tanzen: auf buntbemaltem Jahrmarktspodium, auf beschwipstem Juxplatz, auf einer Trommel, einem vollen Faß oder der Glatze eines apoplektischen Verehrers.«05 Gerade die Divergenz von Theaterrahmen und Gezeigtem jedoch ist es freilich, die jene Brüche mit gängigen künstlerischen Konzepten zu erzeugen vermag. Bei der Beschäftigung mit einem als durchweg fragmentarisch und oft unsortiert zu bezeichnenden Œuvre wie jenes von Valeska Gert bewegt sich die Annäherung über Quellen verstärkt im Kontext diskursanalytischer Verfahren (etwa über Rezensionen und (Auto-) Biografien) sowie in der Analyse des rudimentär vorliegenden, ausschnitthaften Filmmaterials und insbesondere über den bruchstückhaften Bilderfundus. Gerade letzterer legt wiederum eine vergleichende Betrachtungsweise nahe, die sich über das Sichten der wenigen verbliebenen Fotografien Gerts sowie die Untersuchung der Fundorte jener Bildzeugnisse selbst als durchaus fruchtbar erweist. Dabei bieten Quellen wie etwa Zigarettenbilder-Alben, welche Fotografien von Tänzerinnen und Tänzern besonders aus der Weimarer Zeit in Deutschland enthalten, Zugang zu recht ergiebigen historischen Materialien, besonders im Hinblick auf einen komparativen bildanalytischen Ansatz. Des weiteren fallen bildliche Erzeugnisse aus Theater und bildender Kunst ins Auge, so etwa die in Kunstkatalogen und -zeitschriften präsentierten Holzschnitte japanischer Schauspielerinnen und Schauspieler, die bereits um die Jahrhundertwende in Europa verfügbar waren und zu denen auch Valeska Gert, so lässt sich vermuten, Zugang hatte. Die durch diese Quellen ermöglichte interpiktoriale Perspektive als historiografisches Verfahren ist zum einen hilfreich, um Gerts Soli in einem kulturhistorischen Bezugsrahmen zu verorten und zu den künstlerischen Ästhetiken, Praktiken und Diskursen ihrer Zeit ins Verhältnis zu setzen. Zum anderen zeigt sich überdies, dass Gert bereits selbst eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medium Bild und seinen Publikationsformaten führt, wie im Folgenden auszuführen ist. Kipp-Momente im Bild Augenfällig ist im Foto Japanische Groteske das Kippen als ein sorgsam austariertes Beinahe-Stürzen der Figur. Die vorangestellte Bildbeschreibung gibt bereits Hinweise darauf, dass es sich hier nicht lediglich um eine kurz vor dem Sturz fotografisch ›eingefangene‹ Tänzerin handelt, sondern sich das Kipp-Moment selbst als ein ästhetisch wie strategisch bestimmendes Motiv erweist. Ausgehend von Gabriele Brandstetters Reformulierung des Figurkonzeptes in der Darstellung als einem dynamischen, dem das Kippen sowie das De- und Refigurieren als Bewegungsprinzip eigne,06 kann die vorliegende Fotografie als Kippung in einem mehrdimensionalen Sinne gedeutet werden. 05 06

Rudolf Frank, in: Vossische Zeitung vom 12.10.1917, zitiert nach: Peter: Valeska Gert, S. 32. Brandstetter wählt hierbei als Ausgangspunkt Kippmomente, die beim Perspektivwechsel zwischen Figur und Grund entstehen: »Durch die Verformung des gegebenen ›Musters‹ trägt sich ein Moment der Irritation in den Wahrnehmungsprozess ein, das – wie sich

mit dem Ereignis des ›Kippens‹ erweist – schon ein Potenzial der Figur selbst darstellt.« Brandstetter, Gabriele: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, hg. v. Dies. u. Sibylle Peters, München: Fink 2002, S. 247—264, hier S. 247.

[ABB. 02] Bunchô: Ichikawa Raizô II. als »Yoshida no Matsuwakamaru« in dem Stück »Kagamigaike Omokage Soga«, in Mie-Pose, ein Schreibpult tragend, 1770, Papier / Farbholzschnitt, Kunsthistorisches Museum Wien, KHM-Museumsverband.

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Zunächst kippt die Tänzerin Valeska Gert selbst buchstäblich im Bild, ausgelöst durch die semistabile Position der Füße sowie optisch befördert durch den Bildhintergrund, der nach hinten auszuweichen scheint. Dabei entsteht eine verschränkte Weise des Kippens, die sich zwischen der Bewegung der Protagonistin und jener des gewählten (und vermutlich nachbearbeiteten) Hintergrundes ereignet und den Eindruck des Wankens vermittelt sowie eine Dynamisierung der abgebildeten Person als Bewegung im Bild erzeugt. In dem Zusammenhang kann angenommen werden, dass Gert zur Erzeugung jener Bewegungsdynamiken im Bild mit dem/der (hier leider unbekannten) Fotograf/in zusammengearbeitet hat – ein Indiz hierfür könnte ihre Kollaboration mit der Fotografin Suse Byk sein, der die bisher einzigen Filmaufnahmen Gerts aus den 1920er Jahren zu verdanken sind. Mit kameratechnischen Mitteln wählt Byk etwa für die ›Verfilmung‹ des Tanzes Kupplerin (1925) einen Bildausschnitt, welcher von der in einer Halbtotalen eingestellten Tänzerin fast ausschließlich den Oberkörper sehen lässt und auf die Beine nahezu verzichtet. Damit unterstreicht die Fotografin zum einen die als solche wahrgenommene Fragmentarik und Ausschnitthaftigkeit der Gertschen Soli. Zum anderen lässt die Halbtotale den Tanz gleichsam nah an das Publikum heranrücken und vermittelt einen möglichen Eindruck der Wucht und Explosivität ihrer Auftritte.07 Gert selbst wiederum nutzt jedoch nicht nur die Elemente tänzerischer und bildlicher Gestaltung, um den Eindruck einer dynamischen Pose zu erzeugen. Vielmehr kondensiert sie die Darstellungs- und Bildpraxen der zu jener Zeit bereits in Europa bekannten japanischen Theaterformen wie dem Kabuki, so meine These, dessen Vermittlung sie in Bild wie Gesten minutiös nachvollzieht und partiell überzeichnet. Spätestens seit der Europatournee des Theaterleiters Kawakami Otojiro und besonders der Aufmerksamkeit für seine Ehefrau Sada Yacco in den Jahren 1900 und 1901 war beispielsweise das Kabuki auch einem europäischen Publikum bekannt.08 Wesentlich hierbei ist allerdings, dass es Otojiro nicht um einen ›Originaltransfer‹ dieser Theatertradition in einen außerjapanischen Kontext ging. Vielmehr wurden die Stücke für ein europäisches Publikum umgeschrieben, die Dialoge reduziert und den pantomimischen Tanzszenen ein größeres Gewicht eingeräumt, so dass diese – ursprünglich eher als Interludien gedacht – nun oftmals den Hauptfokus erhielten.09 Valeska Gert übernimmt nun jene Rezeption sowohl in ihren Tanz selbst wie auch in dessen bildliche Gestaltung und zwar in einem doppelten Sinne: gleichermaßen ästhetisch wie auch kulturkritisch. Zunächst ist auffällig, dass Gert eine Pose einnimmt, die auch im Bildprogramm japanischer Farbholzschnitte enthalten ist, welche seit Ende des 18. Jahrhunderts in Europa über Kunstkataloge und Zeitschriften wie der von Samuel Bing herausgegebenen Pariser »Le Japon Artistique« (1888 — 1891) in Umlauf und bald einem größeren Publikum bekannt waren.10 Im Vergleich der Gertschen Japanische[n] Groteske mit einem 07

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Vgl. Barche, Gisela u. Jeschke, Claudia: »Bewegungsrausch und Formbestreben. Der Ausdruckstanz in der Fotografie 1900-1937«, in: Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Gunhild Oberzaucher-Schüller, Wilhelmshaven: Noetzel 1992, S. 317—346, hier S. 328. Zur Rezeption der Tournee vgl. Pantzer, Peter (Hg.): Japanischer Theaterhimmel über Europas Bühnen. Kawakami Otojiro, Sadayakko [sic!] und ihre Truppe auf Tournee durch Mittel- und Osteuropa 1901/1902, München: Judicium 2005. Zur Aufmerksamkeit für das japanische Theater in Europa und seine Protagonist/innen im Wechselspiel der Aneignungen von »Eigenem und Fremden« sowie des-

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sen (u.a. aktiv betriebene) Hybridisierung vgl. Brandstetter, Gabriele: »›Blumenhaft und schlächterhaft‹. Japanische Körperbilder in Europa: Rezeption, Projektion, Fiktion in Texten und Bildern der Zwanzigerjahre«, in: Ostasienrezeption im Schatten der Weltkriege. Universalismus und Nationalismus, hg. v. Walter Gebhard, München: Judicium 2003, S. 247—266. Vgl. Franke, Daniela: »Europa und der Ferne Osten. Die Herausbildung des Japanbildes im 19. Jahrhundert«, in: Im Rausch der Kirschblüten. Japans Theater und sein Einfluss auf Europas Bühnenwelten, hg. v. Dies. u. Thomas Trabitsch, Katalog zur Ausstellung, Wien: Brandstätter 2013, S. 21—32, hier S. 24.

Holzschnitt des Künstlers Ippitsusai Bunchô (um 1755 — ca. 1790) – der Kabukidarsteller porträtierte – fallen Ähnlichkeiten im gestischen Repertoire ins Auge, [→ABB. 02] so der nach oben in einer Art Abwehrhaltung ausgestreckte (hier linke) Arm, mit dem Gerts hochgereckte rechte Faust korrespondiert, ebenso wie die leichte Neigung des Kopfes nach unten seitlich und die Fixierung des Blicks mit geweiteten Augen auf ein nicht sichtbares Objekt oder eine Person außerhalb des Bildrandes. Gert folgt allerdings nicht der stabilen Standposition der ›Vorlage‹, sondern versetzt die Füße in ein prekäres Gleichgewicht. Die Fixierung jener Pose jedoch scheint wiederum dem Kabuki entlehnt, das als Hervorhebung eines ausgewählten Moments im Spielverlauf das Verfahren des »Mie« einsetzt: eine Stockung im Fluss der Handlung, bei dem die Darstellenden inmitten der Bewegung gleichsam in einem Tableau erstarren.11 Besonders der Blick spielt dabei eine große Rolle, der teils direkt ins Publikum gerichtet ist und dieses somit gezielt adressiert.12 In Europa wiederum ist es zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kabuki-Akteurin Hanako, deren Blick als »Todesblick« wahrgenommen den Fluss der Darstellung unterbricht und die so rezipierte Posen- und Ausdrucks-Ästhetik des japanischen Theaters in einer eurozentristischen Perspektive mit befördert.13 Gert verdoppelt nun gleichsam die posenhafte Fixierung des »Mie« in der Fotografie selbst, die technisch zu dieser Zeit auf das Stillstellen der Bewegung angewiesen war, konnte doch die damalige Kamera- und Filmtechnik den Körper in Bewegung zumeist noch nicht adäquat abbilden. Bevor nun jedoch auf Gerts medienreflexive Verfahren weiter einzugehen ist, soll der Blick zunächst noch auf die kulturkritischen Interventionen sowie deren ästhetische Verfahren gerichtet werden. Dabei fällt in der Fotografie die Beugung der Knie auf sowie der leicht nach hinten geneigte, gespannte Rücken Gerts. Brandstetter exploriert die Verlagerung des Körperschwerpunktes im japanischen Theater, der gleichsam unter das Becken ›rutscht‹ und unter anderem für die besondere Art der Fortbewegung im Nô-Theater typisch sei, bei der die Darstellenden mit den Fußsohlen flach über den Boden streifen.14 Jenes Körperkonzept sei in der Folge als paradigmatisch für den Ausdruckstanz und hier die Betonung der Schwerkraft übernommen worden, wiewohl die Spannungsmodi jener japanischen Theaterformen vielmehr mit dem Modell der Körperhaltungen im Ballett korrespondierten.15 Entsprechend erfolgten Aneignungen japanischer Theaterdetails wie die Beugung des Knies in ansonsten westlich dominierte Ausdrucksschemata, wie Brandstetter anhand von Abbildungen unter anderem der Tänzerin Anna Pawlowa darlegt.16 Gert greift nun genau jene Widersprüche in ihrer Darstellung der »Groteske« auf: Die gebeugten Knie deuten nicht auf das Bewegungsmoment eines zum Boden hin ausgerichteten Körpers. Vielmehr betonen sie zum einen die fragile Balance eines ins Ballett hinein ›japanisierten‹ Tanzkörpers, der wiederum buchstäblich auf dem Boden westlicher Tanz- und damit Balletttraditionen steht: die an Ballettschläppchen erinnernden Schuhe geben hier ein markantes visuelles Signal. So amalgamieren in Gerts kulturkritischem Solo die Darstellungskonventionen europäischer Provenienz, die sich das Japanische aneignen, mit Anleihen aus ästhetischen Verfahren eben jener Theaterformen wie dem Kabuki und dem Nô selbst, die sie etwa in der Nutzung des »Mie« in einer bildkritische Positionierung buchstäblich umkippen lässt. Die »Inszenierung des Fremden«, die Brandstetter als eine Kulturtechnik der Aneignung und Hybridisierung ausweist,17 wird in Gerts Überzeichnung mithin als theatrales und bildliches Verfahren eigens ausgestellt.

