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German Pages 606 [608] Year 2005
Klaas-Hinrich Ehlers Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft
W DE G
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann
77
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Klaas-Hinrich Ehlers
Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft Die Rezeption der Prager Schule zwischen 1926 und 1945
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018264-5 Bibliografische Information Der Deutschen
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Dank Meine ersten Vorarbeiten zu dieser Untersuchung liegen inzwischen mehr als zehn Jahre zurück. Während dieser langen Zeit habe ich mein Vorhaben und einzelne Fragestellungen daraus mit vielen Freunden und Fachkollegen besprochen oder auf Tagungen zur Diskussion gestellt. Die vielen Personen aufzuführen, denen ich Ermunterung oder skeptische Vorbehalte, weiterführende Hinweise oder kritische Einwände verdanke, würde hier zu weit führen. Wo immer Hinweise auf unbekannte Dokumente oder neue Zusammenhänge unmittelbar in meine Argumentation eingingen, habe ich dies jeweils im laufenden Text dankbar vermerkt. Eine Untersuchung wie die meine ist unabdingbar auf die Kooperation von Archivaren und Bibliothekaren angewiesen. Die unkomplizierte Hilfsbereitschaft, mit der man mir in deutschen und tschechischen Archiven entgegenkam, gehört zu den erfreulichsten Erfahrungen meiner Arbeit. Meinen besonderen Dank möchte ich dem Archiv Akademie Ved Ceske Republiky (Prag), dem Brüder-Grimm-Museum (Kassel), dem Literärni archiv pamätniku narodniho pisemnictvi (Prag), dem P.J. Meertens-Instituut (Amsterdam) und dem Universitätsarchiv Jena aussprechen, die mir die freundliche Genehmigung gegeben haben, ausgewählte Dokumente aus ihren Beständen in diesem Buch abzudrucken Jürgen Zeck hat mein Habilitationsprojekt in seiner Anfangsphase an der Freien Universität Berlin betreut. Gern erinnere ich mich an eine gemeinsame Reise zu den ,Quellen' nach Prag. Meinen Frankfurter Kollegen Harald Weydt und Peter Rosenberg verdanke ich manchen guten Rat und immer wieder wichtige Unterstützung, vor allem aber fünf schöne Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit am „Lehrstuhl Weydt" der EuropaUniversität in Frankfurt (Oder). Iris Franke hat beharrlich, umsichtig und erfindungsreich an der Einrichtung der gesamten Druckvorlage gefeilt. Unterstützt wurde sie durch Hannah Reuter und Annett Zingler, die uns kompetent beraten und das Personenregister erstellt hat. Marek Nekula hat meine Ubersetzungen aus dem Tschechischen kritisch durchgesehen und mir manche Passage aus handschriftlichen tschechischen Dokumenten überhaupt erst entschlüsseln geholfen. Annett Zingler und mein lieber Vater haben das ganze Manuskript am Schluss noch einmal sorgfältig nach Schreibfehlern durchsucht. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich für ihre Unterstützung danken.
Inhaltsverzeichnis Dank
V
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Dokumente Tabellenverzeichnis
VII XI XIII
1
Einführung
1
1.1
Die internationale Rezeption des Prager Strukturalismus: Eine Erfolgsgeschichte
1
1.2
Deutschland als „Land ohne Strukturalismus": Diskussionen um die These von der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption
20
Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
42
2
Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption international und im deutschsprachigen Raum
63
2.1
Politische Rahmenbedingungen der Rezeption: Zwischen Indifferenz und Wissenschaftsförderung
65
Slawische Sprachen als Rezeptionsbarriere: „Diesen Mangel besonders scharf erkannt"
80
Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption: Der Prager Zirkel als „organizational center of modern phonology"
98
1.3
2.2 2.3
VIII
3
3.1
3.2 3.3
Inhaltsverzeichnis
Rezeption des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft: Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
111
Veröffentlichungen der Prager Schule auf dem deutschen Buchmarkt: Absatz über den Kommissionsverlag Otto Harrassowitz
113
Verbreitung der Publikationen als Frei- oder Rezensionsexemplare und im Buchaustausch
130
Publikationen des Prager Linguistik-Zirkels in deutschen Universitätsbibliotheken
156
3.4
Persönliche Kontakte und Korrespondenz zwischen dem Prager Zirkel und dem deutschsprachigen Ausland. Ein Uberblick auf der Grundlage Prager Archivalien
169
3.4.1
Dokumentation der einzelnen Kontakte
169
3.4.2
Zusammenfassende Betrachtung der dokumentierten Kontakte
260
4
277
4.1
Wirkung des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft: Vier Fallstudien „Als Sprachwissenschaftler bin ich ein halber Tscheche": Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
279
4.1.1
Leben und Werk
279
4.1.2
Die Sprachlehre in der deutschen Rezeption
289
4.1.3
Das Sterben einer Literaturgattung
295
4.1.4
Der Sprachbund
300
4.1.5 4.2
Als Sprachwissenschafder ein halber Tscheche 313 „Daß ich an der Förderung aller phonologischen Probleme lebhaften Anteil nehme": Leo Weisgerbers unwahrscheinliche Beziehung zur Prager Schule der Linguistik 326 Vom gestörten Gleichgewicht: Feldgliederungswandel und historische Phonologie bei Jost Trier 356
4.3 4.4
Das Prestige des Strukturalismus: Eugen Lerchs „Wissenschaftsdiplomatie"
376
Inhaltsverzeichnis
5
IX
Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus im deutschen Wissenschaftsmilieu der Ersten Tschechoslowakischen Republik
401
Deutsche Mitglieder der Prager Schule unbekannt: Zum Stand der historiographischen Kenntnis
403
Wissenschaftspolitische Rahmenbedingungen der Prager deutschen Rezeption: Die Apartheid des deutschen und des tschechischen Wissenschaftsmilieus
409
Sprachliche Rahmenbedingungen der deutschen Rezeption in der Tschechoslowakischen Republik: „Das Problem der Verkehrssprache"
414
5.4
Persönliche Kontakte Prager deutscher Wissenschafder zum Prager Linguistik-Zirkel: Ein Überblick
431
5.5
Der Prager Linguistik-Zirkel als organisatorisches Modell für Forschung und Lehre in der Prager deutschen Slawistik. Eine Fallstudie zur Wirkung 457
6
Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus im Kontext der allgemeinen Fachgeschichte: „Der Drang zur Synthese" in der deutschen Sprachwissenschaft
491
7
Zum Nachweis der Archivalien
527
8
Literaturverzeichnis
529
9
Personenregister
583
5.1 5.2
5.3
Verzeichnis der Dokumente Dokument 1: Die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der phonetischen Wissenschaften, Amsterdam 1932
19
Dokument 2: Entwurf eines Antrages auf Druckkostenunterstützung für das geplante Referatenorgan Glottologia von Friedrich Slotty, 14.3.1930 95 Dokument 3: „Kommissions-Verlags-Vertrag" mit der Firma Otto Harrassowitz, Januar 1932
126
Dokument 4: „Jahresabrechnung über den Verkauf der Veröffentlichungen des Cercle ...", 31.12.1939
128
Dokument 5: Eingang und Ausgang der Publikationen des Prager Zirkels am Lager von Harrassowitz in Leipzig, 25.8.1942
129
Dokument 6: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III"
153
Dokument 7: Brief Leo Spitzers an Bohumil Trnka, 7.1.1932
154
Dokument 8: „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü" [Charisteria. Gedruckt 500 Exemplare]
155
Dokument 9: Brief Herbert Oberländers an Bohumil Trnka, 26.10.1936
167
Dokument 10: Postkarte Herbert Oberländers an Bohumil Trnka, 9.1.1942
168
Dokument 11: Brief Roman Jakobsons an Henrik Becker, 20.11.1932
317
Dokument 12: Brief Henrik Beckers an Vilem Mathesius, 30.3.1937 Dokument 13: Brief von Vilem Mathesius an Henrik Becker, 4.4.1938
321
Dokument 14: Brief von Vilem Mathesius an Henrik Becker, 20.7.1941
322
Dokument 15: Autobiographisches Typoskript Henrik Beckers, Mitte 1976
324
Dokument 16: Briefkarte Leo Weisgerbers vom 3.10.1930
352
319
XII
Verzeichnis der Dokumente
Dokument 17: Brief Nikolai Trubetzkoys an Leo Weisgerber, 10.7.1932 353 Dokument 18: Brief Ernst Ottos an Bohumil Trnka (?), Herbst 1934...427 Dokument 19: Brief Bohumil Trnkas an Ernst Otto, 26.9.1934 428 Dokument 20: Brief Gustav Beckings an den Prager Zirkel, 17.12.1938 430 Dokument 21: Anwesenheitsliste zur Veranstaltung des Prager Zirkels am 5.10.1928 455 Dokument 22: Anwesenheitsliste zur Veranstaltung des Prager Zirkels am 23.4.1934
456
Dokument 23: Deutscher Entwurf der „Statuten der Deutschen Gesellschaft für Slavistische Forschung in Prag", Herbst 1930
485
Dokument 24: Brief Leopold Silbersteins an Roman Jakobson vom 6.5.1932
488
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Jahreseriöse des Prager Zirkels aus Kommissionsverkauf seiner Publikationen über den Verlag Harrassowitz
119
Tabelle 2: Kommissionsverkauf einzelner Publikationen des Prager Zirkels durch den Verlag Harrassowitz
121
Tabelle 3: Frei-, Rezensions- und Tauschexemplare, die in den 30er Jahren in das deutschsprachige Ausland geschickt wurden.. 147 Tabelle 4: Nachweisbare Anschaffung der Travaux durch deutsche Universitäts- oder Seminarbibliotheken
163
Tabelle 5: Wohnsitz der deutschsprachigen Kontaktpersonen des Prager Zirkels in einzelnen Ländern
263
Tabelle 6: Altersstruktur der Vergleichsgruppen
265
Tabelle 7: Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zwischen der Prager Schule und deutschsprachigen Wissenschaftlern
267
Tabelle 8: Zeitlich letzter Beleg für bestehende Kontakte mit dem deutschsprachigen Ausland
269
Tabelle 9: Zugehörigkeit der deutschsprachigen Kontaktpersonen zu einzelnen Fächern 271 Tabelle 10: Prager deutsche Teilnehmer an Veranstaltungen des Prager Zirkels
437
1 Einführung 1.1 Die internationale Rezeption des Prager Strukturalismus: Eine Erfolgsgeschichte Als am 6. Oktober 1926 der Prager Linguistik-Zirkel 1 zu seiner ersten regulären Sitzung zusammentrat, stand im Hintergrund der Gedanke, „ein Diskussions- und Arbeitszentrum für junge Linguisten" 2 aus Prag zu schaffen. Der kleine Kreis von Nachwuchswissenschafdern, die der tschechische Anglist Vilem Mathesius hier zu einer Vortragsveranstaltung einlud, hatte sich in wechselnden Konstellationen schon zuvor sporadisch getroffen und sich unter anderem mit Mathesius' Abhandlung über „New currents and tendencies in linguistic research" 3 auseinandergesetzt. Am 6. Oktober 1926 beschloss diese Gruppe nun, ihren Diskussionen fortan eine verbindlichere Struktur zu geben, es wurde ein kleines Notizbuch angelegt, auf dessen Titelblatt man sich mit den Worten „Zäznamy ο schüzich Prazskeho Unguistickeho krouzku" [Verzeichnis der Sitzungen des Prager Linguistik-Zirkels] einen Namen gab und unter der Überschrift „I. schüze" [I. Sitzung] den Vortragstitel eintrug und reihum als „pritomni" [anwesend] unterzeichnete. 4 Tatsächlich fand eine „II. schüze" schon 1
2
3 4
Ich übersetze die Bezeichnung Pra^sky linguistickj krou^ek hier durchgängig mit „Prager Linguistik-Zirkel", um seinen Charakter eines Diskussionszirkels hervorzuheben, den zeitgenössische Übertragungen wie „Prager sprachwissenschaftliche Vereinigung" oder „Prager sprachwissenschaftlicher Verein" nicht erkennen lassen. Die ebenfalls denkbare Ubersetzung von krou^ek mit „Kreis" halte ich für irreführend, da der Terminus „Prager Kreis" bereits für die literarische Gruppe um Max Brod verwendet wird. Die Vorgeschichte des Prager Zirkels berichtet sehr detailliert Mathesius (1936a). Dort heißt es schon für das Jahr 1925: „Hovorivali jsme casto ο potrebe debatniho a pracovniho stfediska pro mlade linguisty [...]" [Wir sprachen oft über die Notwendigkeit eines Diskussions- und Arbeitszentrums für junge Linguisten] (ebd.: 138). Alle Ubersetzungen aus dem Tschechischen und dem Russischen stammen von mir, ich danke Marek Nekula, Katja Popova und Michael Dewey für ihre Hilfestellungen und wertvollen Korrekturvorschläge. Die Orthographie meiner publizierten und unpublizierten Quellen wurde in Zitaten genau beibehalten. Die verschiedenen Formen der Hervorhebung in den Textvorlagen setze ich allerdings im zitierten Text einheitlich kursiv. Mathesius (1926), vgl. Mathesius (1936a: 138). Dieses und ein weiteres Notizbuch mit Anwesenheitslisten sind im Prager Archiv der Akademie der Wissenschaften erhalten, AAVCR/ PLK/ 1/ i.e. 7. Hinweise zum
2
1 Einführung
einen Monat später statt, und das Notizbuch füllte sich in den kommenden Jahren mit einer langen Reihe weiterer Anwesenheitslisten, die die Arbeit einer Wissenschafdergruppe dokumentieren, die bald zu einer der bedeutendsten linguistischen Schulen in der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts werden sollte. Anfangs blieben die Wirkungsambitionen des Prager Zirkels allerdings auch im lokalen Sinne begrenzt. Es ging um eine Zusammenführung insbesondere methodologischer Neuansätze aus verschiedenen Disziplinen des Prager Wissenschaftsmilieus. Dass die organisatorische Initiative einmal auch nationale oder gar internationale Reichweite erlangen würde, blieb in den Jahren zwischen 1926 und 1928 allenfalls eine Hoffnung für eine ferne Zukunft, die so wohl nur von Mathesius gehegt worden ist (vgl. 2.3). Auch wenn man schon jetzt gelegentlich ausländische Gäste zu Vorträgen in den Zirkel lud, traten dessen Mitglieder einstweilen noch nicht einmal innerhalb Prags als Gruppe in der Öffentlichkeit auf. An den Zusammenkünften nahmen kaum einmal mehr als zehn Personen teil, und der gleichsam private Charakter dieser Treffen zeigte sich auch darin, dass man sie häufig in den Wohnungen der Mitglieder abhielt. In einen aktiven Kontakt mit der internationalen Fachöffentlichkeit trat der kleine Diskussionszirkel um Vilem Mathesius, als einige seiner Mitglieder im Jahr 1928 am ersten internationalen Linguistenkongress in Den Haag teilnahmen und dort gemeinsam mit den Saussure-Schülern Charles Bally und Albert Sechehaye Thesen zur Frage „Quelles sont les methodes les mieux appropriees ä un expose complet et pratique de la grammaire d'une langue quelconque?" vorlegten. 5 Wenn Josef Vachek die breite Zustimmung, die diese Thesen in Den Haag fanden, als „den ersten großen internationalen Erfolg der neuen Prager sprachwissenschaftlichen Konzeption" (Vachek 1999: 16) bezeichnet, so ist dies aus der Rückschau gewiss berechtigt. Von anwesenden Zeitzeugen wie Leo Spitzer ist das Haager Manifest aber als Ausdruck einer "französisch-russischen Betrachtung des Systemhaften an der Sprache" (Spitzer 1928: 441) wahrgenommen worden, hatte also noch gar kein spezifisch Prager Profil. Im Gegenteil trug die unverhofft positive Reaktion der Kongressteilnehmer von Den Haag wesentlich dazu bei, dass sich die Prager Schule der Linguistik als solche erst formierte.
5
Nachweis archivalischer Quellen und eine Aufschlüsselung der verwendeten Kürzel für die jeweiligen Archive gebe ich vor dem Literaturverzeichnis. Auf diese vorab verschickte Frage der Kongressorganisatoren hatten die Vertreter des Prager Zirkels zunächst mit einer schriftlichen Vorlage geantwortet Qakobson/Karcevskij/Trubetzkoy 1930) und dann auf dem Kongress selbst Thesen vorgetragen, die sie gemeinsam mit Bally und Sechehaye verfasst hatten, vgl. Bally u.a. (1930).
1.1 Die Internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
3
Dass die „Propositions", Vorträge und Thesen, die man auf dem Kongress vorstellte, dort größere Anerkennung finden würden, widersprach ganz offensichtlich den Erwartungen, mit denen man nach Den Haag gefahren war. Die vermutete und zumindest von Roman Jakobson wohl durchaus beabsichtigte Provokation des Publikums blieb aus: Als 1928 einige Sprachwissenschaftler, die dem Prager Kreis verbunden waren, mit den Entwürfen ihrer Antworten auf die vom Tagungskomitee vorgestellten Grundfragen zum Haager Internationalen Kongreß kamen, fühlte jeder von ihnen, daß sie mit ihren Abweichungen vom traditionellen Dogma isoliert bleiben und vielleicht heftig bekämpft werden würden. Im Verlauf dieses Ersten Linguistenkongresses zeigte es sich jedoch, sowohl in den offiziellen und noch mehr in den privaten Diskussionen, daß es unter den jüngeren Forschern aus verschiedenen Ländern Anhänger ähnlicher Sichtweisen und Wege gab. Forscher, die allein und auf eigenes Risiko Pionierarbeit leisteten, entdeckten zu ihrer großen Überraschung, daß sie Kämpfer für eine gemeinsame Sache waren. (Jakobson 1988b [1963]: 440)
Auch für Mathesius, dessen Kontakte mit der westeuropäischen Wissenschaft seinerzeit natürlich erheblich weiter reichten als die des jungen Jakobson, bedeutete der Haager Kongress die unverhoffte Entdeckung internationaler Gemeinsamkeiten, denn der Linguistenkongress hatte auch für ihn „manche Meinungsverwandtschaft zutage gebracht, die anders lange unentdeckt geblieben wäre" (Mathesius 1929a: 434). Jakobson betont auch an anderer Stelle, dass die Vertreter des Linguistik-Zirkels „über diese positive Reaktion sehr erstaunt sein mußten" (Jakobson/Pomorska 1982: 59). All diese Kongressberichte deuten darauf hin, dass sich im Selbstbild der Gruppe, die sich bisher in der Rolle des fortschrittlichen, aber isolierten Außenseiters sah, seinerzeit eine bedeutende Verschiebung vollzog: Wir freuten uns ganz besonders darüber, daß uns die internationale Avantgarde der Linguistik auch in informellen Gesprächen ihre Unterstützung zusicherte. (ebd.)
Mit dem Haager Kongress rückte sich der Kreis um Mathesius in die „internationale Avantgarde der Linguistik" ein, und hier entdeckte er die internationale Fachöffentlichkeit als wichtigen Adressaten seiner Arbeit. Die Erkenntnis, „dass in der jungen Linguistik verschiedener Länder ein unabhängiges und doch konvergentes Streben [...] losbricht", an dem man selbst teilhatte, „wirkte freudig ermunternd" (Jakobson 1939: 73). Und mit dem Gefühl, dass die eigene Richtung auf dem Linguistenkongress „bedeutend gestärkt" (Mathesius 1929a: 434) worden sei, fuhr man nach Prag zurück. Der Impuls der Internationaüsierung zeigte unmittelbare Wirkung auf die weitere Arbeit und Organisation des Zirkels. Waren die gemeinsam mit Bally und Sechehaye vorgestellten Haager Thesen erst während des
4
1 Einführung
Linguistenkongresses kurzentschlossen bei einem abendlichen Treffen in einem Cafe zusammengestellt worden (vgl. Mathesius 1936a: 140), so bereitete der Prager Linguistik-Zirkel seinen nächsten Auftritt auf einem internationalen Forum nun von langer Hand und auf breiterer Basis vor. Für den Oktober 1929 war der erste internationale Kongress der slawischen Philologen in Prag einberufen worden. Velkou cäst roku od podzimu 1928 do fijna 1929 zabrala priprava k sjezdu slavistickemu, na nemz se Krouzek rozhodl vystoupit jednak svymi vlastnimi publikacemi, jednak svymi vlastnimi thesemi. (Mathesius 1936a: 140) Einen großen Teil des Jahres vom Herbst 1928 bis zum Oktober 1929 beanspruchte die Vorbereitung des Slawistenkongresses, auf dem der Zirkel einerseits mit seinen eigenen Veröffentlichungen und andererseits mit seinen eigenen Thesen auftreten wollte.
Während der „über Monate in sehr zahlreichen Sitzungen" (ebd.: 141) vorangetriebenen Vorbereitungen vollzog sich eine tiefgreifende Transformation der Gruppenstruktur des Linguistik-Zirkels. Unter der Zielvorgabe eines geschlossenen Auftretens entwickelte der Prager Linguistik-Zirkel die organisatorische Form der „kolektivni präce" [kollektiven Arbeit] (ebd.): I jako vedeckä organisace jsme u näs vytvofili pracovni pospolitost osobiteho typu. Sdruzili jsme se na zäklade kolektivniho vedeckeho usiH [...] (ebd.: 144) Auch als wissenschaftliche Organisation bildeten wir bei uns eine Arbeitsgemeinschaft besonderen Typs heraus. Wir schlossen uns auf der Grundlage kollektiven wissenschaftlichen Strebens zusammen [...]
Dieser Transformationsprozess, in dem „sich der Zirkel aus einer freien Vereinigung in einen fest organisierten Verband umwandelte" (ebd.: 145)6, fand mit der Vereinsgründung im Herbst 1930 seinen förmlichen Abschluss. Schon zum Slawistenkongress hatte der Prager Zirkel in seinen 23-seitigen „Theses" 7 ein vollständiges Forschungs- und Arbeitsprogramm umrissen, das leicht auch auf nichtslawische Sprachen zu übertragen war: Auf dem ersten slavistischen Kongresse, der im Jahre 1929 in Prag stattfand, trat der Prager linguistische Zirkel zum ersten Male als Gesamtheit auf und brachte dem Kongresse die gemeinsame Beantwortung aller Probleme, die die Leitung des Kongresses gestellt hatte. (Havränek 1936a: 316-317)
Die Prager Thesen wurden nicht nur in gedruckter Form unter den Kongressteilnehmern verteilt, sondern sie eröffneten auch die erste gemeinsa6
7
Im Original: „Kdyz se r. 1930 pretvärel Krouzek ζ volneho sdruzeni ν spolek pevne organisovany [...]." Bedeutung und Verlauf dieses Prozesses beschreibt Toman (1995: 153ff.), zur Wirkung des Modells der „kollektiven Arbeit" für die deutsche Slawistik vgl. Abschnitt 5.5. Die „Theses" von 1929.
1.1 Die Internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
5
me Sammelpublikation des Zirkels, die Travaux du Cercle Unguistique de Prague, die unter dem Einzeltitel hielanges linguistiques dedies au Premier Congres des Philologues Slaves dem Kongresspublikum vorgelegt wurden. Begleitet wurde diese Neuerscheinung gleich von einem zweiten Band der Travaux, Jakobsons Monographie zur Phonologie des Russischen (Jakobson 1929a), die den Kongressteilnehmern ebenfalls präsentiert wurde. Die Atmosphäre auf dem sehr großen und heterogenen Slawistenkongress war für eine Aufnahme der Anregungen des Linguistik-Zirkels offenbar weniger günstig als die des Haager Linguistenkongresses, denn der „wissenschaftlich konservative Kern" des Faches brachte sich hier stärker zu Geltung: Welche Frage auch angeschnitten wurde, sofort wurde sie theoretisch zugespitzt, und alsbald entbrannte eine lebhafte Diskussion oder jemand stellte den Antrag, die Frage an eine Kommission zu überweisen, um eine allzu hitzige Debatte zu vermeiden. 8
Dem Prager Linguistik-Zirkel gelang es dennoch, mit seinen sorgfältig vorbereiteten Vorlagen und seiner allgegenwärtigen Präsenz die Debatten weitgehend zu dominieren: Die im Rahmen der zweiten (linguistischen) Sektion vorgesehene Diskussion
wird völlig beherrscht von der Initiative, die von dem Pra^sky Unguistickj Krou^ek (Prager Linguistischer Zirkel) ausgegangen ist. 9
Auch in der pädagogischen Sektion des Kongresses war der Prager Zirkel mit seinen Thesen tonangebend, in der literaturhistorischen Sektion wurde seine Position durch Jan Mukarovsky vertreten. Roman Jakobson vermutete später, „that it was precisely because of the predominant role of PLK [Prager Linguistik-Zirkel] that the first volume of the Congress' Transactions, which encompassed its plenary meetings, was the only one that was never published" (Jakobson 1971: 534). Aber auch ohne den entsprechenden Band der Kongressakten waren die „Theses" und Arbeiten des Prager Zirkels fortan über die Travaux auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, die nicht am Kongress teilgenommen hatte. Der Zirkel sorgte zudem für eine gezielte Verbreitung der ersten beiden Bände der Travaux, die an über 150 ausländische Adressaten als Freiexemplare verschickt 8 9
Anonymer „Tagesbericht, der I. Kongreß der slavischen Philologen in Prag", Prager Presse vom 11.10.1929: 4. Anonymer Bericht „Moderne Sprachwissenschaft und Slavistik. Diskussionsthesen für den Kongreß der slavischen Philologen in Prag", PragerPresse vom 1.10.1929: 8. Diesen Eindruck vermittelt nicht nur die dem Prager Zirkel sehr wohlgesonnene Tageszeitung Prager Presse. Auch der eher zum konservativen Kern' des Faches gehörende Paul Diels beklagt in seinem Kongressbericht „das Übergewicht methodologischer und organisatorischer Fragen": „Schon die dem Kongreß vorgelegten, vor Beginn der Tagung den Mitgliedern in gedruckter Form überreichten Thesen ließen dies erkennen, die Diskussion verstärkte den Eindruck." (Diels 1929: 593)
6
1 Einführung
wurden (vgl. 3.2). „Diese Veröffentlichungen erregten in der europäischen Fachliteratur eine große Aufmerksamkeit", meldet ein anonymer Pressebericht über „die Prager phonologische Forschung" und verweist mit Stolz auf eine lange Reihe von Rezensionen und Kommentaren zu den Travaux aus dem Ausland. 10 Die Wirkung griff aber schon jetzt über die europäische Fachwelt hinaus. So zeigte sich Edward Sapir „enormously impressed by the high standard that these volumes set for linguistic work", und er würdigt in einem Brief an Trubetzkoy vom März 1930 gerade den kollektiven Charakter der Publikationen. In fact, I do not know of any other group of linguists anywhere in the world who are doing such valuable and really forward-looking work as the group that you are associated with. Please do not take this as an empty compliment, but as a sincere expression of my conviction.11 Der Prager Slawistenkongress brachte aber auch auf der Ebene internationaler Wissenschaftsorganisation einen Erfolg für den Linguistik-Zirkel. Auf seinen Antrag hin war auf dem Kongress eine „Kommission für die funktional strukturale Erforschung der slawischen Sprachen" (Zprnva ο cinnosti 1936: 10) einberufen worden. In dieser zehnköpfigen Arbeitsgruppe war der Linguistik-Zirkel mit Bohuslav Havränek, Roman Jakobson, Sergej Karcevskij, Vilem Mathesius und Nikolai Trubetzkoy personell massiv vertreten. Es war nur ein konsequenter Schritt auf dem Wege der weiteren Internationalisierung seiner Arbeit, dass der Linguistik-Zirkel im darauf folgenden Jahr 1930 selbst eine Konferenz nach Prag einberief. Diese „Reunion phonologique internationale" war dabei ihrerseits auf das umfassendste Forum der internationalen Sprachwissenschaft, den für 1931 geplanten Zweiten Linguistenkongress in Genf, ausgerichtet: Man wollte [...] durch planmäßige Diskussionen in einem engen Kreis die große Debatte auf dem internationalen Linguistenkongreß vorbereiten, wo Phonologie als einer der drei Hauptpunkte des Programmes fungieren wird [...]. (Mathesius 1930: 8) Die Beschränkung auf einen „engen Kreis" von Teilnehmern, die man persönlich eingeladen hatte, folgte dabei „zielbewußt" dem „Prinzip der Ideen- und Personenkonzentration" (ebd.). Dieses Prinzip, das der Linguistik-Zirkel für seine eigenen „planmäßigen Diskussionen" entwickelt hatte, wurde nun auf dessen näheres internationales Umfeld ausgeweitet, um auch im länderübergreifenden Kontext eine Kommunikations struktur 10
11
Der Bericht ist abgedruckt in der Prager Presse vom 8.7.1931. Die folgenden Autoren werden hier genannt Antoine Meillet, Sextil Pujcariu, Joseph Vendryes, Lucien Tesniere, Leo Weisgerber, Elise Richter, Aleksandar Belic, Gyula Laziczius, Stanislaw Szober, Albert Sechehaye, Nicolaas van Wijk und Lev V. Scerba. Brief vom 18.3.1930, zitiert nach Toman (Hrsg.) (1994): 140.
1.1 Die Internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
7
zu stiften, die „kontaktfähig und in ihren Interessen homogen, jedoch reich an individuellen Resonanzen" (ebd.) sein würde. Auf der Prager Phonologietagung versicherte sich der Linguistik-Zirkel gewissermaßen der „Kämpfer für eine gemeinsame Sache" (Jakobson 1988b: 440) im Ausland, deren Existenz man auf dem ersten Linguistenkongress überrascht entdeckt hatte und mit denen man nun gemeinsam und besser vorbereitet den zweiten Linguistenkongress bestreiten wollte. Bei nur 32 regulären Teilnehmern 12 der Prager Phonologietagung „war die Beteiligung des Auslandes relativ stark und bedeutend": Belgrad, Sofia, Wien, Krakau, Warschau, Posen, Leipzig, Oslo, Amsterdam, Nijmegen und Genf waren vertreten und unter den Teilnehmern waren Männer von solchem Ruf wie die Slavisten Nitsch (Krakau), Belic (Belgrad) und Trubetzkoy (Wien), der niederländische Linguist van Ginneken (Nijmegen) und der Wiener Psychologe Bühler. (Mathesius 1930: 8)
Einen Ansatz, dieses international weit gespannte Diskussionsnetz um den Prager Zirkel institutionell zu festigen, bildete der Beschluss der Phonologie-Konferenz, in absehbarer Zukunft eine „Internationale phonologische Arbeitsgemeinschaft" zu gründen. Das gewählte Komitee, das diese Gründung vorbereiten sollte, setzte sich aus Roman Jakobson, Vilem Mathesius und Nikolai Trubetzkoy zusammen und Heß also unschwer erkennen, dass die Initiative internationaler Organisierung ähnlich wie bei der „Kommission für die funktional strukturale Erforschung der slawischen Sprachen" auch hier vom Prager Zirkel ausging. Zum Genfer Linguistenkongress vom August 1931 legte der Prager Zirkel, ähnlich wie zwei Jahre zuvor beim Slawistenkongress, einen weiteren Band seiner Schriftenreihe vor, der in möglichst großem Umfang unter den Kongressteilnehmern verbreitet werden sollte (vgl. 3.3). Dieser vierte Band der Travaux brachte die in kürzester Zeit publizierten Akten der Prager Phonologietagung und präsentierte in dem Nebeneinander von ,einheimischen' und ausländischen Beiträgern einen Prager LinguistikZirkel, der sich demonstrativ in internationale Diskussionszusammenhänge stellte. Auf dem Kongress selbst bestritt Trubetzkoy mit seinem Referat eine von fünf Plenarsitzungen (Trubetzkoy 1933a), mehrere Vorträge aus den Sektionen „linguistique generale" und „phonetique" stammten von Vertretern des Linguistik-Zirkels und von dessen Gästen der Prager Phonologietagung. Nicht zuletzt durch die Beiträge aus diesem Personenkreis wurde der Genfer Linguistenkongress zu einer ,,neue[n] Manifestation der strukturalen Ideen der Sprachwissenschaft" (Jakobson 1931c: 9). Innerhalb dieser vielstimmigen Manifestation war das spezifische Profil des Prager Zirkels unterdessen so deutlich abgrenzbar geworden, dass 12
Vgl. Trnka (1937: 196).