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Weitere Hinweise auf solche Praxistransfers, die der Idee des Umkippens von Darstellungskonventionen folgen, gibt ein Filmdokument, in dem Valeska Gert, nun bereits 85-jährig, ihr Solo noch einmal zeigt. In Volker Schlöndorffs Dokumentarfilm Nur zum Spaß, nur zum Spiel – Kaleidoskop Valeska Gert (1977) stellt Gert das Verfahren dieses Solos vor, in dem sie mit schnellen Wechseln sowohl in die Rolle des männlichen Darstellers als auch der weiblichen Protagonistin schlüpft. Zugrunde gelegt ist ein kurzer Dialog zwischen einem Paar, der mit dem durch Harakiri verübten Selbstmord des Hauptdarstellers endet, da die Geliebte ihn abweist. Dabei greift Gert Inhalte der damals in Europa beliebten Kabuki-Stücke auf, die häufig unglücklich verlaufende Liebesdramen zum Thema hatten und oftmals mit dem Tod der Protagonistin endeten, wobei besonders der Harakiri einen stark affektbeladenen Eindruck beim Publikum hinterließ.18 Daneben nutzt Gert Darstellungsmittel, die der Typisierung und Überspitzung des Dargestellten dienen und dabei zugleich die Konventionen des von der europäischen Rezeption bereits durchzogenen Kabukis mit aufgreifen. Den japanischen Dialog nach Art des aus der Commedia dell’Arte bekannten Grammelots sprachlich imitierend,19 schlüpft Gert mit wenigen Bewegungen abwechselnd in die Rolle von Mann beziehungsweise Frau, in dem sie die Standposition von rechts nach links tauscht, die Stimmlage verändert und die Körperpositionen jeweils anpasst. In der Männerrolle sind die Bewegung klischeehaft vergrößert, die Stimme tiefer, der gesamte Körper frontal ausgerichtet. In der Rolle der Frau wiederum dreht sich Gert leicht zur Seite, zieht die Schultern hoch und ein, bewegt die Hände eng und mit kleinen Gesten am Körper, wobei sie die Stimmlage in ein höheres Register verschiebt. Bemerkenswert ist nun, dass Gert hier im Grunde als Frau das Prinzip des Onnagatas übernimmt, des Frauendarstellers im Kabuki.20 Dieses ist geprägt durch ein präzises gestisches Vokabular sowie entsprechende Körperhaltungen, bei denen beispielsweise der Oberkörper immer in einer leichten Eindrehung gegenüber dem Publikum präsentiert wird, also nie frontal ausgerichtet ist.21 Auch das Senken der Schultern und ein auf Verkleinerung gerichteter Habitus ist Teil dieses Formenkanons,22 der im Übrigen auch durch Farbholzschnitte überliefert ist.23 In Gerts Darstellung wiederum verschmilzt nun ein Onnagata-Prinzip, das sie in einer Art Drag-Gender-Performance umwendet und mithin kippen lässt: Als Frau spielt sie zugleich einen Mann und einen Onnagata-Darsteller, der eine Frau repräsentiert. Auch im Foto selbst ist dieses Prinzip des Kippens präsent und wird in der kontrastierenden Verwendung sowohl europäischer wie auch japanischer Kostümdetails und Schminke sowie dem ›Queeren‹ von Genderattributen evident. Darüber hinaus zeigen sich hier auch Bezugnahmen auf die mit den beginnenden Europatourneen Ende des 19. Jahrhunderts aufgegebene Tradition des Frauenverbots auf der japanischen 11

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Leims, Thomas: »Das klassische japanische Volkstheater«, in: Kabuki. Das klassische japanische Volkstheater, hg. v. Ders. u. Manuel Trökes, Berlin: Quadriga 1985, S. 32—76, hier S. 40 f. Ebd., S. 41. Vgl. Brandstetter: »›Blumenhaft und schlächterhaft‹«, S. 257. Ebd., S. 263. Ebd., S. 264 f. Ebd., S. 261 f. Ebd., S. 248. Ebd., S. 250, 256. Dario Fo erläutert diese Praxis wie folgt: »Um eine Geschichte in Grammelot zu erzählen, braucht man eine

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Art Grundausstattung stereotyper Klänge und Töne, die für eine bestimmte Sprache am auffälligsten sind, und man muss sich im Klaren sein über die Rhythmen und Kadenzen, die dem Idiom eignen, auf das man anspielen will.« Fo, Dario: Kleines Handbuch des Schauspielers (1989), Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1997, S. 87. Seit dem Jahr 1629 waren Frauen als Darstellerinnen im Kabuki verboten. Vgl. Zorn, Bettina: »Das traditionelle Theater Japans«, in: Im Rausch der Kirschblüten. Japans Theater und sein Einfluss auf Europas Bühnenwelten, S. 35—48, hier S. 41. Leims: »Das klassische japanische Volkstheater«, S. 34.

[ABB. 03] Käte Ruppel, Valeska Gert »Pause«, Berlin, 13,7 × 8,7 cm, Silbergelatine, Courtesy Deutsches Tanzarchiv Köln.

Theaterbühne und die damit einhergehende deutliche Fokussierung auf weibliche Stars wie Sada Yacco oder Hanako. Das Verfahren des minutiösen Nachzeichnens von Bewegungspatterns, Ausdrucksgebärden und exponierten Posen der von Gert kritisch in den Blick genommen Sujets, die sie dann durch Übertreibung, Vergrößerung oder Vergröberung ins Parodistische kippen lässt, kann als typisches

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[ABB. 04] Hans Robertson, Niddy Impekoven »Dernier Cri«, Berlin, 6,2 × 5,3 cm, Eckstein-Halpaus, Fa. (Hg.): Der künstlerische Tanz, Sammelalbum, Dresden: o.J., S. 7. [ABB. 05] Alexander Binder, Valeska Gert »Alt Paris«, 6,2 × 5,3 cm, in: Fa. Eckstein-Halpaus, (Hg.): Der künstlerische Tanz, Sammelalbum, Dresden: o.J., S. 11.

Verfahren ihrer Kunst bezeichnet werden, das sich hierbei mit dem Begriff des Grotesken fassen lässt. Groteskes umfasst in diesem Zusammenhang gerade nicht die Entgrenzung in Sphären des rezeptiv Unbekannten hinein, das als monströs oder abjekt erfahren wird. Vielmehr ist mit dem Grotesken eine Praxis bezeichnet, die das überzeichnete Sujet immer noch erkennbar bleiben lässt und die sehr gezielt Konventions- und Darstellungsgrenzen überschreitet24 und das Gezeigte buchstäblich aus dem Rahmen kippen lässt.25 Dabei arbeitet Gert in ihren oft nur wenige Minuten dauernden Soli mit schnellen Wechseln als buchstäbliches Kippen von einer Rolle in die andere, die sie fragmentarisch anreißt und gleichsam montageartig unterbricht und verschneidet.26 Gerts Solo zum Thema des japanischen Theaters firmierte außerdem auch unter dem Namen Japanische Pantomime, wie der Untertitel einer anderen Abbildung zeigt.27 Dem Verfahren des karikierenden Typisierens und Zuspitzens folgend, generieren dabei die ohnehin schon verstärkt durch die Pantomime geprägten europäischen Auftritte des Kabukis gleichsam eine methodische Folie für Gerts pantomimisch verkürzte Karikaturen japanischer Darstellerinnen und Darsteller. Und ein weiteres Prinzip kommt 22 23

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Ichikawa Ennosuke III: »Darstellung der Frauengestalten«, in: Kabuki. Das klassische japanische Volkstheater, S. 97—100, hier S. 97. So zum Beispiel ein Holzschnitt von Toshusai Sharaku, der den Schauspieler Iwai Hanshiro IV in der Rolle des Mädchens Okan abbildet. Vgl. Ennosuke III: »Darstellung der Frauengestalten«, S. 99. Zur Kontextualisierung und den verschiedenen Spielarten des Grotesken bei Gert sowie dem Grotesken als Verfahren im zeitgenössischen Tanz vgl. Foellmer: Valeska Gert, S. 109 ff. sowie Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript 2009. Interessant in dem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Kabuki etymologisch genau diesen Vorgang bezeichnet, da es ursprünglich »bewusst aus dem Rah-

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men fallen« bedeutete. »Erst ab dem 18. Jahrhundert wurden die drei Silben umgedeutet und mit den chinesischen Schriftzeichen ka (Lied), bu (Tanz) und ki (Kunstfertigkeit) geschrieben, welche sich auf die wesentlichen Komponenten dieser Theaterform beziehen: Musik, Tanz und Schauspielkunst«. Zorn: »Das traditionelle Theater Japans«, S. 41 (Hervorhebung dort). Zur »Filmisierung« im Tanz Valeska Gerts sowie zu kinematografischen Montageverfahren vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 446 ff. sowie Foellmer: Valeska Gert, S. 52 ff. Gert hat ihre verschiedenen Tänze im Rahmen von Tanzabenden oft über mehrere Jahre hinweg gezeigt und vermutlich auch weiter entwickelt beziehungsweise variiert.

hierbei zum Tragen: Das Moment des Ausstellens und expliziten Zeigens der kritisch unter die Lupe genommenen Sujets, die Gert mit Brecht im Sinne des »Gestus des Zeigens« exponiert. Brecht fordert hierbei eine produktive Haltung für die Schauspielerinnen und Schauspieler ein: Diese vollziehen »[...] die Verwandlung nicht vollständig, sondern [halten] Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja [fordern] deutlich zur Kritik auf.«28 Ist der Gestus in Brechtscher Lesart besonders mit dem (Auf-)Zeigen sozialer Umstände verknüpft,29 wendet Gert diesen nun in die Kritik an aus ihrer Sicht klischierten oder exotistischen Kunstformen um. Wiederum wird hierbei das Kabuki-Theater selbst zur methodisch künstlerischen Grundlage: Denn auch dessen Praxis sieht die Distanzierung der Darstellenden von der Rolle vor, die sich wiederum in Kipp-Momenten ereignet, welche die Wahrnehmung des Publikums zwischen Illusionseffekten und dem Offenlegen der theatralen Fiktion wechseln lassen.30 Gert selbst ist es nun weniger um ein Oszillieren schaupielontologischer Modi zu tun, im Sinne etwa einer Spannung zwischen »phänomenalem Leib« und Rolle.31 Vielmehr nutzt sie jene Verfahren des Bruchs, um sowohl Inhalte wie Ästhetiken der Aneignung des (hier) Nicht-Europäischen zu entblößen. Sie belässt es mit ihrer Kritik folglich nicht bei einer thematischen Parodie von Moden und Klischees in den Darstellungen der europäischen Avantgarde. Vielmehr untersucht und übernimmt sie sowohl die Ausgangsprinzipien der jeweiligen darstellerischen Praktiken wie hier dem Kabuki, die sie mit der europäischen Aneignung und Fusionierung derselben verschränkt. Dabei entstehen Kipp-Momente sowohl in kunst- wie kultur- und schließlich auch genderkritischer Hinsicht. Eine weitere Kippung betrifft überdies die medien- und bildreflexiven Verfahren, welche Gert besonders im Hinblick auf die Kritik an Tanz-Kolleginnen einsetzt. Tanz als kritische Bild-Praxis Ein weiteres Merkmal der kunstkritischen Strategien Gerts ist das gezielte Aufsuchen und Umbrechen der Darstellungskonventionen medialer Verfahren der Übertragung von Tanz wie in der Fotografie. Das hier in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oft noch notwendige Stillhalten und damit Posieren im Studio der Fotografinnen und Fotografen – das den Tanz als solchen dabei auch von der Bühne als Präsentationsort abtrennt – ist dabei ein wesentlicher Bestandteil ihrer bildstrategischen Inter ventionen, die bereits im Theater selbst beginnen. So ›tanzt‹ Gert etwa die Stockung und Still-Stellung der Bewegung als Pose buchstäblich auf einem als Pause betitelten Foto, das vermutlich aus einer »Arbeitspause« während der Arbeit zu ihrem Tanz Canaille hervorgegangen ist: Die Arme nach oben gereckt, den Kopf verweilend zu Seite geneigt und den rechten Fuß in einer abwartenden Position über das linke Bein gekreuzt am Boden abgestellt verharrt Gert für einige Minuten in dieser Haltung. [→ABB. 03] Die Auflösung der Position markiert zugleich das Ende des Tanzes. Zum einen wird hierbei die ›Gemachtheit‹, und Notwendigkeit des Fixierens der Bewegung für das fotografische Verfahren explizit ausgestellt. Zum anderen kommentiert Gert womöglich kulturkritisch die Tempo- und Technikverherrlichung ihrer Zeit, wie sie etwa die Futuristen mit der Idee der Beschleunigung favorisieren, und bettet ihre Arbeit mit einem solchen Prinzip der Unterbrechung in die ästhetischen Verfahren der Avantgarde ein.32

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Jenes als Bühnen-Stück aufgeführte Moment der Bewegungsstockung wiederum findet sich in den Fotografien der Tänze Gerts weiter medienreflexiv verdichtet: So ist der Augenblick des posenhaften Still-Stellens der Bewegung im Foto der Japanische[n] Groteske exponiert und als Darstellungskonvention weiblicher Tanzstars geradezu auf die Spitze getrieben, hier in der ›stabilen Balance‹ der durch Ballettschuhe markierten Haltung. Darüber hinaus spielt Gert gezielt auf die Medien- und Distributionsformate und ihre spezifische Darstellungsästhetik der Tanzfotografien in der Zeit der Weimarer Republik an, für welche die Bildsammelbände der Zigarettenfirma Eckstein-Halpaus, Dresden exemplarisch stehen. Diese entfalten ein Panorama des Tanzes besonders der 1920er Jahre, vom Ballett über den Ausdruckstanz europäischer und nordamerikanischer Herkunft, von Künstlerinnen und Künstlern aus benachbarten Ländern bis hin zu sogenannten »[e]xotische[n] Tanzkünstler[n]«.33 Im interpiktorialen Vergleich der unterschiedlichen Abbildungen Gertscher Tänze und der ihrer Zeitgenossinnen – und besonders jener, die ihre Künstlerkolleginnen parodieren und kritisieren – fällt das Prinzip der Übernahme und Übertreibung ausgewählter Posen der Bewegung im Bild besonders ins Auge. Etwa bei den Karikaturen der Tänzerin Josephine Baker im von Gert so benannten Negertanz oder den überzeichneten Adaptionen der Tänze La Argentinas, deren Œuvre Gert in Soli wie Capriziosa, España oder Olé konterkariert.34 Mimetisch exponiert und übertrieben treten hier beispielsweise die ausgedrehten Hüften oder die Stellung der Knie sowie die Haltung des Kopfes hervor. Als charakteristisches Beispiel soll an dieser Stelle das Solo Dernier Cri der Tänzerin Niddy Impekoven firmieren, das Gert in ihrem Tanz Alt Paris zitiert und parodiert. Fotografien beider Tänze sind im Sammelalbum Der künstlerische Tanz der Firma Eckstein-Halpaus aufzufinden. Bildaufbau und -ästhetik der Fotografien folgen dabei in der Regel dem Prinzip einer herausgehobenen Bewegungsposition aus dem jeweiligen Tanz, die zumeist ›gestellt‹, das heißt für das Foto explizit ›gemacht‹ erscheint. So beispielsweise die Abbildungen Mary Wigmans durch die Fotografin Charlotte Rudolph, in denen etwa die durch hohe Körperspannung markierten Tänze vermittels ausgebreiteter oder über den Kopf erhobener Arme, einem Ausfallschritt mit nach hinten geneigtem Kopf und Rücken oder eines angehobenen Knies mit auf halber Spitze stehendem Standbein repräsentiert sind.35 In wenigen Fällen sind allerdings auch Bewegungen im Schwung oder Sprung zu sehen, so in Rudolphs Brecht, Bertolt: »Zur nichtaristotelischen Dramatik« (1933—41), darin: »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Kann Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller, Bd. 22, Schriften 2, Teil 1, Berlin und Weimar, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 106—116, hier S. 108. Brecht, Bertolt: »Über den Beruf des Schauspielers« (etwa 1935—41), darin: »Über den Gestus I«, in: Ders., Werke, Bd. 22, Schriften 2, Teil 2, 1993, S. 616—617 , hier S. 616 f. Zu Gerts Auseinandersetzung mit und Reformulierung der Brechtschen Schauspieltheorie vgl. außerdem Foellmer: Valeska Gert, S. 81 ff. Vgl. Leims: »Das klassische japanische Volkstheater«, S. 67. Brechts Schauspieltheorie und -praxis war wiederum selbst vom asiatischen, hier chinesischen, Theater inspiriert, besonders, was das Verfahren der Rollendistanzierung betrifft, in der die Darstellenden eine Doppelkonfiguration zweier »Figuren« entwickelten: »eine zeigt, eine wird gezeigt«. Bertolt Brecht: »Über das Theater der Chinesen« (1935/36), in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22,

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Schriften 2, Teil 1, Berlin und Weimar, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 126—127, hier S. 127. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 129 f. So Frank-Manuel Peter. Emailkommunikation vom 13.5.2015. Fred Hildenbrandt gab der Fotografie ihren Titel in seinem Buch Die Tänzerin Valeska Gert, Stuttgart: Walter Hädecke, 1928. Zu Gerts Kritik am Tempo- und Technikdiskurs der 1910er und 20er Jahre vgl. Foellmer: Valeska Gert, S. 56 ff. sowie zur Unterbrechung als theatrales Strukturprinzip etwa im Stück Relâche der Ballet Suédois Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 454 ff. Brandstetter, Brandl-Risi und Diekmann verorten zudem die Pose als unterbrechende Interimsfigur in einer »Umspringzone zwischen Bild und Theater«. Brandstetter, Gabriele, Bettina Brandl-Risi u. Stefanie Diekmann: »Posing Problems. Eine Einleitung«, in: Hold It! Zur Pose zwischen Bild und Performance, hg. v. Dies., Berlin: Theater der Zeit 2012, S. 7—21, hier S. 7. Firma Eckstein-Halpaus (Hg.): Der künstlerische Tanz, Dresden: Erscheinungsjahr unbekannt, S. 40 ff. Vgl. Foellmer: Valeska Gert, S. 122 ff. und 130 ff.

Fotografie der Wigmanschen Zigeunerweisen36 oder in Gret Paluccas Tänzen, die in diesem Band vom Studio Robertson festgehalten wurden.37 Auffallend ist überdies der Bildhintergrund vieler Fotos, der jeweils zu der sich im Zentrum befindenden Person in Kontrast steht, also schwarz oder grauweiß ist, wobei letztere Schattierung oftmals nachbearbeitet und dabei wie ›gemalt‹ erscheint. So auch auf dem Foto des Tanzes Dernier Cri von Niddy Impekoven, das ebenfalls im Studio Robertson entstand und im Album der Firma Eckstein-Halpaus auf Seite 7 platziert ist. [→ABB. 04] Nur wenige Seiten später kann man die Abbildung des Gertschen Solos Alt Paris entdecken, fotografiert im Atelier Binder.38 [→ABB. 05] Gert folgt dabei den bildinszenatorischen Konventionen der Sammelbilder, indem sie vordergründig das Einnehmen einer expliziten Pose sowie die Kontrastierung qua Bildhintergrund mithilfe des Fotografen übernimmt. Lassen sich die beiden Fotos sowie die Anmutung des Zitathaften zum einen über das Medium Sammelband als historiografische Quelle kontextualisieren, so zeigt eine genauere vergleichende Bildanalyse die Doppelstrategie Gerts auf, mit der sie sowohl die Tanzästhetik ihrer Kollegin parodiert als auch die Darstellungskonventionen des Bildträgers als Werbemedium überspitzt. Der Dernier Cri Impekovens, der, so die Bildunterschrift im Album, eine »Parodie [...] auf die mondäne Frau« darstelle,39 zeigt diese mit einem langen, gerüschten und figurbetonten Rock; das Oberteil liegt eng an und auf dem Kopf sitzt ein kleiner Hut. Ihr rechtes Knie ist angehoben,40 wobei ihr in Pumps steckender linker Fuß auf halber Spitze steht. Mit eingezogenen Schultern sind die Arme emporgehoben, während die Hände eine gezierte Abwärtsgeste vollführen.41 Gert zeichnet die hier aufgezeigten Gebärden sämtlich in Alt Paris nach und überführt das von Impekoven bereits parodistisch gezeigte Bild der kecken Pariser Dame in ein durch minimale Überzeichnungen skizziertes Zerrbild einer sogenannten dekadenten Welt. Das Unterteil des Kleides ist bis über das hochgezogene Knie gerutscht und vermittelt nun deutlichere, nicht mehr durch fedrigen Stoff verborgene erotische Signale, die durch die leichte Öffnung der Beine noch verstärkt werden. Hat Impekoven das den Betrachtenden zugewandte Bein angehoben und verdeckt damit den Blick zwischen die Beine, so winkelt Gert das linke, vom Bildvordergrund abgewandte Knie an und erlaubt damit potentielle Blicke auf ihre Scham. Dabei steht der Fuß, in ebenfalls hohen Schuhen, fest auf dem Boden. Gerts stark nach hinten gebogener Kopf gibt die bei Impekoven noch versteckte Schulter teilweise frei, die ebenso wie das Knie von der Textilie befreit ist. Hinzu kommt die vermehrte und damit überzogen wirkende Beugung der Arme und Hände. Der in Impekovens Tanz angedeutete Pferdesprung – durch die Hände, die in einer Art Zügelhaltung verharren, sowie das zum Sprung bereits angehobene rechte Standbein – wird bei Gert zum parodistisch zitierten Standbild eines zahmen Reiterinnendenkmals: in der gezierten Pose erstarrt und womöglichen männlichen Blicken (nun) teils unverhüllt dargeboten. Abgesehen von Gerts Strategie einer ›Parodie der Parodie‹, die insofern groteske Züge durch die Übersteigerung der Übertreibung als solcher trägt sowie gendertheoretisch betrachtet ein Durchqueren von auch in Impekovens Parodie nicht aufgehobenen Weiblichkeitsklischees ermöglicht,42 spielt Gert zudem gezielt auf der Klaviatur der seinerzeit gängigen Präsentationsmechanismen weiblicher Tanz-›Stars‹, indem sie neben den

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beschriebenen, überzeichneten Körpermustern auch die Modi der im Studio für einen kommerziellen Auftraggeber gestalteten Ästhetiken des Sichtbaren im Medium Sammelalbum minutiös nachvollzieht.43 Ihre ReInszenierungen jener tänzerischen und fotografischen Darstellungscodes können wiederum im kunststrategischen Repertoire eines expliziten »Gestus des Zeigens« verortet werden, der einmal mehr die Produktions- und Repräsentationslogiken des Tanzes in den Bildprogrammen der historischen Avantgarde reflektiert. Valeska Gerts Strategien des Zitierens, Aneignens und Transformierens ebenso gängiger wie als alteritär wahrgenommener verkörperter und verbildlichter Kulturmuster sind mithin durchweg von doppelten Bewegungen durchzogen: Verdoppelungen des Zeigens, Posierens und Typisierens wie sie bereits dem Kabuki zu eigen sind, werden in einem Medienwechsel wiederum in die Körperpose der Fotografie übertragen. Damit stellt Gert, wie an weiteren Beispielen zu zeigen war, zudem die Pose des Fotografischen im Modus der Repräsentation weiblicher Protagonisten der Avantgarde explizit aus. Bewegungen werden nicht für das Abbild in die Pose fixiert, vielmehr wird die Notwendigkeit einer solchen Bannung ins Bild als Phänomen einer beginnenden, reproduktiven Medienindustrie mit ausgestellt. So verschränken sich in Gerts getanzten Kritiken Bildinhalte mit ihren Modalitäten der Darstellung und den Formaten, in denen sie erscheinen, zu verdichteten, multidimensionalem Meta-Reflexionen über Tanz und seine medialen Darstellungskonventionen.

Firma Eckstein-Halpaus (Hg.): Der künstlerische Tanz, S. 5. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Das Knie ist laut dem Zeitgenossen John Schikowski ein besonderes Kennzeichen der Tanzkunst Impekovens. Schikowski, John: Geschichte des Tanzes, Berlin: Buchmeister 1926, S. 154. Patricia Stöckemann sieht in diesem Tanz eine gewisse Nähe zur grotesken Kunst Valeska Gerts, da er, kokett und sinnlich, »dem rastlosen Leben ihrer Zeit« entnommen sei. Im Vergleich zu Gerts parodistischer und mithin tendenziell grotesker Überzeichnung des wiederum schon als Parodie gedachten Solos Impekovens zeigt sich jedoch vielmehr, weshalb Impekovens Tanz gerade nicht als grotesk bezeichnet werden kann. Stöckemann, Patricia: »Niddy Impekoven – Geburtstag eines Wunderkindes«, in: tanzdrama, Heft 11, 1990, S. 26—28, hier S. 28. Mit Judith Butler könnte man hier zudem von einer Verdreifachung der ohnehin schon qua Imitation vollzogenen performativen Hervorbringung von Geschlechtsidentität sprechen. Denn wenn diese über die »Imitation« normativer gesellschaftlicher Codierungen hergestellt wird, Prozesse, die als solche in der Travestie, als Geschlechtergrenzen verstörende Parodie, evident werden, wie Butler hervorhebt – und die man im Grunde auch in Impekovens Solo so bezeichnen kann –, so ist eine solche Imitation in Gerts erneu-

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ter Parodie im Grunde als parodierte Imitation einer Parodie einer Imitation zu verstehen. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 202 ff. Butler hebt denn auch hervor: »If heterosexuality is an impossible imitation of itself, an imitation that constitutes itself as the original, then the imitative parody of ›heterosexuality‹ […] is always and only an imitation, a copy of a copy, for which there is no original.« Butler, Judith: »Imitation and Gender Insubordination« (1990), in: The Judith Butler Reader, hg. v. Sara Salih, Malden/USA: Wiley-Blackwell 2005, S. 121—137, hier S. 129. Dies zumindest lassen die Bildanalysen im Kontext des Formats Sammelalbum und in den Bildarchiven Gerts vermuten sowie die kritischen, zuweilen abfälligen Bemerkungen, die Gert über ihre Kolleginnen äußert: So etwa in ihrer Streitschrift über Mary Wigman und später über die Repräsentationsmechanismen der Starkultur in Hollywood, die sie im Rahmen ihrer Emigration in die USA kennenlernt und deren Protagonist/innen sie sämtlich mit dem Attribut der »Ansichtspostkarten« versieht. Vgl. Gert, Valeska: »Mary Wigman und Valeska Gert«, in: Der Querschnitt, 1926, Jg. 6, Heft 5, S. 361—363 sowie Gert: Ich bin eine Hexe, S. 79. Unklar an dieser Stelle muss allerdings bleiben, inwieweit die Positionierung der Bilder (auf den entsprechenden Seiten des Albums) – die sicherlich außerhalb des Einflussbereichs der jeweiligen Tänzerinnen und Choreografinnen war –, auf bewusste editorische Entscheidungen zurückzuführen sind oder vielmehr zufällig gerieten.

TESSA JAHN FOTOGRAFISCHE ENTWÜRFE EXOTISTISCHER TANZ IN DER POSTKARTENSERIE RUTH ST. DENIS (N.P.G. BERLIN)

Was erzählen Fotografien über Tanz? In dieser aus tanzwissenschaftlicher Perspektive an das Bild gestellten Frage, verbinden sich grundsätzlich und notwendig tanz- wie medienhistorische Aspekte. Tanz erscheint innerhalb eines Mediums und dessen spezifischen Repräsentationsformen, seinen medientechnischen Vorgaben, Produktionsbedingungen sowie Publikationsund Verbreitungskontexten. Geleitet von dem thematischen Interesse am tänzerischen Exotismus01 zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Ästhetik modernen Bühnentanzes in Europa und den USA, welche vor allem in Tanzfotografien respektive deren Reproduktionen in Programmzetteln, Büchern und Postkarten überliefert ist, möchte ich im Folgenden dem dokumentarischen Potenzial von Fotografien als tanzhistorischer Quelle nachgehen. Am Gegenstand einer Postkartenserie der amerikanischen Tänzerin und Choreografin Ruth St. Denis02 sollen in diesem Beitrag Fragen nach der Modulation medienspezifischer Bewegungsmarker und Inszenierungen exotistischen Tanzes in fotografischen Bildern aufgeworfen sowie das Verhältnis, in welchem diese zur ›Wirklichkeit der vergangenen Bewegung‹ stehen, verfolgt werden. Einzelne Motive der Serie, circa 1906 vom Pariser Modefotografen Paul Boyer aufgenommen,03 kursieren heute wie damals in tanzwissenschaftlichen Publikationen und finden sich als Abzüge und Postkarten in europäischen wie US-amerikanischen Tanzarchiven. Der erste Schritt tanzhistorischer Quellenarbeit und richtungsweisend für jedwedes