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1 Einführung
die niederländischen Organisatoren des für 1932 geplanten „Congres international des sciences phonetiques" in ihrem Einladungsschreiben vom November 1931 ausdrücklich Wert darauf legten, dass neben der klassischen Phonetik, der historischen Lautforschung und der Schallanalyse nach Eduard Sievers auf diesem Kongress auch „les phonologues de l'Ecole de Prague" 13 zu Wort kommen sollten. Diese Formulierung nimmt Josef Vachek für symptomatisch: In the invitational prospectuses for this congress the organizers used, for the first time, the term ,L'Ecole de Prague.' As no stimulus for this use had come out of Prague, the coining of the term undoubtedly bore eloquent testimony to the popularity the work of the Prague scholars had gained widely in linguistic circles, although barely three years had elapsed since the first presentation of Prague theses to the world of linguistics. (Vachek 1966: 10-11) Dass diese Bezeichnung hier zum ersten Mal geprägt worden sei, trifft nicht ganz zu. Schon im August 1931 hatte Joseph Schrijnen in seinem Rechenschaftsbericht zum Genfer Linguistenkongress — also vor über zweihundert Linguisten aus aller Welt - die Arbeit des Prager LinguistikZirkels eigens hervorgehoben und buchstäblich an die Seite der Genfer Schule des Strukturalismus gestellt: Comme vous le voyez, Messieurs, l'ecole de Geneve et celle de Prague marchent de pair ä ce Congres et se disputent le privilege d'honorer de la maniere la plus digne la memoire de leur maitre Ferdinand de Saussure. (Schrijnen 1933: 38) W o immer der genaue Ursprung der Bezeichnung „Prager Schule" gelegen haben mag, es bleibt festzuhalten, dass diese Bezeichnung bereits im Jahr 1931 in Fachkreisen der internationalen Sprachwissenschaft in Umlauf 14
war. Unabhängig von Fragen der genauen Datierung ist Joseph Vachek darin zuzustimmen, dass die Prägung dieser Bezeichnung als wichtiges Indiz für den Stand der internationalen Rezeption des Prager Strukturalismus zu werten ist. Ich möchte in meinem Bericht der Erfolgsgeschichte daher an dieser Stelle kurz innehalten und den erreichten Stand von 1931 zusammenfassend charakterisieren. 13
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Das dreiseitige Rundschreiben vom „Novembre 1931" ist im Original erhalten in dem Zeitschriftenausschnittsarchiv, das der Prager Linguistik-Zirkel anlegte (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 26). Unterzeichner des Rundschreibens sind J. von Ginneken, L. Kaiser und A. Roozendaal. In englischer Version ist das Einladungsschreiben auch in den Kongressakten abgedruckt, Proceedings of the [First] International Congress of Phonetic Säences [1933, ohne Ortsangabe]: 1-4. Wenn Tsutomu Akamatsu behauptet, die Bezeichnung ,Prager Schule' „was created by the organizers of the First International Congress of Linguists (The Hague) in 1928" (Akamatsu 2001: 1769), so liegt wohl eher eine fehlerhafte Kolportage der oben zitierten Ausführungen Vacheks vor als ein neuer Erkenntnisstand.
1.1 Die Internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
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Der Prager Linguistik-Zirkel erfüllt in diesem Jahr alle drei Kriterien, die das von Brigitte Schlieben-Lange geleitete Forschungsprojekt zur Sprachwissenschaft um 1800 „zur historiographischen Identifikation einer Wissenschafdergruppe entwickelt hat" (Dobnig-Jülch/Roggenhofer/Weiß 1992: 63). Diese drei Kriterien ermöglichen die Abgrenzung einer „groupe scientifique" nicht erst aus der historiographischen Distanz, sondern sie finden in der Regel „auch einen Niederschlag im metatheoretischen Diskurs der potentiellen Gruppenmitglieder selbst" ebenso wie im „Bewußtsein ihrer zeitgenössischen Nichtmitglieder" (ebd.: 64). Die Prager Schule bildete die drei Charakteristika einer „groupe scientifique" in rascher Abfolge und in ungewöhnlich deutlicher Ausprägung heraus. Ihre Mitglieder formierten erstens ab 1926 eine „groupe sociale", eine „Gemeinschaft, deren Mitglieder in persönlicher Kommunikation miteinander stehen" (ebd.: 63). Der Prager Linguistik-Zirkel vertrat zweitens „ein gemeinsames Forschungsprogramm", das sich erstmals in den Prager Thesen von 1929 „bis zu einem ausgearbeiteten Theoriegebäude verfestigen" (ebd.) sollte. Als dritter Faktor treten Identifikationsprozesse der Gruppe hinzu, und zwar interne und externe, (ebd.: 64)
Durch die Herausbildung kollektiver Arbeitsformen und durch gemeinsame Auftritte in der Öffentlichkeit entwickelten die Mitglieder des Prager Zirkels seit 1928 eine für Wissenschafdergruppen ganz ungewöhnlich kompakte Gruppenidentität. In der Satzung, die sich der Prager Linguistik-Zirkel Ende 1930 gab, erhielt die „Autoidentifikation" der Gruppe sogar vereinsrechtlichen Ausdruck. Spätestens seit 1931 existierte der ehemalige Diskussionskreis als abgrenzbare „groupe scientifique" auch „im Bewußtsein [...] der zeitgenössischen Gelehrten". Die Bezeichnung ,Prager Schule' ist in der Tat ein Beleg für deren „externe Identifikation" durch die damalige Fachöffentlichkeit. In dieser Bezeichnung finden sich für die Außenperspektive der Zeitgenossen soziale und methodologische Aspekte dieser WissenschafÜergruppe zusammen. Die Wortprägung bürgerte sich in der Folgezeit so schnell ein, dass der Linguistik-Zirkel in der Mitte der dreißiger Jahre schon „allgemein in linguistischen Handbüchern und Zeitschriften unter dem Namen ,Prager Schule' (L'ecole de Prague) bekanntgeworden" (Havranek 1936a: 315) war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, also nur zehn Jahre nach seinen ersten noch privaten Zusammenkünften, ist der Prager Linguistik-Zirkel im internationalen Fachdiskurs eindeutig als „groupe scientifique" identifiziert. Bohuslav Havranek wies schon 1936 auf ein Charakteristikum der Rezeption hin, das die Außenwahrnehmung der Prager Schule bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmen sollte: Die Phonologie wird auch jetzt allgemein schon dem Namen nach mit dem Begriff,Prager Schule' verbunden [...]. Manchmal wird die ,Prager Schule' in
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den Augen der Fremden ungerechtfertigterweise lediglich auf dieses Teilgebiet eingeengt. (Havränek 1936a: 318-319) Während die Phonologie für die Mitglieder des Linguistik-Zirkels selbst nur eines von mehreren Gebieten war, in dem sich die Fruchtbarkeit der funktional-strukturalen Methode besonders deutlich erweisen ließ (vgl. Mathesius 1971 [1929]), und die Themenpalette der Prager Diskussionsabende weit über die Phonologie hinausreichte, 15 blieb die Rezeption im Ausland vor allem auf diesen Forschungsbereich fokussiert. An dieser Blickverengung der internationalen Rezeption hatte der Prager Zirkel allerdings selbst großen Anteil, war doch gerade für seine Auftritte im Ausland „die Phonologie bald zu unserer wichtigsten Parole im Kampf geworden" (Mathesius 1936a: 141) 16 . Schon die „Proposition 22", die Jakobson, Karcevskij und Trubetzkoy auf die Frage der Haager Kongressorganisatoren nach „les methodes les mieux appropriees ä un expose complet et pratique de la grammaire d'une langue quelconque" eingereicht hatten, konzentrierte sich ganz auf das Feld der Phonologie (Jakobson/Karcevskij/Trubetzkoy 1930). „Die Linguistenkongresse sind seitdem das internationale Forum gewesen, auf welchem sich die Ideen der Phonologie ausgewirkt haben" (Hjelmslev 1939: 58). Die Stationen ihrer Durchsetzung und Anerkennung lassen sich in der Tat über die Folge der großen internationalen Kongresse der dreißiger Jahre nachzeichnen: Auf dem ersten internationalen Linguistenkongreß im Haag 1928 tritt die phonologische Schule zum erstenmal hervor [...] Auf dem zweiten Linguistenkongreß in Genf 1931 wird schon die Frage von den phonologischen Systemen an sich und in ihren Beziehungen zu der allgemeinen Struktur der Sprache aufgestellt; [...] Die Phonologie ist von diesem Zeitpunkt an Gemeingut der Sprachwissenschaft, (ebd.) Ähnlich wie Hjelmslev hält auch Mathesius den Genfer Linguistenkongress, auf dem die Phonologie erstmals auf die Tagesordnung allgemein sprachwissenschaftlicher Debatten im internationalen Kontext gesetzt worden war, bereits für ihren endgültigen Durchbruch: V Zeneve byla fonologie opravdu jednou ζ hlavnich otäzek, polozenych na program plenarnich schüzi, ale po prazske konferenci byla vec jiz vyhranä. (Mathesius 1936a: 142) In Genf war die Phonologie wirklich eine der Hauptfragen, die in das Programm der Plenarsitzungen aufgenommen wurde, aber nach der Prager 15
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Von den 145 Vorträgen, die bis 1936 im Prager Linguistik-Zirkel gehalten wurden, widmeten sich nur 36 speziellen Fragen der Phonologie und Phonetik. Die Zahl der Vorträge zur Poetik und Literaturwissenschaft beispielsweise war sogar größer als die der phonologischen Themenstellungen, dennoch sind die Prager Arbeiten zur Poetik im Westen erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg rezipiert worden, vgl. 2.2 und Zpräva ο cinnosti (1936: 1). Im Original: „[...] stala se fonologie brzo nasim hlavnim bojovnym heslem."
1.1 Die internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
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Konferenz [Reunion phonologique internationale] war die Sache bereits gewonnen.
Andere Zeitgenossen, wie Karl Bühler, der die Entwicklung der Phonologie sehr früh aktiv begleitete, bewerteten im Jahr 1931 deren Stand gerade im Verhältnis zur Phonetik weitaus vorsichtiger — und wohl realistischer: [...] die sprachliche Lautlehre [...] wird, wenn die Phonologen recht haben, in Zukunft aufzuspalten sein in zwei methodisch scharf zu trennende Betrachtungsweisen, die in merkwürdiger Art aufeinander gebaut sind, in Phonetik und Phänologie. Dem Kundigen braucht niemand zu sagen, daß und warum derartige sachlich geforderte Aufteilungen (man könnte auch ,Erbteilungen' sagen) im Bereiche einer eingebürgerten Disziplin in der Regel nicht von heute auf morgen und nicht immer ganz reibungsfrei durchgeführt werden. Wir stehen am Anfang einer unvermeidlichen Auseinandersetzung, die hoffentlich dazu führt, daß sich alle Beteiligten zu erneuter und verschärfter Prüfung der Prinzipien ihrer Wissenschaft genötigt sehen. (Bühler 1931: 23)
Die angestrebte Durchset2ung der Phonologie bedeutete ja nicht nur, dass ein neues Element in den anerkannten Kanon der sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen eingefügt werden musste. Vielmehr lief die strikte Abgrenzung der Phonologie von der Phonetik auf eine deutliche Zurücksetzung der letzteren hinaus. Aus der Sicht einer Linguistik der langue gehörte die Phonetik höchstens „ins Vorzimmer aller Sprachwissenschaften" (Bühler 1932: 111). Insbesondere die seit der Jahrhundertwende stark expandierende Experimentalphonetik musste sich aus Prag den Vorwurf gefallen lassen, sie verwende ihren großen technischen Aufwand an sprachwissenschaftlich letztlich irrelevante Fragestellungen (vgl. Jakobson 1931c: 8). Es dürfte daher kaum verwundern, wenn Vertreter der traditionellen Phonetik wie der jüngeren Experimentalphonetik dem systematischen Führungsanspruch der neuen Disziplin innerhalb der Lautwissenschaften mit Vorbehalten oder Ablehnung begegneten: Andere, nämlich ein Teil der Phonetiker, fühlten sich beleidigt darüber, daß man die gewöhnliche Phonetik als eine außenstehende Hilfswissenschaft bezeichnete, und hielten sich deshalb fern. (Fischer-Jorgensen 1941: 170)
Die Etablierung der Phonologie vollzog sich gerade in den Anfangsjahren zum Teil als „Krieg zwischen Phonologen und Nicht-Phonologen" (Moller 1936: 4). Während dieser langjährigen Auseinandersetzung verstand es die Prager Schule geschickt, die Wirkungsmöglichkeiten der internationalen Fachkonferenzen zu seinen Gunsten einzusetzen. 17 17
Welche Bedeutung der Linguistik-Zirkel den Auftritten auf internationalen Konferenzen beimaß, zeigt sich zum Beispiel in seinem Tätigkeitsbericht zum zehnjährigen Bestehen, in dem alle bis dahin besuchten Konferenzen mit detaillierten Angaben zu den Vortragenden und ihren Themen aufgelistet werden (Zprava ο cinnosti 1936: 9-11). Dieser Bericht zählt für die Zeit zwischen 1928 und 1936 „zehn internationale wissenschaftliche Konferenzen, an welchen der Prager Linguistik-Zirkel aktiv teilnahm"
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Nicht zuletzt als Reaktion auf die programmatischen Vorgaben der Phonologen von der Prager Phonologietagung und vom Genfer Linguistenkongress erweiterte der Amsterdamer Phonetikkongress von 1932, der ursprünglich als ein rein experimentalphonetisches Fachforum geplant war, sein Themenspektrum auf einen übergreifenden „international Congress of phonetic sciences". 18 Die Prager Schule nutzte diesen umfassenden Rahmen, um das erste, nun offizielle Treffen der lang projektierten Internationalen Arbeitgemeinschaft für Phonologie abzuhalten und der neuen Disziplin damit innerhalb der internationalen Organisation der phonetischen Wissenschaften eine eigene Repräsentanz zu sichern. Die gute Ausgangsposition, die man der Phonologie auf dem Amsterdamer Kongress einräumte, verdankt sich auch der vorzüglichen Verbindung der Prager Schule zu den dortigen Veranstaltern. Der Präsident der Amsterdamer Tagung, Jacobus van Ginneken, unterhielt seit 1928 „rapports amicaux avec les Phonologues" (Ginneken 1933: 15) und war bereits auf der Prager Phonologiekonferenz als Anhänger der neuen Richtung aufgetreten. In seiner Eröffnungsrede zum Kongress in Amsterdam schilderte er ein breites Panorama verschiedener Ansätze und Untersuchungsgegenstände der zeitgenössischen Lautforschung, um diese Darstellung dann in einer regelrechten Inthronisation der Phonologie gipfeln zu lassen: Mes Dames et Messieurs, laissez moi vous dire que la Phonologie, quoique son origine soit tout autonome, n'est autre chose que le couronnement de Toeuvre entiere. Presque tous les resultats de detail des autres sciences phonetiques se laissent synthetiser dans celle de la Phonologie. (ebd.: 15).
Es wird kaum verwundern, dass die Phonologie bei einer derart bevorzugten Beachtung durch die Kongressleitung und bei der auch personell starken Präsenz ihrer Anhänger in Amsterdam ganz ins Zentrum des Interesses rückte. Die zentrale Rolle der Phonologie wird auch auf einer erhaltenen Photographie der Kongressteilnehmer regelrecht ins Bild gesetzt. Hier nimmt Trubetzkoy zusammen mit dem Kongresspräsidenten van Ginneken, zu dessen Rechten er positioniert ist, alle Umstehenden überragend, den perspektivischen Mittelpunkt der ganzen abgebildeten Versammlung ein.19 Und so berichtete auch ein ausgesprochener Gegner der Phonologie wie Piero Meriggi im Rückblick über die Konferenz: Das Charakteristische des Kongresses war, daß er im Zeichen der phonologie' stand. Diese schien damals als eine neue Mode fast alle Linguisten mitzurei-
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(ebd.: 11). Im Zentrum stehen dabei die lückenlos besuchten Linguistenkongresse, Slawistenkongresse und die Kongresse der phonetischen Wissenschaften. Der Prager Zirkel war aber auch auf internationalen Tagungen der Philosophie, Anthropologie und Wirtschaftswissenschaften vertreten (vgl. ebd.). Vgl. dazu Fischer-Jorgensen (1984): 4. Vgl. die Abbildung im dokumentarischen Anhang am Ende dieses Abschnittes.
1.1 Die internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
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ßen, wäre sie nicht vor allem durch die besonnenen Worte von Scbrijnen [...] etwas eingedämmt worden. (Meriggi 1934: 66)
Während sich manche Phonetiker, wie eben Meriggi, von der Tatsache, „daß die Phonologie schnell den Charakter einer Modebewegung bekam" (Fischer-Jorgensen 1941: 170), in ihrer Ablehnung nur bestärkt fühlten, hatte der Amsterdamer Kongress unter den eher skeptisch eingestellten Teilnehmern aber auch Überzeugungskraft entfalten können. Die Phonetikerin Louise Kaiser gibt diesem Einstellungswandel Ausdruck, wenn sie am Ende des Kongresses resümierte: In the first place phonologists told us about their until now rather mysterious science. It was a great joy to me and to several of my colleagues to understand that this science is to be called exact as well as our own. (Kaiser 1933: 210)
In Amsterdam begann sich die Phonologie auch die Anerkennung ihrer Konkurrenz-Disziplin, der Phonetik, zu erringen. Schon auf dem folgenden internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften, der 1935 in London abgehalten wurde, erklärte man „phonology (with special reference to the principles of the Cercle Linguistique de Prague)" 20 ausdrücklich zu einem der thematischen Schwerpunkte. Insgesamt stand auch hier die Phonologie „im Vordergrund" (Mukafovsky 1935: Titel) der Fachdiskussion: Der Mittelpunkt des Interesses war - wie auch in Amsterdam — die Phonologie, schon deshalb, weil sie den am meisten zusammenhängenden Komplex von Problemen bietet. Gleich die zweite Plenarsitzung nach der Eröffnungssitzung war ihnen gewidmet. Weitere phonologische Vorträge waren in den übrigen Sitzungen verstreut, namentlich in der, die sich mit der Psychologie der Sprache beschäftigt. Aber auch in den nichtphonologischen Vorträgen war zu beobachten, daß wenigstens die Grundgedanken der Phonologie Gemeingut der Wissenschaft werden, (ebd.: 5)
Diese Einschätzung beruht nicht nur auf dem Wunschdenken Jan Mukarovskys, der hier als Angehöriger des Prager Linguistik-Zirkels über die Tagung in London berichtet. Auch der Schweizer Phonetiker Eugen Dieth stellte fest, dass „die Phonologie am Londoner Kongreß der Phonetiker (1935) eine alles beherrschende Rolle spielte" (Dieth 1950: 17, Anm. 2). Ein ähnliches Bild bot der nächste internationale Linguistenkongress, der nur ein Jahr später 1936 in Kopenhagen veranstaltet wurde. Auch hier wirkten sich die intensiv gepflegten Kontakte mit ausländischen Fachkollegen günstig aus, besonders die Verbindung mit den Vertretern des Ko-
20 Vgl. die anonyme „Introduction" zu den Proceedings of the Second International Congress of Phonetic Säences. Cambridge: University Press, 1936: ohne Seitenzahl.
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penhagener Linguistik-Zirkels, die maßgeblich an der Organisation der Tagung beteiligt waren. Jak vyplyvalo jiz ζ dlouholetych prätelskych stykü mezi t. zv. Prazskou skolou a dänskou linguistikou, byla Prazskä skola na sjezdu znacne zastoupena a ücinne vystupovala [...]. (Havränek 1936b: 8). Wie schon aus den langjährigen freundschaftlichen Beziehungen der sog. Prager Schule zur dänischen Linguistik folgt, war die Prager Schule auf der Konferenz bedeutend repräsentiert und trat wirkungsvoll hervor.
Ähnlich wie bei früheren internationalen Tagungen präsentierte sich der Linguistik-Zirkel mit einem eigenen Band der Travaux, der als Etudes dediees au quatrieme congres de linguistes dem Kongress gewidmet war. Ob Trubetzkoys Kopenhagener Vortrag über „die Quantität als phonologisches Problem" (Trubetzkoy 1938) wirklich „allgemein als der beste Vortrag der Konferenz angesehen" (Havränek 1936b: 8) wurde, wie Havränek meint, bleibe dahingestellt. In jedem Falle konnte die Phonologie auf dem internationalen Fachforum in Kopenhagen wieder breiten Raum für sich beanspruchen: Prednäsek ζ tohoto oboru bylo na sjezde osm, ζ nichz vsechny - az na jednu, Collinderovu - uznävaly zäsady fonologicke jako vec jiz samozfejmou. (ebd.) Es gab acht Vorträge aus dieser Fachrichtung auf der Konferenz, von denen alle — bis auf den einen von [Björn] Collinder — die phonologischen Grundsätze bereits als selbstverständliche Gegebenheit anerkannten.
Selbst Trubetzkoy, der die internationalen Fortschritte der Phonologie stets mit Ungeduld und tendenziell pessimistisch zu beurteilen pflegte, äußerte sich über den Kopenhagener Linguistenkongress mit Genugtuung: Β KorreHrareHe BnepBbie oSHapyaoiAocb, HTO He ΤΟΛΙ>ΚΟ ΜΗ 3aHHinaeM Kaiaie τ ο KOMAHAHHIE rrocTH, HO HTO 3a HaMii ecu. eme Η MOAOAem>, yroBHiaaca Ha HaniHx nHcaHHflx Η cnocooHan caMOCTOirreAbiio pa6oTaTb. ( T r u b e t z k o y
1975: 371) 21 In Kopenhagen war erstmals erkennbar, dass wir nicht nur Kommandoposten einnehmen, sondern dass hinter uns schon eine junge Generation steht, die an unseren Schriften gelernt hat und nun bereit ist zu selbständiger Arbeit.
Auch Mathesius strich damals heraus, dass es dem Prager LinguistikZirkel bis 1936 bereits gelungen sei, einen breiteren wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden, und er verweist hier auf die zunehmende Zahl junger Beiträger aus der Tschechoslowakei, die an dem Kopenhagener Band der Travaux beteiligt waren. Aber nicht nur die „einheimischen Wur-
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Aus einem Brief an Roman Jakobson vom 5.10.1936.
1.1 Die internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
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zeln" (Mathesius 1936a: 144)22 des unterdessen auf über sechzig Mitglieder angewachsenen Prager Linguistik-Zirkels waren stärker geworden, auch die von ihm initiierte phonologische Forschung hatte sich bis zur Mitte der dreißiger Jahre in weiten Teilen internationalisiert. Mit einigem Recht konnte Mathesius zehn Jahre nach der Gründung des Prager Zirkels feststellen, dass „structural phonology may by now be regarded as well established" (Mathesius 1936b: 96). Die Phonologie hat jetzt schon den Rahmen des Prager Linguistischen Zirkels weit überschritten, wie dies am leichtesten aus dem ersten und zweiten [bibliographischen] Bulletin de rAssociation phonologique zu ersehen ist; man kann im Zusammenhang damit heute auch schon auf die höchst interessanten Arbeiten dieser Richtung verweisen, die von amerikanischen, finnischen, französischen, holländischen, japanischen, rumänischen, skandinavischen, ungarischen u.a. Gelehrten veröffentlicht wurden. [...] So ist die Phonologie binnen einiger Jahre unter den Fachleuten bekanntgeworden [sic], obwohl sie teilweise, namentlich von dem polnischen Linguisten W. Doroszewski, auch bekämpft wird. (Havränek 1936a: 318)
Dass die Phonologie bei allem Erfolg auch weiterhin nicht überall unumstritten war, hatte in Kopenhagen beispielsweise die Polemik des schwedischen Finno-Ugristen Björn Collinder gezeigt (Collinder 1938). Im anfangs teilweise gespannten Verhältnis zwischen Phonologie und Phonetik kam es am Ende der dreißiger Jahre jedoch zu einer deutlichen Annäherung. Der dritte internationale Kongress der phonetischen Wissenschaften in Gent scheint dabei eine wichtige Station in dieser Entwicklung markiert zu haben, wie aus den Berichten verschiedener Kongressteilnehmer hervorgeht: Die meisten Vorträge und Diskussionen standen im Zeichen einer friedlichen und nutzvollen Zusammenarbeit der phonetischen und der phonologischen Methoden. (Kofinek 1938: 8) 23
Für diese Annäherung war nach EH Fischer-Jorgensen unter anderem auch der phonometrische Ansatz Eberhard Zwirners symptomatisch, der 1938 in Gent zwei Vorträge hielt und eine Vermittlung von Phonologie und Experimentalphonetik suchte (vgl. 3.4, Abschnitt zu Zwirner): I think it was not until the third congress in Ghent, which was the first congress I attended, that there was a real breakthrough in the understanding bet22
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Im Original heißt es hier: „Präve tento sbornik vsak take ukazuje, jak zesflily nase kofeny domäci." [Gerade dieser Band zeigt aber auch, wie unsere einheimischen Wurzeln kräftiger wurden], Ähnlich berichteten auch die Organisatoren über den Kongress: „Auffallend in dieser Gruppe [der umfangreichsten Sektion zur allgemeinen Linguistik] war das Interesse für die Beziehung zwischen Phonetik und Phonologie und die Tendenz, zu einem Vergleich zwischen phonetischen und phonologischen Ansichten zu kommen." (Pee 1938: 255)
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ween phonologists and phoneticians, owing particularly to the contributions by Zwirner, Roman Jakobson and Van Wijk. (Fischer-Jorgensen 1984: 5)
In das Jahr des Genter Kongresses fällt außerdem ein Ereignis, das für die fortschreitende Etablierung der neuen Disziplin im Kanon anerkannter akademischer Fächer bezeichnend ist, und das Nicolaas van Wijk daher mit Recht an das Ende seines kurzen Abrisses der bisherigen Geschichte der Phonologie setzte: Als eerste academische docent, speciaal voor de phonologie aangesteld, doceert A. Martinet deze wetenschap sedert begin 1938 aan de Ecole des Hatztes Etudes te Parijs. (Wijk 1939: 24)
Van Wijks Buch, Phonologie, een hoofdstuk uit de structurele taalwetenschap, von 1939 selbst ist ein Zeichen für den erreichten hohen Entwicklungsstand der Phonologie. Es erschien im selben Jahr wie Trubetzkoys berühmte Grund^iige der Phonologie, die nach dessen Tod nicht ganz vollendet vom Prager Linguistik-Zirkel herausgegeben wurden (Trubetzkoy 1989). Beide umfangreichen Monographien zeigen, dass die junge Disziplin am Ende der dreißiger Jahre bereits so weit ausgearbeitet war, dass ihr Gegenstand in systematischer Gesamtdarstellung entfaltet werden konnte. Eine erste monographische „Einführung in die Gedankengänge und Arbeitsweise" (Seidel 1943: 5) der Phonologie wurde schon wenige Jahre später publiziert. Obwohl Eugen Seidels schmales Buch über Das Wesen der Phonologie parallel in einer deutschen und einer rumänischen Fassung herauskam, ist seine Wirkung wohl in den katastrophischen Umständen seines Veröffentlichungsjahres verhallt, so dass es heute weitgehend vergessen scheint. Durch die deutsche Okkupation Böhmens und Mährens und die bald folgende Schließung der tschechischen Hochschulen wurde der Prager Linguistik-Zirkel aus seiner universitären Verankerung gerissen und fiel aus der Position einer der einflussreichsten Wissenschaftsorganisationen der Tschechoslowakischen Republik auf den Stand einer privaten Vereinigung zurück. In dieser Form konnte der Linguistik-Zirkel seine Arbeit zwar in beschränktem Umfang fortsetzen und sogar seine tschechischsprachige Zeitschrift Slovo a slovesnost noch bis 1943 herausbringen. Das Schicksal seiner an das internationale Fachforum gerichteten Travaux du Cercle Unguistique de Prague, die mit 1939 ihr Erscheinen einstellen mussten, zeigt aber, dass gerade die internationalen Wirkungsmöglichkeiten des Prager Zirkels fortan stark beschnitten waren. Die Folgen dieser äußeren Eingriffe in seine Entwicklung konnte der Linguistik-Zirkel auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf lange Sicht nicht mehr wettmachen. Überdies waren wichtige Vertreter der Prager Schule wie Nikolai Trubetzkoy, Vilem Mathesius und Josef Korinek bis 1945 gestorben, andere wie Roman Jakobson und Petr Bogatyrev hatten die Tschechoslowakei verlassen. Die kurze ,Erholungsphase' bis zum nächsten politischen
1.1 Die Internationale Rezeption des Prager Strukturalismus
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Einschnitt im Jahr 1948, in dessen Folge der Prager Strukturalismus bald unter massiven ideologischen Druck geriet, reichte nicht aus, dass die Prager Schule in ihrem Heimatland wieder zu einer institutionell gesicherten und kontinuierlichen Arbeit zurückfinden konnte. Die phonologische Forschung hatte sich aber bereits am Ende der dreißiger Jahre so weit internationalisiert, dass sie sich trotz ausbleibender Impulse aus ihrem Ursprungsland auch nach 1939 weltweit immer weiter durchsetzte und in lokal spezifische Ausprägungen verästelte. Zwar stieß die Phonologie gerade im Umfeld der Phonetik auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch vereinzelt auf Vorbehalte: But as late as in the fifties there were still linguistic centers in Europe where phonology (and structural linguistics on the whole) was regarded as a new and dangerous heresy, where you saw smiles fade away and faces getting a very rigid expression of [sic] you dared to admit that you found these trends interesting [...]. (Fischer-Jorgensen 1984: 5)
Spätestens fur die sechziger Jahre aber werden solche partiell verbleibenden Widerstände gegen die Phonologie für einen Gesamtüberblick über die Geschichte der (strukturalen) Sprachwissenschaft vernachlässigbar: By 1960 structural linguistics could look back on thirty or more years of progress. The theory of the phoneme was now widely accepted; and, although there were disagreements in detail between most Americans and most Europeans, few disputed that it was one central unit of language. (Matthews 2001: 96)
Die Phonologie war zu dieser Zeit nicht nur endgültig in den anerkannten Kanon linguistischer Teildisziplinen eingerückt, sondern sie war unterdessen eine Art methodologische Leitdisziplin der strukturalen Sprachwissenschaft insgesamt geworden. In ähnlicher Funktion wurde sie bald nach dem Krieg als methodologische „Offenbarung" (Levi-Strauss 1981 [1945]: 45) auch für andere Sozialwissenschaften entdeckt und entfaltete außerhalb der Sprachwissenschaft eine weitreichende Wirkungsgeschichte, die hier nicht weiter verfolgt werden soll.24 Innerhalb der Sprachwissenschaft hat sich die phonologische Begrifflichkeit bis heute „zu den Sedimenten linguistischen Standardwissens" (Albrecht 2000: 283) verfestigt, die auch das Ende des strukturalen Forschungsparadigmas überdauert haben:
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Einen Ausschnitt aus dieser Geschichte bringt das zweibändige Werk von Fran9ois Dosse (1999), das freilich anders als Titel und Klappentext verheißen, keine „umfassende Geschichte des Strukturalismus" (Einband) bietet, sondern sich auf den vorwiegend außerlinguistischen Strukturalismus in Frankreich nach dem zweiten Weltkrieg beschränkt. Die Geschichte und Nachgeschichte der strukturalen Sprachwissenschaft schreiben Albrecht (2000) und Matthews (2001) bis in die Gegenwart fort.
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Die Phonologie in ihren verschiedenartigen Ausprägungen gehört zu den Errungenschaften des Strukturalismus, die auch in der ,poststrukturalen' Sprachwissenschaft ihren Platz behaupten werden, (ebd.)
Die Grundlagen für diese lange und weltweite Wirkungsgeschichte hatte der Prager Linguistik-Zirkel schon in den dreißiger Jahren gelegt, der innerhalb von nur drei Jahren nach seinem ersten Auftritt im Ausland in der internationalen Fachwelt bereits buchstäblich ,Schule gemacht' und sich als personell und methodologisch abgrenzbare „Ecole de Prague" profiliert hatte. Durch eine starke Dominanz auf den internationalen Kongressen und geschickt platzierte Publikationen hatte die Prager Schule erreicht, dass „vor dem zweiten Weltkrieg die Phonologie der meist diskutierte Gegenstand der Linguistik" (Jakobson 1979c [1956]: 132) geworden war, und hatte internationale Forschung auf diesem Gebiet initiiert und institutionalisiert.