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Forschungsvorhaben an ikonografischen Quellen ist das Sichten der Archivalien, das Wahrnehmen des archivierten Gegenstandes selbst, seiner Aufbewahrungsformen, Zugangsmöglichkeiten und -bedingungen, die gleichzeitig Teil der Geschichte der materialen Quelle04, Teil der Tanzhistoriografie sind. Ihre Geschichte wird für uns als eingeschriebene Spuren sichtbar, die vom Lichtabdruck des Motivs, über eventuelle Bearbeitungsspuren wie Retuschen und Ausschnitte, bis hin zu mechanisch-chemischen Gebrauchsspuren reichen können. Die Postkartenserie Ruth St. Denis Ich sitze im Lesesaal der Bibliothek des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, deren theaterhistorische Sammlungen eine Mappe mit dem Titel »St. Denis, Ruth (geb. Ruth Denis) 1879 — 1968, am. Tänzerin, Choreographin, Pädagogin«05 hält. Ich lese den Titel, öffne die Mappe. Mir fallen vier halbtransparente, teils beschriftete Briefchen aus säurefreiem Papier in die Hand, die sechs Bromsilbergelatine-Postkarten06 enthalten. Sie bilden St. Denis in drei verschiedenen Kostümen und vor zwei verschiedenen Bildhintergründen ab. Alle Fotografien sind mir bereits aus anderen Tanzarchiven als digitale Scans, als Fotoabzug, Postkarte oder auch Abbildungen in Büchern über die Tänzerin und den Modernen Tanz mit verschiedenen Titeln, Bildbearbeitungen und variierenden Datierungen geläufig.07 Ich erkenne die Stücke und deren Fotografien sofort an den abgebildeten Kostümen und Requisiten: Incense (1906), The Cobras (1906), Radha – Dance of the five senses (1906). Nacheinander nehme ich die Postkarten mit behandschuhten Fingern heraus, vier von ihnen haben eine hochglänzende Oberfläche und einheitliche Beschriftungen. Der Blick auf die Verlagsmarke bestätigt die Ähnlichkeit: sie sind veröffentlicht von der Neuen Photographischen Gesellschaft Steglitz, Berlin (N.P.G.). Auch die Nummerierungen weisen auf eine Verbindung, die allerdings weder den Tänzen noch einer Motivabfolge zu entsprechen scheint: die Nummern 775/11, 775/13 und 775/20 zeigen Ruth St. Denis in Radha; auf der Postkarte Nr. 775/18 ist sie im Tanz Incense abgebildet. Auf den Postkarten selbst ist kein Hinweis auf die gezeigten

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Zum Exotismus im Tanz der frühen Moderne vgl. auch: Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer 1995; Brandstetter, Gabriele: »›Blumenhaft und schlächterhaft‹. Japanische Körperbilder in Europa: Rezeption, Projektion, Fiktion in Texten und Bildern der Zwanzigerjahre«, in: Ostasienrezeption im Schatten der Weltkriege. Universalismus und Nationalismus, hg. v. Walter Gebhard, München: Judicium 2003, S. 247—266; Décoret-Ahiha, Anne: Les danses exotiques en France 1880—1940, Pantin: Centre national de la danse 2004. Die amerikanische Tänzerin Ruth St. Denis (1879—1968) ist eine der ersten und bekanntesten Vertreterinnen von exotistischen Tänzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre 1906 uraufgeführte Choreografie Radha–Dance of the five senses wird von weiteren ›indischen‹, ›japanischen‹ und ›ägyptischen‹ Tänzen gefolgt, die sie bis circa 1918 zu einem »cycle of Oriental dances« (Ted Shawn: Ruth St. Denis: pioneer & prophet, San Francisco: John Howell 1920) entwickelt, ohne je eines der genannten Länder bereist zu haben. 1915 gründet Ruth St. Denis gemeinsam mit ihrem Ehemann und Tanzpartner Ted Shawn die »Denishawn School of Dancing and Related Arts« in Los Angeles, in der sich die späteren Modern Dance-Ikonen Martha Graham, Doris Humphrey und Charles Weidman ausbilden lassen. Ruth St. Denis erwähnt Paul Boyer in ihrer Autobiografie nur en passant: »On the surface there were of course Frenchmen asking for meetings, much kissing of hands, photographs taken by the celebrated Paul

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Boyer.«; vgl.: St. Denis, Ruth: An Unfinished Life, London: Harrap, o.J., S. 87. Vgl. Edwards, Elizabeth u. Hart, Janice: »Introduction: Photographs as objects«, in: Photographs Objects Histories: On the Materiality of Images, hg. v. dies., London: Routledge 2004, S. 1—15. Archivmappe »St. Denis, Ruth (geb. Ruth Denis) 1879—1968, am. Tänzerin, Choreographin, Pädagogin«; Theaterhistorische Sammlungen, Freie Universität Berlin, Signatur: IfT Saint-Denis, Ruth. Ein durch fotografische Belichtung im Massenverfahren hergestellter Abzug eines Negativs. Abbildungen dieser Aufnahmen von Radha finden sich u.a. in Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 32 mit dem Verweis auf Vila, Thierry: Paroles de corps: la chorégraphie au XXe siècle, Paris: Éd. Du Chêne 1998, S. 85 (Abbildung mit der Angabe »Londres 1908«), nachgewiesen im Bibliothéque-Musée de l’Opéra, Paris (wahrscheinlich die Abbildung eines Fotoabzugs). Reproduktionen von Fotografien des Tanzes Incense sind sowohl als Fotoabzug, als auch als Postkarte in der Jerôme Robbins Dance Division (NYPL, New York, digitalcollections. nypl.org, 08.052015) sowie in Shelton, Suzanne: Ruth St. Denis: A Biography of the Divine Dancer, University of Texas Press 1990, S. 54 als Abbildung eines Abzugs mit Rauchretuschen zu finden. Andere Motive der potentiell gleichen Fotoserie, z.B. von Incense, erschienen auch im Postkartenverlag PK GG (digitalcollections.nypl.org, 08.05.2015).

[ABB. 01] Archivmappe Ruth St. Denis, Theaterhistorischen Sammlungen, Freie Universität Berlin.

Tänze, sondern nur auf die Tänzerin angebracht: ihr Namenszug überschreibt ihr Bild in der oberen linken Ecke. Im Wandern über die Beschriftungen – Ruth St. Denis’ Namenszug, die Marke des Pariser Fotografen Paul Boyer auf deren unteren linken Seite sowie dem Verlagsnachweis mit Serien-/Motiv-Nummer08 in der rechten unteren Ecke – stellt sich mein Blick auf die materielle Oberfläche ein; alle vier Postkarten zeigen Reißzweckenlöcher und -abdrücke auf gleicher Höhe sowie runde Abdrücke an allen vier Ecken. Poststempel oder Briefmarken sind nicht zu finden. Zwar liegt die Relevanz der Postkarten für die Tanzwissenschaft zunächst vor allem darin begründet, dass sie Abbildungen einer Tänzerin sind, doch geht, wie die vorangestellte Betrachtung zeigt, dies Abbild-Verhältnis nicht als einzige Sinnzuweisung auf. Die Postkarten verweisen auf verschiedene Bereiche, in welchen Tanzfotografien im Allgemeinen und im Speziellen die Postkarten von St. Denis Relevanz hatten. So überrascht das Material möglicherweise auch, lenkt den Blick um oder gar ab, löst Forschungs-, Recherche- und Rekonstruktionsstränge erst aus. Die Quelle belegt nicht mechanisch als letztgültiger Beweis eine Aussage, vielmehr ermöglicht sie viele Aussagen, die durch das Konstellieren von Quellenerfahrung und Forschungsinteresse geprägt sind. Der Status von (Tanz) Fotografie als historiografischer Quelle wird in diesem Prozess je moduliert.09 Der methodisch, kanonisch und thematisch eingestellte Blick trifft auf die Beschaffenheit und ästhetische Gestaltung der Fotografie, welche, wie Steffen Siegel in seinem Aufsatz »Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Auflösung des Bildes« (2013) ausführt, ihre jeweilige Zeigeordnung geltend macht:

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»Seit jeher sind Bild und Wissen nicht allein eine enge, sondern auch eine spezielle Allianz miteinander eingegangen. Bildmedien, gleich welcher Art, sind auf ganz erhebliche Weise an den Prozessen der Generierung, der Kommunikation und der Vermittlung von Wissen beteiligt. Doch treten all diese Bildmedien in solchen Prozessen nicht als neutrale Akteure im Dienst einer ihnen äußerlichen Funktion auf. Sie alle schreiben sich durch die jeweils eigene Art der durch sie errichteten visuellen Zeigeordnung in die in Frage stehenden Erkenntnisordnungen immer mit ein. Auf der Rückseite jedes epistemisch motivierten Einsatzes von Bildmedien macht sich daher stets auf sehr weit reichende Weise deren jeweils eigene Ästhetik geltend.«10 Stellen historische wie aktuelle Fotografiebegriffe mit der Referenz auf den medientechnischen Herstellungsprozess einer Fotografie immer wieder das Indexikalische ins Zentrum,11 sollen hier sowohl ihre abbildhafte – also auf eine wie der Kunsthistoriker Lars Blunck formuliert »bildvorgängige Wirklichkeit«12 gerichtete –, als auch ihre bildästhetische sowie pragmatisch-kulturelle Funktionalisierungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Die drei genannten Ebenen – abbildhafte, bildästhetische und pragmatisch-kulturelle – dienen als Struktur für die folgenden Betrachtungen. Als Tanzdokument werden Fotografien in verschiedenen Aspekten relevant, wobei das Dokumentierende einer Tanzfotografie nicht mit einer indexikalischen Verweisstruktur im Sinne C. S. Peirces13 gleichgesetzt werden kann.14 Die Fotografie referenziert nicht nur durch ihre Aufzeichnungstechnik, sondern auch durch ihre diversen und sich ständig verändernden Verwendungskontexte in verschachtelter Konstellation diverse Bewegungsthemen und Wirklichkeiten. Gerade das Wechseln und Verschränken verschiedener Zeichenregister scheint dabei den Status von Tanzfotografie zu modellieren. Fotografie als Abbild von Tanz Zeigen die Fotografien von Incense wie auch The Cobras Sitz- oder Standpositionen, treffen mich die Radha-Bilder mit ihrem schwingenden Rock nicht nur als Bild der Tänzerin, sondern auch als Bild ihrer Bewegung. Ich fokussiere mich auf die drei als Bewegungs-Serie anmutenden Motive. Ihre Drehung, im Nachschwingen des Rockes durch unscharfe, durchscheinende Zeichnung angezeigt, steht im Kontrast zu St. Denis’ Körper, der vollständig, frontal und detailscharf sichtbar ist.

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»Um eine genaue Identifikation zu ermöglichen und auch Nachbestellungen zu erleichtern, befindet sich auf beinahe allen Foto-Postkarten der Verlage auf der Vorderseite unten links oder rechts das Verlagssignet, sowie eine fortlaufende Seriennummer. Auf die folgt, meist durch einen Schrägstrich oder Punkt geteilt, die Nummer innerhalb der jeweiligen Serie. Gewöhnlich besteht diese aus sechs Postkarten, aber auch zehn, zwölf oder zwanzig Postkarten sind häufig. In Frankreich sind auch 5er Serien geläufig. Man folgt der Tradition der beliebten Sammelbilder (Liebig etc.) und ermuntert die Kunden, so weitere Postkarten zu erwerben, um diese zu komplettieren.« Weiss, Peter: »Als die Fotos lügen lernten«, in: Neue Photographische Gesellschaft Steglitz. Die Geschichte eines vergessenen Weltunternehmens (1897—1921), hg. v. Wilma Gütgemann-Holtz u. Wolfgang Holtz, Ausstellungskatalog, Berlin: 2009, S. 78—83, hier S. 79. vgl. auch: Siegel, Steffen: »Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Auflösung des Bildes«, ZÄK 58/2, (2013) S. 180—202.

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Siegel: »Ich sehe was, was du nicht siehst«, S.180. Vgl. Barthes, Roland: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; Dubois, Philippe: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam: Verl. der Kunst 1998; Peirce, Charles Sanders: »Die Kunst des Räsonierens« (1893), in: Peirce, Charles Sanders: Semiotische Schriften, hg. v. Helmut Pape, Bd. 1: 1865—1903, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; Talbot, William Henry Fox: The pencil of nature, Nachdr. der Ausg. London, Longman, Brown, Green & Longmans, 1844, Budapest: Hogyf Ed. 1998. Blunck, Lars: Die fotografische Wirklichkeit: Inszenierung–Fiktion–Narration, Bielefeld: transcript 2010. Peirce: »Die Kunst des Räsonierens«. Vgl. auch den Beitrag »Formlose Dokumentation. Revision von Hugo Erfurths Fotografie des Götzendienstes von Mary Wigman« von Eike Wittrock in diesem Band.

[ABB. 02 + 03] Paul Boyer: Ruth St. Denis, ca. 1906, Postkartenserie, Neue Fotografische Gesellschaft Berlin Steglitz, ca. 1907, Sammlung des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin.