D o k u m e n t 1: Die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der phonetischen Wissenschaften, Amsterdam 1932 E m p f a n g im Vondelpark Pavillon. (P. J. Meertens-Instituut, Amsterdam)
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus": Diskussionen um die These von der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption Glaubte man den landläufigen Darstellungen zur Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft, so wäre die weltweite Erfolgsgeschichte des Prager Strukturalismus gerade an Deutschland lange Zeit mehr oder weniger spurlos vorübergegangen. Uberblicksartikel und Gesamtdarstellungen zur Entwicklung der Sprachwissenschaft im allgemeinen, zur deutschen Sprachwissenschaft im besonderen oder aber zur Entwicklung des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus wiederholen seit einigen Jahrzehnten bis in die Gegenwart hinein in häufig ähnlichen Argumentationsmustern, dass die Entfaltung der strukturalen Sprachwissenschaft — und damit auch die des Prager Strukturalismus - von der zeitgenössischen deutschen Sprachwissenschaft zwischen den Weltkriegen nicht rezipiert worden sei. So unterstreicht Klaus Hansen in einem der ersten Uberblicksartikel der Nachkriegszeit über „Wege und Ziele des Strukturalismus", Deutschland habe sich bislang „beharrlich aus der Diskussion [um den Strukturalismus] herausgehalten" (Hansen 1958: 341): Die Gründe hierfür sind einmal darin zu suchen, daß die deutsche Sprachwissenschaft in beträchtlichem Maße noch immer in der für sie so stolzen Tradition der Junggrammatiker verharrt [...], zum anderen darin, daß sie während des zweiten Weltkriegs und zum Teil schon vorher isoliert dastand, (ebd.: 341-342)
Hansen beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Behauptung von Wolfgang Steinitz, de Saussures Cours de linguistique generale sei „bis zur deutschen Übersetzung [1931] faktisch den deutschen Sprachwissenschaftlern unbekannt geblieben und auch danach wenig benutzt worden" (Steinitz zit. ebd.: 343). Diese Darstellung wird etwas später mit ausdrücklicher Einbeziehung des Prager Strukturalismus auch in Westdeutschland bekräftigt. Eberhard Zwirner verweist 1967 in einer Diskussion über die Verbindung von „Strukturalismus und Sprachinhalts forschung" auf die mehr als 30 Jahre, die zwischen der beginnenden Prager Phonologie, der Hjelmslevschen Glossematik und den frühen amerikanischen Arbeiten zum Strukturalismus vergangen sind, ohne daß sie in Deutschland — mit verschwindenden Ausnahmen (Elise Richter, Wien; A. Schmitt usw.) - überhaupt zur Kenntnis genommen worden sind. (Zwirner 1967: 412)
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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Auch nach Peter von Polenz haben „de Saussures Lehren in den meisten anderen Ländern [...] stark gewirkt", in Deutschland aber hätten „viele deutsche Germanisten von ihnen lange Zeit keine Kenntnis genommen" (Polenz 1968: 145). „Die Zeit des Dritten Reiches" sei „einer Öffnung der deutschen Germanistik für linguistische Methoden des Auslandes nicht günstig" gewesen (Polenz 1967: 293). Die späten sechziger Jahre beschreibt v. Polenz als „Zeit einer methodischen Neubesinnung" (ebd.), es sei daher nun „dringend geboten", dass die deutsche Germanistik das Versäumte endlich „nachholt" (Polenz 1968: 145). Harald Weinrich bestätigt, „daß der Strukturalismus, von einigen Ausnahmen abgesehen, in Deutschland mit einigen Jahrzehnten Verspätung Fuß gefaßt hat" (Weinrich 1971 [1969]: 182). Weinrich begründet diese Verspätung „vor allem mit der Isolierung Deutschlands in der Hitler-Zeit", erwähnt aber außerdem, dass die endlich begonnene Strukturalismusrezeption in Deutschland „gegen den heftigen Widerstand der historischen Schule durchgesetzt" werden müsse (ebd.). Am Ende der sechziger Jahre gelten Strukturalisten auch nach Harro Stammerjohann in der deutschen Sprachwissenschaft „noch immer als Neuerer, wenn nicht als Störenfriede" (Stammerjohann 1969: 160), der Strukturalismus habe in Deutschland erst nach dem zweiten Weltkrieg seine Geschichte begonnen: Weder die deutschen Besprechungen des Cours [de linguistique generale] bei seinem Erscheinen 1916 noch die deutsche Ausgabe des Buches 1931 [...] beeinflußten die deutsche Sprachwissenschaft, genausowenig wie die
deutschsprachige Erstausgabe der Grund^üge [der Phonologie] 1939 und die Beziehungen Karl Bühlers und Eberhard Zwirners zum Prager Kreis, (ebd.: 161)
Stammerjohann fasst dabei die verschiedentlich schon vorher angeführten Erklärungen der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption zu einem lange Zeit mustergültigen Komplex von Begründungen zusammen: Diese Verspätung ist durch drei Umstände bedingt oder wenigstens mitbedingt: durch die Isolierung der deutschen Wissenschaft während der Nazizeit, durch die große indogermanistische Tradition in der deutschen Sprachwissenschaft und durch die übermächtige Stellung der sogenannten ,Sprachinhaltsforschung'. (ebd.: 160)
Der hier erreichte Diskussionsstand ging mit verschiedenen Modifikationen und Abstrichen auch in die umfassenden Darstellungen der allgemeinen Fachgeschichte ein, die seit den späten sechziger Jahren erschienen. Hans Arens schreibt in seiner zweibändigen Geschichte der Sprachwissenschaft von 1969, man habe sich in Deutschland „erst ziemlich spät" (Arens 1969: 443) mit dem Werk de Saussures befasst. Schon die Tatsache, dass der Cours erst 1931 ins Deutsche übersetzt worden sei, „beweist, daß die deutsche Indogermanistik den neuen Lehren nicht aufgeschlossen
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1 Einführung
war" (ebd.). Robert H. Robins Ideen- und Problemgeschichte der Sprachwissenschaft sieht ebenfalls in der Fachtradition der deutschen Sprachwissenschaft das größte Hemmnis, das eine Ausbreitung deskriptiver Ansätze im Gefolge des Strukturalismus noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verzögerte: Die festbegründete historische Tradition an den deutschen Universitäten mag ein Faktor sein, der für die vergleichsweise späte vollständige Ausformung der deskriptiven Linguistik in diesem Lande verantwortlich war. (Robins 1973: 84)
Gerhard Helbigs Geschichte der neueren Sprachwissenschaft begründet die Tatsache, dass man in Deutschland gegenüber den Gedanken de Saussures „in besonderem Maße zurückhaltend" gewesen sei, in enger Anlehnung an Formulierungen Klaus Hansens (s.o.): Das beruht einmal auf dem noch längeren Beharren auf der für Deutschland so stolzen Tradition der Junggrammatiker, zum anderen auf der zunehmenden Isolierung der deutschen Wissenschaft während des Faschismus und erst recht während des 2. Weltkrieges. (Heibig 1973 [1967]: 34)
Wie Hansen bzw. Steinitz sieht Heibig in der späten deutschen Ubersetzung von de Saussures Cours und deren geringen Verkauf ein Symptom für die deutsche „Isolierung", Saussures Werk sei in Deutschland „erst seit den 50er Jahren richtig beachtet" (ebd.) worden. Auch Konrad Koerner spricht in seinem Saussure-Buch von der „delayed reception of Saussure in Germany", zu dieser Verspätung sei es gekommen, weil die deutschen Sprachwissenschafder „had been too confident about their achievements in the 19th century to abandon important aspects of the neogrammarian doctrine" (Koerner 1973: 214). Jiri Krämskys klassische Darstellung der Geschichte der Phonologie zeichnet für die deutsche Rezeption speziell des Prager Strukturalismus ein ähnliches Bild: It is understandable that German linguistics in its strong young-grammarian tradition has so long resisted the new structuralistic trend, especially as far as the phoneme theory is concerned. (Krdmsky 1974: 220)
Im Jahr 1978 widmete Wolf-Dieter Stempel der „Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus in Deutschland" (Stempel 1978: Titel) eine eigene, wenn auch sehr schmale Monographie. Stempels für lange Zeit differenzierteste Darstellung zur frühen deutschen Strukturalismusrezeption benennt und untersucht erstmals eine Reihe von deutschen Sprachwissenschaftiern, die sich schon in der Zwischenkriegszeit den internationalen Strömungen der strukturalen Forschung angenähert hätten, und widerspricht damit ausdrücklich der landläufigen Hypothese, dass „der Strukturalismus zu dieser Zeit in Deutschland unbekannt gewesen sei" (Stempel 1978: 1). Auch Stempel stellt aber fest, der Strukturalismus habe im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre nicht „schulbildend ge-
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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wirkt" und begründet diese „Abstinenz" ähnlich wie frühere Darstellungen: [...] schien das Gewicht der glorreichen Tradition der deutschen Sprachwissenschaft des 19. Jhs. doch zu erdrückend gewesen zu sein, als daß die Möglichkeit einer Neuorientierung hätte verfolgt werden können. Aber auch selbst da, wo neue Wege gesucht wurden, geschah das im Einklang mit traditionellen Wertvorstellungen, die konsequent preiszugeben nicht emstlich erwogen werden konnte, (ebd.) Die in Teilen von bislang gängigen Annahmen abweichende Sicht Stempels hat allerdings kaum Eingang in historiographische Gesamtdarstellungen gefunden. Eugenio Coserius fachgeschichtlich aufgebaute Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft prägte 1988 die griffige Formel vom „Land ,ohne Strukturalismus'" (Coseriu 1992 [1988]: 165: Anm. 43), die auf Deutschland und Italien bezogen wird, „weil hier der klassische Strukturalismus praktisch unbekannt blieb" (ebd.). In einem Interview füllte der einflussreiche Tübinger Romanist diese Formel später mit einer ganzen Reihe von Einzelbefunden, die sich aber im wesentlichen an früher schon andernorts gegebene Erklärungen der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption anschließen: Deutschland war während des Krieges weitgehend isoliert gewesen, in der Sprachwissenschaft wie in anderen Wissenschaften. [...] Etwas Kennzeichnendes und Symptomatisches war z.B., daß die Travaux de Prague den Preis in Reichsmark hatten, aber in fast keiner Universitätsbibliothek in Deutschland zu finden waren. [...] Deutschland war deshalb auch ein Land ohne Strukturalismus, im Gegensatz z.B. zu Frankreich, wo immerhin Martinet sowohl mit Prag als auch mit Kopenhagen Kontakt gehabt hatte, mit Kopenhagen sogar direkt. (Kabatek/Murguia 1997: 106) Auch Saussure war in Deutschland nicht gut bekannt; es gab diese alte Ubersetzung und einige Kontakte, vor allem über Jost Trier. Trier war der erste, der einiges von Saussure nach Deutschland gebracht hat [...] Ansonsten war die Indogermanistik dominant, Lehrstühle für Allgemeine Sprachwissenschaft gab es nicht, (ebd.: 108) [...] aber die Deutschen ignorierten sogar die guten Einführungen [zur Indogermanistik], und es erscheint kein nicht-deutscher Name in der indogermanischen Sprachwissenschaft etwa bei [Hans] Krähe; nicht einmal Meillet wird zitiert, von den Italienern ganz zu schweigen. Es gab diese Art Chinesische Mauer, und das war wahrscheinlich nicht nur in der Indogermanistik so. Das war zum Teil auch vielleicht ein gewisser Nationalstolz und eine bestimmte Tradition, so daß man glaubte, die eigene Tradition sei doch die allerbeste, (ebd.: 114)1 1
Es sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die unter dem anspruchsvollen Titel Die Sachen sagen, wie sie sind veröffentlichten Einzelbefunde Coserius teilweise erheblich zu relativieren sind. Zur Frage der Verfügbarkeit der Travaux in deutschen Bibliotheken vgl. 3.3, zu den angeblich spärlichen, bzw. allenfalls über Jost Trier ver-
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Der im übrigen sehr gelungene „forschungsgeschichtliche Überblick" (Albrecht 1988: Titel) zum europäischen Strukturalismus des CoseriuSchülers Jörn Albrecht beurteilt die Frage einer frühen deutschen Strukturalismusrezeption ebenfalls ganz im Rahmen bekannter Argumentationen. Die historische Verspätung dieser Rezeption sei zwar „ganz so schlimm [...] wohl doch nicht gewesen", es lasse sich aber „nicht bestreiten, daß es sie gegeben hat" (ebd.: 1-2). Albrecht greift bei der Erklärung dieser Verspätung ausdrücklich die dreigliedrige Begründung wieder auf, die Stammerjohann schon zwanzig Jahre zuvor gegeben hatte: Als Gründe dafür werden von verschiedenen Autoren genannt: 1. Das erdrückende Prestige der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, insbesondere in ihrer junggrammatischen Form; 2. die ,Scheinbefriedigung strukturalistischer Bedürfnisse' durch die Trier-Weisgerber-Schule und schließlich 3. die weitgehende Isolierung des Landes zur Zeit des Nationalsozialismus, (ebd.: 2)
Albrecht übernimmt diese Darstellung wörtlich auch in die zweite „völlig überarbeitete und erweiterte Auflage" seines Buches aus dem Jahr 2000 (Albrecht 2000: 2)2. Noch aktueller ist eine Darstellung Norbert Nüblers, der die Rezeption des Prager Strukturalismus als Beispiel dafür vorstellt, dass in dem traditionell westlich orientierten deutschen Wissenschaftsraum „die aus dem Osten kommenden Impulse oft nicht wahrgenommen" (Nübler 2001: 73) wurden. Im Falle des Prager Strukturalismus bringt Nübler wieder die Isolations-These zur Geltung, die er allerdings auch auf die Zeit nach 1945 ausdehnt. Der Prager Strukturalismus wurde nach Nübler in Deutschland weitgehend übersehen oder ignoriert. Erst auf dem Umweg über den angelsächsischen, in geringerem Ausmaß auch über den französischen Raum, konnten bahnbrechende Thesen des ,Prager Strukturalismus' auch in Deutschland Fuß fassen. Eine Erklärung hierfür mögen die totalitären Regime bieten, die in Deutschland und in der Tschechoslowakei den internationalen Wissensaustausch erschwerten, (ebd.)
Peter Matthews' unlängst erschienene Short history of structural linguistics charakterisiert den Entwicklungsstand des internationalen Strukturalismus in den vierziger Jahren wie folgt:
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mittelten direkten Kontakten deutscher Sprachwissenschaftler zu strukturalistischen Schulen im Ausland vgl. 3.4 und 5.4. In 3.4 werden auch eine Reihe deutschsprachiger Indogermanisten genannt, die sich in ihren Arbeiten sehr wohl auf strukturalistische Publikationen bezogen. Unterdessen erschien mit Andreas Gardts Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland eine weitere wissenschaftsgeschichtliche Gesamtdarstellung. Das Buch enthält zwar ein Kapitel über de Saussure und die Schulen des Strukturalismus, in dem aber ungeachtet des Gesamttitels mit keinem Wort auf die Entwicklung in Deutschland eingegangen wird, vgl. Gardt (1999: 289-301).
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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Structuralist schools were not established equally in all countries: scarcely at all, for example, in Italy or Germany. But in the United states especially to be ,a linguist' was increasingly to be a structuralist. (Matthews 2001: 52)
Wie es zu den Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung in den verschiedenen Ländern kam, wird bei Matthews nicht erörtert. Damit ist meine knappe Skizze zu Entwicklung und Ausgestaltung der ,Verspätungs-Hypothese' über ihre wichtigsten Stationen in der Gegenwart angelangt. Viele ähnliche Aussagen anderer Autoren hätten das Bild noch verdichten, kaum aber wesentlich verändern können. Auffällig ist gerade, mit welcher Gleichförmigkeit seit fast fünfzig Jahren der immergleiche Befund getroffen und die immergleichen Erklärungen dieses Befundes gegeben werden. Man kann wohl davon ausgehen, dass die hier in chronologischem Abriss vorgestellten Ansichten über den Strukturalismus in Deutschland heute opinio communis jedenfalls all der Fachvertreter sind, die sich nicht eigens mit Detailforschung zur Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit beschäftigt haben. Ergebnisse historiographiseher Einzeluntersuchungen, die, angefangen bei WolfDieter Stempel (1978), vor allem seit den achtziger Jahren der Verspätungshypothese partiell zuwiderlaufen, oder Stimmen, die dieser Hypothese sogar ausdrücklich widersprechen (wie z.B. Thilo 1989), haben die kanonischen Ansichten über den Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft bisher nicht nachhaltig irritieren können. 3 Einer der Gründe, weshalb die These von der Verspätung der deutschen Strukturalismusrezeption bis heute so breite Zustimmung erfahren kann, liegt in ihrer Unscharfe. Sie umfasst eine ganze Bandbreite von beispielhaft angeführten Teilbefunden, die von der schlichten Unkenntnis strukturalistischer Texte in Deutschland bis hin zum Fehlen einer eigenen deutschen Schule des Strukturalismus reicht. Es sind also Belege recht unterschiedlichen Charakters, die — häufig von ein und demselben Autor — zusammen getragen werden, um die einhellige Diagnose einer deutschen Entwicklungsverspätung zu stützen. Im folgenden Abschnitt 1.3 wird daher begrifflich zu klären sein, was unter Rezeption und Nicht-Rezeption sinnvollerweise zu verstehen ist bzw. welche Teilaspekte des komplexen Rezeptionsvorganges im Einzelnen zu untersuchen und zu beurteilen sind, 3
Neben den erwähnten Monographien von Stempel (1978) und Thilo (1989), die eigens der deutschen Strukturalismusrezeption galten, sind hier an erster Stelle Gerd Simon und Utz Maas zu nennen, die die Sprachwissenschaft im Nationalsozialismus erstmals zum Gegenstand systematischer Erforschung machten. In neuerer Zeit vor allem die Arbeiten von Frank-Rutger Hausmann, Clemens Knobloch, sowie das Buch von Christopher Hutton (1999). Auf all diese, hier nur summarisch genannten Arbeiten, denen meine eigene Untersuchung vielfältige Anregungen verdankt, wird im Verlauf meiner Studie immer wieder einzugehen sein, vgl. auch das Literaturverzeichnis.
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wenn die Frage nach einer deutschen strukturalen Sprachforschung vor 1945 gestellt ist. Ausdrücklich heterogen sind auch die Erklärungen, die für die 2Ögerliche Durchsetzung des Strukturalismus in Deutschland gegeben werden. Hier werden in der Regel einerseits fachimmanente Faktoren und andererseits eine allgemeine politische Bedingung geltend gemacht und zu einem maximal dreigliedrigen Begründungszusammenhang kombiniert. Die deutsche Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit wird nach diesen Darstellungen in einen Wissenschaftsraum verlegt, der durch politische Barrieren von der Außenwelt abgeschottet und damit von der Teilnahme an der internationalen Fachdiskussion abgeschnitten ist. Der Innenraum dieser Sprachwissenschaft werde beherrscht durch ihre einheimische Fachtradition, die bis zum Aufkommen strukturaler Tendenzen international maßgebend war, in ihrem Ursprungsland aber weiterhin keinen Platz für methodologische und sprachtheoretische Neuerungen gelassen habe. Eine deutliche Minderzahl von Autoren rückt neben dieser vorherrschenden Fachtradition als einzige nennenswerte Neuentwicklung in Deutschland die Sprachinhaltsforschung in den Blick, die aber als unoder nur „scheinstrukturalistisch" einer Rezeption internationaler Entwicklungen ebenfalls abträglich gewesen sei. Die These der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption ist also aufs engste mit einem festen Bild vom Stand der deutschen Sprachwissenschaft der zwanziger bis vierziger Jahre verbunden. Aus diesem Grund bietet die Frage nach Existenz und Verlauf einer frühen Strukturalismusrezeption einen weitreichenden historiographischen Schlüssel zur jüngeren Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft. In diesem Sinne ist meine Untersuchung zu Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft in erster Linie ein Beitrag zur deren Fachgeschichte in der Zeit zwischen den zwanziger und vierziger Jahren, und erst in zweiter Linie auch eine Studie über die Entwicklung der Prager Schule der Linguistik unter rezeptionsgeschichtlichem Gesichtspunkt. Natürlich würde sich die Wahl eines solchen Untersuchungsgegenstandes erübrigen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es entgegen den landläufigen Ansichten im fraglichen Zeitraum sehr wohl eine deutsche Strukturalismusrezeption von nennenswertem Umfang gegeben hat, über die zu berichten sich lohnt. Und dass dementsprechend gegenüber den kanonischen Begründungen für die Verspätungsthese die verschiedenartigsten Zweifel angebracht sind, die das festgefügte Bild der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit zumindest in Teilen fraglich erscheinen lassen. Die immer wiederholte Diagnose vom „Land ohne Strukturalismus" ist dabei nicht schlechterdings grundfalsch, sie ist aber insgesamt so ungenau und vor allem in ihrer Begründung so irreführend, dass sie den Zu-
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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gang zur Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft eher verstellt als erhellt. Wenn die scheinbar geklärte Frage einer frühen Rezeption des Strukturalismus hier wieder aufgenommen wird, kann es, wie schon WolfDieter Stempel sagte, „nicht darum gehen, [...] unversehens eine positive Bilanz vorzulegen" (Stempel 1978: 1) und den kanonischen Darstellungen der letzten fünfzig Jahre ein einfaches Umkehrbild entgegen zu halten. Die These vom ausgebliebenen Strukturalismus in Deutschland ist beispielsweise dort im Recht, wo sie die mangelnde Herausbildung einer eigenen, auf der Basis strukturaler Methoden arbeitenden linguistischen Schule in der Zwischenkriegszeit betrifft. Der neue Forschungsansatz ist im deutschen Sprachraum damals nirgends von einer ganzen „groupe scientifique" zur methodischen Richtschnur gewählt worden. Selbst die durchaus zahlreichen Wiener Schüler Trubetzkoys formierten wohl keine kohärente Richtung, die den linguistischen Zirkeln in Genf, Prag und Kopenhagen auch nur annähernd geglichen hätte.4 Auch die internationale phonologische Arbeitsgemeinschaft hatte zwar eine ganze Reihe deutschsprachiger Mitglieder, anders als in anderen Ländern ist die Initiative zur Bildung von nationalen Sektionen der Arbeitsgemeinschaft in Deutschland bis zum Ende der dreißiger Jahre aber nie wirklich aktiv umgesetzt worden (vgl. 2.3 und 4.2). In den USA dagegen hatte die Landessektion der von Prag aus koordinierten phonologischen Arbeitsgemeinschaft 1939 bereits etwa fünfzig, in Frankreich etwa zwanzig organisierte Mitglieder (Martinet 1939: 511).5 Aktive Protagonisten des Prager Strukturalismus verfolgten daher schon in der Zeit zwischen den Kriegen den Verlauf seiner Rezeption im deutschen Sprachraum mit Ungeduld. Ihre Zustandsbeschreibungen und Erklärungen für die vergleichsweise schleppende Umsetzung strukturaler Tendenzen weichen aber zum Teil erheblich von denen ab, die uns die 4 5
Das wissenschaftliche Umfeld Trubetzkoys in Wien wäre gleichwohl im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte des Strukturalismus ein wirklich lohnender Forschungsgegenstand. Dass allerdings die Bildung einer strukturalistischen Schule oder die organisatorische Formierung strukturaler Forschung allein noch recht wenig über den Stand der Rezeption aussagen, kann der Vergleich mit den Niederlanden zeigen. Auch dort gab es weder eine dem Prager oder Kopenhagener Zirkel entsprechende Institutionalisierung des strukturalistischen Ansatzes noch eine aktive Landessektion der phonologischen Arbeitsgemeinschaft. Gleichwohl fand hier die Phonologie mit Jacobus van Ginneken, Albert Willem de Groot, Nicolaas van Wijk und dem Sprachphilosophen Hendrik J. Pos sehr früh international einflussreiche Vertreter. Zu de Groot und seinen Schülern vgl. Velde v. d. (1966). Trotz des zunehmenden historiographischen Interesses an J. v. Ginneken ist offenbar noch nicht eigens untersucht, „in hoeverre Van Ginneken [...] als een echt structuralistisch taalkundige te typeren is" (Noordegraaf / Foolen 1996: 29). Einen wichtigen Beitrag zur Frage der niederländischen Strukturalismus-Rezeption bietet Daalder (1999), die die Beziehungen zwischen Pos und der Prager Schule sehr eingehend analysiert.
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Rückblicke aus der Zeit nach 1945 vermitteln wollen. Nikolai Trubetzkoy beispielsweise war in seinem ehrgeizigen Sendungsbewusstsein zwar selten einmal wirklich zufrieden mit der Akzeptanz der Phonologie in der internationalen Fachöffentlichkeit, die Verhältnisse in Deutschland enttäuschten ihn aber offenbar besonders. So berichtete er im März 1935 Roman Jakobson in einem Brief über das Buch Kaspar Roggers Vom Wesen des Lautwandels (Rogger 1934), Rogger habe ihm das Buch geschickt und in einem Begleitschreiben dazu bedauert, dass er bei der Abfassung des Textes die Phonologie nur aus den Kongressakten des zweiten internationalen Linguistenkongresses gekannt habe. Inzwischen sei er aber „ein Anhänger der Phonologie" [craA cropoHHHKOM φοποΛοΐΉΐι] (Trubetzkoy 1975: 332) geworden. Trubetzkoy hielt das Buch unter anderem wegen der spärlichen Berücksichtigung der phonologischen Literatur für „nicht besonders gelungen" (ebd.): Ho
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Trubetzkoy zeichnet mit seinem Hinweis auf die Traditionsgebundenheit der deutschen Sprachwissenschaft schon eine der später kanonischen Begründungen für den Topos vom „Land ohne Strukturalismus" vor. Neben der junggrammatischen Tradition sind es für Trubetzkoy aber auch noch zwei „andere Wege", die das Bild der zeitgenössischen deutschen Sprachwissenschaft bestimmten und im Neoidealismus und der Wörter-undSachen-Forschung Einfluss gewannen. 6 Beide Richtungen, die schon vor dem ersten Weltkrieg mit radikal antitraditionellen Programmen hervorgetreten waren, fügen sich nicht in die Vorstellung einer unbeirrten Dominanz des junggrammatischen Forschungsparadigmas. 7 In Trubetzkoys 6
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Selbstverständlich ist der ,Querdenker' Hugo Schuchardt nicht auf den Wörter-undSachen-Ansatz zu beschränken, sondern ist mit seinen kritischen Äußerungen zur Junggrammatik zum Gewährsmann auch für andere Modernisierer in der deutschen Sprachwissenschaft geworden. Die insbesondere von Rudolf Meringer beförderte Wörter-und-Sachen-Forschung kann sich aber zu Recht auf einige programmatische Texte Schuchardts berufen, vgl. Heller (1998: 13 ff.). Bemerkenswerterweise geht Trubetzkoy weder hier noch an anderer Stelle in seinem erhaltenen Briefwechsel mit Jakobson auf die Sprachinhaltsforschung ein, die im Zusammenhang mit der Verspätungsthese gelegentlich als einzige Alternative zur junggrammatischen Tradition genannt wird, vgl. Trubetzkoy (1975).
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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abfälliger Äußerung über den „unfruchtbaren Theoretismus" dieser Richtungen formuliert sich immerhin die Enttäuschung, dass in Deutschland gerade auf methodisch-analytischem Gebiet für ihn akzeptable Alternativen zur traditionellen Sprachforschung fehlten. Insgesamt zeigt die kurze Briefpassage zu Kaspar Rogger aber schlaglichtartig, dass es für deutsche Sprachwissenschaftler offensichtlich auch nach 1933 keineswegs unüblich war, in direkten Kontakt mit Vertretern des internationalen Strukturalismus zu treten und mit ihnen fachlichen Austausch zu suchen. Rogger, der sich demnach zwischenzeitlich sogar als Anhänger der internationalen Strömungen stilisierte, legte noch 1941 einen äußerst umfangreichen „Kritische [n] Versuch" über de Saussure und die Phonologie vor, der in der für ihr Fach zentralen Zeitschrift für romanische Philologie veröffentlicht wurde (Rogger 1941). All dies Details, die nicht recht zu der These passen wollen, der Strukturalismus sei von der deutschen Fachöffentlichkeit seinerzeit ignoriert worden. Eine andere Stimme, die schon damals die zögerliche Aufnahme strukturaler Anregungen aus dem Ausland beklagte, kam denn auch aus Deutschland selbst. Der Leipziger Germanist Henrik Becker stand spätestens seit 1925 in langjährigem Kontakt mit Prager Linguisten und hatte, da er bei der Gründungsversammlung des Linguistik-Zirkels einen Vortrag hielt, „die Geburtsstunde der strukturalen Sprachwissenschaft tätig miterlebt" 8 . Am 30.3.1937 schilderte er den Stand der deutschen Strukturalismusrezeption in einem Brief an Vilem Mathesius wie folgt: Leider mehrt sich die Teilnahme für die funktional-strukturale Sprachforschung bei uns immer noch nicht. Dabei wäre aber eine allgemeine Empfänglichkeit vorhanden; jeder Einzelne bezeugt Interesse und Geneigtheit. Ich frage mich manchmal, welcher Art die Demonstration sein müßte, die da helfen könnte. Ich denke doch, daß einmal über die Thesen hinaus, die doch irgendwie die deutschen Gelehrten nicht erfaßt haben, eine 'Prinzipienlehre' erscheinen müßte. Und zwar brauchte diese auf der einen Seite nicht so eingehend zu sein wie die Thesen, die doch Endgültiges zu geben versuchen. Auf der anderen Seite müßten sie weiter ausholen als jene, besonders weit über die Phonologie hinaus.9 Vier Teilaussagen seien hier herausgehoben: zunächst Beckers Vermutung, der starke phonologische Akzent der Prager Schule könnte von der deutschen Sprachwissenschaft als zu eng angesehen werden. Die Konzentration auf die Erforschung der Lautebene teilte der Prager Strukturalismus ja mit der Junggrammatik, und sie musste Antitraditionalisten wie Becker daher unbefriedigend erscheinen. Im Zentrum der Briefpassage 8 9
Becker (1965: 164), zum Verhältnis zwischen Becker und dem Prager Zirkel vgl. Abschnitt 4.1. Zweiseitiger handschr. Brief „Leipzig, am 30.3.1937" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18), in Kopie wiedergegeben im dokumentarischen Anhang zu Abschnitt 4.1.
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steht natürlich der Befund, dass knapp zehn Jahre nach dem ersten internationalen Auftritt des Prager Strukturalismus dessen sprachwissenschaftlicher Ansatz in Deutschland immer noch wenige aktive Anhänger gefunden habe. Und drittens ist Beckers Eindruck festzuhalten, es sei bei,jedem einzelnen' deutschen Sprachwissenschaftler gleichwohl „Interesse und Geneigtheit" vorauszusetzen. Viertens wird deutlich, dass Becker „Interesse und Geneigtheit" seiner Fachkollegen gegenüber dem Strukturalismus immerhin für so groß hält, dass er die geringe Wirkung des Prager Ansatzes als reines Problem der Darstellungsweise, einer irgendwie ungeschickten „Art der Demonstration", interpretiert. Er schlägt Mathesius daher als eine Art Werbemaßnahme die Versendung eines Katalogs mit einigen methodologischen „Grundfragen" vor, der an „alle in Frage kommenden Gelehrten" verteilt werden sollte: Wie kann man eine Sprache so erfassen, daß ihre Eigenart vielseitig beleuchtet und lebendig herausgearbeitet wird? Wie pflegen Sie die Syntax anzuordnen? Welche Zweige der Sprachwissenschaft müßten nach Ihrer Ansicht ausgebaut werden? Gäbe eine solche Befragung (natürlich in systematischer Anordnung der Fragen) nicht eine hübsche Grundlage zu einem Band der Travaux, der für manche Menschen vielleicht mehr werbende Kraft hätte als die anderswo so erfolgreichen Thesen. Persönlich ziehe ich ja die Thesen vor, aber es gibt eben doch verschiedene Menschen. Und eine methodische Umfrage brächte wohl den Austausch neu ins Rollen.
Anders als in späteren Darstellungen wird in diesem erstrangigen Dokument zur Rezeptionsgeschichte des Strukturalismus die Beobachtung, dass die strukturalen Anregungen „doch irgendwie die deutschen Gelehrten nicht erfaßt haben", nicht auf deren Unkenntnis und Desinteresse zurückgeführt. Im Gegenteil, Beckers geplante Umfrage zur strukturalen Sprachforschung rechnet geradezu mit weit verbreitetem „Interesse und Geneigtheit" unter den deutschen Fachkollegen seiner Zeit. In der Tat ist das Problem einer frühen deutschen Strukturalismusrezeption viel eher in einem Spannungsfeld zwischen „allgemeiner Empfänglichkeit" und gleichwohl nur eingeschränkter „Teilnahme" anzusiedeln als im Bannkreis politischer Isolation und alles beherrschender Fachtradition. Die aus ,Prager Sicht' enttäuschende Teilnahme der deutschen Fachkollegen an der internationalen strukturalistischen Bewegung ist unter Voraussetzung unangemessener Annahmen über die zeitgenössische deutsche Sprachwissenschaft nicht nur nicht treffend zu erklären, sie ist unter diesen Voraussetzungen nicht einmal präzise zu beschreiben. Auch im Licht anderer zeitgenössischer Texte und Quellen erscheinen die bis heute angebotenen Erklärungen für die angeblich lange ausblei-
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bende Rezeption des Strukturalismus in Deutschland nicht recht stichhaltig. Seit den achtziger Jahren hat daher auch die historiographische Forschung zur Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit eine Fülle von Erkenntnissen erbracht, die ein anderes Bild vom damaligen Stand des Faches ergeben. Diese Ergebnisse seien hier in aller Kürze angeführt, soweit sie für die Frage der frühen deutschen Strukturalismusrezeption relevant sind. Betrachten wir zunächst die These einer „weitgehende[n] Isolierung des Landes zur Zeit des Nationalsozialismus" (Albrecht 2000: 2). Zwar klagte ein Zeitgenosse wie Leo Spitzer über den „Abbau der wissenschaftlichen Solidarität" (Spitzer 1938: 473) insbesondere im deutschfranzösischen Verhältnis und über die „fast allenthalben zu verfolgende^..] Nationalisierung der Wissenschaft" (ebd.). Für Spitzer beginnt die wissenschaftliche Entfremdung Deutschlands von seinen Nachbarn aber schon mit der „Absperrung" des Landes im Ersten Weltkrieg: Die verschiedenen wissenschaftlichen Milieus haben sich angewöhnt, autarkisch ohneeinander auszukommen und viribus dtvisis zu arbeiten. Die Saussuresche Richtung hat sich nach dem Krieg zu einer nationalfranzösischen, die A^oßlersche zu einer deutschen entwickelt; [...]. (Spitzer 1927: 297, Fußnote 2) Auch wenn für Zeitgenossen nach dem Ersten Weltkrieg eine zunehmende Nationalisierung und damit eine Entflechtung der europäischen Wissenschaftsräume spürbar war, mündete diese politisch induzierte Entwicklung auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht in einen Zustand völliger „Isolierung" Deutschlands. 10 Vielmehr kann für die zwanziger Jahre, aber auch für die Zeit nach 1933 und selbst für die Jahre nach 1939 „von einer Abschottung der deutschen Sprachwissenschaft nicht die Rede sein" (Maas 1988: 263): Am deutlichsten sprechen dafür die Literaturüberblicke bzw. die Rezensionsteile der Zeitschriften. Dort ist die strukturalistische Diskussion selbstverständlich präsent, auch in den Kriegsjahren, (ebd.: 269) Die .nationalfranzösische' ebenso wie strukturale Richtungen aus anderen Nationen wurden in Deutschland in ihrer Entwicklung aufmerksam verfolgt. Nicht nur Rezensionsrubriken und Forschungsberichte verzeichneten die ausländischen Publikationen „umfassend und erstaunlich aktuell" (ebd.: 263). Wo immer methodische Fragen zur Debatte standen, nahmen deutsche Sprachwissenschaftler auf Veröffentlichungen wie die von de Saussure, Charles Bally, Nikolai Trubetzkoy oder Viggo Brondal selbstver-
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Zu dieser Entwicklung, die natürlich für die Romanistik besondere Bedeutung hatte, vgl. Hausmann (2000: 661). Auch nach Hausmann waren aber „die Kontakte zwischen der deutschsprachigen Romanistik und der Romania [...] nie ganz abgerissen" und wurden in der Zwischenkriegszeit überdies „wieder neu geknüpft" (ebd.: 323).