Die medialen Aufzeichnungsmerkmale von Fotografie werden hierbei bereits im Aufnahmemoment ins Bild gesetzt: die Verteilung von Schärfe und Unschärfe als spezifisch fotografisches Merkmal der Bewegungsaufzeichnung15 lässt in diesen Aufnahmen von Ruth St. Denis auf das gezielte Bewegungsposieren für die Kamera schließen. Der angehaltene, klar und zentriert im Bild stehende Körper und die von der Bewegung auf das lichtempfindliche Material gezeichneten, durchscheinenden, geradezu grafischen Formen des schwingende Rocksaums – aller Wahrscheinlichkeit aufgenommen in ein und der selben Fotosession mit Paul Boyer – offenbaren noch verstärkt durch die motivische Wiederholung der Postkartenserie die Inszenierung der Aufnahmesituation hin auf ein Bild. Zwar stehen die Spuren des Rockes als Bewegungsindex im Bild, welcher sogar als Abbild des Drehdeliriums im fünften Tanz von Radha interpretierbar wäre, also einen choreografisch signifikanten Moment markieren könnte. Doch gerade in der Wiederholung und leichten Variation des Motivs innerhalb der Bildserie wird das In-Bewegung-Versetzen des Tanzkleides für die Kamera des Fotografen augenfällig. Es zeigt weniger die Gestalt eines aufgeführten Tanzes, als vielmehr die mediale Sichtbarmachung dieses gewählten Momentes der Choreografie. Die Fotografien machen sich hier die technische wie medienästhetische Konvention der fotografischen Bewegungsunschärfe zu nutze. Im gezielten Einsetzen von Schärfe und Unschärfe als fotografischem Bewegungs-

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index prägen St. Denis/Boyer ein Bild von Bewegung.16 Die Momenthaftigkeit von Bewegung im Bild ausstellend wird ein Vorstellungsbild von Tanz erschaffen, in welchem fotografietechnische Referenzierungsmerkmale bereits als medienästhetische mitgedacht und markiert sind. Fotografie als Bild von Tanz Die Aufnahmen der Fotoserie zeigen Ruth St. Denis in einem mit Teppich und Vorhang eingerichteten Fotostudio, das denen der in Indien aufgenommenen und von dort mitgebrachten Fotografien von Tänzerinnen entspricht.17 Orientalische Teppiche oder die Hookah, eine Wasserpfeife, sowie posierende Musiker gehören zum attribuierenden Bildrepertoire der meist von europäischen Fotografinnen und Fotografen oft in ethnografierender Absicht aufgenommenen Bilder indischer Tänzerinnen. Diese werden so erst bildlich im kulturellen Raum ›Indien‹ verortet und in Kombination mit Schmuck und Rock das Tanzen als Beruf der Abgebildeten markiert. Dieses räumliche und dekorative Setting zitierend verwandelt sich St. Denis zunächst in ihren Stücken und dann in deren Fotografien durch ihr Kostüm (Ghagra, das zweiteilige Bluse-Rock-Set nordindischen Tanzes, oder dem Sari, dem angelegten Schmuck und den um die Fußgelenke gelegten Glöckchenbändern, den Ghungroo) sowie durch Körperschminke diesem Bildrepertoire an. Jedoch sind auch klare Differenzierungsmarker ins Bild gesetzt: die dunkel geschminkte Haut ist es, die das Exotisieren des ›weißen‹ Körpers augenfällig werden lässt. In dieser Anverwandlung trägt St. Denis zur Festigung rassistischer Stereotypen, wie sie auch in den zeitgenössischen Blackface- und Minstrel-Nummern der Varietébühnen gängig waren, bei und offenbart die kolonial-hierarchische Prägung kultureller Kontakte im Tanz der frühen Moderne. Obwohl St. Denis im Stück Radha selbst sowie in bereits 1904, noch vor seiner Uraufführung, aufgenommenen Fotografien »native Hindus costumed as priests«18 einsetzt, verzichtet sie in diesem Bild auf weitere, kulturell-beglaubigende Darsteller, obwohl sie für ihre Aufführungen mit einer »large group of Hindus«19 durch Europa reiste. Im Zitieren des ›exotischen‹ Settings fügt sie dem konventionalisierten Bild-Raum der Kolonialfotografie mit der Gleichzeitigkeit von gehaltenem Körper und schwingendem Rock ein Drehmoment hinzu, das von Mary Wigman bis Dore Hoyer ein wiederkehrendes Motiv des Ausdruckstanzes bleiben wird.20 In Abgrenzung zu den Bildvorlagen fügt sie ein Bild von Bewegung in ihre Fotografien. 15 16

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Vgl. auch Siegel: »Ich sehe was, was du nicht siehst«, S.189. Die Formulierung ›Bild von Bewegung‹ lehnt sich hier an ein grundlegendes Konzept des gleichnamigen DFG-Forschungsprojektes »Bilder von Bewegung. Tanzfotografie 1900 6—1920« an, welches Tanzfotografien in der Interferenz beider Medien in den Blick nimmt. Vgl. auch die Einleitung dieses Bandes »Bilder von Bewegung. Eine Einführung«. So finden sich die gleichen Fotografien von »nautch dancers« wie z. B. die Charles Shepherds in den Sammlungen des Musée d’Orsay Paris, The Ehrenfeld Collection San Francisco oder auch der Sammlung des Ethnologischen Museums Berlin, Abteilung Süd- und Südostasien; für den speziell europäisch geprägten fotografischen Blick auf indische Tänzerinnen vgl. auch Gadebusch, Raffael Dedo: »Ein orientalisches ›Arkadien‹. Der Moghulgarten in der Fotografie des 19. Jahrhunderts«, in: Picturesque Views. Moghulindien im Spiegel der Fotografie des 19. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit: Hatje und Cantz Verlag 2008, S. 15 und die

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Abb. 66 »Tanzvorführung, Delhi, Sheperd&Robertson 1862«, S. 116; sowie Bautze, Joachim K.: »The ›Inevitable Nautch Girl‹...On the Iconography of a Very Particular Kind of Women in 19th Century British India«, in: Journal of Bengal Art, Vols. 9&10, (2004—05) S. 187—246. Shawn: Ruth St. Denis, S. 6; Es gibt ebenfalls Fotografien von Ruth St. Denis, welche entweder »Native Hindus« (1904) oder das ganze Bühnensetting mit ihren Nebendarstellern (White Studios, New York 1906 und 1908) zeigen, vgl. digitalcollections.nypl.org, 08.05.2015 St. Denis: An Unfinished Life, S. 81. Mary Wigman: Drehmonotonie (1926—27), für eine Beschreibung vgl. Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes, München: Battenberg 1986; Dore Hoyer: Bolero (1938—39), vgl. Peter, Frank-Manuel: Zwischen Ausdruckstanz und Postmodern Dance. Dore Hoyers Beitrag zur Weiterentwicklung des modernen Tanzes in den 1930er Jahren, 2004, http://www.diss.fu-berlin.de/diss/ receive/FUDISS_thesis_000000001388, 08.05.2015, S. 217.

Diese rücken die Person St. Denis als Tänzerin in ihrer gleichzeitigen Geste der Aneignung wie Differenzierung zu einer bildkonventionellen kulturellen Verortung in ihren Fokus. Die Fotografie weist damit nicht nur auf das »bildvorgängige« Geschehen einer Aufführung für die Kamera, sondern auch auf das Ins-Bild-Setzen der Tänzerin und ihrer Kreationen. St. Denis fügt ihren Körper in das, was im Bilderdiskurs als ›indische Kultur‹ markiert ist und entwirft eine gleichermaßen retrospektive wie prospektive Vision ihres Tanzes. In ihrer Zusammenarbeit im Fotostudio rekurrieren St. Denis und Boyer auf ein fotografisches Genre zwischen Kunst und Wissenschaft. In Referenz auf ethnografische Fotografie werden Bezugspunkte sowie Unterscheidungsmarker visuell in Szene gesetzt. Insbesondere der schwingende Rock wird in weiteren Tanzfotografien noch stärker ins Bild geformt, so dass er sich sowohl als Index vergangener Bewegung und exotisierendes Attribut, als auch den Bildraum bestimmende Bewegungsfiguration, in seiner medialen Wiederholung und Vervielfältigung zum Symbol für Ruth St. Denis’ Tanz verfestigt. Dieses Bild findet als Pressefotografie, Einzelabzug oder eben als Postkarte weitreichende Verbreitung, die sich noch heute in den Beständen von Tanzarchiven spiegelt.21 Tanzfotografie im Massenmedium Postkarte Im oben ausgeführten Einsatz des fotografischen Bewegungsindex der Unschärfe verschränken sich medial-technische Gegebenheiten mit ästhetischer Komposition, welche eingefügt in exotisierende Signifikationsschemata ein Bild von Tanz kreieren, das als Postkarte verbreitet und damit ein Teil spezieller Verwendungskulturen wird. Die folgenden Ausführungen zielen, auf verschiedenen Ebenen der Herstellung und des Gebrauchs, auf Bildpraktiken als »the cultural work postcards perform”22 und somit fotografische Bilder in weitere Kontexte einbinden. Die Postkarten von Ruth St. Denis tragen klare Gebrauchsspuren: im Handhaben entstandene Kratzer, Risse, Löcher und chemischen Veränderungen der Emulsionsschicht – als Aussilberungen23 sichtbar – die das Motiv wie eine Zeichnung überlagern oder umkränzen. Als Silberansammlungen markieren sie jene Bereiche im Bild, die häufig mit Feuchtigkeit (z.B. der Hände) in Kontakt gekommen sind. Die deutlichen Spuren weisen auf die materielle Beschaffenheit der Bromsilbergelatine-Postkarten, welche als Abzug eines Fotonegativs erst durch Neuerungen im Herstellungsverfahren als massenhaft vertriebene ›Ansichtskarte‹ eine Medienkultur und deren sinnstiftende Prozesse prägte. Die Erfindung der »KilometerPhotographie« der N.P.G. Berlin mit bis zu 40.000 Abzügen pro Tag trug in erheblichem Maße zur Etablierung dieses Bildmediums bei. Karin Walters Aufsatz »Aktuelle Bilder vom laufenden Band. Die Postkartenproduktion der N.P.G.«24 fasst das Herstellungsverfahren aus Artikeln zeitgenössischer, periodisch erscheinender Fotozeitschriften rekonstruierend zusammen: »1894 begann die Neue Photographische Gesellschaft (N.P.G.) in BerlinSchöneberg mit der Verarbeitung von Bromsilbergelatine-Entwicklungspapieren. Das Fotopapier war seit 1880 auf dem Markt und damit längst bekannt, aber erst die N.P.G. entwickelte unter der Bezeichnung ›Kilometer-Photographie‹ ein Verfahren, es für die Massenanfertigung zu nutzen. Dies hatte innerhalb kürzester Zeit immense Folgen für das gesamte Fotografiegewerbe. [...] So lässt sich der Produktionsablauf der KilometerPhotographie folgendermaßen rekonstruieren: Am Anfang des Prozesses

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[ABB. 04 + 05] Paul Boyer: Ruth St. Denis, ca. 1906, Postkartenserie, Neue Fotografische Gesellschaft Berlin Steglitz, ca. 1907, Sammlung des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin.

stand die ›Gelatiniermaschine‹, in der als erster Schritt eine Endlosrolle Rohpapier gleichmäßig mit Bromsilbergelatine überzogen wurde. Anschließend erfolgte die Belichtung des hochempfindlichen Papiers in der Dunkelkammer. Hier wurde das Endlospapier in eine ›Belichtungsmaschine‹ eingeführt. Bereits voll automatisiert, stoppte das Papier in regelmäßigen Abständen, der mit mehreren Glasnegativen bestückte Kopierrahmen senkte sich, elektrische Lampen gingen an und die Belichtung erfolgte. Mit diesem Verfahren wurde alle zwei bis vier Sekunden ein halber Meter Papier mit 20 Negativen belichtet. Anschließend durchlief die Papierrolle noch eine Reihe von Bädern mit Entwickler, Säure, Natron, Alaun und Wasser und wurde dann getrocknet. Bei einem damals üblichen Arbeitstag 21

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Vgl. exemplarisch die Sammlung von Zeitungsausschnitten zu St. Denis’ Radha der Robinson Locke Collection – Scrapbooks, die Postkarte, (anonym ca. 1906) oder den Fotoabzug, White Studios New York, 1906 in der Jerôme Robbins Dance Division, NYPL, New York, digitalcollections.nypl.org. Mendelson, Jordana u. Prochaska, David: »Introduction«, in: Postcards. Ephemeral Histories of Modernity, dies. (Hg.); University Park Pennsylvania: Pensylvanian University Press 2010, S. xii. Aussilberung, ein durch Kontakt mit Feuchtigkeit und säurehaltigem Papier entstandener Silberspiegel, der vor allem in den Schattenbereichen einer Fotografie auftritt, verändert blau-metallisch glänzend die Lichtreflexion der Bildoberfläche und damit auch den Eindruck der Helligkeitsverteilung des Motivs: »In all types of silver images the reduction of migrating silver

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ions can also lead to changes in the appearance of the image. The formation of silver ›mirrors‹, a bluish metallic sheen in shadow areas, is the result of the reduction of silver ions at the very uppermost surface of gelatin, collodion, or albumen layers. Silver mirroring is a symptom of oxidative-reductive deterioration, and can be found in nearly every type of silver photograph with separate binder layer. It occurs most frequently in glossy developing out papers […].« Reilly, James M.: Care and Identification of 19th-Century Photographic Prints, Eastman Kodak Company, 1986. Walter, Karin: »Aktuelle Bilder vom laufenden Band. Die Postkartenproduktion der N.P.G.«, in: Neue Photographische Gesellschaft Steglitz. Die Geschichte eines vergessenen Weltunternehmens (1897—1921), hg. v. Wilma Gütgemann-Holtz u. Wolfgang Holtz, Ausstellungskatalog, Berlin 2009, S. 56—63.

[ABB. 04] Rückseite einer der Postkarten, Sammlung des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin.

von zehn Stunden verarbeitete die N.P.G. auf diese Weise 1000 Meter Bromsilberpapier – namensgebend für die Kilometer-Photographie – bzw. produzierte 40.000 Bilder. [...] Eine folgenreiche Geschäftserweiterung leitete die N.P.G. mit dem Angebot ein, Bromsilberfotografien nicht mehr nur im Kabinett-, sondern auch im Postkartenformat zu produzieren. Anstelle von Papier kam nun dünner Karton zum Einsatz, dessen Rückseite gemäß den Vorschriften für Postkartenformulare bedruckt war. Die nun erstmals mögliche massenhafte Herstellung von Fotopostkarten löste die entscheidende Epoche in der Geschichte der Postkarte aus. Es begannen die so genannten ›Goldenen Jahre der Ansichtskarten‹, die sich von ca. 1897 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erstreckten. In diesem Zeitraum entwickelte sich ein heute unvorstellbarer Postkartenboom, in dem Millionen von Karten produziert, verkauft, verschickt und gesammelt wurden. [...] Das Gros der Ansichtskarten wurde erst gar nicht verschickt, sondern landete unbeschrieben in den Kisten und Alben eifriger Sammler und Sammlerinnen. Das handliche einheitliche Format bot sich zum Sammeln geradezu an.«25 In diesem Prozess werden die Aufnahmen Boyers, die ihren Charakter des Lichtabdrucks durch die neue Verfahrenstechnik behalten, als Postkarten mit Aufschriften und Nummerierungen überschrieben. Die Einheitlichkeit von Format, Oberfläche und Beschriftungen, Nummerierung der Motive sowie die Wahl der Autorschaftsangaben fügt sie zu einer Serie. Zudem lassen die fehlenden Spuren einer postalischen Nutzung und statt ihrer, Löcher, Kratzer und Abrücke als Handhabungsspuren den Sammelkontext augenfällig werden.26