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ständlichen Bezug. 11 Auf den internationalen Fachkongressen stellten die deutschen Teilnehmer überdies die gesamten dreißiger Jahre hindurch regelmäßig eine der größten Landesgruppen (Thilo 1989: 141-142). Auch in der Zeit des Nationalsozialismus machten deutsche Sprachwissenschaftler also von der Gelegenheit, auf diesen internationalen Foren mit ausländischen Kollegen in Diskussion zu treten, reichlich Gebrauch. Uberhaupt ist die Reisetätigkeit deutscher Professoren und der Wissenschaftsaustausch mit dem Ausland nach der Machtübernahme keinesfalls eingestellt, sondern bis in die Kriegsjahre hinein aus kulturpolitischen Erwägungen sogar zum Teil zu einem „intensiven Kunst- und Wissenschaftstourismus" (Hausmann 2000: 426) forciert und über die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Ausland schließlich institutionalisiert worden. 12 Ich werde im dritten Kapitel dieser Arbeit weitere Belege dafür bringen, dass die deutsche Sprachwissenschaft gegenüber den Wissenschaftsentwicklungen im Ausland keineswegs „isoliert" war. Mit Blick auf zeitgenössische Veröffentlichungen wie auf neuere historiographische Untersuchungen ist auch die verbreitete Annahme zu relativieren, „das erdrückende Prestige der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, insbesondere in ihrer junggrammatischen Form" (Albrecht 1988: 2), habe eine verspätete Rezeption des Strukturalismus in Deutschland bedingt. Selbstverständlich ist bei wissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen mit einer großen Trägheit der wissenschaftlichen Institutionen (z.B. der Profilierung der Lehrstühle oder der Auslegung laufender Forschungs- und Editionsprojekte) zu rechnen. Und natürlich sedimentieren sich wissenschaftliche Traditionen nicht zuletzt in der langfristigen Besetzung akademischer Positionen. Es ist also in der Tat davon auszugehen, dass das Forschungsparadigma der Junggrammatik gerade in Deutschland noch weit bis in die zwanziger und dreißiger Jahre hineinwirkte. 13 Eugen Seidel, der im Exil Mitglied des Prager Linguistik-Zirkels 11
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Zur durchaus breiten Rezeption und Wirkung de Saussures in Deutschland, die keineswegs auf die immer wieder beschworene deutsche Ubersetzung des Cours angewiesen war, vgl. im Einzelnen die Dissertation Thilos (1989), die leider ohne Folgearbeiten des Autors geblieben ist. Am Beispiel der regen Reisetätigkeit Hugo Friedrichs zeigt Hausmann, dass „ein wohlbestallter romanistischer Hochschullehrer [...] selbst im ,Dritten Reich' international nicht völlig isoliert" war (ebd.: 190 und ff.). Zu den Deutschen Wissenschaftlichen Instituten legte Hausmann vor kurzem eine materialreiche Gesamtdarstellung vor, Hausmann (2001b). Maas weist darauf hin, dass die junggrammatische Richtung auch im 19. Jahrhundert „nie den Rang eines unumstrittenen ,Normal-Paradigmas'" (Maas 1988: 29) hatte, sondern immer in Konkurrenz zu älteren philologischen Ansätzen stand. Generell muss die Rede von sprachwissenschaftlichen „Paradigmen" berücksichtigen, „daß innerhalb der Sozialwissenschaften nicht ein einzelnes Paradigma zu einem gegebenen Zeitpunkt die Forschung leitet, sondern es konkurrierende Theorien und Ansätze
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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geworden war (vgl. 5.4), gab daher noch 1943 zu bedenken, dass die positivistische „Einstellung für die Organisation des praktischen Wissenschaftsbetriebes noch heute ihre Bedeutung nicht verloren hat" (Seidel 1943: 15). Dennoch war aber ein großer Teil der deutschen Sprachwissenschaftler schon lange vorher in methodologischer und sprachtheoretischer Hinsicht von der junggrammatischen Tradition abgerückt. Karl Vossler, der noch vor dem Ersten Weltkrieg mit scharfer Polemik gegen diese Tradition hervorgetreten war und nach Meinung seiner Anhänger die deutsche „Sprachwissenschaft revolutioniert hat' (Spitzer 1925: 299)14, sah die einstige Vorherrschaft der Junggrammatiker in Deutschland schon 1928 für definitiv besiegelt an: Der Positivismus, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte, liegt hinter uns und wird in dieser Form so wenig wiederkehren wie die Schule der Neugrammatiker etwa in der Art von Herman Osthoff. (Vossler 1928: 322)
Die öffentliche Selbstreflexion der Sprachwissenschaft und der Philologien war um 1930 nahezu durchgängig geprägt von krisenhaften Symptomen des Zusammenbruchs des traditionellen Paradigmas und von der Suche nach methodologischer Neuorientierung. Als Beispiel für die lange Reihe von Veröffentlichungen zum Notstand der heutigen Sprachwissenschaft (Rogge 1929: Titel) seien die einleitenden Worte aus Eduard Hermanns Lagebericht zum „heutigen Stand der Sprachwissenschaft" zitiert: Keine andere Wissenschaft ist in der Nachkriegszeit so um und umgewühlt worden wie die Sprachwissenschaft. Sie steht in der schlimmsten Krise. Was gestern noch als umumstößliches [sie] Axiom galt, wird heute verlacht, und was gestern noch kaum beachtet wurde, wird heute mit höchstem Interesse betrachtet. Es scheint alles vertauscht. (Hermann 1931b: 145)
Wenn auch Otto Behaghel die deutsche Sprachwissenschaft in eine „Zeit der stärksten Abkehr von dem, was noch vor kurzem für heilig galt" (Behaghel 1928: VIII), versetzt sieht, dann zeigt er sich betroffen gerade darüber, dass die ,alte' Schule der Linguistik, die er selbst vertrat, ihr Prestige jäh und weitgehend eingebüßt hatte. Die öffentliche Diskussion der sprachwissenschaftlichen Fächer ist in der Zwischenkriegszeit also viel
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gibt" (Schmitter 1982: 176). Auch wenn die allgemeine Übertragbarkeit von Thomas Kuhns Paradigmen-Begriff auf die Geschichte der Sprachwissenschaft zu diskutieren ist (vgl. ebd.: 168 ff.), muss doch hervorgehoben werden, dass gerade die Sprachwissenschaft der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ihre Situation vielfach als ,Paradigmenwechsel' im durchaus Kuhnschen Verständnis wahrgenommen und stilisiert hat. Spitzer parallelisiert die Bedeutung Vosslers für die Sprachwissenschaft ebd. sogar mit der Tragweite der französischen Revolution in der Geschichte. Hier handelt es sich übrigens um einen Beleg für die Übertragung des Revolutions-Begriffs auf die Sprachwissenschaftsgeschichte, der viel früher datiert, als die von Koerner (1999) angeführten Beispiele.
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eher durch eine mitunter schrille „Krisenpolyphonie" (Knobloch 2000: 146) gekennzeichnet als durch ein unangefochtenes „Beharren auf der für Deutschland so stolzen Tradition der Junggrammatiker" (Heibig 1973: 3-1)· Neben der junggrammatischen Tradition und zumeist in ausdrücklicher Opposition zu ihr waren „um die Jahrhundertwende eine Fülle von Gegenentwürfen" (Simon 1985: 131) entwickelt worden, „ein weiteres Spektrum an neueren Ansätzen und Fragestellungen [...], als dies heute oft angenommen wird" (Thilo 1989: 152).15 Die Gegenbewegung zur junggrammatischen Tradition beschränkte sich dabei durchaus nicht auf Methodendiskussionen, sondern wirkte früh auch in den universitären Lehrund Forschungsbetrieb hinein. Obwohl beispielsweise Karl Jaberg das radikale Auftreten der Vossler-Schule insgesamt sehr kritisch beurteilte, sieht er „das unbestreitbar große Verdienst Voßlers" „in der aufrüttelnden Wirkung, die dieses Feldgeschrei auf muffig riechende Hochschulseminarien ausgeübt hat" (Jaberg 1926: 4). Die Unzufriedenheit mit dem „mechanisierten Handwerksbetrieb" (ebd.) in der sprachwissenschaftlichen Forschung und Lehre war einer der kräftigsten Impulse für die junge Generation von Sprachwissenschafdern gewesen, gegen die Tradition der Junggrammatik anzugehen. Einzelne Gruppierungen der Neuerer, wie der Neoidealismus oder die Sprachinhaltsforschung, entwickelten daher eine ausgeprägte bildungspolitische Programmatik, die auf eine Reformierung der Aufgaben und Inhalte schulischer und universitärer Lehre in den philologischen Fächern zielte. Seitdem 1925 mit den „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens" kulturkundliche Prinzipien für den Fremdsprachenunterricht verbindlich wurden, gerieten auch hartnäckige Traditionalisten wie etwa Gerhard Rohlfs unter Zugzwang, sich mit einer Reformierung der universitären Lehre (und sei es kritisch) auseinander zu setzen (vgl. 4.4). Zugleich wurden im antipositivistischen Lager auch neue Organisationsformen für die Forschung konzipiert, die „einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen Einzelforschung" (Hausmann 1998: 46) herbeiführen sollten.16 Im ideologischen Kraftfeld des Nationalsozialismus liefen derartige organisatorische Bestrebungen später im Ideal 15
16
Einen Überblick über die sprachwissenschaftlichen Neuansätze neben der Tradition der Junggrammatik geben etwa die knappen Gesamtdarstellungen zur deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit bzw. der Zeit des Nationalsozialismus von Simon (1985) und Maas (1988). Weitere Aspekte und ausführliche Fallstudien zu einzelnen Linguisten bringen in monographischer Darstellung Maas (1996) und Hutton (1999). Mit großer Konsequenz wird eine ,Organisationsform nachpositivistischer Forschung' entwickelt und zu institutionalisieren versucht bei Gerhard Gesemann, dessen organisatorischen Bemühungen ich den Abschnitt 5.5 widme. Zu den wechselnden politischen Kontexten seiner Pläne vgl. darüber hinaus Ehlers (2001).
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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der Gemeinschaftsforschung zusammen, das im interdisziplinären „Gemeinschaftswerk" der Geisteswissenschaften mit großem Aufwand und in nationalem Umfang ins Werk gesetzt wurde. 17 Für weite Bereiche des damaligen Lehr- und Forschungsbetriebs in der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit kann also von erdrückendem Prestige' und ,Vorherrschaft' der junggrammatischen Tradition gar keine Rede sein. Die Verengung der Sprachwissenschaft der 20er bis 40er Jahre auf diese junggrammatische Tradition ist ein besonders krasser Fall his toriograp his eher „Komplexitätsreduktion", die nach Ulrike Haß-Zumkehr die meisten fachgeschichtlichen Darstellungen zur Linguistik des 20. Jahrhunderts kennzeichnen (Haß-Zumkehr 2000: 233). Ihren wahren Kern hat die landläufige Begründung der These vom verspäteten deutschen Strukturalismus durch die angeblich starre Traditionsverhaftung der deutschen Sprachwissenschaft allenfalls darin, dass die Wirkung der strukturalen Anregungen aus dem Ausland gerade unter den deutschen Anti-Traditionalisten am größten war. Auf das „sehr bunte[..] Feld von Neuerern" (Maas 1988: 260) in der damaligen deutschen Sprachwissenschaft wird eine Untersuchung zur frühen Strukturalismusrezeption also ihr besonderes Augenmerk zu legen haben. Alle fünf Fallstudien zur Wirkung des Strukturalismus, die ich in dieser Arbeit vorstelle, gelten Wissenschafdern aus diesem „Feld von Neuerern" (Kapitel 4 und 5.5). Die angeblich verzögerte Strukturalismusrezeption wird gelegentlich auch auf „die übermächtige Stellung der sogenannten ,Sprachinhaltsforschung'" (Stammerjohann 1969: 160) bzw. auf die ,,'Scheinbefriedigung' strukturalistischer Bedürfnisse durch die Trier-Weisgerber-Schule" (Albrecht 2000: 2) zurückgeführt. Diese Argumentation wird am schlüssigsten bei Wolf-Dieter Stempel entwickelt. Demnach hatte sich die Sprachinhalts forschung „in ihrer Begründung" (Stempel 1990: 163) außergewöhnlich eng an dem Werk de Saussures orientiert. Sie hatte nur bald und sicherlich verfrüht den Ehrgeiz - , ,über Saussure hinauszugelangen', zu einem Zeitpunkt also, da in Deutschland die Lehre des Genfer Meisters in ihrer Tragweite hierzulande noch kaum erschlossen war. Damit war deren Wirkung hierzulande aufs empfindlichste Abbruch getan [...]. (ebd.)
Ob die Trier-Weisgerber-Schule „viel zu ,humboldtianisch' [war], um wirklich ,strukturalistisch' zu sein" (Albrecht 2000: 92), oder ob gerade Jost Trier wegen seiner Konzeption des Sprachwandels sogar „perhaps more truly structuralistic" (Matthews 2001: 126) als de Saussure höchstselbst gewesen sei, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. 18 Im Zu17 18
Zum Konzept der Gemeinschaftsforschung vgl. auch Hausmann (2001a). Das Verhältnis Triers und Weisgerbers zu seinerzeit aktuellen Diskussionen der strukturalen Sprachwissenschaft stelle ich in den Abschnitten 4.2 und 4.3 dar. Zur in-
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sammenhang der Verspätungshypothese wird der von Jost Trier und Leo Weisgerber entwickelten Sprachinhaltsforschung jedenfalls innerhalb der deutschen Sprachwissenschaft eine Schlüsselstellung eingeräumt, von der aus die Strukturalismusrezeption dort insgesamt maßgeblich beeinflusst worden sei. Ohne Zweifel fanden Weisgerbers populäres Buch Muttersprache und Geistesbildung (1929) und Triers methodisch vorbildliche Habilitationsschrift, Der deutsche Wortschatz im Sinnbe^irk des Verstandes (1931), unter deutschen Fachkollegen schnell große Beachtung, 19 und es wurden in der allgemeinen Suche nach einer Neuorientierung der Sprachwissenschaft in den neuen Ansatz der Sprachinhaltsforschung teilweise hohe Erwartungen gesetzt. Die Bedeutung dieses Ansatzes dürfte im Laufe der dreißiger Jahre durch seine weitere Entfaltung und publikumswirksame Vermitdung insbesondere durch Leo Weisgerber zugenommen haben, zumal sich die Sprachinhaltsforschung auch politisch als „resonanzfähig" (Knobloch 2000) erwies. Gleichwohl war die Sprachinhaltsforschung in der Zwischenkriegszeit keineswegs die einzige sprachwissenschaftliche Strömung, die sich hier gegen die junggrammatische Tradition durchsetzen konnte: Sie war zu dieser Zeit ein sprachtheoretisches ,Angebot' in der ungeheueren Vielfalt der Um- und Neuorientierungen in den Geisteswissenschaften, speziell in der Sprachwissenschaft, (ebd.: 146)
Die Annahme einer „übermächtigen Stellung der sogenannten Sprachinhaltsforschung" schon für die zwanziger bis vierziger Jahre beruht daher im wesentlichen wohl auf einer Rückprojektion von Verhältnissen der fünfziger und sechziger Jahre auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Erst für die Nachkriegszeit lässt sich nämlich - mit Weisgerbers eigenen Worten — näherungsweise feststellen, daß diese energetische Sprachwissenschaft um die Mitte des Jahrhunderts für ein gutes Jahrzehnt im Mittelpunkt der Sprachforschung im deutschsprachigen Gebiet stand. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderter Schwerpunkt ,Sprache und Gemeinschaft' baute diese auf den Menschen und seine geistige Entfaltung gerichtete Sprachbetrachtung aus und deckte die Weite der in ihr beschlossenen Probleme auf. (Weisgerber 1973:
19)
Eine ,übermächtige Stellung' nahm die Sprachinhaltsforschung dann vor allem im Bereich der bundesrepublikanischen Sprachdidaktik ein20 und
19 20
tensiven Rezeption de Saussures in Weisgerbers unveröffentlichter Habilitationsschrift vgl. Ehlers (2000c). Höfer-Lutz (1994: 105-106) zählt beispielsweise „für den Zeitraum von 1931 bis 1944 [...] 28 Rezensionen und Arbeiten [...], in denen die Habilitationsschrift Triers Beachtung findet". Hans Glinz, der am erwähnten Forschungsschwerpunkt beteiligt war, bezweifelt allerdings auch für die Nachkriegszeit, dass „die inhaltbezogene Grammatik jemals wirklich ,herrschende Sprachauffassung in der westdeutschen Linguistik' gewesen sei"
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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konnte so zum „Haupthindernis für den Strukturalismus im Sprachunterricht der Schulen" (Stammerjohann 1969: 160) werden, als es am Ende der sechziger Jahre darum ging, aktuelle Entwicklungen der amerikanischen Linguistik für die deutsche Sprachwissenschaft fruchtbar zu machen und mit großer Breitenwirkung auch im schulischen Bereich durchzusetzen. Die drei Standardbegründungen für eine Verspätung des Strukturalismus in Deutschland decken sich mit der vielschichtigen Wirklichkeit der Texte (und Archivalien) aus der Zwischenkriegszeit also allenfalls partiell. Ulrich Thilo bewertet in seinem Saussure-Buch die These einer verspäteten Kenntnisnahme und Anerkennung des Cours de linguistique generale in Deutschland daher summarisch als „ein Vor-Urteil der Geschichte" (Thilo 1989: 115). Clemens Knobloch zählt die Verspätungshypothese ebenso wie die Behauptung, „die deutsche Sprachwissenschaft habe sich im Nationalsozialismus international isoliert", zu den „gängigen Mythen" (Knobloch 2002: 306), von denen sich die Historiographie zur Linguistik der NS-Zeit endlich zu verabschieden habe. Ein historisches „Vor-Urteil" ist die Verspätungsthese in der Tat, weil sie großenteils auf Urteilen beruht, die gefällt worden sind, ehe noch das zeitgenössische Material befragt worden ist. Wer, um nur ein aktuelles Beispiel speziell zum Prager Strukturalismus heranzuziehen, behauptet, dessen Impulse seien hierzulande lange „nicht wahrgenommen" bzw. „in Deutschland weitgehend übersehen und ignoriert" (Nübler 2001: 73) worden, der hat die Mühe nicht für nötig erachtet, seine Aussage an zeitgenössischen Fachpublikationen, geschweige denn an unveröffentlichten Quellen sorgfältig zu überprüfen. ,Mythischen' Charakter hat die Hypothese vom verspäteten Strukturalismus in Deutschland eben auch in dem Sinne, dass hier mit stark begrenzter Variationsbreite seit Jahrzehnten immer dieselbe Geschichte von Autor zu Autor reproduziert wird. Mit den Text- und Quellenstudien meiner Arbeit möchte ich neuen Stoff in diesen Kreislauf einbringen, der hoffentlich dazu beitragen wird, dass hier die eingefahrenen Gleise der Uberlieferung endlich verlassen und die Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit neu erzählt werden können. Gerade weil die Frage nach der frühen deutschen Strukturalismusrezeption so eng mit eingängigen Mythen über die Sprachwissenschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit verwoben ist, sehe ich hier einen geeigneten Ausgangspunkt, um die andernorts schon begonnene historiographische Revision dieses Zeitabschnitts der deutschen Sprachwissenschaft voranzutreiben. 21
21
(Glinz 1986: 169): „Nicht wenige lehnten Weisgerber und seine Forderungen von vornherein ab" (ebd.: 170). Auch unter der erkenntnistheoretischen Voraussetzung, dass jede historiographische Darstellung eine perspektivierte Rekonstruktion vergangener Ereignisse ist, bleibt es „möglich [...], historischen Aussagen das Prädikat .richtig' oder ,unrichtig' zuzuerken-
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1 Einführung
Worin begründete sich aber die starke Überzeugungskraft vom Mythos der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption? Diese Frage erschließt sich am ehesten, wenn man bedenkt, wer ihn in Umlauf gebracht hat. Vertreten wurde die These zuerst von deutschen bzw. in Deutschland tätigen Wissenschaftlern, die sich seit den sechziger Jahren um die Durchsetzung strukturaler Methoden in der deutschen Sprachwissenschaft verdient gemacht haben. Dabei ging es neben dem eigenständigen Umfeld des 1963 nach Tübingen berufenen Eugenio Coseriu vor allem um eine Generation von Nachwuchswissenschaftlern, die methodische Anregungen insbesondere des amerikanischen Strukturalismus aufgriffen und für die deutsche Sprachwissenschaft fruchtbar machten. Diese Generation schöpfte ihr Bild vom „Land ohne Strukturalismus" zunächst aus ihren eigenen Erfahrungen in Studium und Lehre an deutschen Universitäten. Das wird sehr deutlich aus den „autobiographischen Berichten" deutscher Sprachwissenschafder, die Hans-Martin Gauger und Wolfgang Pöckl in der Festschrift für Mario Wandrus\ka versammeln: Harald Weinrich beispielsweise lernte die Linguistik in seinem Studium „in den ersten Nachkriegsjahren" nur im Zuschnitt der „kleinkrämerischen Laut- und Formenlehren der landesüblichen Sprachwissenschaft" (Weinrich 1991: 248) kennen und ,,verachte[n]" (ebd.). Herbert Pilch hatte zur selben Zeit in seinem Studium „nicht einmal das Wort" „synchrone Sprachwissenschaft" (Pilch 1991: 183) gehört. Entsprechend entsinnt sich auch Gerhard Heibig nicht, während seines Studiums „von 1948-1952 an der Universität Leipzig" „den Namen de Saussures gehört zu haben" (Heibig 1991: 109). Auch wenn diese Studienerinnerungen als narrative Ausgangssituationen für die anschließend geschilderten wissenschaftlichen Entwicklungsgänge etwas zugespitzt sein mögen, 22 sollen sie natürlich nicht grundsätzlich angezweifelt werden. Im „Mythos" von der verspäteten deutschen Strukturalismusrezeption werden diese authentischen Erfahrungen der fünfziger und sechziger Jahre dann aber auch auf die Sprachwissenschaft der zwanziger bis vierziger Jahre zurückprojiziert. Besonders deutlich zeigte sich diese rückwirkende Verallgemeinerung von Verhältnissen der deutschen
22
nen" (Schmitter 1982: 194) und es bleiben diese Aussagen „durch weitere Forschung potentiell überholbat" (Schmitter 1999: 201). Die Verspätungshypothese kann im Sinne der bei Peter Schmitter a.a.O. diskutierten „relativen Objektivität" der Historiographie in der Tat als .unrichtig' und .überholungsbedürftig' charakterisiert werden, weil sie auf unklaren Begriffen, ungesicherten Verallgemeinerungen und unzureichender Berücksichtigung zeitgenössischer Daten beruht. Nach Maas (1992: 476) erfolgte in einer „'stillen' Modernisierung" insbesondere im Umfeld der Phonetik eine „Orientierung am internationalen Strukturalismus bereits in den fünfziger und sechziger Jahren": „Wichtig waren dabei einige phonetische Institute, die eine gewisse Kontinuität zu den frühen Diskussionen und einen Zusammenhang mit der internationalen Fachdiskussion bewahrt hatten. Den Durchbruch brachten aber die sechziger Jahre [...]" (ebd.).
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
39
Nachkriegslinguistik auf die Zeit zwischen den Kriegen bei der oben schon angesprochenen Überbewertung der Rolle der Sprachinhalts Forschung für die Strukturalismusrezeption. Ubersehen wurde und wird bei dieser historischen Rückprojektion, dass in der Zwischenkriegszeit „die sprachwissenschaftliche Diskussion in Deutschland weitaus lebendiger und das heißt für Neuansätze aufgeschlossener war" (Stempel 1990: 163) als in der viel gleichförmigeren Restaurationszeit nach 1945: Im Zusammenhang mit der allgemeinen restaurativen Tendenz hatten alle Neuansätze, ob sie nun aus der Zeit vor 1933 erinnerlich waren oder aber in ihrer gleichzeitigen Entfaltung im Ausland beobachtet werden konnten, kaum eine Chance. Alle theoretische Beunruhigung wurde vermieden, die Reproduktion bewährt traditioneller oder neu beherrschend gewordener Schulen [gemeint: Sprachinhaltsforschung] verhinderten Orientierungskrisen, (ebd.: 164) Nachhaltige Überzeugungskraft gewann die Verspätungshypothese aber vor allem dadurch, dass sie im aufbrechenden Methodenstreit am Ende dieser Restaurationszeit eine wichtige Abgrenzungsfunktion erfüllte. Die in der Verspätungsthese beschlossene Abkopplung des deutschen Wissenschaftsraumes von internationalen Entwicklungen bot eine argumentative Stütze, aktuelle Anregungen aus der internationalen strukturalen Linguistik jetzt als radikale Neuerungen, als „Import des ganz Anderen" (Maas 1988: 254) zu profilieren. 23 Der Mythos der verspäteten Strukturalismusrezeption stiftete die wissenschaftliche Identität einer Gruppe von Sprachwissenschaftlern, die in Deutschland ein bis zwei Jahrzehnte nach dem Krieg den Strukturalismus „nachholten", er bot dieser Gruppierung die Kontrastfolie, vor der sie sich als betont international (auch ideologisch ,un-deutsch£), anti-traditionell und besonders gegenüber der allenfalls ,scheinstrukturalis tischen' Sprachinhaltsforschung methodisch überlegen abheben konnte. Die in die Vorgeschichte vorverlegte Diskontinuität zwischen der deutschen und der internationalen (strukturalen) Sprachwissenschaft akzentuierte und motivierte die Diskontinuität zwischen den Richtungen der sprachwissenschaftlichen Gegenwart der sechziger und siebziger Jahre. Auf diese Weise bot die Verspätungshypothese das über eine bestimmte Geschichtsrekonstruktion legitimierte polemische Mittel, dem aktuellen sprachwissenschaftlichen Gegner methodische und sprachtheoretische Rückständigkeit zu attestieren. Das „Nebeneinander" konkurrierender linguistischer Richtungen wird hier mithilfe einer funktionaüsierten Fachgeschichte „in ein fortschrittsbedingtes Nacheinander umgedeutet und gewertet" (Haß-Zumkehr 2000: 232) - ein durchaus gängiges Verfah23
In demselben polemischen Sinne wurde die Verspätungshypothese gelegentlich auch schon in der Zwischenkriegszeit von „Neuerern" eingesetzt, so etwa bei Eugen Lerch (vgl. 4.4).
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1 Einführung
ren der Durchsetzung „moderner" sprachwissenschaftlicher Richtungen, wie Ulrike Haß-Zumkehr zeigt. Der in eine bald aussichtlose Verteidigungsposition eingerückte Leo Weisgerber beschrieb die polemische Konstellation im Jahr 1973 in zeitgemäßem Duktus wie folgt: [Demnach] soll ein Hobby weniger Randseiter binnen zehn Jahren gesiegt haben gegenüber einer zurückgebliebenen Sprachwissenschaft, die weder ein soziales Phänomen Sprache kannte, noch dessen gesellschaftliche Relevanz, noch die zeichentheoretischen Ansätze des international berühmten Genfer Sprachforschers F. de Saussure mit allen daraus zu ziehenden Folgerungen usw. usw. (Weisgerber 1973: 23)
So wurde in der damaligen Debatte de Saussure „von der deskriptiv orientierten allgemeinen Sprachwissenschaft als Kronzeuge gegen seine frühen Rezipienten benutzt" (Scheerer 1980: 41) und insbesondere die „inhaltbezogene Sprachforschung als das blanke Gegenteil von Strukturalismus" (Glinz 1965: 11) stilisiert. In dieser „Frontstellung einer sich formierenden Linguistik gegen die .etablierte' Sprachwissenschaft" (Weisgerber 1973: 18) bemühten sich die Vertreter der etablierten Sprachinhaltsforschung ihrerseits verstärkt, die Originalität des eigenen Ansatzes gegen die strukturalistischen Ansprüche herauszustreichen. Sowohl bei Weisgerber als auch bei Jost Trier lässt sich in den sechziger Jahren eine auffällige Distanzierung von de Saussure und der klassischen Phonologie beobachten. Die augenscheinlichen Affinitäten der frühen Wortfeldtheorie und Sprachinhalts forschung zum klassischen Strukturalismus beruhten demnach allenfalls auf belanglosen „Sekundärwirkungen" (Weisgerber 1975: 16)24, die also der eigenen Theoriebildung schon damals äußerlich geblieben seien. Weisgerber selbst begründete diese Distanz zum zeitgenössischen Strukturalismus im Rückblick mit der Isolation Deutschlands durch den Ersten Weltkrieg und die bis 1924 andauernde Inflation: Einflüsse der ausländischen Literatur erreichten uns in den ersten Nachkriegsjahren sehr langsam. Ich erinnere mich nicht, in meinen Studentenjahre den bereits 1916 erschienenen Cours F. de Saussures in der Hand gehabt zu haben. Das mag die von [Peter] Hartmann wiederholt gemachte Feststellung, daß F. de Saussure bei mir nur inkonsequent ausgewertet sei, verständlich machen. (Weisgerber 1961: 33)
Ein Blick in seine 1924 abgeschlossene Habilitationsschrift, die bis heute nicht veröffentlicht ist, zeigt aber, dass Weisgerber die Grundlagen der inhaltbezogenen Sprachforschung aus einer zwar eigenständigen, aber sehr genauen, ernsthaften und umfassenden Lektüre von Saussures Cours entwickelt hatte. 25 Zum späteren „Vergessen" ihrer in Wirklichkeit recht in24 25
Das nachträgliche Abrücken der Sprachinhaltsforschung von strukturalistischen Vorbildern untersuche ich näher in Ehlers (1997a) und (2000c). Vgl. Ehlers (2000c).
1.2 Deutschland als „Land ohne Strukturalismus"
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tensiven frühen Strukturalismus-Rezeption (vgl. 4.2, 4.3) haben die Vertreter der Sprachinhaltsforschung demnach „selbst viel beigetragen" (Thilo 1989: 163). So laufen die identitätsstiftenden Geschichtsrekonstruktionen sowohl der „modernen Linguistik" wie der „inhaltorientierten Sprachwissenschaft" in den sechziger Jahren gleichermaßen im Verspätungsmythos zusammen. Das wissenschaftsgeschichtliche Bild einer international isolierten, traditionsgebundenen und allenfalls von der TrierWeisgerber-Schule geprägten deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit hat selbst seinen wissenschaftsgeschichtlichen Ort — in den sechziger Jahren und danach.
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung Die Frage nach einer deutschen Rezeption des Strukturalismus auf den speziellen Fall der Prager Schule zu fokussieren, erscheint im Licht früherer historiographischer Versuche zumindest als ungewöhnlich und bedarf wohl einer Begründung vorab. Wo immer über die Aufnahme strukturaler Anregungen in der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit nachgedacht wurde, standen bisher Verbreitung und Verarbeitung von Ferdinand de Saussures Cours de linguistique generale im Zentrum. Die zeitgenössische Wahrnehmung anderer Richtungen des Strukturalismus fand demgegenüber allenfalls in Randbemerkungen Beachtung (vgl. 1.2). Diese vorrangige Gewichtsetzung auf de Saussure und sein Werk bringt zum Ausdruck, dass man gerade in ihm gewöhnlich den „Begründer des linguistischen Strukturalismus" (Baumgärtner/Fritz 1973: 119) sieht. Die Geschichte des Strukturalismus selbst wird damit häufig als eine Rezeptionsgeschichte des Cours geschrieben. Als prominentes Beispiel sei hier nur auf Manfred Bierwischs einflussreichen Aufsatz über „Strukturalismus: Geschichte, Probleme und Methoden" verwiesen, der die Herausbildung der verschiedenen Schulen des Strukturalismus unmittelbar auf verschiedene Lesarten des begrifflich nicht immer klaren Cours zurückführt. 1 Auch einen frühen deutschen Strukturalismus hätte man sich demnach als eine (gegebenenfalls besondere) Lesart des strukturalistischen ,Ur-Textes' vorzustellen. Das macht verständlich, wieso die Diskussion um Existenz oder Nichtexistenz einer frühen deutschen Strukturalismusrezeption so häufig mit der Frage nach der Ubersetzung von de Saussures Cours und deren Verbreitung in Deutschland verbunden war (vgl. 1.2). Die Bedeutung de Saussures für die Entwicklung des Strukturalismus soll gar nicht in Frage gestellt werden, es ist aber zu bedenken, dass der klassische Prager Strukturalismus sein sprachtheoretisches Profil nicht zuletzt aus einer sehr massiven Saussure-Kritik bezog. Diese Kritik, mit der Angehörige des Prager Zirkels schon ihren Eintritt in die internationale Fachdiskussion markierten (Jakobson/Karcevskij/Trubetzkoy 1930), 1
Bierwisch (1966: 85-86). Auch dem Handbuchartikel von Ballweg (1980) zufolge „ergab sich die Bildung verschiedener strukturalistischer Schulen" aus der „Ausarbeitung" und „weiteren Klärung" „bestimmte[r] Begriffe der Saussureschen Theorie", die durch deren Anwendung auf die Analyse einzelner Sprachsysteme notwendig geworden sei (ebd.: 115).
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
43
bezog sich dabei nicht auf irgendwelche untergeordneten Aspekte, sondern auf die konzeptuellen Grundachsen des Cours. Es sind die Gegensätze, welche die Lehre de Saussures in sich trägt, nämlich zwischen langue und parole [...] und zwischen der synchronistischen und der diachronistischen Methode, zu überwinden. (Jakobson/Slotty 1930: 387)
Die spezifisch Prager Auffassung des Systems erweist sich genau besehen als nachträgliche und nicht immer gewaltlose terminologische Anverwandlung einer eigenständigen linguistischen und ästhetischen Theoriebildung an die Begriffsmatrix des Cours} Wie immer die Differenzen zwischen den verschiedenen Richtungen des klassischen Strukturalismus historiographisch zu erklären sein mögen, diese Differenzen waren schon für Zeitgenossen deutlich sichtbar.3 Und es ist daher mit durchaus verschiedenen Rezeptionsmustern für die Veröffentlichungen der einzelnen Richtungen zu rechnen, die sich mit Verlauf und Wirkungskreis der Saussure-Rezeption keineswegs immer decken müssen. Im Vorgriff auf die Ergebnisse meiner Untersuchung sei schon an dieser Stelle festgehalten, dass der Prager Strukturalismus für die zeitgenössische deutsche Sprachwissenschaft gerade mit seiner funktionalen und diachronischen Gewichtsetzung Attraktivität entfaltete — mit Besonderheiten also, die sich eben nicht auf Vorgaben des Cours zurückführen lassen. Ebenso fand die Genfer Schule des Strukturalismus in Deutschland gerade mit ihrer Linguistik der parole Beachtung, die im Umfeld deutscher stilanalytischer Ansätze mit Interesse aufgegriffen wurde. Für bestimmte Kreise der deutschen Sprachwissenschaft bot das Werk Charles Ballys damals offenbar mehr fruchtbare Anknüpfungspunkte als das seines Genfer Lehrers. Auch hier läge reicher Stoff für eine Rezeptionsgeschichte des Strukturalismus, die wohlgemerkt neben einer Untersuchung der Fortwirkung von de Saussures Cours anzusiedeln wäre. Die landläufige Gleichsetzung der Strukturalismusrezeption mit der Saussure-Rezeption vernachlässigt also nicht nur, dass sich der Strukturalismus spätestens in den dreißiger Jahren in verschiedene, von Saussure in Teilen unabhängige Richtungen auszugliedern begann. Eine solche Gleichsetzung wird damit auch dem aktuellen Diskussionsstand der damaligen Zeit nicht mehr gerecht. Für einen zeitgenössischen Sprachwissenschafder bot das Werk de Saussures bald schon nicht mehr den einzigen, und nicht einmal mehr den primären Zugang zu den Entwicklungen des internationalen Strukturalismus. Das zeigt beispielsweise der Fall von Hans Glinz, der im Rückblick auf seinen Werdegang als Sprachwissen2 3
Soweit es um den Russischen Formalismus als Hintergrund des Prager Systembegriffs geht, vgl. Ehlers (1992) und (1993). Schon 1931 hatten sich in der internationalen Fachöffentlichkeit die abgrenzende Bezeichnungen „Prager" und „Genfer Schule" eingebürgert, vgl. 1.1.
44
1 Einführung
schaftler minutiöse Rechenschaft über seine Annäherung an den Strukturalismus ablegt. Nach seinem Studium in den Jahren 1932 bis 1936 war Glinz an verschiedenen Schweizer Schulen als Lehrer tätig. Als es ihm 1941 veränderte Arbeitsbedingungen zeitlich ermöglichten, suchte er nach einer theoretischen Fundierung für eine schon länger erwogene Neufassung der Grammatik, die in „ein neues Sprachbuch für die Zürcher Sekundärschulen" (Glinz 1991: 95) eingehen sollte: Ich nahm meine tastenden Versuche in und neben der Schule wieder auf und bemühte mich zugleich um etwas mehr Einblick in die aktuelle wissenschaftliche Situation. Mit diesem Ziel studierte ich im Dezember 1941 die .Sprachtheorie' von Karl Bühler, von 1934. (Glinz 1986: 157)
Die Suche nach „historische [r] Auskunft über die Herkunft der geltenden [...] grammatischen Begriffe" (ebd.) brachte Glinz zwischenzeitlich zur Lektüre teilweise älterer Arbeiten zur Syntax und Geschichte der Grammatiktheorie (Ries, Jellinek, Steinthal). Jetzt konnte ich mich wieder der aktuellen Wissenschaftssituation zuwenden. Ich bekam im Januar 1942 die letzten drei Hefte der ,Travaux du Cercle Linguistique de Prague' in die Hand (von 1936 und 1939) und studierte vor allem die ,Grundzüge der Phonologie' von Trubetzkoy. [...] Dann fand ich in Heft 6 der ,Travaux' eine ganze Reihe mich interessierender Beiträge [...]. (ebd.: 158)
Und erst nachdem er dann noch Arbeiten unter anderem von Albert Sechehaye und Eduard Sievers zur Kenntnis genommen hatte, las Glinz „Anfang März 1942 den ,Cours' in der Übersetzung von Lommel" (ebd.: 159), den er sich wenige Monate später in der französischen Originalversion kaufte. Das Bestreben, „Einblick in die aktuelle wissenschaftliche Situation" zu gewinnen, führte am Beginn der vierziger Jahre also gar nicht unmittelbar auf das Werk de Saussures, wohl aber auf Veröffentlichungen aus dem Umkreis der Prager und Genfer Schule des Strukturalismus. Saussure wird gleichsam erst rückläufig als Vorgeschichte und gemeinsame Bezugsquelle der aktuellen Diskussion entdeckt: Ich las den Cours erstmals im Frühlung [sie] 1942, nachdem ich schon bei Bühler, Trubetzkoy und anderen immer wieder auf Saussuresche Begriffe gestoßen war (in meinem ersten Studium war mir der Name Saussure gar nie begegnet — wohl einmal bei Jakob Jud der Begriff Synchronic mit Berufung auf Bally [...]. (Glinz 1991: 96)
Auch wenn Roman Jakobsons Befund, dass „vor dem zweiten Weltkrieg die Phonologie der meistdiskutierte Gegenstand der Linguistik war" (Jakobson 1979c: 132), vielleicht überspitzt sein mag, spricht doch viel dafür, die Frage nach einer deutschen Strukturalismusrezeption am tatsächlichen Stand der Fachdiskussion innerhalb des Untersuchungszeitraumes zu ori-
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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entieren und nicht auf die Wirkungsgeschichte eines Buches zu verengen, dessen Veröffentlichung bald schon weit mehr als ein Jahrzehnt zurücklag. In diesem Sinne wird eine Verschiebung bzw. eine Erweiterung des Untersuchungsrahmens auf Rezeption und Wirkung gerade des Prager Strukturalismus den wissenschaftsgeschichtlichen Gegebenheiten der späten zwanziger bis vierziger Jahre sicher gerechter als die ,SaussureFixiertheit' der bisherigen Historiographie. Die Abgrenzung meines Untersuchungsgegenstandes bedarf einiger weiterer Erläuterungen. Wenn hier Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft analysiert werden soll, so ist zu berücksichtigen, dass sich eine „Sprachwissenschaft" im heutigen Fachverständnis im Untersuchungszeitraum überhaupt erst in Ansätzen herausgebildet hatte. Sprachwissenschaftliche Forschung wurde in der Zwischenkriegszeit noch zum größten Teil im institutionellen Rahmen der philologischen Fächer betrieben: Bei der Sprachwissenschaft kann in dieser Zeit also nur von einer Semiprofessionalisierung gesprochen werden; zwar gab es qualifizierende Abschlußmöglichkeiten eines sprachwissenschaftlichen Studiums, aber es gab keinen sprachwissenschaftlichen Studiengang; die sprachwissenschaftlichen Lehrangebote waren vielmehr Studiengangsteile von Studienfächern, die entweder direkt auf Schulfächer zugeschnitten waren, oder, wie bei der slawischen Philologie oder der Orientalistik, in Analogie zu ihnen geschnitten waren. Diejenigen also, die sich in der damaligen Zeit mit Sprachwissenschaft professionell befaßten, taten das auf Stellen, die ihnen eine sehr viel weitere Aufgabe übertrug, meist mit philologischem Zuschnitt, also mit Einschluß von Literaturwissenschaft und Landeskunde bzw. Volkskunde [...]. (Maas 1988: 257) Vergleichende Sprachwissenschaftler bzw. Indogermanisten, deren Fach an deutschen Universitäten schon seit dem 19. Jahrhundert mit eigenen Lehrstühlen vertreten war, waren noch in der Zwischenkriegszeit also „de jure [...] die alleinigen professionalisierten Sprachwissenschafder" (Maas 1996: 93). Auch sie aber hatten in der Regel einen weiteren philologischen Aufgabenbereich abzudecken. Von einer institutionell und ihrem Gegenstandsbereich nach abgrenzbaren Disziplin „Sprachwissenschaft" kann für die zwanziger bis vierziger Jahre nur sehr eingeschränkt die Rede sein. 4 Das aufnehmende Wissenschaftsmilieu, das meine rezeptionsgeschichtli4
Ulrike Haß-Zumkehr macht darauf aufmerksam, dass „von der disziplinaren Eigenständigkeit der Linguistik" auch heute noch nicht gesprochen werden kann, jedenfalls wenn man „das wichtigste Kriterium disziplinarer Eigenständigkeit, nämlich ein eigenes Studienfach zu sein" (Haß-Zumkehr 2000a: 67), zugrundelegt. Gegenüber der Zwischenkriegszeit bedeutet aber die Vertretung wenigstens der großen Neuphilologien durch strikt getrennte Lehrstühle für Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft für die Linguistik zweifellos einen bedeutenden Schritt weiterer Professionalisierung.
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1 Einführung
che Untersuchung zu betrachten hat, ist also auf das weitere Umfeld der sprachorientierten philologischen Fächer auszudehnen. Wo es im Folgenden um die Dokumentation von wissenschaftlichen Kontakten zwischen dem deutschsprachigen Raum und dem Prager Linguistik-Zirkel geht, sollen aus diesem fachlichen Umfeld sämtliche Belege erfasst werden, für die ich archivalische Evidenz gefunden habe (vgl. 3.4, 5.4). Das eigentliche Interesse meiner Arbeit gilt aber der Frage, ob und inwieweit im Umkreis der philologischen Fächer die sprachtheoretischen Ansätze der Prager Schule und deren methodologischen Vorgaben zur Analyse von Sprachen wahrgenommen und verarbeitet worden sind. Die Rezeption literaturwissenschaftlicher, poetologischer und ethnographischer Arbeiten der Prager Schule wird demgegenüber nur dort am Rande thematisiert, wo sie in Verbindung mit der wissenschaftlichen Betrachtung von Sprache trat, z.B. in den Fallstudien zu Henrik Becker und zur Prager deutschen Slawistik5. Da es mir hier also um die Wahrnehmung und wissenschaftliche Adaption vor allem sprachbezogener Theoreme und Methoden des Prager Strukturalismus geht, sollen die aufnehmende deutschsprachige Fachwelt im Folgenden einfachheitshalber als „Sprachwissenschaft" und die jeweiligen Rezipienten als „Sprachwissenschafder" in einem weiten Sinne bezeichnet werden. 6 In regionaler Hinsicht wird das Interesse meiner Arbeit, wie schon mehrfach angesprochen, grundsätzlich der Sprachwissenschaft im gesamten deutschsprachigen Raum gelten. Die bisherigen Diskussionen um Existenz oder Nichtexistenz einer frühen deutschen Strukturalismusrezeption ließen in der Regel recht unbestimmt, auf welchen regionalen Rahmen sich das Attribut „deutsch" hier beziehen sollte. Die häufig bemühte These einer „Isolation der deutschen Wissenschaft" setzt das Schwergewicht auf politische Bedingungen der Rezeption, und legt als re-
5
6
Vgl. 4.1 und 5.5. Die frühe deutschsprachige Rezeption der Prager Arbeiten zur Literaturwissenschaft und Ethnographie wäre jeweils eigene historiographische Studien wert. Aus der Erfahrung meiner umfangreichen Recherchen habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass die Rezeptionsspuren hier in der Zwischenkriegszeit sehr viel dünner sind als im Bereich der Sprachwissenschaft (vgl. 3.4). Die Rezeption unterliegt in diesem Bereich auch ganz anderen wissenschaftsexternen (vgl. 2.2) und internen Bedingungen. Eine Fallstudie zu den Kontakten zwischen der strukturalen Ethnographie und der funktionalen Volkskunde der Schwietering-Schule habe ich in Ehlers (1998a) vorgelegt. Auch Utz Maas, der wegen der diskutierten terminologischen Problematik im Titel seiner prosopographischen Untersuchung zur Zeit des Nationalsozialismus den Begriff „Sprachwissenschafder" konsequenterweise durch „Sprachforscher" ersetzt, spricht im laufenden Text meist doch von „Sprachwissenschaft" und „Sprachwissenschafdern", vgl. Maas (1996).
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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gionalen Bezugsrahmen damit wohl meist das Dritte Reich zugrunde. 7 Wenn andererseits „die große indogermanistische Tradition in der deutschen Sprachwissenschaft" (Stammerjohann 1969: 160) als Rezeptionshemmnis für den Strukturalismus genannt wird, bezieht sich die Argumentation eher auf einen Diskurs-Raum, dessen Erstreckung sich mehr in geteilten Fachtraditionen, gemeinsamer Wissenschaftssprache und institutionellen wie kommunikativen Vernetzungen begründet als in Staatsgrenzen. Am Beispiel der Romanistik ist zu erkennen, dass sich ein .deutsches' philologisches Fach jedenfalls zur damaligen Zeit in einem partiell überstaatlichen Raum lokalisierte, dessen innerer Zusammenhang mit einer relativen Abgeschlossenheit nach außen korrespondierte: Zwischen Deutschland, Österreich und der Deutschen Schweiz bestand eine gewisse universitäre Durchlässigkeit, d.h. ein Romanist hatte nur in einem dieser drei Länder eine Berufungschance. Umgekehrt gab es keine Gelehrten aus den Ländern der Romania, die in Deutschland und Österreich ihre Muttersprache oder ihre eigene Nationalliteratur lehren konnten, die dort als Einzeldisziplinen nicht vorkamen und deren Unterricht in Deutschland und Österreich gewöhnlich in deutscher Sprache erfolgte. Die Schweiz machte als mehrsprachiges Land diesbezüglich immer eine Ausnahme. (Hausmann 2000:
7) In die hier beschriebene überstaatliche deutsche ,Wissenschaftslandschaft' gehörte bis 1945 auch die Deutsche Universität Prag, die noch nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik in das Netzwerk deutschsprachiger Wissenschaftsstandorte eingebunden blieb und so beispielsweise weiterhin als anerkannte Station auf dem Karriereweg reichsdeutscher und österreichischer Gelehrter fungierte. 8 Gerade im Interesse an fachimmanenten Bedingungen der Strukturalismusrezeption ist der Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit räumlich auf die Sprachwissenschaft in den deutschsprachigen Ländern bzw. an deutschsprachigen Wissenschaftsstandorten auszudehnen. Mit der Abgrenzung eines räumlich so weiten, Staatsgrenzen übergreifenden Beobachtungsfeldes soll freilich nicht vorausgesetzt sein, dass die politisch bedingte Binnendifferenzierung des deutschsprachigen Wissenschaftsraumes für eine Rezeptionsgeschichte zu vernachlässigen wäre. Vielmehr wird die Frage nach den für die einzelnen deutschsprachigen Länder spezifischen Rezeptionsbedingungen im Gesamthorizont meiner Arbeit immer eine wichtige Rolle 7
8
Die meisten Autoren sprechen allerdings ganz allgemein von der Strukturalismusrezeption „in Deutschland" und geben damit einen räumlichen Bezugsrahmen, der, zumal wenn ein Zeitraum von den zwanziger bis zu den sechziger Jahren zugrundegelegt wird, äußerst erklärungsbedürftig wäre, vgl. die zitierten Aussagen in 1.2. Nach 1933 bekam die Prager Deutsche Universität zusätzliche Bedeutung als Zufluchtsort für deutsche Exilanten, die hier ein etabliertes deutschsprachiges Wissenschaftsmilieu vorfanden, vgl. Kapitel 5.
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1 Einführung
spielen, wenn ich mich auch aus Zeit- und Raumgründen vor allem auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik und im Dritten Reich konzentrieren muss. Die Ausgliederung eines eigenen Kapitels zur Prager deutschen Rezeption des Strukturalismus wird der lokalen Spezifik aber wenigstens an einem deutschsprachigen Wissenschaftsstandort außerhalb der deutschen Staatsgrenzen in eingehender Weise Rechnung tragen. 9 Die zeitliche Umgrenzung meiner Untersuchung soll vor allem die deutsche Rezeption während der so genannten „classical period" des Prager Strukturalismus abdecken: Its beginning may perhaps be dated by the first meeting of the Cercle Linguistique de Prague, which took place on October 6, 1926; the end of this period is marked by the outbreak of World War II, which did not interrupt but certainly did perceptibly weaken the activities of the Prague group. (Vachek 1966: 4)
Auch wenn der erste internationale Auftritt von Angehörigen des Prager Zirkels erst 1928 stattfand und Veröffentlichungen aus Prag die ausländische Fachwelt erst 1929 in breiterem Umfang erreichten, halte ich es für sinnvoll, eine Rezeptionsgeschichte schon bei der Gründungsveranstaltung des Linguistik-Zirkels beginnen zu lassen. Bereits bei dieser Veranstaltung war mit Henrik Becker ein Sprachwissenschafder aus Deutschland zugegen (vgl. 4.1) und schon in den Jahren 1927 und 1928 begann der damals noch recht private Diskussionskreis, gelegentlich ausländische Wissenschaftler zu Vorträgen einzuladen. Nicht zuletzt entwickelte sich der Prager Strukturalismus von Anfang an in größter räumlicher Nähe zu dem an der Prager Deutschen Universität vertretenen deutschen Wissenschaftsmilieu, hier hätten sich also schon früh Gelegenheiten zu direkten Kontakten ergeben können (vgl. aber 5.4). Da der politische Einschnitt der Jahre 1938 und 1939 nicht notwendig auch eine vergleichbar tiefe wissenschaftsgeschichtliche Zäsur mit sich bringen musste, soll der Untersuchungszeitraum hier über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hinaus ausgedehnt werden. Für den Prager Linguistik-Zirkel bedeutete die deutsche Okkupation der ,Resttschechei' zwar eine starke Einschränkung seiner internationalen Wirkungsmöglichkeiten, die internationalen Rezeptionsprozesse hatten sich zu diesem Zeitpunkt aber bereits so weit verselbständigt, dass es fortdauernd aktiver Impulse aus Prag vorerst nicht bedurfte, um die Arbeiten der Prager Schule in der internationalen Fachdiskussion zu halten (vgl. 1.1). Persönliche Kontakte zu Kollegen im deutschsprachigen Ausland brachen auch mit 1939 kei9
Eine vergleichbar detaillierte Betrachtung der österreichischen oder der schweizerischen Verhältnisse war im Rahmen dieser Arbeit und auf der Basis meiner bisherigen Quellenstudien nicht zu leisten. Gerade die besonderen Rezeptionsbedingungen in der Schweiz wären eine eingehende Untersuchung wert.
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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neswegs zwangsläufig ab, der internationale Vertrieb der Veröffentlichungen des Zirkels konnte ungeachtet der politischen Entwicklungen aufrecht erhalten werden (vgl. 3.4, 3.1). Selbstverständlich wird eine Untersuchung, deren zeitlicher Rahmen die Jahre 1933 und 1938/39 übergreift, im Einzelnen genau zu prüfen haben, inwieweit die fachlichen Entwicklungen mit politischen Umständen korrespondierten. Der rezeptionsgeschichtliche Ansatz scheint mir gerade für diese Fragestellung fruchtbar, weil er die einheimische Fachdiskussion mit dem internationalen Kontext in Beziehung setzt und an diesem Verhältnis eine kontrastive Perspektive auf eventuelle nationale Besonderheiten und Sonderentwicklungen gewinnt. Nachdem in den letzten beiden Kriegsjahren die wissenschaftliche Kommunikation und Forschungsarbeit in den am Krieg beteiligten europäischen Ländern immer weiter zum Erliegen kam, markiert erst das Jahr 1945 bzw. die frühe Nachkriegszeit einen tiefen rezeptionsgeschichtlichen Einschnitt. Sowohl im Bereich der wissenschaftsexternen Bedingungen als auch in der fachimmanenten Entwicklung brachten die Nachkriegsjahre gravierende Veränderungen mit sich, die auch die rezeptionsgeschichtlichen Prozesse nachhaltig beeinflussen mussten. Im deutschsprachigen Raum geht die Einheit der Wissenschaftslandschaft verloren. Nicht nur die Wege der Bundesrepublik und der DDR trennen sich, sondern auch Österreich koppelt sich [...] stärker von einer gemeinsamen Entwicklung ab. (König 1996: 64)
Der militärische Sieg über das nationalsozialistische Deutschland hatte auch für die internationale Wissenschaftskommunikation einschneidende Konsequenzen. Von dem 1948 nach Paris einberufenen sechsten Internationalen Linguistenkongress wurden deutsche Fachgelehrte bewusst ausgeschlossen: „obei ä un sentiment de respect envers les victimes et de piete envers les morts" (Vendryes 1949: XLIII). Die deutsche Sprachwissenschaft war einstweilen weitgehend isoliert. In Deutschland setzte nach 1945 im Fach selbst eine Entwicklung ein, die mit Wolf-Dieter Stempel als Phase der Restauration und „Stagnation" (Stempel 1990: 164f., vgl. 1.2) beschrieben werden kann. Durch den verbreiteten Rückzug auf ideologisch unverdächtige und methodologisch unstrittige Positionen zum Teil aus der Zeit vor den antipositivistischen Neuerungsbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre wurde die einheimische Fachdiskussion konservativer und selbstgenügsamer als vor 1945. Schon diese beispielhaft genannten Merkmale der wissenschaftsexternen wie -internen Entwicklung nach 1945 lassen es geraten sein, meine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zur deutschen Sprachwissenschaft auf die Zeit bis 1945 zu beschränken. Die Ungenauigkeiten herkömmlicher Aussagen zur frühen deutschen Strukturalismusrezeption resultieren zum Teil gerade daraus,
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dass hier Vorkriegs- und Nachkriegszeit ohne Rücksicht auf ihre wissenschaftsgeschichtlichen Unterschiede zusammengeworfen werden. Eine andere Quelle historiographischer Unscharfe liegt darin, dass bei der vielstimmigen Versicherung, der Strukturalismus sei in Deutschland erst verspätet rezipiert worden, höchst selten einmal reflektiert und begrifflich geklärt wird, was in diesem Fall als Rezeption bzw. Nichtrezeption zu gelten habe.10 Unter dem argumentativen Dach der VerspätungsThese versammeln sich genau besehen sehr unterschiedliche Befunde. Bei der Sichtung der einschlägigen Fachliteratur lassen sich mindestens vier verschiedene, zum Teil unvereinbare historiographische Diagnosen voneinander abgrenzen (vgl. 1.2): Für eine Reihe von Autoren bedeutet die Verspätung der Strukturalismusrezeption, dass deutsche Sprachwissenschaftler über lange Zeit überhaupt nur in Ausnahmefällen Kenntnis von strukturalistischen Veröffentlichungen bekommen hätten. Ein Befund, der meist durch die politische Isolation Deutschlands erklärt wird. Andere Autoren schließen gar nicht ausdrücklich aus, dass man in Deutschland die Texte des internationalen Strukturalismus kannte, konstatieren aber, diese Texte seien jedenfalls weitgehend ignoriert worden, etwa weil die eigene Traditionsverbundenheit einer produktiven Auseinandersetzung mit diesen Neuerungen entgegengestanden hätte. Eine dritte Gruppe von Autoren würde wohl durchaus einräumen, dass man die Vorgaben aus dem Ausland auch in Deutschland schon früh in die eigenen fachlichen Argumentationen einbezogen habe. Das Resultat solcher Adaption sei aber — beispielsweise in der Trier-Weisgerber-Schule — lediglich ,scheinstrukturaüstisch' ausgefallen. Nach dieser Sichtweise verspätete sich in Deutschland nicht die Kenntnisnahme und Verarbeitung der strukturalen Anregungen überhaupt, sondern nur deren adäquate Umsetzung. Eine adäquate Rezeption des Strukturalismus hätte demnach erst in den sechziger Jahren begonnen. Schließlich sehen einige Autoren die Besonderheiten der deutschen Entwicklung vor allem darin, dass der strukturale Ansatz im Unterschied zu anderen Ländern in Deutschland nicht schulbildend gewirkt, sich also nicht in übergreifenden institutionellen und diskursiven Zusammenhängen durchgesetzt habe. Diese letzte Diagnose wäre dann sogar grundsätzlich mit der Annahme vereinbar, es habe in Deutschland schon früh auch adäquate Formen der Strukturalismusrezeption gegeben, diese seien allerdings nur auf das Werk individueller Sprachwissenschaftler beschränkt und sozial unorganisiert geblieben. Unübersichtlich wird das wissenschaftsgeschichtliche Bild zusätzlich dadurch, dass einzelne Autoren häufig gleich mehrere der angeführten Diagnosen stellen, aber selten einmal alle vier zugleich bemüht werden. Welcher der genannten Befunde 10
Eine Ausnahme bildet hier Stempel (1978).
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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sollte also den maßgeblichen Bezugspunkt für die Frage nach einer frühen deutschen Rezeption des Strukturalismus abgeben? Oder, falls man sich für die Berücksichtigung mehrerer Gesichtspunkte entscheiden würde, in welchem Verhältnis stehen die genannten Befunde untereinander? Schon die Vielfalt von Einzelbefunden, die von der Literatur zusammengetragen wurden, macht in der Tat sehr deutlich, dass bei der Untersuchung der Rezeptionsgeschichte des Strukturalismus im deutschsprachigen Raum eine Reihe verschiedener Aspekte und möglicher Erscheinungsformen von Rezeption in Rechnung gestellt werden muss, will man zu einem ausgewogenen und abgerundeten Bild gelangen. Um das disparate Feld von Teilaspekten und Teilerscheinungen der Rezeption systematisch bearbeiten zu können und eine hinreichend präzise Lokalisierung der Ergebnisse zu ermöglichen, muss der komplexe Rezeptionsprozess begrifflich gegliedert werden. Hier kann ich mich an Diskussionen orientieren, die im Frankfurter Projekt zur europäischen Rezeption der Sprach- und Zeichentheorie der französischen „Ideologues" um 1800 geführt worden sind.11 Im Rahmen dieses umfangreichen historiographischen Forschungsprojekts sind verschiedene Ansätze unternommen worden, die in der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung entwickelte Begrifflichkeit für die Geschichtsschreibung der Sprachwissenschaft fruchtbar zu machen. Auch wenn die Mitarbeiter dieses Projektes sich nicht auf ein bündiges Modell sprachwissenschaftlicher Rezeptionsprozesse verständigt haben und sich auch ihr Vorgehen bei der historiographischen Untersuchung von Rezeptionsphänomenen im Einzelnen unterscheidet, 12 finden sich hier doch wertvolle Anregungen, die für die besondere Problemstellung meiner Arbeit zu adaptieren sind. So stellt Hans-Dieter Dräxler in seinem Beitrag über Johann Gottlieb Cunradi einen stark aufgefächerten Begriff von Rezeption vor, der die für die Zielsetzung meiner Untersuchung erforderliche Binnendifferenzierung des Rezeptionsvorganges in Teilen vorzeichnet. Dräxler erweitert das herkömmliche Verständnis von Rezeption als „Aufnehmen, Weiterführen und Verändern von Ideen" um „andere Formen der Beschäftigung mit fremden Gedankengut, die der eben genannten Art der Beschäftigung gewissermaßen noch vorangehen" (Dräxler 1991: 203). Die verschiedenen Erscheinungsformen wissenschaftlicher Rezeptions Vorgänge gliedert er in die folgende schematische
11 12
Die Ergebnisse dieses von Brigitte Schlieben-Lange geleiteten Projekts sind in insgesamt vier Sammelbänden publiziert worden, vgl. Schlieben-Lange, Brigitte u.a. (Hrsg.) (1989,1991,1992, und 1994). Noch in der Abschlussdiskussion des Projektes wurden eher offene methodologische Probleme der Rezeptionsforschung umrissen als ein konsensfähiges Konzept von wissenschaftlicher Rezeption formuliert, vgl. Oesterreicher (1994: 295-296).
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Darstellung aus, wobei die „Abfolge der einzelnen Elemente des Schemas [...] als chronologisch und hierarchisch zu verstehen" (ebd.: 204) ist. Nicht-Kennen Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen Nicht-Erwähnen Zur-Kenntnis-Nehmen
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(Abbildung aus: Dräxler 1991: 204)
Die Bedeutung dieses Entwurfs liegt meines Erachtens vor allem darin, dass er Fragen der Kenntnisnahme und der impliziten Rezeption einen systematischen Platz in der wissenschaftsgeschichtlichen Rezeptionsanalyse zuweist. Generell sind in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht Phänomene der Nicht-Rezeption von Fachtexten, die andernorts oder zu anderer Zeit einflussreich waren, von dem gleichen Interesse wie deren Rezeption. 13 Gerade vor dem Hintergrund der behaupteten Rezeptionsverspätung des Strukturalismus in Deutschland wäre es von großer historiographischer Relevanz zu unterscheiden, ob es sich bei dieser angenommenen Nicht-Rezeption um ein „Nicht-Kennen", ein „Nicht-zurKenntnis-Nehmen" oder um eine nur implizite Verarbeitung gehandelt haben sollte. Während Dräxler den grundlegenden Bereich zwischen Nicht-Kennen und Zur-Kenntnis-Nehmen wenigstens rudimentär strukturiert, werden 13
„So sind die Pausen der Ideologen-Rezeption in Spanien gewiß ebenso aussagekräftig wie jene Phasen, während derer sich gehäuft schriftliche Dokumente finden lassen", da sie in gleicher Weise den „Blick für diskursive Vorbedingungen einer Rezeption" öffnen (Ette 1992: 22).
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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im unteren Teil seiner schematischen Darstellung Differenzierungen eingeführt, die unnötig erscheinen und teilweise zu widersinnigen Konsequenzen fuhren. Es ist beispielsweise nicht einzusehen, wieso das Erwähnen von Namen und das Erwähnen von Inhalten in wissenschaftlichen Texten einen systematisch unterschiedenen Platz zugewiesen bekommen. Die Nennung von Namen verweist in Fachtexten häufig, wenn nicht im Normalfall, metonymisch auf Argumente oder Forschungsprogramme der jeweils Genannten und fungiert daher als wichtiges Rezeptionssignal für die Auseinandersetzung mit Inhalten. Nach Dräxlers Schema wäre aber selbst eine „kommentierte" Namensnennung grundsätzlich un- oder vorproduktiv. 14 Sodann ist die Frage, ob das „Erwähnen" oder „Nichterwähnen" von Elementen eines Prätextes wirklich ein so zentrales Kriterium für eine Phänomenologie der Rezeption darstellt, wie Dräxlers Schema es nahe legt. Folgte man diesem Schaubild, dann könnten Fachtexte, die Namen und Inhalte ihrer Vorlagen nicht ausdrücklich erwähnen, grundsätzlich nicht als Dokumente einer produktiven Rezeption bzw. einer Rezeption „im engeren Sinn" gewertet werden. Dräxler macht allerdings auf einen „Sonderfall der Rezeption im engeren Sinn" aufmerksam: Wissensbestände, die als Allgemeingut, als zum anerkannten Kanon eines Faches gehörig angesehen werden, können u.U. nicht explizit kenntlich gemacht sein oder sogar überhaupt nicht erwähnt werden, (ebd.: 205)
Dieses wäre aber gewiss nicht der einzige „Sonderfall" einer impliziten und gleichwohl produktiven Rezeption, der dem Schema nicht einzuordnen wäre. Dräxler selbst interpretiert in seinem Beitrag eine Veröffentlichung J.G. Cunradis als produktive Verarbeitung eines ideologischen Prätextes, obwohl sich dort „keinerlei direkte Verweise auf die Ideologie oder die Ideologen" (ebd.: 213) finden. Als Beleg dienen ihm hier zahlreiche Formulierungsparallelen zwischen dem Text Cunradis und einer Abhandlung Antoine Destutt de Tracys. Auch wenn man dieser Interpretation nicht folgen mag, 15 lassen sich doch die verschiedensten Gründe und Umstände denken, die einen Wissenschaftler bewegen können, Vorgaben von Fachkollegen zu übernehmen und zu verarbeiten, ohne seine Quelle explizit zu erwähnen. Die implizite Rezeption ist eher ein heuristisches Problem für die historiographische Rekonstruktion als eine eigene Kategorie von Rezeption. Unverzichtbar für eine historiographische Strukturierung des komplexen Rezeptionsprozesses und für einen Vergleich verschiedener Verar14 15
Vgl. die in diesem Punkt ähnliche Kritik von Dobnig-Jülch u.a. (1992: 70) an Dräxler. Dobnig-Jülch u.a. (1992) kritisieren Dräxlers atomisierenden Textvergleich und ziehen mit Recht in Zweifel, ob seine „bloße Gegenüberstellung von aus dem Zusammenhang genommenen Textpassagen, und seien sie einander noch so ähnlich, eine so weitreichende Schlußfolgerung fundieren kann." (ebd.: 70).