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Für ihre massenmediale Vervielfältigung durchwandern die Motive geografische, mediale sowie kulturelle Räume. Paul Boyer ist neben dem Atelier Reutlinger, einer der ersten Modefotografen für Pariser Modezeitschriften zur Jahrhundertwende, dessen Aufnahmen u.a. von der N.P.G. in der »albumartig gestaltete[n] Heftreihe ›Pariser Modefotografien‹«27 veröffentlicht werden. Hauptsächliches »Verbreitungsorgan für die Zeitschriften zu reproduzierenden Fotografie waren Bilderdienste, wie zum Beispiel ›Scherl‹ in Berlin«28, aber auch persönliche Kontakte29 erlauben den Fluss von Fotonegativen von Paris nach Berlin. Massenhaft vervielfältigt stehen Tänzerinnen und Tänzer, wie hier exemplarisch Ruth St. Denis, mit Fotografien von Schauspielerinnen und Schauspielern, Gemälden oder Skulpturen in der Reihe von Postkartenserien, welche gerade nicht nur von Tanzbegeisterten, sondern auch von Sammlerinnen und Sammlern des spezifischen Mediums Postkarte wahrgenommen und erworben werden. Die massenhafte Verbreitung trägt die Visualisierung ihrer Tanzästhetik und ihrer Sujets in eine breite Öffentlichkeit, denn das Sammeln von Postkarten erlangt zur Jahrhundertwende und in den folgenden zwei Jahrzehnten enorme Popularität: »Schätzungen zufolge wurden zumindest im Deutschen Kaiserreich ca. 20 Prozent der produzierten Karten direkt von der Sammelszene absorbiert. Zudem existierten 1897 allein in Deutschland 60 Firmen, die Sammelsteckalben für Bildpostkarten herstellten. Schließlich zeichnete sich ein mit hohem Tempo vollzogener Organisierungs- und Institutionalisierungsschub ab, wovon insbesondere zahlreiche Gründungen von Sammelvereinen zeugen, die meist eigene Zeitschriften herausgaben.«30 In diesem Übergang in die Sammelkultur werden die Fotografien von St. Denis in industriell vorformatierte, individuell arrangierte Sammlungen sowie in ein Netz weiterer Zuweisungen einsortiert. Wie Felix Axsters Studie Koloniales Spektakel in 9 × 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich zeigt, war: »[...] der Diskurs über das Sammeln Bestandteil eines Prozesses der Popularisierung von Wissen und Wissenschaft, in dem versucht wurde, Freizeit und Unterhaltung als Bildung und Belehrung zu modellieren. Zugleich eignete diesem Diskurs eine spezifische Modellierung der Welt, die nicht nur als Ausstellungsobjekt handhabbar und verfügbar gemacht wurde, sondern auch gemäß eurozentrischer Blickachsen und Positionierungen geordnet war.«31 Zwei Ordnungsbewegungen treffen hier aufeinander: zum einen die im Bild aus der ›Fremde‹ vereinnahmten, bereits durch den Bezugsrahmen der Kolonialfotografie vorgeprägten Bildsignifikationen der exotisierten Selbst-Bilder St. Denis’; zum anderen Tanzfotografien als Sammelgegenstand, welcher in einer ›Weltordnung‹-(ab)bildenden Album-Ansicht zum Teil eines sich formierenden Diskurses wird. Postkarten fungieren als Wissensgegenstand innerhalb einer Populärkultur, welche Tanzfotografien zum Einsortieren in vorgefertigte Welt-Alben bereitstellt. Gerade die ›Tanzwelt‹ wird so in einer Verbindung von historischen, ästhetischen wie geografischen Gesichtspunkten als koloniale Welt in Sammlungen von massenmedial vervielfältigten und verbreiteten Bildern geordnet.32 25 26

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Walter: »Aktuelle Bilder vom laufenden Band«, S. 56ff. Zu Gebrauchskontexten von Tanzfotografie vgl. weiter auch: Barche, Gisela u. Jeschke, Claudia: »Bewegungsrausch und Formbestreben«, in: Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Gunhild Oberzaucher-Schüller, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1992, S. 317—346. Frühe Modefotografie Pariser Ateliers, Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin: SMPK 1994, S. 20. Ebd., S. 20. Holtz, Wolfgang: »Aufstieg und Niedergang der NPG«,

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in: Neue Photographische Gesellschaft Steglitz. Die Geschichte eines vergessenen Weltunternehmens (1897—1921), hg. v. Wilma Gütgemann-Holtz u. Wolfgang Holtz, Ausstellungskatalog, Berlin 2009, S. 26—39. Axster, Felix: Koloniales Spektakel in 9 × 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld: transcript 2014, S. 171. Axster: Koloniales Spektakel in 9 × 14, S. 172. Diese Praxis findet sich noch zu Beginn der dreißiger Jahre z.B. in Zigarettensammelbilderalben, wie dem Album Die Tanzbühnen der Welt, Dresden: EcksteinHalpaus, o.J., fortgeführt.

Stellen tanzhistorische Forschung33 wie auch der kunsthistorische Diskurs um den Begriff der »inszenierten Fotografie«34 die Frage nach dem Realitätsgehalt an Fotografien, zeigt die Analyse der Postkartenserie Ruth St. Denis, dass in der historischen Praxis vor allem das entwerfende Potenzial der Fotografie ausgeschöpft wird. Die dokumentierenden Eigenschaften von Fotografie als Aufzeichnungstechnik werden in diesen Entwurfsprozess einbezogen, ja geradezu im Bild ›in Szene gesetzt‹. Die Aufnahme ist als gestaltetes Bild von Tanz zu verstehen, welches in einem komplexen Prozess von mindestens zwei Autorinnen und Autoren (tanzend vor und sehend hinter der Kamera) geplant, umgesetzt und anschließend bearbeitet, kombiniert und kontextualisiert wird. Im Wechseln und Verschränken verschiedener Zeichenregister macht sich das fotografische Bild das technisch bedingte, indexikalische Verhältnis und die interpiktorialen Verbindungen zu einer, wie man im Rekurs auf Blunck erneut formulieren könnte, ›bildvorgängigen Bildwirklichkeit‹ innerhalb der Fotografie zunutze. Fotografien kreieren eine »Wirklichkeit eigenen Rechts, die indes nicht in einem Oppositions-, sondern in einem Differenzverhältnis zur bildvorgängigen Wirklichkeit steht.«35 Es gilt diese Differenz zu beschreiben, um ihre historischen und historisierten Bedeutungen als Bilder auszumachen. In der Postkartenserie Ruth St. Denis bleiben ausgewählte Aspekte der Choreografie im Bild festgehalten, die gezielt auf ein charakteristisches Bewegungsvokabular weisen, die Inhalte, aber auch thematischen Bezüge und Inspirationsquellen der kreativen Arbeit der Tänzerin im Bild verflechten. Diese werden als Visualisierung ihrer Tanzästhetik und Sujets in Referenz auf und Differenzierung vom Bilderdiskurs über ›Indien‹ und ›Indischen Tanz‹ ins Bild gesetzt. Im Übergang in mediale Gebrauchskulturen, wie hier zum Sammelobjekt, werden die Fotografien erneut in koloniale Diskurse eingefügt. Es lassen sich Fragen nach historisch-zeitgenössischen Produktionsbedingungen und -absichten sowie nach dem Gebrauch an sie richten. Als Postkarten sind Tanzfotografien so auch das Dokument einer Zeit und ihrer (Medien)Kultur. Sie transportieren über Distanzen, zwischen Ländern und Kulturen, und nicht zuletzt in historischer Perspektive über Zeiten hinweg. Mit dieser Einbindung in sich stetig aktualisierende Sinnzuschreibungen diverser Produzentinnen und Produzenten, in welche ich auch den vorliegenden Text einbeziehe, lagert sich in und an Tanzfotografien als Quelle eine Bedeutungspluralität und -fülle an, die als sich stetig wandelndes Arrangement ein Geschichtsbild von Tanz und seinen Kontexten gleichermaßen entwirft wie lesbar werden lässt.

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Vgl. Adshead-Lansdale, Janet u. Layson, June (Hg.): Dance History. An Introduction, London u. a.: Routledge 1994; Dahms, Sibylle: Tanz, Stuttgart: Metzler 2001, S. 9f; Layson, June: »Dance History Source Materials«, in: Dance History. An Introduction, hg. v. Janet Adshead-Lansdale u. June Layson, London u. a.: Routledge 1994, S. 18—31.

34

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Vgl. Blunck: Die fotografische Wirklichkeit; Brock, Bazon: »Fotografische Bilderzeugung zwischen Inszenierung und Objektivation«, in: Theorie der Fotografie III 1945—1980, hg. v. Wolfgang Kemp, München: Schirmer/Mosel, 1983, S. 236—239; Schneider, Sigrid u. Grebe, Stefanie: Wirklich Wahr! Realitätsversprechen von Fotografien,OstfildernRuit:HatjeundCantzVerlag2004. Blunck: Die fotografische Wirklichkeit, S. 29.

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175 ISA WORTELKAMP BLINDE FLECKEN HISTORIOGRAFISCHE PERSPEKTIVEN AUF TANZFOTOGRAFIE

In meinen weiß behandschuhten Händen, ein Bild von Bewegung. Umrahmt von einem braunen, von Flecken und Kerbungen versehenen Papier, ist auf schwarzem Karton eine Fotografie aufgezogen, die vor hellem Hintergrund den Sprung einer Tänzerin zeigt. Die Oberfläche der Fotografie ist von Kratzern und Flecken gezeichnet. Prägestempel auf der Fotografie und dem Papier verweisen auf den Namen des Fotografen, das Datum und den Ort seines Ateliers. Auf dem unteren Rand des braunen Papiers steht mit Bleistift der Name Valerie Kratina 01 geschrieben. 02 Der Körper der Tänzerin ist in Landung begriffen, die Arme sind weit geöffnet, das linke Bein nach hinten erhoben, während der rechte Fuß beinahe den Boden berührt. Ihr Blick folgt der Bewegung. Die Augenlider sind gesenkt, als fixierten sie den Punkt der kommenden Berührung des Bodens und damit das Ende der Bewegung. Dieses Ende ist wiederum durch die Fotografie fixiert, als eine im Bild an- und festgehaltene Bewegung. Bild und Bewegung verschränken sich in der Fotografie und vermitteln auf diese Weise den anhaltenden Eindruck eines angehaltenen Sprungs 03. 01

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Es existieren verschiedene Schreibweisen des Vornamens der Tänzerin, nach der in Hellerau der ›Valeria-Kratina-Weg‹ benannt wurde. Die vorliegende Schreibweise richtet sich nach der Angabe auf der Fotografie von Erfurth sowie nach Autorgrammkarten der Tänzerin. Der vorliegende Text besteht in Auszügen aus einem bereits veröffentlichten Aufsatz »Körnung, Kratzer und Retusche–zur Materialisierung des Ephemeren am Beispiel der Tanzfotografie der Valerie Kratina von

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Hugo Erfurth«, in: Ephemere Materialien, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch, Düsseldorf: d|u|p düsseldorf, university press 2015, S. 147—167 Vgl. zur Figur des Sprungs, Brandstetter Gabriele: »Anhaltende Bewegung. Nijinskys Sprung als Figur der Undarstellbarkeit«, Hofmannsthal-Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne 9, Freiburg i. Brsg. Rombach: 2001, S. 163—192; dies.: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit, 2005.

[ABB. 01] Hugo Erfurth, Valerie Kratina, Dresden 1919, Reproduktion von Dieter Zettner, Deutsches Tanzarchiv Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015.

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Dabei handelt es sich beim Sprung um eine Bewegung, die als Sinnbild für die Einmaligkeit und Flüchtigkeit des Tanzes gelten kann: Der Sprung ›vergeht im Flug‹ und treibt so die ephemere und transitorische Eigenschaft des Tanzes auf die Spitze. Der Höhepunkt der Sprungbewegung ist der, in dem der Körper für einen Augenblick still zu stehen scheint – kurz bevor er, der Schwerkraft folgend, sich dem Boden nähert. Indem die Fotografie der Valerie Kratina nicht auf den Höhe- sondern den nahenden Endpunkt des Sprungs verweist, tritt das Vergehen der Bewegung in den Vordergrund der Wahrnehmung. Es kommt zu einer paradoxen Gegenwart des Vergehens, die in der Fotografie auf vielfältige Weise in Szene gesetzt ist: Neben dem Zeitpunkt der Aufnahme – kurz vor der Landung – geschieht dies durch den räumlichen Ausschnitt, der zusätzlich den Endpunkt der Bewegung betont. Dieser ist tänzerisch und fotografisch im letzten Drittel des Bildraums anvisiert, während sich der Ort des Absprungs außerhalb befindet. Nicht die Herkunft der Bewegung, sondern ihre Zukunft – die kommende Landung – ist damit zeitlich und räumlich akzentuiert. Zwar ist die Bewegungsrichtung von links nach rechts in den Bildraum klar erkennbar, jedoch wirkt der Körper durch die Zentrierung des Schwerpunkts in der Bildmitte und durch die Verankerung der Fußspitze innerhalb des dunkel abgesetzten Bodens wie vor der Landung still gestellt. Valerie Kratina scheint im Bild und in der Bewegung angehalten. Ihr Ende ist in alle Ewigkeit aufgehoben. Die paradoxe Gegenwart des Vergehens wird zusätzlich durch die Lichtgestaltung hervorgehoben. Die Tänzerin springt dem Lichteinfall entgegen, wodurch ihr Profil an Schärfe verliert und sich in der Körnung des Papiers die Grenze von Figur und Grund auflöst. Auch die Peripherie des Körpers verblasst, die Kontur des Armes, die Fläche der nach oben weisenden Hand, die Finger- und Zehenspitzen der nach hinten ausgreifenden Gliedmaßen verlieren sich in der hellen Fläche des fotografischen Bildes. Scharf konturiert ist dagegen das Zentrum des Körpers, das zugleich das Zentrum der Fotografie bildet und in dem sich die Bewegung in den Falten ihres Kleides konzentriert. Der Bereich unterhalb des Rockes verstärkt durch seine Dunkelheit den Eindruck der im Bild und als Bild fixierten Bewegung. Dabei divergiert die Lichtgestaltung zwischen dem nach hinten weisenden und dem nach vorne strebenden Bein und betont so die Zeit- und Endlichkeit der Bewegung. Das hintere, im Flug begriffene Bein liegt grau im Schatten und fügt sich nahezu flächig in die Bildebene ein. Zu den Fußspitzen hin ist die Fläche so weit aufgehellt, dass der Umriss der Zehen sich beinahe vollständig vor dem Hintergrund auflöst. Das vordere, in Landung begriffene Bein hingegen ist plastisch konturiert und lässt den Körper klar als solchen hervortreten. Knie, Knöchel und Fuß sind gut zu erkennen. Durch die Einebnung in die fotografische Oberfläche scheint das hintere Bein in der Vergangenheit der Bewegung verhaftet, während das vordere schon in die Zukunft weist. Was hier passieren wird, ist längst passiert: Der Fuß der Valerie Kratina wird den Boden berührt haben. Der Sprung wird gewesen sein. Der Blick auf das Bild ist ein bewegter. Sie in den Händen zu halten verleitet dazu, die Sicht zu verändern, die Oberfläche mit den Augen abzutasten. In dieser zweiten Bildbetrachtung tritt mit dem Blickwechsel die Fotografie im Fotografierten in den Vordergrund und mit ihr der Träger des Bildes, dessen Beschaffenheit auf eine eigene Geschichte – Geschichte der Herstellung und Geschichte der Handhabung – verweist. Neben dem Sprung, der sich durch die Bewegung der Tänzerin und im medialen Wechsel von der Bewegung ins Bild vollzieht , zeigt sich auf