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beitungen eines Rezeptionsgegenstandes scheint mir dagegen die Unterscheidung von „nicht produktiven" und „produktiven" Arten der Aneignung. Hier lehnt sich Dräxlers Differenzierung an Termini der literarischen Rezeptionsforschung an, wie sie etwa bei Hannelore Link (1980) systematisiert werden. Um beide Bereiche deutlich und in terminologisch einfacher Form voneinander abzugrenzen, werde ich sie in dieser Arbeit mit den Begriffen Rezeption und Wirkung belegen. Mein Begriff der Rezeption soll dabei Phänomene der Verbreitung und der Kenntnisnahme von Texten umfassen. Er deckt damit ungefähr das bei Dräxler abgeteilte Feld der Rezeption „im weitesten" und „im weiteren Sinne" (vgl. Dräxlers Schema) ab und umfasst somit die bei Link beschriebenen Formen der bloß „passiven" und der „reproduzierenden Rezeption". Unter „reproduzierender Rezeption" sind mit Link „alle Bemühungen um Vermittlung eines primären Rezeptionsgegenstands" (Link 1980: 89) zu verstehen, also sowohl die „materielle Vermittlung" in Form der Distribution von Texten wie auch Vermittlungsbemühungen über „die Herstellung eines weiteren sekundären Rezeptionsgegenstandes" (ebd.), wie sie ein Eintrag in einer Bibliographie, eine Buchankündigung in einem Verlagskatalog oder eine Rezension darstellt. Bei der Analyse der Rezeption des Prager Strukturalismus wäre etwa zu fragen, welche Texte bzw. Äußerungen von Angehörigen der Prager Schule im deutschen Sprachraum überhaupt zugänglich waren oder dem Fachpublikum in referierender oder kritischer Form bekannt gemacht wurden. Abweichend von dem durch Hans Robert Jauß geprägten literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch sollen mit dem Begriff der Wirkung in meiner Untersuchung alle Formen produktiver Aneignung rezipierter Inhalte gefasst werden. 16 Eine Wirkungsgeschichte. der Prager Schule hätte 16 Jauß definiert „ Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Adressaten bedingte Moment der Konkretisation von Sinn" (Jauß 1977: 12). Anders als Ette (1992) bezweifele ich, ob diese auf die speziell literarische „Text-Leser-Relation" (Jauß 1977: 12) zugeschnittene terminologische Unterscheidung auf den Zusammenhang wissenschafdicher Rezeptionsverhältnisse wirklich fruchtbar zu übertragen ist. Im Unterschied zu den stark selbstreferentiellen Werken der Literatur wird die „konkrete Textgestalt" (Ette 1992: 17) eines Fachtextes für dessen Rezeption in der Regel eine untergeordnete Bedeutung haben. Meist wird man es, wie gerade das Beispiel des Prager Strukturalismus zeigt, überhaupt nicht mit der ,Wirkung' singulärer Texte zu tun haben, sondern mit der Aufnahme von Theoremen, die in einer Vielzahl von Texten mitunter verschiedener Textsorten vorgestellt worden waren. Für wissenschaftliche Rezeptionsvorgänge ist zudem noch nicht einmal eine unmittelbare LeserWerk-Relation unabdingbar, hier spielen auch indirekte Formen der Rezeption über Einführungen oder Forschungsberichte eine wichtige Rolle. Andere Mitarbeiter des Frankfurter Ideologenprojektes verwenden die Unterscheidung der beiden Begriffe Rezeption und Wirkung denn auch nicht terminologisch. So rückt Haßler (1991) beide Termini in den Titel ihres Beitrags, ohne sie aber im Text selbst zu differenzieren. Auch in der Abschlussdiskussion des Projekts wurde die Verbindung „Rezeption und
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demnach zu prüfen, ob und auf welche Weise Vorgaben des Prager Strukturalismus in die wissenschaftliche Argumentation deutschsprachiger Linguisten übernommen, auf neue Forschungsgegenstände übertragen oder langfristig in übergreifende Fach- oder Schuldiskurse integriert worden sind. Dabei ist gewiss mit mehr Spielarten produktiver Verarbeitung zu rechnen als Dräxlers Schaubild oder die ganz ähnliche Typologie aus der Abschlussdiskussion des Frankfurter Projektes vorgeben (Oesterreicher 1994: 295). Die häufiger zu beobachtende Adaption von Theoremen der Prager Schule als ,backing' für die eigene Argumentation ist in diesen Zusammenstellungen beispielsweise noch nicht berücksichtigt. Da Wirkung sich zunächst ausschließlich in konkreten Texten manifestiert, fuhrt bei der Untersuchung produktiver Aneignung rezipierter Prätexte nicht nur in den Fällen, in denen explizite Rezeptionssignale fehlen, sondern generell „nur eine radikale Einzelfallanalyse zum Ziel" (Oesterreicher 1994: 296). Erst durch den Vergleich der Wirkung in Einzelfällen lassen sich historiographische Erkenntnisse zur Wirkungsgeschichte in sprachwissenschaftlichen Schulen oder Fächern erwarten. Wie bei Dräxler sind auch hier die Begriffe Rezeption und Wirkung „chronologisch und hierarchisch" (Dräxler 1991: 204) als Stufen eines idealen Rezeptionsprozesses aufeinander bezogen. Ohne Rezeption keine Wirkung. Dass die Rezeption ihrerseits immer schon Vorstufe der Wirkung ist, zeigt sich auf fundamentaler Ebene in selektiver Kenntnisnahme, die ausblendet, was nicht zum eigenen Diskussionskontext passt. Besonders deutlich reicht die Rezeption natürlich in reproduktiven Textsorten wie der Rezension in den Bereich der Wirkung hinüber, denn hier ist die referierende Darstellung meist mit kritischer und produktiver Aneignung eng verbunden. Auch wenn die Begriffe Rezeption und Wirkung untrennbar ineinander verschränkt sind, und sich vor allem in einem Ubergangsbereich stark annähern, sind sie doch geeignet, den RezeptionsVorgang polar zu strukturieren. Von herkömmlicher Einflussforschung unterscheidet sich meine Untersuchung von Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft auf zweierlei Weise: Erstens indem sie mit der Frage nach der Rezeption das Augenmerk auf Bedingungen und Prozesse wissenschaftlicher Kommunikation legt. Indem meine Arbeit verWirkung" gegenüber der isolierten Verwendung von „Rezeption" nur als „das unspezifischere heading' vorgeschlagen, das auch die „Grauzone" (Oesterreicher 1994: 296) weniger offensichtlicher Rezeptionsformen wie der impliziten oder indirekten Rezeption mit umfassen könne. In manchen Einzelfallen dürfte sich meine Abgrenzung des Begriffspaares mit der Verwendung der Termini bei Ulrich Thilo decken, der Rezeption und Wirkung ähnlich wie ich in ein zeitliches Folgeverhältnis bringt und die „Wirkung nämlich im Unterschied zur konkreten Textrezeption als langfristige Folge und überdauerndes Resultat von Rezeptionen" (Thilo 1989: 14) fasst.
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sucht, den Weg der rezipierten Texte nach Deutschland zu verfolgen und das Netzwerk internationaler Wissenschaftskontakte zu rekonstruieren, verschränkt sie Rezeptionsgeschichte mit einer Historiographie wissenschaftlicher Kommunikation. Unter dem Aspekt der Wirkung erscheinen wissenschaftliche „Einflüsse" zweitens nicht mehr als einsinnig kausale Bedingungen, sondern hier wird der Schwerpunkt gerade auf deren produktive Verarbeitung gelegt. Ich habe meiner Studie ein Briefzitat von Vilem Mathesius vorangestellt, das dieser seinem deutschen Rezipienten Henrik Becker entgegenhielt, der sich gern in der Rolle des dankbaren Schülers stilisierte. Mathesius formuliert hier den aus der Sicht der Prager Schule in der Tat ,,allgemeine[n] Satz", dass der Grad des Einflusses nicht nur von dem abhaengt, von dem der Einfluss ausgeht, sondern auch von dem, der ihn empfaengt.17 Ähnlich wie der Prager Linguistik-Zirkel bei der Analyse von Einflüssen im Sprachkontakt stets die „Aktivität" 18 und Eigengesetzlichkeit des aufnehmenden Sprachsystems in den Vordergrund stellte, soll bei der Untersuchung der Wirkung wissenschaftlicher Kontakte insbesondere der selektive und transformierende Zugriff, die „Aktivität" der Rezipienten Beachtung finden. Gerade die selektive und transformierende Aufnahme von Theoremen der im gleichen Zeitraum international durchgesetzten strukturalen Linguistik in den Arbeiten deutscher Sprachwissenschaftler dürfte die Wirksamkeit einheimischer Diskussionskontexte und Fachtraditionen als Rezeptionsfilter hervortreten lassen. Zwischen den Polen der Rezeption und der Wirkung des Prager Strukturalismus öffnet sich so ein Beobachtungsfeld, auf dem sich die deutsche Fachdiskussion in ihren charakteristischen Konturen abzeichnet und in ihrer Entwicklung nachzeichnen lässt. Die Frage nach einer frühen Rezeption und Wirkung des Strukturalismus, bzw. die Antwort, die man auf diese Frage geben wird, ist nicht zuletzt ein Problem der Quellenbasis. Viele der in 1.2 zitierten Aussagen der Fachliteratur sind nur dadurch erklärlich, dass sie ohne nähere Vertrautheit mit der zeitgenössischen Fachdiskussion formuliert worden sind. Datengrundlage dieser Aussagen ist allenfalls ein eher kleiner Ausschnitt aus der Menge der damals veröffentlichten Fachtexte — unveröffentlichte 17 18
Aus einem Brief von Vilem Mathesius an Becker vom 20.7.1941 (Univ.-Archiv Jena/V/X Nr. 274: S. 223). Im Anhang zu 4.1 dokumentiere ich den Brief vollständig. Die im Umfeld der Sprachbundtheorie schon früh entwickelte typisch Prager Konzeption von Einfluss (vgl. 4.1) umreißt Bohuslav Havränek für die Problematik des Sprachkontakts wie folgt: „Vom Standpunkt der sprachwissenschaftlichen Analyse aus muß man sich vor allem der Aktivität der Sprache, welche den .fremden' Einfluß empfängt, ihm den Platz in ihrer Struktur weist und ihn als Bestandteil ihrer eigenen Entwicklung und Entfaltung gearbeitet', bewußt sein." (Havränek 1965: 15)
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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Quellen wurden bislang gar nicht herangezogen. Zum Teil, und meist unausgesprochen, stützten sich die Einschätzungen zur jüngeren Fachgeschichte auf subjektive Erfahrungen während des eigenen wissenschaftlichen Ausbildungsganges, ohne dass freilich deren Partikularität und spezifische Zeitgebundenheit reflektiert worden wäre. 19 Die dünne Fundierung der These vom verspäteten deutschen Strukturalismus ist dabei weniger eine Folge der Bequemlichkeit und damit eine Angelegenheit der methodischen Standards, die man bei Erörterungen über die eigene Fachgeschichte für ausreichend hält. Vielmehr hat man es hier auch mit Konsequenzen der Tatsache zu tun, dass jede historiographische Rekonstruktion der Vergangenheit durch die Perspektive ihres Erkenntnisinteresses mitbestimmt ist. Für die Arbeit mit historischen Daten bedeutet diese Perspektivik, daß der Blick des Forschers auch die Quellen erst 'schafft', besser: erschließt. Sie waren ja schon da, es gab nur noch keine Fragestellung, die sie als relevant erkennbar gemacht hätte. (Schlieben-Lange 1991: 312)
Nur so ist beispielsweise erklärlich, dass der wichtigste Flistoriograph der Prager Schule, Josef Vachek, bis zu seinem Tod die reichen Prager Archivbestände zum Linguistik-Zirkel nie konsultierte, obwohl sie für ihn doch zeidebens in buchstäblich greifbarer Nähe lagerten. Erst durch die Verschiebung des historiographischen Interesses von der reinen Ideengeschichte auf Institutionsgeschichte und wissenschaftssoziologische Fragen sind diese und andere Archivalien ins Blickfeld der Forschung gerückt — und mit ihnen ein ganzes Korpus von bislang unbeachteten Texten der Prager Schule zur Kulturpolitik der Tschechoslowakischen Republik. 21 Solange sich die Geschichtsschreibung der Linguistik auf eine „Ideen- und Problemgeschichte der Sprachwissenschaft" (Robins 1973) beschränkte,
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20 21
Vgl. 1.2. Ein Beispiel für die problematische Subjektivität persönlicher Erinnerungen: Von Eberhard Zwirner, der wegen seiner engen Kontakte gerade zur Prager Schule gewiss als gewichtiger Zeitzeuge gelten kann, stammt der Satz, dass sich die verschiedenen Richtungen des Strukturalismus entwickelt hätten, „ohne daß sie in Deutschland - mit verschwindenden Ausnahmen (Elise Richter, Wien; A. Schmitt usw.) - überhaupt zur Kenntnis genommen worden" (Zwirner 1967: 412) seien. Er nennt als Ausnahmen bezeichnenderweise nur Fachkollegen seines eigenen Arbeitsgebietes. Dass es zum Beispiel auch innerhalb der frühen Sprachinhaltsforschung etwa bei Jost Trier eine intensive Saussure-Rezeption gegeben hatte, ist ihm lange nach dem Krieg zu seiner Überraschung erst von Hans Schwarz berichtet worden. Ich danke Hans Schwarz für seine Schilderung seines damaligen Gesprächs mit Zwirner. Ganz ähnlich resümiert Angelika Rüter die metahistoriographische Diskussion zum Status historischer Fakten für die Geschichtsschreibung der Linguistik: „Historische Fakten sind somit immer Relevanzfakten." (Rüter 1991: 216) Für diesen Umschwung in der Rekonstruktion der Geschichte des Prager Strukturalismus sind vor allem die Arbeiten von Jindrich Toman maßgeblich, vgl. Ehlers (1999b).
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1 Einführung
beschränkte sich auch ihre Quellenbasis auf die ,großen' Texte des Faches. In der Fachgeschichte speziell der deutschen Sprachwissenschaft suchte man überdies vor allem ein Gegenbild für die am internationalen Strukturalismus orientierten Neuerungsbewegungen der späten sechziger und siebziger Jahre — eine Interessenrichtung, die ernsthafte Recherchen nach Belegen für schon frühere internationale Kontakte des Faches geradezu ausschloss. Die erst in den letzten zwei Jahrzehnten begonnene Erschließung unveröffentlichter Quellen für die jüngere Geschichte der Sprachwissenschaft gilt bis heute vor allem der Rekonstruktion politischer Kontexte der Fachgeschichte. Eine Untersuchung zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Strukturalismus kann sich also nicht mit bekannten und schon bearbeiteten Texten zur Sprachwissenschaft begnügen, sondern muss sich auf die systematische Suche nach Quellen begeben, die für ihre spezifische Fragestellung aussagekräftig sein können. Die Spuren von Wahrnehmung und Verarbeitung wissenschaftlicher Prätexte sind dabei im besonderen Maße von historischer Vergänglichkeit betroffen: Rezeption ist nun ein historisches Ereignis, auf das gerade das Phänomen der defekten und begrenzten Rekonstruierbarkeit zutrifft. Sie findet statt in Form von Lektüre, Gedanken, Notizen, Gesprächen, Briefen, Lehre, Zeitschriften und Büchern. Bis auf Zeitschriften und Bücher sind alle anderen Textsorten und Tätigkeiten vergänglicherer' Natur, und die in ihnen stattgefundenen Reaktionen auf fremdes Gedankengut haben eine erheblich geringere Chance, der Nachwelt überliefert zu werden. (Dräxler 1991: 205)
Das hier umrissene Problem der Rekonstruierbarkeit von Rezeptionsverhältnissen wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die Fachgelehrten gerade in ihren „unvergänglicheren" monographischen Arbeiten und thematischen Zeitschriftenabhandlungen häufig recht sparsam mit ausdrücklichen Hinweisen auf Anregungen und Vorgaben argumentieren. Der Nachweis von Bezugspunkten in der verarbeiteten Fachliteratur erfolgte zudem in den zwanziger bis vierziger Jahren zum Teil viel ungenauer als in heutigen Fachpublikationen. 22 Innerhalb der veröffentlichten Quellen muss sich eine rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Untersuchung daher verstärkt den eher peripheren Texten des Faches zuwenden — Vorreden, Kongressberichten, Eröffnungsansprachen, Rechenschaftsberichten, Rezensionen usw. — , in denen sich die Wissenschaftler meist sehr viel expliziter im Feld der damaligen Fachdiskussionen positionieren. Neben den
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Als ein Beispiel sei hier Hermann Günterts Grundfragen der Sprachivissenschafl von 1925 genannt. Günterts Büchlein wendet sich offensichtlich an einen breiteren Leserkreis, will aber „auch dem Fachmann manches Neue bieten" (Güntert 1925: Vorrede). Die 48 Titel aus dem Literaturverzeichnis der Arbeit werden im laufenden Text kaum je explizit erwähnt oder gar zitiert.
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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ihrem Umfang und ihrer ideengeschichtlichen Bedeutung nach ,großen' Texten der deutschen Sprachwissenschaft sind also eine Fülle von kleinen Veröffentlichungen zu aktuellen Diskussionen und Ereignissen des damaligen Wissenschaftsbetriebs zu erschließen. Ein Großteil der Dokumente, die über Rezeptionsverläufe Auskunft geben können, sind aber nie für eine Veröffentlichung bestimmt gewesen und nur über Archivrecherchen zu ermitteln, falls sie überhaupt erhalten sind. Die Distribution und Bekanntheit von Texten innerhalb der Gemeinschaft der Sprachwissenschaftler wird sich nur dann ansatzweise rekonstruieren lassen, wenn es gelingt, Dokumente wie Verzeichnisse privater und öffentlicher Bibliotheken, Verlagsabrechnungen, interne Protokolle wissenschaftlicher Institutionen oder den persönlichen Briefwechsel von Gelehrten in größerem Umfang aufzufinden. 23 Sowohl Archivalien dieser Art wie auch die zuvor erwähnten peripheren Veröffentlichungen können dann Anlass geben, auch die bekannten zentralen Texte des Faches neu zu lesen und auf bisher übersehene oder für bloß ornamental gehaltenen Rezeptionssignale zu prüfen. Ich möchte die heuristische Relevanz der Quellenfrage für die Rekonstruktion von Rezeption und Wirkung am Beispiel der Saussure-Rezeption bei Leo Weisgerber veranschaulichen: In dessen veröffentlichten Zeitschriftenbeiträgen und Büchern finden sich erst ab 1927 und dann nur sehr sporadisch Hinweise auf den Cours de linguistique generale, denen höchst selten einmal größeres Gewicht für den Gang der Argumentation beigelegt wird. In Rückblicken aus der Nachkriegszeit stufte Weisgerber die Bedeutung Saussures für die Sprachinhaltsforschung überdies ausdrücklich als höchstens zweitrangig ein. Dass das Werk de Saussures eine „große Rolle" (Weisgerber 1931/32: 248) für die Entwicklung der eigenen Forschungsrichtung gespielt haben könnte, wird am ehesten in einer kurzen Rezension deutlich gemacht, die Weisgerber zur deutschen Ubersetzung des Cours herausbrachte. Erst die Heranziehung der bis heute unveröffentlichten Habilitationsschrift Weisgerbers ergibt dann ein völlig anderes Bild, das auch seine veröffentlichten Texte in ein neues Licht stellen muss. Diese Habilitationsschrift belegt, dass Weisgerber sich schon 1924 sehr intensiv und umfassend mit de Saussure auseinandergesetzt hat (vgl. 4.2 und Ehlers 2000c). Seine frühe Sprachinhaltsforschung erscheint demnach als das Ergebnis einer produktiven und eigenständigen Umsetzung von Gedankengängen und Begriffen des Cours in das Feld der Bedeutungsforschung
23
Da der Berichtszeitraum dieser Arbeit so nah an der Gegenwart liegt, konnte ich zudem einige Zeitzeugen der frühen Strukturalismusrezeption der Jahre vor 1945 persönlich befragen: Ich danke Dietrich Gerhardt, Hans Glinz, Jifi Nosek und Hans Schwarz für Ihre freundlichen Auskünfte.
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1 Einführung
und unter die Leitfrage nach der Sprache als gesellschaftliche Erkenntnisfom?*. So kann die Interpretation auch von Texten, deren historiographische Bewertung längst für geklärt galt, durch die Erschließung neuer Quellen aus ihrem Kontext unvermutet neue Impulse erhalten. Ganz in diesem Sinne stellte der Dokumentenfonds des Prager Zirkels am Tschechischen Archiv der Akademie der Wissenschaften, dessen überraschend reichen Materiahen ich bei Recherchen zu Henrik Becker ,entdeckt' habe, den Ausgangspunkt für meine vorliegende Arbeit dar. Die hier erhaltenen Dokumente gaben mir den Anstoß, den Spuren der tschechisch-deutschen Wissenschaftskontakte in anderen, tschechischen wie deutschen Archiven, in neu herangezogenen und auch in längst bekannten Texten der Fachgeschichte nachzugehen. 25 Die so zusammengetragenen Belege und Beispiele für die Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft ergeben trotz langjähriger Quellenrecherchen natürlich nur ein bruchstückhaftes Bild. Wenn sie gleichwohl dazu anregen können, eingefahrene Vorstellungen von der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit zu überdenken und deren Texte vor einem internationalen Kontext neu zu lesen, habe ich mein Hauptziel erreicht. Der Aufbau meiner Arbeit folgt dem Gang des Rezeptionsprozesses, so wie ich ihn oben skizziert habe. Im folgenden, zweiten Kapitel wird vorab geprüft, ob und inwieweit die Rezeption durch wissenschaftsexterne Bedingungen negativ oder positiv beeinflusst worden ist. Hierbei sollen Bedingungen der Wissenschaftskommunikation sowohl auf der Prager ,Senderseite' als auf der deutschen ,Empfängerseite' berücksichtigt werden. Das dritte Kapitel gilt dann der Rekonstruktion der Rezeption und versucht, auf der Basis veröffentlichter wie unveröffentlichter Belege die Verbreitung und Kenntnisnahme von Texten des Prager LinguistikZirkels im deutschen Sprachraum in Umrissen nachzuzeichnen. Das vierte Kapitel geht anhand von vier Fallbeispielen der Frage nach, welche Wirkung die Rezeption in den Arbeiten deutscher Sprachwissenschaftler hinterließ. Das fünfte Kapitel greift in seinen Unterabschnitten die Fragestellungen der vorhergehenden Kapitel wieder auf, um den besonderen Bedingungen für Rezeption und Wirkung im deutschen akademischen Milieu der Stadt Prag gerecht zu werden. Auch hier werden also allgemeine Rahmenbedingungen der Rezeption untersucht, Verlauf und Reich-
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So der Titel der handschriftlichen Habilitationsschrift, vgl. Weisgerber (1925). Unter den Archiven, die ich für meine Arbeit konsultiert habe, nimmt das Prager Akademie-Archiv daher eine besondere Stellung ein. Ich habe es über Jahre immer wieder mit neuen Fragestellungen aufgesucht. Frau Dr. Jana Croy, die meine Recherchen dort über all die Zeit hilfsbereit und freundlich betreute, gebührt deshalb mein besonderer Dank.
1.3 Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
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weite der Re2eption unter den deutschen Gelehrten der Stadt skizziert und eine ausführliche Fallstudie zur Wirkung angeschlossen. Das letzte Kapitel versucht eine zusammenfassende Auswertung meiner bisherigen Ergebnisse. Einer Reihe von Abschnitten gebe ich jeweils einen dokumentarischen Anhang bei. Hier werden unveröffentlichte Quellen vollständig und wo möglich in Photokopie wiedergegeben, die für die Argumentation des vorangegangenen Abschnitts eine besondere Bedeutung hatten oder die dort ausgewerteten Quellentypen beispielhaft veranschaulichen können.
2 Äußere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption international und im deutschsprachigen Raum Ehe in den später folgenden Kapiteln untersucht werden soll, auf welchen Wegen die Texte des Prager Strukturalismus in das deutsche Wissenschaftsmilieu gelangten und welche Wirkungen sie hier im Umfeld der lokalen Fachdiskurse entfalten konnten, soll dieses zweite Kapitel klären, ob es allgemeine Rahmenbedingungen gegeben hat, die als Bedingungen der Möglichkeit der Rezeption' die wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen positiv oder negativ beeinflussten. Setzten beispielsweise die politischen Ereignisse der dreißiger Jahre der Rezeption des Strukturalismus unüberwindliche Grenzen, auf die die wissenschaftliche Wirkung dann von vornherein beschränkt war (Abschnitt 2.1)? Brachte sich in dem Verhältnis slawischer Autoren und ihrer deutschen Leser die Wahl der Publikationssprachen als ein Rezeptionsfilter zur Geltung, der die Wahrnehmung der Arbeit der Prager Schule im deutschen Sprachraum vorab beeinträchtigte (Abschnitt 2.2)? Gab es organisatorische bzw. institutionelle Voraussetzungen, die die internationalen Aktivitäten des Prager Strukturalismus stützten und so Einfluss auf den Verlauf ihrer Rezeption nahmen (2.3)? Die folgende Betrachtung der politischen, sprachlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption wird zum Teil Faktoren beleuchten, die die Entwicklung des Strukturalismus auch außerhalb Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz betreffen. Zum Teil, insbesondere bei den politischen Rahmenbedingungen, geht es aber um äußere Determinanten, die nur im spezifischen Länderkontext zur Geltung kamen. Es liegt auf der Hand, dass gerade die äußeren Voraussetzungen, unter denen sich die Rezeption des Prager Strukturalismus bei deutschsprachigen Wissenschafdern innerhalb der Tschechoslowakischen Republik vollzog, von den Rezeptionsbedingungen im deutschsprachigen Ausland zum Teil erheblich abweichen. Die inlandsdeutsche Rezeption wird daher in Kapitel 5 gesondert behandelt und an dieser Stelle ausgespart. Wo immer die Rezeption des Strukturalismus in Deutschland bisher thematisiert wurde, beschäftigte man sich ausschließlich mit der Frage, welche Faktoren im deutschen Wissenschaftsmilieu den Verlauf und die
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Wirkung dieser Rezeption beeinflusst haben mochten. Die Untersuchung rezeptionsgeschichtlicher Prozesse wurde so auf eine Untersuchung des aufnehmenden Milieus verengt. Wie jede Kommunikation hat aber selbstverständlich auch die Wissenschaftskommunikation immer zwei beteiligte Seiten, sie konstituiert sich als Interaktion zwischen den Produzenten wissenschaftlicher Aussagen und deren Adressaten. Eine Rezeptionsgeschichte, die sich allein auf die Perspektive der Rezipienten beschränkt und den Anteil der Autoren und Multiplikatoren am Zustandekommen der wissenschaftlichen Kommunikation ignoriert, bleibt auf einem historiographischen Auge blind. Gerade im Falle des Prager Strukturalismus ist die internationale Rezeption von Prag aus — also produzentenseitig — gezielt initiiert und aktiv gesteuert worden. Schon der einleitende Abschnitt 1.1 dürfte gezeigt haben, dass sich die schnelle und weltweite Erfolgsgeschichte des Prager Strukturalismus kaum angemessen erklären ließe, wenn man die planvolle Nutzung der Kommunikationsforen der internationalen Sprachwissenschaft und die systematische Verbreitung der Publikationen durch die Anhänger der Phonologie nicht in Rechnung stellen wollte. Es soll in den folgenden Abschnitten also immer auch gefragt werden, welche äußeren Faktoren sich am tschechoslowakischen Ausgangspunkt der Rezeptionsbeziehung zur Geltung brachten.
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption: Zwischen Indifferenz und Wissenschaftsförderung Auf den ersten Blick liegt es recht nahe, die Spezifik der deutschen Strukturalismusrezeption mit den Besonderheiten der politischen Rahmenbedingungen in Verbindung zu bringen, mit denen Deutschland nach 1933 und später auch Osterreich aus der gesamteuropäischen Entwicklung ausscherte. Eine der häufigsten Erklärungen, die die fachgeschichtliche Literatur für den deutschen Sonderweg in der Strukturalismusrezeption gibt, ist denn auch die Annahme, die deutsche Sprachwissenschaft sei in der Zeit des Nationalsozialismus von den internationalen Entwicklungen isoliert gewesen. Hinter politisch abgeriegelten Staatsgrenzen habe man von den Fachdiskussionen im Ausland kaum noch etwas vernehmen können, für eine Strukturalismusrezeption hätten demnach in Deutschland schon die elementarsten äußeren Voraussetzungen gefehlt. Gegen diese These einer politisch bedingten „Abschottung der deutschen Sprachwissenschaft" (Maas 1988: 263) sprechen allerdings verschiedene Befunde, von denen einige in aller Kürze schon im Abschnitt 1.2 angesprochen worden sind. Ich werde im Kapitel 3 zusätzlich darstellen, dass alle auf ein internationales Publikum zielenden Texte der Prager Schule auch im deutschen Sprachraum ungehindert Verbreitung fanden und der wissenschaftliche Austausch mit Vertretern des Prager Strukturalismus sehr häufig sogar auf der Basis persönlicher Kontakte angesiedelt war, die oft auch das Jahr 1933 überdauerten bzw. überhaupt erst in der Zeit des Nationalsozialismus geknüpft worden sind. Auch wenn sich — und zwar im Gefolge schon des Ersten Weltkrieges — eine politisch bedingte wissenschaftliche Entfremdung von den europäischen Nachbarn abzeichnete (vgl. 1.2), muss die These von einer politischen „Isolation" der Wissenschaftsnation Deutschland selbst für die Zeit nach der Machtübernahme als überzogen zurückgewiesen werden. Diese These beträfe aber die deutsche Sprachwissenschaft insgesamt und wäre konsequent auch auf andere akademische Fächer zu übertragen gewesen. Die politischen Rahmenbedingungen hätten demnach nur indirekt und ganz unspezifisch einer Rezeption der strukturalen Tendenzen im Ausland entgegen gewirkt; auch alle anderen Neuerungen ausländischer Wissenschaft hätten folglich nach 1933 nicht mehr nach Deutschland durchdringen können. In der Fachliteratur zur deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit wird aber darüber hinaus vielfach
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
postuliert, es habe auch einen spezifischen Zusammenhang zwischen den politischen Bedingungen in Deutschland und der geringen Wahrnehmung gerade des Strukturalismus gegeben. Die Behauptung, eine Strukturalismusrezeption sei aufgrund gezielter politischer Einwirkungen unterblieben, findet ihre stärkste Formulierung wohl bei Frederick Newmeyer: The political opposition to structural linguistics was strong enough to keep it from gaining a foothold in other places as well. Both nazi Germany and fascist Italy had officially condemned structuralism as incompatible with the ideology of the state. (Newmeyer 1986, zit. nach Hutton 1999: 18)
Während hier also eine unmittelbare administrative Einflussnahme auf die Rezeptionsprozesse vorausgesetzt wird, fassen andere Autoren die „politische Opposition" gegen den Strukturalismus schwächer als Unvereinbarkeit seiner methodologischen Grundlagen mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Die ideologischen Voreinstellungen der Zeit, die natürlich auch in den stark politisierten Wissenschaften verbreitet waren, fungierten demzufolge als ein Rezeptionsfilter, der die deutschen Sprachwissenschaftler gegenüber den methodologischen Errungenschaften des internationalen Strukturalismus blind gemacht hätte. Bei Gerhard Voigt beispielsweise wird die These vertreten, daß die herrschende historische Sprachwissenschaft die Vorlesungen de Saussures (1906-1911) bis nach Kriegsende [gemeint: nach 1945] deswegen kaum zur Kenntnis nahm, weil sie nicht mit dem Konzept einer nationalistischen Deutschwissenschaft vereinbar waren. (Voigt 1974: 453)
Diese Erklärung antistrukturalistischer Vorbehalte aus ideologischen Ressentiments setzte in den siebziger Jahren ein argumentatives Potential frei, das sich im Kontext der Umorientierung jüngerer deutscher Sprachwissenschaftler auf die damals aktuellen Vorgaben des amerikanischen Strukturalismus vorteilbringend gegen die bis dahin in der Bundesrepublik tonangebende Sprachinhaltsforschung einsetzen ließ. Es ist vor allem Gerd Simon und Utz Maas anzurechnen, dass sie mit ihren historiographischen Arbeiten zur Sprachwissenschaft im Nationalsozialismus die allzu eingängige Negativkorrelation zwischen strukturalistischer Methodologie und nationalsozialistischer Ideologie hinterfragten. Die Ergebnisse von Simon und Maas liegen seit den achtziger Jahren in einer Reihe von Veröffentlichungen leicht greifbar vor und sind überdies kürzlich von Christopher Hutton in ihrem Ergebnis knapp zusammengefasst worden (Hutton 1999: 15ff.). Ich möchte an dieser Stelle deshalb nur einige ihrer zentralen Argumente aufgreifen und um Belege aus eigenen Recherchen ergänzen. Dass Affinität zum Nationalsozialismus keinesfalls zwangsläufig mit einer Aversion gegen methodologische Grundprinzipien des Strukturalis-
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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mus einhergehen musste, zeigen besonders deutlich die Arbeiten junger, explizit ideologisch argumentierender Sprachwissenschaftler der NS-Zeit. Unter anderem am Beispiel des Romanisten Edgar Glässer, der eine Einführung in die rassenkundliche Sprachforschung vorlegte (Glässer 1939), lässt sich nach Maas „die keineswegs wissenschaftlich Reaktionäre' Haltung der engagierten jüngeren Sprachwissenschafder, vor allem im Umfeld der SS" (Maas 1992: 471) erkennen. Hier bedingte gerade der Elan des ,Aufbaus' eines neuen Reiches die Abgrenzung von ,thümelnder' Pseudowissenschaft, der emphatische [sie] Bezug auf .moderne' Forschungsmethoden, (ebd.)
Der Rassist Glässer erweist sich als versierter Kenner der aktuellen strukturalistischen Fachdiskussion und benennt als Gewährsmann eigener Argumentationen vor allem Karl Bühler. Ähnlich liegt der Fall des ebenfalls der SS nahestehenden Sprachwissenschaftlers Georg Schmidt-Rohr, den Simon für die Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft wiederentdeckte: Auffällig sind seine Kenntnisse strukturalistischer Veröffentlichungen: Saussure, Bally, Sechehaye, Meillet - Trubetzkoy, Slotty — Hjelmslev, Brondal werden meist zustimmend verarbeitet. (Simon 1986: 528)
Eberhard Zwirner, der seinen phonometrischen Ansatz zunehmend an die Phonologie anlehnte und langjährigen Kontakt mit Prager Linguisten unterhielt (vgl. 3.4), bewegte sich bei seinen Forschungsvorhaben irritationslos über „Nahtstellen zwischen sprachstrukturalistischem und rassistischem Diskurs" 1 hinweg. Die Aufzählung durchaus ernsthafter Strukturalismus-Rezipienten — auch älterer —, die sich wissenschaftlich gleichwohl im ideologischen Umfeld des Nationalsozialismus bewegten, ließe sich mühelos fortsetzen. 2 Zu derartigen Beobachtungen an einzelnen deutschen Wissenschaftlern passt, dass gerade von „einer der nationalsozialistischen ,Stoßtrupp'- Universitäten" (Maas 1996: 50), nämlich aus Kiel, eine Anfrage beim Prager Linguistik-Zirkel archivalisch belegt ist, mit der ein Publikationstausch angeregt werden sollte. Die Initiative ging, wie der Kieler Bibliotheksdirektor eigens hervorhebt, von den „philologischen Mitgliedern des Lehrkörpers" 3 aus, die dringendes Interesse an den Travaux du Cercle Unguistique de Prague angemeldet hatten (vgl. 3.3). Sowenig selbst bei überzeugten Anhängern des Nationalsozialismus eine Annäherung an den internationalen Strukturalismus ausgeschlossen 1 2 3
Simon (1992: Titel), vgl. ders. (in Vorbereitung). Stempel (1990: 165) nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise Fritz Stroh, der sich in seinen Arbeiten auf „Saussures Begriffsbildungen" stützte und „dem NSRegime ergeben" gewesen sei, vgl. auch 4.3. Vgl. Schreiben Oberländers vom 26.10.1936 im dokumentarischen Anhang zu Abschnitt 3.3.
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2 Äußere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
war, sowenig kann umgekehrt vorausgesetzt werden, dass Sympathisanten des Strukturalismus mit besonderen Zwangsmaßnahmen rechnen mussten. Verfolgung und Vertreibung erlitten deutsche Sprachwissenschaftler aufgrund ihrer rassischen Kategorisierung oder der ihnen zugeschriebenen politischen Haltung, in der Regel aber nicht wegen des methodologischen Profils ihrer linguistischen Arbeit. Maas' breite prosopographische Untersuchungen zu den vertriebenen deutschen Sprachwissenschaftlern widersprechen der verbreiteten Annahme, etwaige Ansätze einer deutschen Strukturalismusrezeption seien, noch ehe sie sich hätten entfalten können, ins Exil gezwungen worden: Die vom Faschismus in die Emigration getriebenen Sprachwissenschaftler verkörperten keineswegs die [...] strukturelle Sprachwissenschaft. (Maas 1992: 477)
Sie repräsentierten vielmehr ein „wissenschaftliches ,Normalprofil'" (Maas 1988: 266), das einen Querschnitt durch alle methodologischen Lager der Zeit umriss. 4 Entsprechend umfasst der im Kapitel 3.4 aufgelistete Kreis von deutschsprachigen Linguisten, die mit dem Prager Zirkel einen direkten Austausch pflegten, eine ganze Bandbreite politischer Einstellungen vom ausgesprochenen Systemgegner (wie Wolfgang Steinitz) bis zum aktiven Nationalsozialisten (wie Walter Porzig). Ein einfacher und eindeutiger Zusammenhang zwischen einer bestimmten Position gegenüber den internationalen Entwicklungen des Strukturalismus und einer bestimmten Position im ideologischen Feld ist also nicht auszumachen. There is in any case an intrinsic problem in making Saussure's Cours the litmus test for adherence to objective or scientific linguistics. Saussure's Cours is too open for co-option by a wide range of socio-political and linguistic theories. (Hutton 1999: 21)
Die unter 4.4 vorgestellte Fallstudie zu Eugen Lerch wird unter anderem zeigen, dass der Systembegriff de Saussures umstandslos in ein nationenkundliches Forschungsprogramm eingepasst werden konnte, nachdem Lerch dieses Programm selbst pünktlich zur Machtübernahme schon zur ideologischen Gleichschaltung angeboten hatte. Der Fall Lerch erweist zugleich sehr plastisch, dass für administrative Zwangsmaßnahmen gegen Wissenschafder die Frage methodologischer Orientierungen und Umorientierungen gänzlich unerheblich bleiben konnte. Nach der demonstrativen Selbstgleichschaltung 1933 und der jähen Umorientierung auf den Strukturalismus im Jahr 1934 wird Lerch 1935 vermutlich im Zusammenhang einer universitären Intrige unter den Vorwürfen, er sei „vor 1933 durchaus links eingestellt" gewesen und unterhalte „näheren Verkehr mit
4
Zu einem ähnlichen Befund kommt für die vertriebenen Romanisten Hausmann (2000: 263).
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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einer jüdischen Sekretärin" (zit. nach Schoo 1997: 20)5, zwangspensioniert. In dem mir bekannten Aktenmaterial zur Endassung Lerchs und seiner verschleppten Wiedereinsetzung ins Amt nach 1945 ist mit keinem Wort von der methodischen Ausrichtung seiner romanistischen Forschung die Rede. Es wäre allerdings sehr verwunderlich, wenn in dem durchgreifend politisierten Wissenschaftsbetrieb während der Zeit des Nationalsozialismus methodologische Auseinandersetzungen und universitäre Rangstreitigkeiten nicht auch in den politischen Diskurs projiziert worden wären. Zumindest auf einen Fall bin ich bei Archivrecherchen gestoßen. Nach dem Tod Trubetzkoys entbrannten am Slawischen Seminar der Universität Wien zwischen dem ehemaligen Trubetzkoy-Mitarbeiter Rudolf Jagoditsch und dem Nachfolger auf Trubetzkoys Lehrstuhl, Ferdinand Liewehr, Konflikte um die Führungsposition innerhalb des Seminars. Der ,Gaudozentenführer' und Rektor der Wiener Handelshochschule, Kurt Knoll, intervenierte bei Parteistellen und beim Wissenschaftsministerium massiv zugunsten Liewehrs, indem er den Konflikt als methodologischideologische Auseinandersetzung zwischen der Schule Trubetzkoys und der neuen Richtung Liewehrs stilisierte, „die mit Recht als wahrhaft deutsche Slawistik bezeichnet werden darf" 6 . In seinem langen „Bericht über die Neuausrichtung der Slawistik an der Universität Wien" wirft er dem verstorbenen Trubetzkoy unter anderem vor, „politisch links organisiert" gewesen zu sein: Außerdem gehörte er dem Prager Linguistenzirkel an, dessen treibende Kräfte sich in ihm und dem Juden Roman Jakobson verkörperten, wie überhaupt die Mitglieder dieser auch unter dem Namen ,Prager Phonologenschule' bekannten Vereinigung ausschließlich Juden und sozialdemokratisch bezw. kommunistisch eingestellte Slawen waren. Ihre Ideenwelt mit allen dem Reiche abträglichen Theorien verpflanzte Trubetzkoy auch in das ihm anvertraute Wiener Seminar für slawische Philologie, das auf diese Weise Gefahr lief, zum Sammelpunkt deutschfeindlicher Bestrebungen zu werden. Die Phonologie, die sich als überspannte und anmaßende Reaktion auf den Positivismus darstellt und die Möglichkeit in sich schließt, die sprachlichen Tatsachen je nach Bedarf in völlig subjektiver Weise auszudeuten, stellt infolge ihres jüdisch-dialektischen und slawischen-mystischen Charakters eine der literarischen Dekadenz vergleichbare Verfallserscheinungen [sie] auf dem
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Vgl. Schoo (1997: 18ff.) und 4.4. Archivalische Dokumente zu den Vorgängen in Univ.-Archiv Münster/ Kurator/ Pers. A. Nr. 3 bzw. dort Neue Univ./ Pers. A. 126, Neue Univ. (Pressestelle)/ Pers. A. 565 und Phil. Fak./ Pers. A. 52. Recht umfangreiche Dokumente zu dieser Angelegenheit vom Frühjahr 1943 finden sich im Bundesarchiv Berlin unter der Signatur BArch/ NS 15/ 235. Der undatierte Bericht Knolls a.a.O. Blatt 29-36, das Zitat dort Bl. 31.
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Gebiete der slawischen Sprachwissenschaft dar, so daß sie unbedingt bekämpft werden muß. 7
Hier gerinnen Rassismus, antislawisches Ressentiment und fachliches Unverständnis auf wenigen Zeilen zu einer ideologisch geladenen Argumentation gegen die Phonologie, die durchaus einen effektiven' Prototyp nationalsozialistischer Abwehr gegenüber dem Prager Strukturalismus hätte abgeben können. Wenn ich auch bezweifele, dass Knolls Auslassung ein Einzelfall geblieben ist, so sind mir vergleichbare Argumentationsmuster in Fachtexten oder unveröffentlichten Quellen bislang aber nicht begegnet. Eine offizielle wissenschaftspolitische Linie, die dann gar — im Sinne der These Newmeyers — auch administrativ durchgesetzt worden wäre, zeichnen Knolls Ausfuhrungen jedenfalls nicht.8 Dass es hinsichtlich des Strukturalismus in Deutschland „keine administrativen Einschränkungen der fachlichen Debatte gab" (Knobloch 2000: 155) und hier noch nicht einmal offizielle Sprachregelungen vorgegeben waren, lässt sich beispielsweise an der ideologisch völlig ungebundenen Diskussion in Zwirners Archiv für vergleichende Phonetik verdeutlichen. Hier war nach 1937 die Phonologie einer der zentralen Schwerpunkte methodologischer Auseinandersetzung, an der auch Prager Linguisten (Trubetzkoy, Trnka) sowie andere Vertreter des internationalen Strukturalismus (z.B. Hjelmslev) mit eigenen Beiträgen beteiligt waren. Ein anderes Beispiel: Der Import von Publikationen des Prager Linguistik-Zirkels wurde seit 1932 bis zum Frühjahr 1945 über den Leipziger Kommissionsverlag Harrassowitz abgewickelt, ohne dass auch nur der Versuch von Zensurmaßnahmen erkennbar wäre (vgl. 3.1). Auch noch nach Trubetzkoys Verhör durch die Gestapo, das 1938 seinen tödlichen Herzanfall mitverschuldet hat, verkauften sich gerade dessen Bücher über Harrassowitz überdurchschnittlich gut. Die fachliche Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus ist in Deutschland aber nicht nur toleriert, sondern wenigstens in einem belegbaren Fall sogar regierungsamtlich gefördert worden. Die vom Kopenhagener Linguistik-Zirkel seit 1939 herausgegebene Zeitschrift Acta linguistica, die als erste „Revue internationale de linguistique structurale" von einem breiten „Conseil international" getragen wurde, erhielt nach der Okkupation Dänemarks finanzielle Unterstützung durch das deutsche
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BArch/ NS 15/ 235: 29, vgl. die vorhergehende Fußnote. Das bestätigt aus seiner umfangreichen Kenntnis einschlägiger Archivalien auch Gerd Simon: „Ich habe die offiziellen Verlautbarungen und den größten und wichtigsten Teil der nichtpublizierten Archivalien im 3. Reich regierungs- und parteiamtlicher Provenienz (letztere umfassen allein ca. 500.000 Vorgänge!) durchgeforscht und nicht eine einzige den Strukturalismus betreffende Kritik, geschweige denn ein offizielles Verdammungsurteil gefunden." (Simon 1989: 455)
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
71
Auswärtige Amt. Dies geht unter anderem aus einem Schreiben Diedrich Westermanns, des Direktors des Berliner Instituts für Lautforschung, hervor, in welchem dieser Louis Hjelmslev als „Herausgb. der vom Deutschen A.A. unterstützten Acta linguistica" 9 vorstellt. Auch das Impressum der Zeitschrift erwähnt neben anderen Geldquellen eine „subvention du Ministere allemand des affaires etrangeres" (Acta linguistica 2 1940-41). Es ist freilich nicht anzunehmen, dass es dem Außenministerium hier um den wissenschaftlichen Gegenstand selbst ging, vielmehr dürfte man durch die Subventionierung versucht haben, den deutschen Einfluss in internationalen Wissenschaftsinstitutionen zu stärken. So belegt die finanzielle Unterstützung der Acta linguistica vor allem eins: die vollständige Indifferenz der amtlichen deutschen Politik gegenüber den wissenschaftlichen Neuerungen des internationalen Strukturalismus. Wenn also der Nationalsozialismus der Rezeption des Strukturalismus in seinem Einflussbereich keine gezielten Maßnahmen entgegen setzte, bedeutet das allerdings nicht, dass von den Auswirkungen seiner Politik nicht einzelne Wissenschaftler persönlich betroffen waren, die für die Entwicklung des Strukturalismus und seiner Rezeption im deutschsprachigen Raum eine Rolle spielten oder hätten spielen können. Auch hier seien nur einige Beispiele genannt. Da ist zunächst an den russischen Ethnographen Petr G. Bogatyrev zu denken, der sich als früheres Gründungsmitglied des Moskauer Linguistik-Zirkels nach seiner Übersiedelung nach Prag sehr aktiv auch im dortigen Linguistik-Zirkel engagierte. Bogatyrev war zwischen 1931 und 1933 als Lektor an der Universität Münster beschäftigt und verließ im Herbst 1933 fluchtartig das Land, just zu einem Zeitpunkt, als es gelungen war, ihm in Münster eine dauerhafte Berufsperspektive zu sichern. Welche wissenschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten Bogatyrev, der in Münster sogleich Kontakt mit der funktionalistischen Volkskunde der Schwietering-Schule aufgenommen hatte,10 unter anderen politischen Rahmenbedingungen hätte entfalten können, bleibt eine Frage hypothetischer Geschichtskonstruktion. Die rassisch und politisch begründete Vertreibung dünnte natürlich auch das Netz der Kontaktperso9
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Schreiben Westermanns an Oberregierungsrat Dahnke im Reichswissenschaftsministerium vom 17.9.1942, BArch/ REM 4901/ 2900: Bl. 332. Westermann gehörte als einziger Deutscher von Beginn an zum „conseil international" der Acta linguistica und stand bei Planungen internationaler Aktivitäten im Bereich der Phonetik in engem Kontakt mit dem Wissenschaftsministerium. So gehört sein hier zitiertes Schreiben in den Kontext von Vorbereitungen zu einer „Deutschen Tagung für Phonetik mit ausländischer Beteiligung" aus dem Jahr 1942. Eine breite internationale Beteiligung war ausdrücklich erwünscht, aus dem Umkreis des Strukturalismus wären nach den erhaltenen Planungen mindestens Brandal, Hjelmslev, Martinet, Vendryes, Laziczius und Trnka nach Deutschland geladen worden, vgl. a.a.O.: Bl. 332-334 und vorhergehende Seiten. Vgl. Ehlers (1998a) und den Abschnitt zu Karl H. Meyer in 3.4.
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
nen aus, das sich der Prager Linguistik-Zirkel bis 1933 im deutschen Wissenschaftsmilieu aufgebaut hatte (vgl. 3.4). Ob es ohne den Verlust wissenschaftlicher Kapazitäten, der wohlgemerkt alle methodologischen Lager betraf, zu einem anderen Verlauf auch der Strukturalismusrezeption gekommen wäre, ist ebenfalls nur zu mutmaßen. Hypothetisch bleibt auch die Frage, welche Folgen es für diese Entwicklung in Deutschland gehabt hätte, wenn Trubetzkoy auf den im März 1937 vakant gewordenen Lehrstuhl Erich Berneckers nach München berufen worden wäre. Hier war Trubetzkoy anfangs neben Gerhard Gesemann und Reinhold Trautmann im Gespräch, ist dann aber wegen „erhebliche[r] politische[r] Bedenken" ausgeschieden (Schaller 1987: 206). Auch hier hatten natürlich politische Entscheidungen bzw. Maßnahmen gegenüber Einzelpersonen indirekte Konsequenzen für die Fachgeschichte. Dies wird besonders deutlich noch einmal am Ende der dreißiger Jahre, wo das Einwirken der Politik die Entwicklung des ,klassischen' Prager Strukturalismus gewaltsam abbrach (vgl. 1.1). Der Anschluss Österreichs hätte den Wirkungsmöglichkeiten Trubetzkoys auch dann ein abruptes Ende gesetzt, wenn er nicht so frühzeitig gestorben wäre. Auf die besorgte Anfrage des Berliner Reichswissenschaftsministeriums von Anfang Mai 1938 beim österreichischen Unterrichtsministerium, ob Trubetzkoy auf dem für Juli des Jahres in Gent geplanten Kongress für phonetische Wissenschaften als Repräsentant Österreichs auftreten werde, kam aus Wien die folgende Mitteilung: Schon heute kann gesagt werden, daß eine Entsendung des Professor Fürst Trubet^koj, der auf eigenen Antrag beurlaubt ist, nicht in Frage kommt. Es ist nicht anzunehmen, daß Professor Trubetzkoy hier seinen Dienst wiederaufnehmen kann. 11
Ob man Trubetzkoy wenigstens eine Teilnahme als Privatmann gestattet hätte, ist fraglich. Schon im Mai 1938 stand bei der zuständigen Behörde also außerdem schon das Ende von Trubetzkoys Tätigkeit an der Wiener Universität fest: Er hatte nie einen Hehl aus seinen antinationalsozialistischen Ansichten gemacht, und in einem Aufsatz über die Rassenfrage hatte er die Rassentheorie einer vernichtenden Kritik unterzogen. An der Wiener Universität hätte er weder bleiben können noch wollen. Die letzte Hoffnung Trubetzkoys war, nach Amerika auszuwandern und dort seine wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. (Jakobson 1989: 288)
Was sich im Falle Trubetzkoys nicht mehr erfüllen ließ, gelang trotz vorübergehender Inhaftierung durch die Gestapo seinem Wiener Kollegen 11
Schreiben von „Oberregierungsrat Huber dzt. Österreichisches Unterrichtsministerium" vom 19.5.1938, BArch/ REM 4901/ 2900: Bl. 202, die Anfrage des Berliner Ministerium vom 6.5. ebd.: Bl. 204.
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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Karl Bühler. Der gerade im deutschsprachigen Raum sehr einflussreiche Fürsprecher des Prager Strukturalismus wurde „nicht zuletzt wegen seines Engagements in der Volksbildung im roten Wien und wegen seines offenen Eintretens gegen den Antisemitismus (und weil er mit einer Jüdin verheiratet war)" (Maas 1988: 266) ins amerikanische Exil getrieben. Bereits ein Jahr vor der Okkupation der „Resttschechei", in dem der Prager Linguistik-Zirkel durch die Schließung der tschechischen Hochschulen seine universitäre Basis verlor und weitere seiner Mitglieder fliehen mussten (Jakobson, Eugen Seidel, Ingeborg Seidel-Slotty) oder gar ins Konzentrationslager verschleppt wurden (Emil Utitz 12 ), war durch die politische Verfolgung wichtiger Vermitdergestalten des Prager Strukturalismus dessen Rezeption im deutschsprachigen Raum empfindlich beeinträchtigt. Die Fachdebatten um Strukturalismus und Phonologie hatten sich allerdings am Ende der dreißiger Jahre schon soweit verselbständigt, dass der Prager Strukturalismus, selbst nachdem man wichtige Vertreter und Vermittler zum Verstummen gebracht hatte, in der wissenschaftlichen Diskussion blieb — auch im Deutschen Reich. Wenden wir uns nun den politischen Verhältnissen an der ,Quelle' der Rezeptionsbeziehung zu. Unter welchen politischen Rahmenbedingungen entwickelte sich der Prager Strukturalismus in seinem Ursprungsland, die sich auch auf seine internationale Rezeption ausgewirkt haben könnten? Einen geeigneten Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage bietet eine bemerkenswerte Danksagung, die wir in dem offiziellen Tätigkeitsbericht finden, den der Prager Linguistik-Zirkel zu seinem zehnjährigen Jubiläum herausgab: Vzäcne porozumeni pro ükoly a potfeby dnesniho ceskoslovenskeho zivota a speciälne i pro ükoly a cfle Praz. lingu. krouzku vzdy projevovali president Osvoboditel T. G. Masaryk i nynejsi president ceskoslovenske republiky Ed. Benes; Krouzek je jim za to hluboce vdecen. (Zpräva ο ännosti 1936: 13)13 Ein außergewöhnliches Verständnis für die Aufgaben und Bedürfnisse des heutigen tschechoslowakischen Lebens und besonders auch für die Aufgaben und Ziele des Prager Linguistik-Zirkels äußerten jederzeit der BefreierPräsident T. G. Masaryk und der heutige Präsident der Tschecho-slowakischen Republik, Ed. Benes; der Zirkel ist ihnen dafür zutiefst dankbar.
Diese Danksagung verweist auf eine enge Verbindung zu den obersten Repräsentanten des Staates, und bringt damit eine Nähe von Wissenschaft und Politik ins Spiel, die in dieser Hochrangigkeit hier mit Recht als „au-
12 13
Utitz leitete in Theresienstadt die Ghettobibliothek und ist vom Weitertransport verschont geblieben, vgl. Braun (1999). Die hier und im folgenden zitierten Passagen aus dem Tätigkeitsbericht werden nahezu wortgleich aufgenommen in Trnka (1937: 197). Bohumil Trnka könnte auch Verfasser des anonym herausgegebenen Tätigkeitsberichts gewesen sein.
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2 Äußere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
ßergewöhnlich" charakterisiert wird. Unmittelbar vor dieser Danksagung legt der Tätigkeitsbericht des Linguistik-Zirkels offen, dass die Verbindung zur Politik nicht nur auf „Verständnis" basierte, sondern sich auch in handfest materieller Unterstützung manifestierte: Ucinne vychäzely stale vstric Praz. lingu. krouzku ν jeho snahäch a potrebäch min. skolstvi a närodni osvety, min. zahranicnich veci, rada hl. m. Prahy, Slovansky üstav ν Praze a Institut francais Ernst Denis, jimz za jejich pnzen a podporu Krouzek uprimne dekuje. (ebd.) 14 Dem Prager Linguistik-Zirkel kamen bei seinen Bestrebungen und Bedürfnissen das Ministerium für Schulwesen und Volksbildung, das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, der Rat der Hauptstadt Prag, das Slawische Institut und das französische Institut Emst Denis stets tatkräftig entgegen, denen der Zirkel für ihr Wohlwollen und ihre Unterstützung aufrichtig dankt.
Die Höhe der Subventionierung war beträchtlich. Sie deckte nach den Zahlenangaben des Tätigkeitsberichtes gut 90% der Druckkosten für neun Einzelveröffentlichungen, die der Prager Zirkel bis 1935 herausgebracht hatte: Za dobu sveho trväni jakozto spolku prijal Praz. lingu. krouzek do konce r. 1935 na subvencich a soukromych darech Kc 50.650 a vydal za tisk publikaci (9) Kc 56.232. (ebd.) Seit seinem Bestehen als Verein empfing der Prager Linguistik-Zirkel bis zum Ende des Jahres 1935 Kc 50.650 an Subventionen und privaten Zuwendungen und gab für den Druck von Publikationen (9) Kc 56.232 aus.
Ein plastisches, wenngleich mit Sicherheit unvollständiges Bild von den immer wiederkehrenden Versuchen des Prager Zirkels, bei verschiedenen Stellen eine finanzielle Unterstützung seiner Tätigkeit zu erlangen, bieten die erhaltenen Protokolle der Sitzungen seines geschäftsführenden Ausschusses. Das Protokoll der Sitzung vom 3. Oktober 1935 hält beispielsweise fest, dass man beim Schulministerium einen Antrag auf 5.000 Kc als Druckkostenunterstützung für den geplanten sechsten Band der Travaux einreichen werde und Jan Mukarovsky sich zusätzlich „persönlich auch andernorts um eine Unterstützung des Prager Linguistik-Zirkels" 15 bemühen wolle. Eine genaue Untersuchung der Subventionierung des Linguistik-Zirkels, die dann auch erlauben würde, die Angaben aus dem Tätig-
14
15
Das Slawische Institut (Slovansky üstav) war ein 1922 gegründetes staatliches Institut in Prag, das seine aktive Tätigkeit schwerpunktmäßig im Bereich der Forschungsförderung 1928 aufnahm. Bei dem erwähnten französischen Institut handelt es sich um das mit tschechoslowakischer Beteiligung 1923 gegründete Pariser Institut, das ebenfalls eher auf Forschungsförderung und Wissenschaftsaustausch ausgerichtet war und auch in Prag eine Zweigstelle unterhielt, vgl. zu beiden Instituten Lemberg (1982). „[Bude] osobne zädäno ο podporu P.L.K, i jinde (Mukarovsky)", Protokoll der genannten Sitzung im Protokollheft (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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keitsbericht von 1936 zu spezifizieren und zu relativieren, steht noch aus. 16 Die finanzielle Unterstützung der Drucklegung seiner Publikationen war jedenfalls nur einer der Verwendungszwecke von Subventionen des Prager Zirkels. Neben diesem in der Tat häufig angesprochenen Bereich nennen die Sitzungsprotokolle noch zwei weitere finanzielle „Bedürfnisse" der Gruppe, die nur durch Zuwendungen von außen gedeckt werden konnten. Beantragt wurden zum einen die Erstattung von Reisekosten, die den Mitgliedern des Prager Zirkels etwa die Teilnahme an internationalen Konferenzen, wie beispielsweise dem dritten Linguistenkongress in Rom, 17 ermöglichen sollte. Zum anderen flössen Subventionen in einen Verwendungsbereich, den eine Protokollnotiz mit der folgenden Formulierung umschreibt: Konstatoväno, ze ministerstvo zahranici prispelo Krouzku na propagacni cinnost castkou Kc 5000. 18 Es wurde festgestellt, dass das Außenministerium dem Zirkel den Betrag von 5000 Kc für Propaganda-Tätigkeit bereit stellte.
In diesen Bereich der subventionierten „Propaganda-Tätigkeit" fiele beispielsweise auch der 1932 beim Außenministerium beantragte „Ankauf von 100 Exemplaren von Band IV [der Travaux] für das Ausland" 19 , die dann offenbar als Freiexemplare verbreitet worden sind (vgl. dazu 3.2). Als Zwischenresümee sei an dieser Stelle festgehalten, dass die umfangreichen Subventionen, die der Prager Zirkel erhalten hat, vor allem in drei Bereichen - Drucklegung von Publikationen, Mittel für Reisen und „Propaganda-Tätigkeit" - Verwendung fanden, die unmittelbar der Stimulation von Rezeptionsprozessen dienten. Dabei scheint besonders die Initiierung und Unterstützung der Rezeption im Ausland ein vorrangiges Ziel gewesen zu sein. Dies wird auch deutlich, wenn man einmal genauer betrachtet, wer die wichtigsten Geldgeber des Prager Zirkels gewesen sind. Der Tätigkeitsbe16
17 18 19
Außer auf das genannte Protokollheft könnte sich eine solche historiographisch lohnende Untersuchung unter anderem auf die unter der Inventarnummer 27 archivierten Dokumente zur Subvention im Fonds „PLK" stützen, (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27). Es ist sehr bedauerlich, dass durch das langjährige Vorherrschen rein ideengeschichtlicher Ansätze in der breiten Forschungsliteratur zur Geschichte des Prager Strukturalismus bisher nie über materielle Aspekte der Entwicklung dieser linguistischen Schule gesprochen worden ist. Nach dem Sitzungsprotokoll vom 27.4.1933 wurde ein entsprechender Antrag beim Außenministerium gestellt (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 21.6.1933 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). „Odeslou se zädosti Msanu [Kürzel f. Schulministerium] ο podpora na Trav. V a min. zahranici ο zakoupeni 100 exempl. IV sv. pro eizinu", Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 9.2.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
rieht von 1936 hatte in der oben zitierten Passage eine Reihe staatlicher bzw. öffentlicher Stellen genannt, denen der Linguistik-Zirkel für Unterstützung zu danken hatte. Im Jubiläumsjahr erhielt der Zirkel zusätzlich auch eine bedeutende Zuwendung von privater Seite; der tschechoslowakische Schuhkonzern Bat'a hatte eine Spende von 10.000 Kc zugesagt. 20 Eine Durchsicht der erhaltenen Sitzungsprotokolle aus den Jahren 1931 bis 1939 ergibt aber, dass der Prager Zirkel finanzielle Zuwendungen vor allem von drei, immer wieder um Unterstützung gebetenen Stellen bezog: Erstens vom Ministerium für Schulwesen und Volksbildung, und zwar von der dortigen Abteilung III „für schulische und kulturelle Beziehungen zum Ausland". Zweitens vom Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, das schon beim ersten Band der Travaux die Verschickung von Freiexemplaren ins Ausland abgewickelt hatte (vgl. 3.2). Als dritte Stelle, von welcher der Prager Zirkel mehrfach Subventionen erhielt, wird in den Protokollen die Kanzlei des Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik genannt. Dies blieb auch nach dem Tod Tomas G. Masaryks so, mit dem insbesondere Mathesius offenbar einen näheren Austausch pflegte. Im Jahr 1938 etwa verhandelten Mathesius und Mukarovsky in einer Audienz bei dem neuen Staatspräsidenten Edvard Benes über „die weitere Subvention für die ,Travaux"' 21 - mit dem Erfolg, dass man von dort einen Betrag von 10.000 Kc zugesagt bekam. Zugleich sollte in derselben Angelegenheit auch ein Förderungsantrag beim Außenminister Kamil Krofta eingereicht werden. 22 Die massive finanzielle Unterstützung des Linguistik-Zirkels durch den Staatspräsidenten und durch Organe der tschechoslowakischen Außenpolitik zeigt, dass man seiner Arbeit eine wichtige Rolle in der auswärtige Kulturpolitik des Landes zumaß. Dass der Prager Linguistik-Zirkel eine repräsentative Funktion für den jungen tschechoslowakischen Staat bekam, wird auch an der dichten Folge von Berichten deutlich, die die deutschsprachige Tageszeitung Prager Presse in ihrer Kulturrubrik brachte. „In diesem halboffiziellen Blatt des tschechoslowakischen Außenministeriums" (Köpplovä 1986/87: 75) erschienen in den Jahren zwischen 1930 und 1938 mindestens 85 Beiträge meist mittleren bis größeren Umfangs, die ein minutiöses Bild von den einzelnen Diskussionsveranstaltungen des Zirkels, seinen ausländischen Gastrednern und seinen internationalen Erfolgen vermitteln. Ein großer Teil dieser Artikel wurde vom Leiter der Kulturrubrik, Antonin St. Mägr, eigenhändig verfasst, was ihre Bedeutung für diese Rubrik unterstreicht. Die Prager Presse — ein deutscher Reiseführer von 1927 nennt sie gehässig ein 20 21 22
Die Auszahlung verzögerte sich mindestens bis zum Herbst 1936, vgl. die Ausschussprotokolle vom 27.1, 7.4. und 26.4.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). SitzungsprotokoU vom 1.2.1938 und vom 21.3.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). SitzungsprotokoU vom 1.2.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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„Propagandablatt" (Griebens Reiseführer 1927: 44) — sah sich ganz allgemein verpflichtet, „die Oeffentüchkeit des Auslandes mit den Verhältnissen, Fortschritten, Bedürfnissen, Werten und Aspirationen des Staates bekanntzumachen" 23 . Als eine Gründung des tschechoslowakischen Außenministeriums zielte die Präger Presse darüber hinaus auf ein Programm des tschechoslowakischen Staates, wie es am deutlichsten gerade in der Außenpolitik zum Ausdruck kam, sie wollte zentraleuropäisch, europäisch und weltoffen, demokratisch und friedfertig sein [...]·24 In diesem Kontext bekommt dann auch eine scheinbar ganz politikferne Ankündigung wie die eines Gastvortrages von Emile Benveniste im Prager Linguistik-Zirkel eine programmatische Tiefenschärfe, auf die auch die Redaktion hinweist, wenn sie diesen und andere ausländische Gastvorträge wertet als ein Zeichen für das rege wissenschaftliche Leben in der tschechoslowakischen Hauptstadt und deren erfolgreiche Bestrebungen, den lebendigen Kontakt mit der europäischen Wissenschaft auszubauen. 5 Berichte über die Tätigkeit des Prager Linguistik-Zirkels konnten emblematisch auf Werte wie Internationalität, Modernität und Rationalität verweisen und so eine wichtige Rolle in der auswärtigen Selbstdarstellung der Tschechoslowakischen Republik übernehmen. Ein weiterer Aspekt dürfte mit der raschen Anerkennung der Prager Schule in der internationalen Fachwelt hinzugekommen sein. Mit „besonderem Interesse" vermerkt ein Artikel über Jakobsons und Trnkas Bericht über den Kopenhagener Linguistenkongress deren „Feststellung, daß die Initiative in der Wissenschaft von den großen mehr und mehr auf die kleinen Nationen übergeht" 26 . Durch seine Erfolge auf einem traditionell gerade von der deutschen Wissenschaft dominierten Fachgebiet konnte die Arbeit des Linguistik-Zirkels besonders deutlich die kulturelle Selbstständigkeit und Produktivität der „kleinen Nation" Tschechoslowakei in ihrem latenten Konkurrenzverhältnis zu ihrem großen westlichen Nachbarn erweisen. 27 23 24 25 26 27
Anonymer Artikel über „Die Sendung der ,Prager Presse'" aus der Jubiläumsbeilage Presse und Gesellschaft zur Ausgabe der Prager Presse vom 12.4.1931: 1. Vgl. die vorhergehende Fußnote. Anonymer Artikel „Ausländische Forscher in Prag" in PragerPresse vom 7.3.1937: 12. Die Notiz über den Kongressbericht findet sich in einem mit der Kürzel „L.S." (Leopold Silberstein?) unterzeichneten Beitrag „Dem Andenken Antoine Meillets", Prager Presse vom 22.10.1936. Die Bedeutung einer Emanzipation von der deutschen Dominanz wird auch von Mathesius unterstrichen, wenn er die starke Beteiligung russischer Gelehrter an der Arbeit des Zirkels wie folgt rechtfertigt: „[...] a zejmena vedeckä präce ceskä byla dosud az na vzäcne vyjimky pouze vice nebo mene samostatnymi marginaliemi, psanymi na okraj vedeckeho vyvoje, urcovaneho prükopnickou cizinou. Jiste by bylo zäsluhou i uvädeni vedeckych vlivü ruskych tarn, kde dosud pfilisnou hegemonii mely a maji vedecke vlivy nemecke." [Insbesondere bestand die tschechische wissen-
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Der Prager Zirkel bekam seine Rolle in der auswärtigen Kulturpolitik der Tschechoslowakischen Republik keineswegs nur von außen auferlegt, sondern seine Vertreter machten sich diese Rolle auch aktiv zu eigen. Eine ganze Reihe von Beiträgen in der Prager Presse stammt von Mitgliedern der Prager Schule selbst. Hier ist an erster Stelle Roman Jakobson zu nennen, aber auch Vilem Mathesius und Bohuslav Havränek sind mit Artikeln vertreten. Publizistisch engagierte sich der Linguistik-Zirkel auch in der vom späteren Außenminister Krofta gegründeten Zweimonatsschrift Prager Rundschau. Dem Blatt ging es ähnlich wie der Prager Presse um eine Darstellung „der geistigen und materiellen Kultur unseres Volkes", der „tschechoslovakische nationale und staatliche Standpunkt" 28 sollte dabei aber insbesondere im Blick auf die deutsche Nachbarnation geltend gemacht werden. Vom Prager Linguistik-Zirkel sind hier neben den vergleichsweise spät beigetretenen Mitgliedern wie Pavel Eisner, Otokar Fischer, Emil Utitz, Leopold Silberstein auch die zentralen Protagonisten der ersten Jahre, Mathesius, Trnka, Bogatyrev, Jakobson und Mukarovsky, mit je einem längeren Artikel vertreten. Wie eng der Linguistik-Zirkel in die auswärtige Kulturpolitik des Landes eingebunden war, zeigt aber in geradezu greller Deutlichkeit der von Jindrich Toman herausgegebene Briefwechsel zwischen Roman Jakobson und Jan Häjek. Häjek war der Leiter der dritten, kulturpolitischen Abteilung im tschechoslowakischen Außenministerium. Jakobson erstattet in diesen Briefen nicht nur regelrecht Rapport über kulturpolitisch relevante Aktivitäten des Zirkels, „he even asks Häjek to name ,current tasks' \aktuälniükolj\ and looks forward to hearing his .suggestions' \podnety\" (Toman Hrsg. 1994: 159). Von seiner Teilnahme am dritten internationalen Linguistenkongress 1933 in Rom berichtete Jakobson am 25.11. des Jahres beispielsweise wie folgt: Odvazuji se rici, ze se mne a mym ceskym kolegüm podarilo udelat kus propagacni präce zahranicni pro ceskou vedu a kulturu. Jak se dalo za dnesnich pomerü predpoklädat, zasahovaly do kongresu i otäzky politicke (propagacni snahy zastupcü dnesni oficiälni fisskonemecke vedy atd.). Projevovalo se to zejmena ν kuloärech sjezdovych a pri oficiälnich recepcich, na pr. pri recepci u Mussoliniho, kde mezi 25 pozvanymi jsem spolu s univ. prof. Jankem zastupoval ceskoslovenskou delegaci.