diese Weise ein weiterer Sprung, der die Fotografie selbst betrifft. Weiß scheint an einer Stelle unterhalb der Bildmitte das Papier in der Oberfläche der Fotografie auf. Es sind zwei Kratzer, die den Körper gleichsam im fotografischen Material markieren und arretieren. Mit den Kratzern werden auch weitere Eigenschaften der Oberfläche bemerkbar, die nun wie das Glas im Blick durch ein Fenster in das Sichtfeld treten. Flecken in unterschiedlichen Formen und Größen finden sich an den Rändern der Fotografie und zeichnen den Stoff des Kleides und die Haut der Tänzerin. Es ist nun kaum mehr möglich, sie nicht zu sehen. Sie treten in Korrespondenz zu den Flecken und Kerbungen des braunen Papiers, das die Fotografie umrahmt und an die ebenfalls papierne Beschaffenheit des Bildträgers erinnert. Auf der Fotografie lassen sich wie in einer Schicht hinter den Flecken die Körnungen ausmachen, die den Farbton der Fotografie ›halten‹, der sich an manchen Stellen gleichsam im Nichts auflöst. Nur das schattig sich abhebende hintere Bein der Tänzerin scheint weiterhin fest mit dem Bildgrund verbunden. Dunkle Kratzer gleichen den zum Bildrand sich aufhellenden Fuß dem Farbton des Beins an. Nicht zufällig, sondern gezielt erscheint diese nachträgliche Berührung – retuschiert. Durch die mit Kratzern und Flecken versehene Oberfläche der Fotografie wird die Materialität der Fotografie präsent, die jedem Bildsehen vorausgeht und dieses allererst ermöglicht. Sie zählen zu jenen »potenziellen Störungen«, die der Fototheoretiker Peter Geimer in seiner Abhandlung Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen04 der tradierten Geschichte der fotografischen Bilder an die Seite stellen will: »Der vertrauten Geschichte der Fotografie korrespondiert eine verborgene Geschichte fotografischer Bildungen, Flecken und Schleier, die in den Handbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts als ›Fehlerscheinungen‹, ›Parasiten‹ und ›Feinde des Fotografen‹ beschrieben wurden.«05 Für Geimer stellen diese Störungen jedoch kein Defizit, sondern das spezifische Potenzial der Fotografie dar, insofern sie ihre materielle Bedingtheit ausweisen. Mit dem Blick auf das Material wird das Medium in der Fotografie präsent und relativiert ihren Status als Repräsentation von Wirklichkeit. Die Störung bleibt dabei nicht ohne Konsequenz für einen methodischen Umgang mit der Fotografie: »Die unhintergehbare Materialität der Fotografie macht es notwendig, nicht erst das vollendete Produkt – das isolierte, stillgestellte Bild –, sondern im gleichen Maße auch den Prozess seiner Hervorbringung in Augenschein zu nehmen: nicht nur die Sichtbarkeit, sondern auch die Sichtbarmachung.«06 Die folgenden Überlegungen widmen sich jener »unhintergehbaren Materialität« in der eingangs beschriebenen Tanzfotografie von Hugo Erfurth. Im Zentrum stehen dabei die Auswirkungen der »potenziellen Störungen« auf unsere Wahrnehmung, die im historiografischen Umgang mit Tanzfotografien meist unerwähnt bleiben und doch bewusst oder unbewusst unsere Sicht auf Fotografie und unser Wissen vom Tanz prägen. Sie weisen über die referentielle Funktion von Fotografie als Abbild hinaus, auf ihre materielle Eigenschaft als Bild. Damit steht, wie Geimer hervorhebt, die Idee einer Transparenz des fotografischen Mediums zur Disposition wie sie insbesondere den fototheoretischen Betrachtungen Roland Barthes zugrunde liegt. Der Text unternimmt eine (Re-)Lektüre einzelner Passagen aus Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie und überträgt sie auf jene Stellen der vorliegenden Aufnahme der Valerie Kratina, in denen sich die Transparenz der Fotografie selbst zu materialisieren scheint: in den

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Körnungen des Papiers, in den unbewusst herbeigeführten Zeichnungen der Fotografie wie den Flecken und Kratzern und der bewussten Bearbeitung durch die Retusche. II. Die fotografische Darstellung des Sprungs der Valerie Kratina von Hugo Erfurth zählt zu den Anfängen der Tanzfotografie um die Jahrhundertwende und zeugt von der Faszination, die vom modernen Tanz auf die Fotografie ausging. Von 1908 an fotografiert Erfurth unter Einsatz von Kunstlicht Vertreterinnen des freien Tanzes wie Charlotte Bara, Clotilde van Derp, Gertud und Ursula Falke, Gret Palucca, Ellen Petz, Marianne Vogelsang, die Wiesenthals, Sent M’ahesa – und Valerie Kratina.07 Mit seinem Interesse am flüchtigen Augenblick ist Erfurth in einem kulturellen Kontext situiert, in der die Bewegung im Zuge des Aufschwungs des modernen Tanzes gegenüber dem Bild bevorzugt erscheint. Während in der Porträtfotografie des Schauspielers die Inszenierung der Pose dominiert, tritt mit der tanzästhetischen und fototechnischen Entwicklung die Bewegung in den Fokus.08 Die ephemere und transitorische Kunst des Tanzes konfrontiert die Fotografie jedoch zugleich mit ihren fixierenden und reproduzierenden Eigenschaften. Dabei scheint gerade die Differenz beider Medien ein Verständnis von Fotografie als Bild zu begründen, in der die Bewegung zum gestaltenden Prinzip wird. In Anlehnung an die künstlerischen Darstellungsprinzipien der Malerei des Naturalismus und des Impressionismus prägt innerhalb der sogenannten Kunstfotografie um 1900 die Wahrnehmung das Bild von Bewegung. Damit wird Fotografie in ihrer Funktion als Abbild der Wirklichkeit relativiert und tritt in ihrer eigenen künstlerischen Darstellung, als Bild der Wahrnehmung, in den Vordergrund. Dies wirft auch Fragen an einen historiografischen Umgang mit dem fotografischen Dokument des Tanzes auf – einen Umgang, der gemeinhin weniger auf die Materialität der Fotografie als vielmehr auf ihren Stellenwert als historisches Material gerichtet ist. In der tanzhistorischen Forschung bildet die frühe Tanzfotografie eine wesentliche Grundlage zur Untersuchung der vielfältigen kulturellen Erscheinungsformen der Bewegungskunst. Neben Stichen und Gemälden dient sie der Tanzgeschichtsschreibung als ikonografische Quelle zur Rekonstruktion und Archivierung ihres Gegenstandes. Dabei wird das fotografische Bild mit dem Verweis auf den referentiellen Bezug zur Wirklichkeit des Tanzes für die Betrachtung von Bewegungen des Körpers herangezogen und dient neben Notationen zur Analyse motorischer Prozesse und choreografischer Prinzipien.09 Anders als der etwa zeitgleich aufkommende Film, der als bewegtes Medium für die ›Wiedergabe‹ des Tanzes prädestiniert erscheint, lässt das Medium der Fotografie die für eine wissenschaftliche Bewegungsanalyse als notwendig erachtete Sistierung und Fixierung des ›Objektes‹ zu. Dabei geht mit der Diskussion um den Stellenwert von Tanzfoto04 05 06 07

Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Fundus, 2010. Geimer, Bilder aus Versehen, S. 15. Ebd. Vgl. hierzu Peter, Frank-Manuel: »Das tänzerische Lichtbild. Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes«, in: Hugo Erfurth, 1874-1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hg. v. Bodo von Dewitz u. Karin Schuller-Procopovici, Köln: Wienand, 1992, S. 45—52.

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Vgl. hierzu die Einführung im vorliegenden Tagungsband. Vgl. hierzu Guest Hutchinson, Ann u. Jeschke, Claudia: Nijinsky’s Faune restored. A Study of Vaslav Nijinsky’s 1915 Dance Score L’Après-midi d’un Faune, Philadelphia: Gordon & Breach, 1991; Jeschke, Claudia, Tanz als Bewegungstext. Analysen zum Verhältnis Tanztheater und Gesellschaftstanz, Tübingen: Niemeyer, 1999.

grafie für die Geschichtsschreibung jedoch stets auch eine Problematisierung der medialen Differenz einher – wobei gerade die materielle Eigenschaft der Fotografie dem ephemeren Charakter des Tanzes entgegengesetzt wird. Dies lässt sich bereits den ersten Veröffentlichungen von Tanzfotografien in Zeitungsrezensionen, Fachaufsätzen und Monografien entnehmen.10 Darin werden gerade die ästhetischen und inszenatorischen Strategien und die medienspezifischen Eigenschaften der Fotografie als Mangel des dokumentarischen und analytischen Wertes thematisiert und problematisiert. Blickführung, Einstellung und Ausschnitt beeinträchtigen demnach das Abbild des Tanzes, verfehlen den ›richtigen‹ und ›treffenden‹ Augenblick seiner Bewegung. Weniger die Unmöglichkeit der Darstellung einer Bewegungsdauer als vielmehr die Festlegung von Bewegung auf einen bestimmten Moment steht dabei als Problem im Vordergrund. Eine andere Sichtweise auf die Möglichkeiten der fotografischen Darstellung von Bewegung zeigt sich in der Auseinandersetzung der Fotografen selbst, in der sich ein Verständnis von Fotografie vermittelt, das auch die Ästhetik vieler Tanzfotografien der Moderne prägt. Nicht das Abbild von Bewegung, sondern die Darstellung ihrer Wirksamkeit und ihres Eindrucks im und als Bild der Fotografie steht hier im Vordergrund. Dabei werden unterschiedliche Wege verfolgt, um diese ›Bilder von Bewegung‹ – im Sinne eines Wahrnehmungs-Effekts – zu erzeugen, wie sich an der Vielfalt der Erscheinungsbilder der Tanzfotografie ablesen lässt. Die Bewegungsdarstellung ist dabei nicht zwangsläufig an die Aufnahme einer Bewegung im Vollzug gebunden, die gemeinhin durch den Begriff der Momentaufnahme bezeichnet wird.11 Während Hugo Erfurth Sprünge, Drehungen und prekäre Momente der Balance sucht, bevorzugt etwa sein Kollege Hanns Holdt in seinen Fotografien des Tanzes den gehaltenen Moment: »Man sehe sich den ganzen Tanz aufmerksam an, merke oder notiere sich die bildwirksamsten Stellen und veranlasse die Tänzerin, diese Stellen langsam zu wiederholen. Am besten wähle man Übergangsstellungen, wo der Körper einen Moment in ruhiger Pose verweilt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß eine ruhige Stellung viel tänzerischer wirken kann, als eine sehr bewegte, die leicht im Bilde erstarrt wirkt.«12 Erfurth dagegen sucht den bewegten Moment, wenngleich er sich der Möglichkeit seiner ›Verfehlung‹ durch die Fotografie bewusst ist. Gerade die gestochen scharfe Wiedergabe von Bewegung vermag nur Einzelheiten, nicht aber ihren Eindruck zu vermitteln, wie er in seiner Abhandlung über die Bedeutung von »Schärfe und Unschärfe in der Photographie«13 ausführt: »Ein Eisenbahnzug, der mit 80 km Geschwindigkeit dahergebraust kommt, kann mit geeigneten Apparaten aufgenommen werden, daß er sich klar und scharf auf dem Bilde zeigt, ja, daß selbst die Speichen der Räder deutlich zu erkennen sind. Aber einen Eindruck von Geschwindigkeit, von dem Sausen und Poltern und Vorüberschwinden hat der Beschauer nicht. Der Maler vor eine ähnliche Aufgabe gestellt, würde auch nicht aufdringliche Schärfe wiedergeben, er würde durch eine gewisse allgemeine Unschärfe und eine besondere in den Rädern, vollständig den Eindruck der raschen Vorwärtsbewegung erwecken.«14 Als ein weiteres Beispiel führt Erfurth die Darstellung von bewegtem Wasser, aber auch von Landschafts- und Porträtaufnahmen heran, in denen erst die Unschärfe den »Eindruck der Wirklichkeit« zu vermitteln vermag. Mehr als die scharfe Wiedergabe eines Details steht für Erfurth in der künstlerischen Fotografie, die er von der dokumentarischen Fotografie abgrenzt,

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das Mittel der Unschärfe im Vordergrund. Sie prägt auch die Ästhetik seiner Tanzfotografie, in der sich, mehr als eine klar abgegrenzte Kontur des Körpers oder seiner Muskulatur, ein Eindruck der Bewegung vermittelt. Die Tänzerinnen werden dabei stets vor einem hellen Hintergrund aufgenommen, vor dem sie sich silhouettenhaft abheben. Die Peripherie des Körpers reicht dabei meist bis zum Rand des Bildes und füllt nahezu seinen gesamten Raum, während der dunkle Boden, bis auf wenige Ausnahmen, randständig bleibt. Die meist ausholende Bewegung erscheint dabei wie im Bild aufgespannt und dem Licht entgegenstrebend. Das Spiel von Licht und Schatten verleiht den Körpern eine Plastizität und den Kostümen eine Stofflichkeit, die mit der Textur der Fotografie korrespondieren. Neben dem malerischen Umgang mit dem Licht lenkt auch die nachträgliche Bearbeitung den Blick auf die Materialität der Fotografie und weist sie als Artefakt aus. Das fotografische Konzept Erfurths steht im Kontext der sogenannten Kunstfotografie oder bildmäßigen Fotografie, in der diese, über ihre abbildende Eigenschaft hinaus, als Bild inszeniert und reflektiert wird.15 Damit rücken auch die medienspezifische Eigengesetzlichkeit der Fotografie und die subjektive Wahrnehmung des Fotografen in den Vordergrund. III. Dieser Umstand mag dazu führen, dass der Bereich der Kunstfotografie in der fototheoretischen Betrachtung Die helle Kammer (HK) von Roland Barthes weitgehend ausgeklammert wird, liegt für ihn die Kunst der Fotografie doch darin als Medium zu verschwinden.16 Die Idee der Transparenz des fotografischen Mediums stellt den Hintergrund der folgenden und abschließenden Betrachtung der »potenziellen Störungen« in der Aufnahme der Valerie Kratina dar. »Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht. Kurz gesagt, der Referent bleibt haften. Und dieses einzigartige Haftenbleiben bedingt die so großen Schwierigkeiten, der PhotograPhie auf die Spur zu kommen.«17 Die unmittelbare Verbindung zwischen Fotografie und Referent ist fototheoretisch auf jene historischen Konzepte zurückzuführen, nach denen Fotografie in erster Linie als chemisch-physikalischer Effekt eines materiellen 10

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Vgl. hierzu exemplarisch Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Georg Müller, 1912, zweite vermehrte Auflage 1917, 3. stark umgearbeitete und erweiterte Ausgabe, 1921, S. 4f. Der Begriff bezieht sich fotohistorisch auf Aufnahmen bewegter Szenen von Wolken, Tieren oder vom Straßenverkehr; bewegte Gegenstände wie Wurfgeschosse, Kanonenkugeln und Sprengungen, von physikalischen Bewegungserscheinungen wie Blitz und Schallwellen und schließlich von Fahrzeugen wie Luftballon und Eisenbahn. Voraussetzung hierzu sind die fototechnischen Entwicklungen der Momentfotografie wie sie – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung – durch Edward Muybridge, Jules Marey, Thomas Eakins und Ottomar Anschütz – geprägt wurde. Neben den Experimenten im Bereich der Technik und der bildenden Kunst, ermöglichte vor allem die Entwicklung neuer lichtempfindlicheren Aufnahmematerialien und die verbesserte Kameratechnik Ende der achtziger Jahre die fotografischen Aufzeichnungen von Bewegungsmomenten. Vgl. hierzu: SchnelleSchneyder, Marlene: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19. Jahrhundert, Marburg: Jonas Verlag, 1990, S. 51. Holdt, Hanns: »Betrachtungen über Bühnen- und Tanzaufnahmen«, in: Deutscher Kamera-Almanach. Ein Jahrbuch für die Fotografie unserer Zeit, Bd. 11, Berlin:

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Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1920, S. 45—50, hier S. 48. Erfurth, Hugo: »Schärfe und Unschärfe in der Photographie«, in: Deutscher Kamera-Almanach. Ein Jahrbuch für die Fotografie unserer Zeit, Bd. 7, Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1911, S 47-52. Erfurth: »Schärfe und Unschärfe«, S. 48f. Vgl. Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, München: Fink, 2006, S. 137—169; Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie I: 1839—1912, München: Schirmer/Mosel, 1980, S. 21f. Vgl. hierzu Barthes, Die helle Kammer, S. 40. »Die PHOTOGR APHIE wurde und wird immer noch vom Gespenst der MALEREI heimgesucht [...]; sie hat die Malerei, indem sie diese kopierte oder in Frage stellte, zur absoluten väterlichen REFERENZ gemacht, so als wäre sie aus dem GEMÄLDE hervorgegangen (technisch gesehen stimmt das zwar, doch nur zum Teil, denn die camera obscura der Maler ist nur einer der Ursprünge der PHOTOGR APHIE; entscheidend war wohl die chemische Entdeckung). Im eidetischen Sinne unterscheidet sich, an diesem Punkt meiner Untersuchung, eine Photographie, so realistisch sie auch sein mag, in nichts von einem Gemälde. Die ›Kunstphotographie‹ ist nur eine Übertreibung dessen, was die PHOTOGR APHIE von sich selbst hält.« Ebd. S. 14.

[ABB. 02 + 03] Ausschnitte: Hugo Erfurth, Valerie Kratina, Dresden 1919, Reproduktion von Dieter Zettner, Deutsches Tanzarchiv Köln.

Prozesses, der von der Präsenz des abgebildeten Gegenstandes ausgeht, betrachtet wird.18 Vor diesem Hintergrund definiert bereits Charles Sanders Peirce in seiner 1893 erschienenen Abhandlung Die Kunst des Räsonierens19 – wenngleich Fotografie ihm nur als Beispiel seiner Zeichentheorie dient – die Fotografie als indexikalisches Zeichen. Ihre Ähnlichkeit sei »davon abhängig, daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch

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dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zur zweiten Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind.«20 Diese Zeichen zählen zu den Indikatoren (Indizes). Sie »halten uns fest mit den Realitäten verbunden.«21 Die indexikalische Eigenschaft der Fotografie ist demnach primär in den materiellen Bedingungen ihrer Produktion begründet. Dem Verständnis, nach dem das Wesen der Fotografie nicht bzw. nicht ausschließlich in den formalen oder ästhetischen Eigenschaften der durch sie hervorgebrachten Bilder, sondern im Prozess der Herstellung selbst zu suchen ist, folgen, wie Peter Geimer in seinen Studien zur Fototheorie hervorhebt, auch spätere theoretische Ansätze wie die von Rosalinde Krauss, Roland Barthes, Susan Sontag oder Philippe Dubois.22 In der Betrachtung von Fotografie als Index nicht weiter berücksichtigt werden die für den Produktionsprozess relevanten Übertragungen wie soziale Gebrauchsweisen und Konventionen und die qualitativen Dimensionen der Fotografie wie ihre spezifische Ästhetik und Materialität. Letztere aber treten mit den »potenziellen Störungen« einer Fotografie in das Sichtfeld der Betrachtung und verweisen auf ihre materielle Eigenschaft als Bild. Vergleicht Barthes den Blick auf eine Fotografie mit der Sicht durch ein Fenster, so wird mit den Zeichnungen auf der Fotografie auch das Glas sichtbar, beginnt der Blick zwischen Durchsicht und Aufsicht zu oszillieren. Sie ›stören‹ die Betrachtung der Fotografie, insofern sie diese im Fotografierten präsent halten. In dieser Störung ließe sich eine Parallele zu dem von Barthes beschriebenen Element des punctum herstellen, dass dieser jedoch auf eine durch das fotografische Abbild hervorgerufene Irritation bezieht. Diese vollzieht sich innerhalb der Betrachtung des studium, das die Darstellung einer Fotografie in ihrem jeweiligen kulturellen und historischen Kontext und in seinen Entstehungsbedingungen reflektiert. »Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. Ein Wort gibt es im Lateinischen, um diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal zu bezeichnen, das ein spitzes Instrument hinterlässt; dieses Wort entspricht meiner Vorstellung um so besser, als es auch die Idee der Punktierung reflektiert und die Photographien, von denen ich hier spreche, in der Tat wie punktiert, manchmal geradezu übersät von diesen empfindlichen Stellen; und genaugenommen sind die Male, diese Verletzungen Punkte. Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen, denn punctum meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«23 Wenngleich sich Barthes in seiner Beschreibung des punctum Begriffen von physischen (Folge-)Einwirkungen auf eine Oberfläche wie Verletzung, Stich, Loch oder Schnitt bedient, so bezieht er diese jedoch nicht auf die Materialität der Fotografie. Auch in seiner im weiteren Verlauf vorgenommenen Übertragung des Konzepts auf die Zeitlichkeit die Fotografie bleibt 18 19

Vgl. hierzu Geimer, Bilder aus Versehen, S. 22f. Peirce, Charles Sanders: Die Kunst des Räsonierens, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 191—201.

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Peirce, Die Kunst des Räsonierens, S. 193. Ebd., S. 201. Vgl. Geimer, Bilder aus Versehen, S. 23. Barthes, Die helle Kammer, S. 35.

[ABB. 04 + 05] Ausschnitte: Hugo Erfurth, Valerie Kratina, Dresden 1919, Reproduktion von Dieter Zettner, Deutsches Tanzarchiv Köln.

das punctum auf die »reine Abbildung« bezogen: »die erschütternde Emphase des Noemas (›Es-ist-so-gewesen‹).«24 Das punctum, verstanden als Verletzung der Oberfläche der Fotografie, würde den Blick durch das Fenster und damit die Idee eines transparenten Mediums durchbrechen – wie ein punctum im punctum. Als solches hebt es die Fotografie im Fotografierten hervor – markiert ihre eigene Medialität.

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IV. Noch einmal fällt mein Blick auf die Fotografie der Valerie Kratina. Diesmal fokussiert er die Fotografie als Fotografie – gleichsam das Glas des Fensters. Die hier abgebildeten Ansichten [→ABB. 02—05] zeigen nicht nur die jeweiligen Ausprägungen der »potenziellen Störungen«, sondern auch die Perspektivierung, die eine solche Betrachtung impliziert. Das Glas des Fensters zu sehen, erfordert eine besondere Einstellung des Blicks, ein Abtasten der Fläche, eine Einsicht in das Gewebe des Bildes. Sichtbar wird die Körnung der Fotografie, durch die der Träger des Bildes wahrnehmbar wird: das lichtempfindliche Fotopapier, das feine, fast kugelförmige Silberpartikel aufweist, die den Farbton der Fotografie bestimmen. Sehe ich die Körnung, ist es, als sähe ich den Stoff, der dem Bild zu Grunde liegt – und mit ihm das bildgebende Verfahren. Mit dem Papier wird auch die Flächigkeit der Fotografie bewusst und damit die Übertragung einer an Zeit und Raum gebundenen Aufnahme in den Ausschnitt und die Rahmung des Abzugs. Das Abbild der Tänzerin ist in das Papier eingetragen und tritt zugleich, so Barthes, »wie ein vom Gegenstand abgesondertes eidolon hervor: als das von ihm beschriebene spectrum der Photographie, das durch seine Wurzel eine Beziehung zum ›Spektakel‹ bewahrt und ihm überdies den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist, die Wiederholung des Todes«.25 Mit Blick auf die Körnung des Papiers der Fotografie tritt die Verbindung von Bildkörper und Bildträger hervor – erscheint die der Vergangenheit angehörige Bewegung auf Dauer im Geflecht der Fasern verwoben und aufgehoben. Anders als die Körnung vermitteln sich die Kratzer auf der Fotografie als Irritationen meiner Wahrnehmungen, feine Risse, die sich zwischen dem fotografischen Bild und seinem Träger auftun und auf Spuren des Gebrauchs und damit der Zeit zurückzuführen sind. Weniger die Vergangenheit des Fotografierten als die der Fotografie tritt mit den Kratzern in den Vordergrund. Weiß weisen sie auf die Anwesenheit der einstmals unbelichteten Schicht des Papiers, auf seine Fasern, die das sichtbare Bild tragen bzw. von ihm durchdrungen sind. Als weiße, leere Stellen kehren sie die vergangene Wirklichkeit als fotografierte hervor, machen die Fotografie als Fotografie sichtbar. Der Referent erscheint nunmehr in der Materialität der Fotografie. Ich komme nicht mehr umhin die Fotografie nicht zu sehen. Verweisen Körnung und Kratzer auf die Vergangenheit des fotografischen Materials, so wird mit der Retusche der Fotograf als eine Wahrnehmung aus der Vergangenheit gegenwärtig. Die Striche auf dem Fuß der Tänzerin sind auf die Hand des Fotografen zurückzuführen und zeugen von seinem Blick auf Bewegung. Dabei weist die Retusche die Fotografie – mal mehr und mal weniger sichtbar – als nachträglich gestaltetes Bild aus, indem es dem fotografischen Abbild einen malerischen Ein- und Abdruck verleiht. Die künstlerische Gestaltung verlagert sich mit der Retusche von der Aufnahmesituation in die Dunkelkammer, in der partielle Pinselentwicklung, Farbeffekte und Zeichnungen den Bildern die entsprechende Stimmung und Gestalt verleihen. Mit der Retusche tritt die Wahrnehmung einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit der Wahrnehmung zurück und ›bezeichnet‹ diese als vergangene. Im erneuten Rekurs auf Barthes ließe sich 24

Ebd., S. 105.

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Ebd., S. 17.

hier abermals auf »die erschütternde Emphase des Noemas« verweisen. Dabei ›zeichnet‹ die Retusche das »Es-ist-so-gewesen«, das nach Barthes für die Fotografie wesentlich ist, durch den Blick des Fotografen, der im Medium der Fotografie präsent wird: »So-habe-ich-es-gesehen«.26 Schlussbetrachtung Die hier beschriebenen Zeichnungen in der Fotografie der Valerie Kratina von Hugo Erfurth können als »potenzielle Störungen« verstanden werden, insofern sie uns ermöglichen, die Fotografie im Fotografierten zu sehen. Im Blick auf den dargestellten tänzerischen Moment vermag damit über die Zeitlichkeit der in der Fotografie gehaltenen und angehaltenen Bewegung hinaus – ihre eigene Zeitlichkeit als eine Geschichte der Fotografie sichtbar zu werden: Geschichte ihrer Herstellung und Handhabung. Diese in eine Geschichtsschreibung des Tanzes einzubeziehen, ist ein Potenzial von Störungen. Sie erinnern zugleich daran was wir nicht oder nicht mehr sehen: zahlreiche Fund- bzw. Bruchstücke der Tanzfotografie, die aufgrund des Verfalls, der unsachgemäßen Handhabung oder der chemischen Veränderlichkeit der Materialien versehrt und aus unserem Bildgedächtnis verschwunden sind. Die Störung wird dabei weniger als Störung des Bildes als vielmehr als Störung einer Geschichtsschreibung bemerkbar, die sich in ihrem Verständnis von Fotografie als unversehrtes Abbild des Tanzes weiter befragen müsste. Sie würde sich an einem Verständnis einer Geschichte der Fotografie messen müssen, die Peter Geimer seinen Überlegungen mit einem Zitat von Georges Didi-Hubermanns voranstellt: »Es wäre eine Geschichte der Symptome, in denen die Repräsentation zeigen würde, woraus sie gemacht ist, und zwar in eben dem Moment, in dem sie bereit ist, sich zu entblößen, sich außer Kraft zu setzen und ihren Sprung auszustellen.«27

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Ebd. S. 86.

27

Didi-Hubermann, Georges: Vor einem Bild, München/ Wien: Hanser, 2002, S. 202.

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