28
schaftliche Arbeit abgesehen von seltenen Ausnahmen bis jetzt in mehr oder weniger selbständigen Marginalien, geschrieben auf den Rand der wissenschaftlichen Entwicklung, die von ausländischen Pionieren bestimmt wurde. Sicher wäre es ein Verdienst, russische wissenschafdiche Einflüsse auch dort einzuführen, wo die deutschen wissenschaftlichen Einflüsse bis jetzt eine allzu große Hegemonie ausübten und ausüben] (Mathesius 1936a: 145). Editorische Vorbemerkung ohne Titel und Autor, Prager Rundschau 1 (1931): 1 und 2.
2.1 Politische Rahmenbedingungen der Rezeption
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I ν techto otäzkäch kulturni politiky byli jsme aktivni a pracovali jsme ν tesnem kontaktu s francouzskou delegaci. Podafilo se mi naväzat nektere nove italske styky, kterych tusim bude lze vyuzit ν zäjmu ceskoslovenske kulturni propagandy [...] (Toman Hrsg. 1994: 161) Ich wage zu sagen, dass es mir und meinen tschechischen Kollegen gelungen ist, ein Stück auswärtiger Propagandaarbeit für die tschechische Wissenschaft und Kultur zu leisten. Wie unter den heutigen Verhältnissen vorauszusehen, wirkten auch politische Fragen auf den Kongress ein (propagandistische Bestrebungen der heutigen offiziellen reichsdeutschen Wissenschaften usw.) Dies äußerte sich vor allem auf den Wandelgängen der Konferenz und bei den offiziellen Empfängen, zum Beispiel während des Empfangs bei Mussolini, wo ich zusammen mit Univ. Prof. Janko unter 25 Eingeladenen die tschechoslowakische Delegation vertrat. Auch bei diesen Fragen der Kulturpolitik waren wir aktiv und arbeiteten in engem Kontakt mit der französischen Delegation. Es gelang mir, einige neue italienische Beziehungen zu knüpfen, von denen ich annehme, dass sie sich im Interesse der tschechoslowakischen Kulturpropaganda nutzen lassen [...]
Gerade im Zeichen wachsender Spannungen zwischen den Staaten Europas war der Zirkel bereit, seine internationalen Aktivitäten „im Interesse der tschechoslowakischen Kulturpropaganda" einzubringen. Spätestens in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre trat der Prager Linguistik-Zirkel als aktiver politischer Faktor auch im Inland auf, indem er sich gegen nationalistische Tendenzen an der Prager Deutschen Universität wandte und versuchte, Einfluss auf den Inhalt und die personelle Besetzung dort herausgegebener Fachzeitschriften zu nehmen. Auch diese Aktivitäten erfolgten offensichtlich in engem Einvernehmen mit der kulturpolitischen Abteilung des Außenministeriums. 29 Zugespitzt könnte man resümieren, dass hinter der Erfolgsgeschichte der Prager Schule und der internationalen Durchsetzung der Phonologie nicht zuletzt die Tschechoslowakische Regierung stand, die mit gezielter Wissenschaftsförderung auswärtige Kulturpolitik betrieb. Während also der Prager Strukturalismus in Deutschland und Osterreich auch nach 1933 bzw. nach 1938 auf politische und administrative Indifferenz stieß, wurde seiner internationalen Rezeption von seinem Ursprungsland her erhebliche politische Schubkraft verliehen. Zwischen massiver Förderung einerseits und widerstandsloser Indifferenz andererseits brachten die politischen Rahmenbedingungen in die Rezeptionsbeziehung ein kommunikatives Gefälle, das die Wahrnehmung des Prager Strukturalismus in Deutschland deutlich begünstigte. 29
Zur .innenpolitischen' Rolle des Prager Zirkels vgl. 5.4 und 5.5 sowie Ehlers (2002).
2.2 Slawische Sprachen als Rezeptionsbarriere: „Diesen Mangel besonders scharf erkannt" Im M ä r z 1930 entwarf der Prager deutsche Indogermanist Friedrich Slotty, der seit 1928 Veranstaltungen des Prager Linguistik-Zirkels besuchte (vgl. 5.4), i m N a m e n dieser Gruppe den folgenden Text einer Eingabe b e i m Prager Schulministerium: Die beiden unterzeichneten, Dr. Vilem Mathesius, ord. Professor der Anglistik an der Karls-Universität, und Dr. Friedrich Slotty, ord. Professor der vergleichenden indogermanischen Sprachwissenschaft an der Deutschen Universität in Prag, beehren sich, in ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des Prazsky linguisticky krouzek bezw. als Herausgeber der zu gründenden Jahresschrift folgendes ganz ergebenst zu unterbreiten. Es ist ein in der Wissenschaft seit langem schwer empfundener Mangel, daß die Arbeiten auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft, namentlich auf dem Teilgebiete der allgemeinen Sprachwissenschaft, soweit sie in einer der slavischen Sprachen abgefasst sind, nicht die gebührende Beachtung finden. Es liegt dies an geringen [sie] Kenntnis dieser Sprachen in den Ländern Mitteleuropas und Westeuropas, von anderen Erdteilen ganz zu schweigen. Und doch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß in diesen Arbeiten, mögen es Buchwerke oder Einzelaufsätze in Zeitschriften sein, gerade für die Erkenntnis allgemeinsprachlicher Probleme und deren Lösung in heutiger Zeit hervorragendes geleistet wird; ja man kann sagen, daß von den Gelehrten slavischer Länder in diesen Zeiten ganz neue Ideen und eine ganz neue Gesamteinstellung zu diesen Fragen vorgetragen werden. Es ist daher ein großer Schaden für die Wissenschaft, daß diese Leistungen nicht so verbreitet und damit nicht so bekannt sind, wie es ihr Wert erfordert. Die Gelehrten, die sich in dem Prazsky linguisticky krouzek zu gemeinsamer Arbeit gerade auf dem Gebiete der allgemeinen Sprachwissenschaft zusammengefunden haben, haben diesen Mangel besonders scharf erkannt und seit jeher besonders lebhaft bedauert. Daher haben sie sich entschlossen, ihn entschieden beseitigen zu helfen, und sie glauben, diesen Zweck am besten durch die Schaffung einer Jahresschrift zu erreichen, die in kurzen, aber ausreichenden Referaten in deutscher Sprache eine sorgfältige Uebersicht dessen bringen soll, was innerhalb eines Berichtsjahres auf dem Gebiete der allgemeinen Sprachwissenschaft in Werken slavischer und auch anderer schwer zugänglicher Sprachen geleistet worden ist. Sie wird etwa 8-10 Druckbogen umfassen müssen, um ihren Zweck zu erfüllen, und soll den folgenden Titel führen:
2.2 Slawische Sprachen als Rezeptionsbarriere
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Glottologia. Mitteilungen der Prager sprachwissenschaftlichen Vereinigung.1 Es folgt eine detaillierte Kostenkalkulation, die dann in eine „Bitte um Druckkostenunterstützung" mündet. Dieser von Slotty offensichtlich direkt an der Schreibmaschine formulierte Briefentwurf ist, wie aus einem Begleitschreiben hervorgeht, mit großer Eile ins Tschechische übersetzt worden und mit den Unterschriften von Mathesius und Slotty versehen am 14. März 1930 an das Ministerium abgegangen. 2 Die Realisation des Projektes ließ jedoch auf sich warten: Erst im Januar 1931 bekam der Zirkel vom Schulministerium eine Druckkostenunterstützung von 6.000 Kc zugesagt, dann aber wurde „die Arbeit an der Glottologia einstweilen aufgeschoben" 3 , da man die Tätigkeit zunächst auf die phonologische Kommission des Linguistik-Zirkels konzentrieren wollte, wahrscheinlich um den vierten Band der Travaux noch rechtzeitig zum Genfer Linguistenkongress fertig stellen zu können. Auch wenn sich das beschriebene Publikationsprojekt letztlich nie verwirklichen ließ, verdient es gerade im Zusammenhang meiner Arbeit besonderes Interesse, dokumentiert es doch ein sehr deutliches Problembewusstsein des Prager Linguistik-Zirkels für die sprachlichen Aspekte seiner internationalen Rezeption. Der Plan einer kommentierten Bibliographie zur slawischsprachigen Linguistik reagierte auf ein Rezeptionshemmnis, das die Wahrnehmung slawischer Publikationen weltweit erschwerte und in dieser Allgemeinheit in der bekannten Formel slavica non leguntur auf den Punkt gebracht wird. Der „schwer empfundene Mangel" an slawischen Sprachkenntnissen war somit auch für den deutschsprachigen Raum zu beklagen — Slotty und Mathesius sprechen ausdrücklich auch von „den Ländern Mitteleuropas" —, obwohl dieser dem slawischen Sprachgebiet unmittelbar benachbart ist. Schon 1908 hatte der Münchner Byzantinist Karl Krumbacher in einem aufrüttelnden Manifest „die Notwendigkeit einer größeren Beachtung der slawischen Völker in unserem höheren Bildungswesen" (Krumbacher 1908: 5) herausgestrichen und be1
2
3
Zweieinhalbseitiges Typoskript handschr. datiert auf den 14.3.1930 (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27). Vollständig reproduziert im dokumentarischen Anhang zu diesem Abschnitt, die zitierte Fassung berücksichtigt die zahlreichen Korrekturen in Slottys Entwurf. Vgl. Brief Slottys vom 12.3.1930, der den „versprochenen Entwurf der Eingabe an das Ministerium um Druckkostenunterstützung für unsere .Glottologia'" begleitete (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). „Dohodnuto, aby pro näval präce ν komisi fonologicke byly präce na Glottologii zatim odsunuty" [Übereingekommen, dass wegen des Arbeitsandranges in der phonologischen Kommission die Arbeit an der Glottologia einstweilen aufgeschoben wird]. Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 28.1.1931 im Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7.
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
sonders auch „die wissenschaftliche Bedeutung des Slawischen" (ebd.: 13) hervorgehoben. Es sei aber selbst in der deutschen Wissenschaft eine verbreitete Abneigung gegen das Erlernen slawischer Sprachen zu konstatieren: „Unsere Gelehrten sträuben sich dagegen" (ebd.). Die typische Haltung deutscher Wissenschaftler charakterisiert Krumbacher mit dem denkwürdigen Satz eines ungenannten Kollegen, „niemand sei verpflichtet, eine Barbarensprache zu lesen" (ebd.). Auch zwanzig Jahre nach Krumbachers scharfzüngiger Kritik an der deutschen „Bequemlichkeit, Kurzsichtigkeit und Ignoranz, vielleicht auch [...] chauvinistischer Uberhebung" (ebd.: 9) gegenüber den slawischen Sprachen und Kulturen, kamen die Slawisten Heinrich Schmid und Reinhold Trautmann zu einem kaum weniger ernüchternden Ergebnis: Während der deutsche Gebildete mit historischen Interessen ohne weiteres zu den englischen Quellen oder Geschichtsschreibern greifen und sich nicht auf Berichte oder Besprechungen der deutschen Anglisten verlassen wird, ist der großen Mehrzahl der Nichtslavisten die in den slavischen Sprachen niedergelegte wissenschaftliche Produktion unzugänglich, und sie werden so das wissenschaftliche Leben in den slavischen Ländern auf Grund der Ausschnitte beurteilen, die ihnen durch die Arbeiten weniger Vermittler, in erster Linie eben der deutschen Slavisten, bekannt werden. (Schmid/Trautmann 1927: 66-67)
Mit ihrer seltenen Fach- und Sprachkenntnis sei die deutsche Slawistik angesichts der beschriebenen Verhältnisse zu einer Vermittlerrolle im slawisch-deutschen Verhältnis berufen. Neben der damals noch sehr schwach ausgebauten Slawistik gab es im deutschen Wissenschaftsmilieu der Zwischenkriegszeit nur noch eine weitere Disziplin, innerhalb derer mit einiger Wahrscheinlichkeit slawische Sprachkenntnisse vorausgesetzt werden konnten. Auch die Indogermanistik, die sich im Nationalsozialismus offensichtlich gegenüber einer politisch prosperierenden Germanistik unter Rechtfertigungszwang sah, brachte sich mit ihren ungewöhnlichen Sprachkenntnissen als eine Vermitdungsinstanz ins Spiel, die deutsche Wissenschafder über aktuelle Entwicklungen im slawischen Ausland auf dem Laufenden halten könnte: Die Arbeitsmethoden werden immer weiter ausgedehnt und vervollkommnet; so ist in Prager Kreisen die phonologische Betrachtungsweise aufgekommen. Der Germanist kann diese Dinge nicht alle verfolgen, umsoweniger, wenn in Sprachen geschrieben wird, die ihm unbekannt sind. Hier muß der Indogermanist einspringen. (Hermann 1937: 56) 4
4
Dass ein solches Argument ausgerechnet unter der Überschrift „Was hat die indogermanische Sprachwissenschaft dem Nationalsozialismus zu bieten?" vorgetragen werden konnte, ist ein weiterer Beleg für die in 2.1 beschriebenen nationalsozialistische Indifferenz gegenüber der Phonologie-Rezeption.
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Wie es u m die tatsächliche Sprachenkompetenz innerhalb der deutschen Indogermanistik der Zwischenkriegszeit bestellt war, ist von heute aus schwierig zu beurteilen. Festzuhalten bleibt, dass allenfalls in einem sehr schmalen Segment der sprachwissenschaftlich-philologischen Disziplinen überhaupt die sprachlichen Voraussetzungen für eine Rezeption russischer oder gar tschechischer Texte gegeben waren. Das zitierte Argument des Göttinger Indogermanisten Eduard Hermann macht überdies deutlich, dass der Prager Linguistik-Zirkel die allgemeine Unkenntnis slawischer Sprachen im westlichen Europa auch im ureigenen Interesse in Rechnung stellen musste. Wenn der eingangs zitierte Antrag beim Schulministerium selbstbewusst von „den Gelehrten slavischer Länder" spricht, die „in diesen Zeiten ganz neue Ideen und eine ganz neue Gesamteinstellung" zu linguistischen Fragen entwickelt hätten, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Prager Zirkel hier nicht nur allgemein über slawische Sprachforschung reflektierte, sondern dabei besonders auch Probleme der eigenen Wirkung im Ausland im Auge hatte. Die Glottologia sollten als „Mitteilungen der Prager sprachwissenschaftlichen Vereinigung" fraglos auch sicherstellen, dass die eigenen tschechisch oder russisch publizierten Arbeiten in internationalen Fachkreisen bekannt würden. Einige Beispiele sollen verdeutlichen, wie stark die damalige Rezeption des Prager Strukturalismus im (deutschsprachigen) Ausland tatsächlich von der Sprachenfrage abhing. So führen mehrere deutsche Rezensionen zu phonologischen Veröffentlichungen Verständnisschwierigkeiten darauf zurück, dass die Prager Autoren „ganz überwiegend mit slavischem Sprachmaterial arbeiten, das den Indogermanisten nur z.T. bekannt zu sein pflegt" (Meyer 1935: 140). Ähnlich beklagt der Grazer Anglist Fritz Karpf in einer Rezension: Eine große Schwierigkeit der neuen Disziplin ist die, daß meist wenig bekannte Sprachen behandelt werden. (Karpf 1933a: 255)5 Karpf verweist interessierte Leser daher auf die allgemeinen oder auf das Englische bezogenen Darstellungen der Phonologie, die Mathesius und
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Ähnlich gibt Alfred Schmitt in seiner Rezension der Travaux 6 zu bedenken, „dass bei einem Teil der Aufsätze zum vollen Verständnis der Ausführungen eine gewisse Vertrautheit mit slavischen Sprachverhältnissen Voraussetzung ist" (Schmitt 1939: 162). N o c h Richter (1941) sagt in ihrer Besprechung von Trubetzkoys Grund^ügew. „ N u n begreift es sieht [sie], dass das Studium der ,Grundzüge' eben durch die Beschäftigung mit so vielen, kaum dem N a m e n nach bekannten Sprachen erschwert ist. Die Mehrzahl der Leser kann selbstverständlich nicht über Feststellungen urteilen, die sich auf unbekannte Sprachen beziehen [...]" (ebd.: 423). Richters Einwand betrifft natürlich vorrangig die vielen besprochenen nichtindogermanischen Sprachen, dürfte aber auch Trubetzkoys Analysen zu slawischen Sprachen mit einbeziehen.
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Trnka in der von ihnen mitherausgegebenen Festschrift Xenia Pragensia abgedruckt hatten. 6 Diese Doppel-Festschrift für die tschechischen Germanisten Josef Janko und Arnost Kraus kann zugleich belegen, dass die deutsche Rezeption von Arbeiten aus Prag nicht nur vom sprachlichen Objekt der Untersuchung, sondern vor allem auch von der gewählten Publikationssprache abhing. Die Herausgeber Mathesius, Trnka und Otokar Fischer wollten sich mit dem Band ausdrücklich an „einem internationalen Forum" (Fischer/Mathesius/Trnka 1929: III) orientieren. Die Festschrift ist denn auch in deutschsprachigen Fachzeitschriften und Rezensionsorganen gut wahrgenommen worden. Und die Rezensenten der Xenia Pragensia versäumen in der Regel nicht anzumerken, dass diese Wahrnehmung nicht zuletzt sprachliche Voraussetzungen hatte: Der Sammelband soll zugleich Wollen und Wirken der tschechischen Germanistik' vor einem internationalen Forum repräsentieren, weshalb denn auch durchweg vom Gebrauch der nur beschränktem Leserkreise zugänglichen Landessprache abgesehen wurde: die Beiträge sind in den westeuropäischen Weltsprachen, die überwiegende Mehrzahl in deutscher Sprache abgefaßt. (Körner 1930: 2420-2421) 7
Auch Edward Schröder weist mit seiner Rezension auf die Xenia Pragensia umso lieber hin[...], als ihr rahmen sowol wie die weit überwiegende zahl der 24 beiträge in deutscher spräche gehalten sind, neben der nur das englische (5mal) und das französische (lmal) zu begründeter geltung kommen. (Schröder 1930: 151-152)
„Volle Anerkennung" erfährt „deutsche Sprache und deutscher Stil" der Beiträge der Festschrift auch in ihrer Besprechung durch Otto Behaghel, der nur im Falle eines Autors stilistische Mängel tadelt (Behaghel 1931b: 1). Behaghel selbst ist in einer anderen Rezension bezeichnenderweise nicht einmal in der Lage, den Namen des tschechischen Verlages der Travaux fehlerfrei wiederzugeben. 8 An einem Parallelbeispiel zu den Xenia Pragensia lässt sich veranschaulichen, welche Konsequenzen es hatte, wenn Prager Autoren statt einer der „westeuropäischen Weltsprachen" als Publikationssprache die tsche6 7
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Vgl. Mathesius (1929a) und Trnka (1929). Körner hebt ganz ähnlich wie Karpf (1933a) den Grundsatzartikel von Mathesius zur Phonologie in der Festschrift heraus: „Die wohl bedeutsamste Arbeit des Bandes, sicherlich die weiteste Kreise angehende, ist V. Mathesius' Versuch, ,Ziele und Aufgaben der vergleichenden Phonologie', des jüngsten und sehr aussichtsreichen Zweigs modemer Linguistik, knapp zu charakterisieren [...]" (Körner 1930: 2421). Jednota ceskoslovenskjch matematikü α jysikü wird bei Behaghel (1930: 327) grob entstellt zu „Jenoba cesko-slovenskych matematika a fysika". Diese vierfache Entstellung kann natürlich auch auf den Setzer des Textes zurückgehen, ist aber in jedem Fall der Korrektur entgangen.
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chische „Landessprache" wählten. Im Jahr 1932 brachte der Prager Linguistik-Zirkel eine „Festschrift für den bekannten Anglisten und vergleichenden Sprachforscher Wilhelm Mathesius mit 29 Beiträgen zumeist tschechischer Anglisten" 9 heraus, die in Deutschland über den Kommissionsverlag Otto Harrassowitz zu beziehen war (vgl. 3.1). Diese Festschrift präsentierte eine recht ungewöhnliche Sprachenmischung: von den 29 Artikeln des Bandes sind neun auf Deutsch, neun auf Tschechisch, fünf auf Französisch und sechs auf Englisch abgefasst. Die Reaktion einer deutschen Rezension auf diese Durchmischung fremdsprachiger Beiträge mit tschechischen Texten ist bezeichnend: Eingeleitet mit den Worten: „unter den Beiträgen, die hier zu Ehren des verdienstvollen Prager Gelehrten vereinigt sind, sind in gemeinverständlicher Sprache geschrieben ...", bringt die kurze Buchankündigung im Archiv für das Studium der neueren Sprachen10 eine vollständige Auflistung aller nichttschechischen Artikel des Bandes — die tschechischen Beiträge werden nicht einmal dem Verfassernamen oder Titel nach genannt. Diese Ausblendung tschechischer Veröffentlichungen aus dem Wahrnehmungshorizont deutschsprachiger Wissenschaft ist kein Einzelfall. So wies Fritz Karpf in seiner recht ausführlichen Besprechung von Bohumil Trnkas On the Syntax of the English Verb from Caxton to Dryden (—Travaux Band 3) darauf hin, der Autor habe „schon eine sehr gute syntaktische Darstellung der Syntax der altenglischen Dichtersprache" (Karpf 1932: 242)11 vorgelegt. Dies sei aber „leider in tschechischer Sprache" (ebd.) geschehen — Karpf sieht wohl aus diesem Grund keinen Anlass, seinem deutschen Publikum wenigstens rudimentäre bibliographische Informationen zu der gelobten tschechischen Veröffentlichung mitzuteilen, während seine Rezension im Übrigen mit bibliographischen Querverweisen auf Fachliteratur und Quellen durchsetzt ist. Ein Fachtext, der in einer slawischen Sprache publiziert war, konnte nicht damit rechnen, im deutschen Wissenschaftsmilieu auch nur dem Titel nach zur Kenntnis genommen zu werden. Die Aussicht, hier gar Leser zu finden, dürfte entsprechend um ein Vielfaches geringer gewesen sein. Der Prager Linguistik-Zirkel hatte, wie Slotty und Mathesius betonten, „diesen Mangel besonders scharf erkannt", und er ergriff eine Reihe von Maßnahmen, um die sprachlichen Hindernisse der internationalen Rezeption „entschieden beseitigen zu helfen". Dazu gehörte die Aufbereitung und gezielte Verbreitung bibliographischer Informationen, wie sie auch die geplante Herausgabe der Glottologia gewährleisten sollte. Warum sich 9
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Aus dem Verlagsbericht von Otto Harrassowitz vom 1.4.1933, als Ausschnitt erhalten im Zeitschriftenausschnittsarchiv des Prager Zirkels unter AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 26. Archiv für das Studium der neueren Sprachen 163 (1933): 129-130. Es dürfte sich bei der erwähnten Arbeit um Trnka (1925) handeln.
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dieses Projekt einer kommentierten Bibliographie slawischer Fachliteratur zur allgemeinen Sprachwissenschaft auch langfristig nicht verwirklichen Keß, ist auf der Basis mir vorliegender Quellen nicht abschließend zu beurteilen. Die anfängliche Verzögerung dürfte dem Projekt zunächst eine drastische Verschlechterung der finanziellen Rahmenbedingungen eingebracht haben, denn in den Jahren 1931 und 1932 begannen in der Tschechoslowakei die Folgen der Weltwirtschaftskrise gerade auch auf den Bereich staatlicher Wissenschaftsförderung durchzuschlagen. Bereits existierende Fachzeitschriften hatten in dieser Zeit empfindliche Kürzungen ihrer Subventionierung zu verkraften, die Neugründung eines Periodikums dürfte unter diesen Bedingungen zu riskant gewesen sein.12 Doch auch nach der allmählichen Konsolidierung der Haushaltslage behinderten finanzielle Schwierigkeiten die Arbeit der eigens eingesetzten „Bibliographischen Kommission" des Prager Linguistik-Zirkels. Der Tätigkeitsbericht von 1936 beschreibt die Aufgaben und die Situation des Gremiums wie folgt: Komise bibliograficka; md vydävat ve svetovych jazycich strucne kriticke prehledy novych slovanskych publikaci dulezitych pro obecnou linguistiku; k realisaci dosud nebylo mozno pristoupiti pro financni prekäzky (svolavatel F. Slotty). (Zpräva ο ännosti 1936: 12) Bibliographische Kommission; sie soll knappe, kritische Berichte über neue slawische Publikationen in den Weltsprachen herausgeben, die für die allgemeine Linguistik von Bedeutung sind; eine Realisierung war bislang wegen finanzieller Hindernisse nicht möglich (Leiter F. Slotty). Der Linguistik-Zirkel hielt aber ungeachtet aller Schwierigkeiten bis zum Ende der selbständigen Tschechoslowakei an dem Plan der Glottologia fest. Ein knapper Geschäfts- und Tätigkeitsbericht vom Februar 1939 führt jedenfalls die bibliographische Kommission (weiterhin unter der Leitung von Slotty) als eines von drei Arbeitskomitees des Prager LinguistikZirkels auf.13 Als eine gewisse Kompensation für die fehlende Glottologia lassen sich die bibliographischen Bulletins auffassen, die die vom Prager Zirkel organisierte Internationale Phonologische Arbeitsgemeinschaft herausbrachte. Zeitlich abgestimmt auf den ersten internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften war Mitte 1932 das 'Bulletin d'information Ν 1 erschienen, das eine bibliographische Übersicht „sur l'etat actuel des travaux phonologiques internationaux" {Bulletin d'information Ν 1 1932: 59) gab und 12 13
Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in die staatlich subventionierte Zeitschriften wie die Slamsche Rundschau und die Germanoslavica am Anfang der dreißiger Jahre gerieten, vgl. Ehlers (1997c) und (2002). Protokoll der Vollversammlung des Linguistik-Zirkels vom 27.2.1939, auf gefaltetem losen Blatt dem Protokollheft beiliegend (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
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dabei auch die Fachpublikationen aus dem slawischen Raum zusammentrug. Unkommentiert und mit nur sechs Seiten Umfang verstand sich das Bulletin ausdrücklich nur als Provisorium, mit dem die Zeiten der Weltwirtschaftskrise überbrückt werden sollten (ebd.). Offensichtlich hatte man aber eine dichte Erscheinungsfrequenz weiterer Nummern des Bulletins geplant. „Des difficultes d'ordre financier ainsi que quelques autres circonstances defavorables" (Schrijnen 1935: 15) verzögerte sich die Herausgabe der zweiten Nummer allerdings bis 1935. Hier erschien das Information Bulletin No. 2 dann — typisch für die Publikationspraxis der Prager Schule — zeitlich abgestimmt auf den zweiten Internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften in London, auf den es auch sprachlich bewusst ausgerichtet war. Vzhledem k tomu, ze sjezd fönet, ved se bude konati ν Anglii, kde je i velky zajem ο fonologii, primlouvä se, aby byl redigovän anglicky. Im Hinblick darauf, dass der Kongress der Phonet. Wissenschaften in England stattfinden wird, wo es auch ein großes Interesse an der Phonologie gibt, wird befürwortet, dass es englisch redigiert werden solle.
Das von Jakobson zusammengestellte Heft umfasste auf immerhin zwölf Seiten die phonologischen Neuerscheinungen seit 1932, wiederum zu einem bedeutenden Anteil aus slawischsprachigen Ländern. Wohl nach dem Muster der ersten beiden Bulletins war der Zeitplan für eine dritte Nummer so eingerichtet, dass man sie auf dem dritten internationalen Kongress für phonetische Wissenschaften 1938 in Gent hätte vorlegen können. Ende 1937 hatten Trubetzkoy und Jakobson die Vorarbeiten bereits soweit vorangebracht, dass mit einer Veröffentlichung des Bulletins 3 „im Frühjahr" 1938 gerechnet wurde. „Uber die Sprache, in der es geschrieben werden wird" 15 , war zu diesem Zeitpunkt noch keine Entscheidung getroffen worden. Die Beschlagnahmung von Materialien Trubetzkoys durch die Gestapo und sein früher Tod dürften ein Grund gewesen sein, dass das Bändchen nicht mehr rechtzeitig zum Kongress in Gent erschien. Wie aus erhaltener Korrespondenz hervorgeht, sollte die phonologische Bibliographie dann in das erste Heft der Kopenhagener Acta linguistica eingerückt werden. Auch dazu ist es, obwohl Louis Hjelmslev den Empfang der Unterlagen aus Prag noch im Mai 1939 bestätigte,16 weder 1939 noch in den 14 15
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Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 9.4.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). „O jazyku, kterym bude psän, bude rozhodnuto pozdeji" [Über die Sprache, in der es geschrieben werden wird, wird später entschieden], Sitzungsprotokoll des geschäftsführenden Ausschusses vom 21.12.1937. Zu den Vorarbeiten vgl. die entsprechenden Protokolle vom 30.5. und 25.10.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Hjelmslev schrieb am 1.5.1939 an Trnka, dem der inzwischen emigrierte Jakobson das Material übergeben hatte: „According to the agreement taken previously, the bibliography of structural linguistics which had been made for the Bulletin d'lnformation
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folgenden Kriegsjahrgängen der Acta linguistica gekommen. Einen gewissen Ersat2 für das dritte Bulletin bot später Trnkas ausführlicher Bericht über „die Phonologie in cechisch und slovakisch geschriebenen sprachwissenschaftlichen Arbeiten" in Zwirners Archiv für vergleichende Phonetik, der mit seinen recht detaillierten Referaten einzelner Veröffentlichungen auch auf der Linie der geplanten Glottologia lag (Trnka 1942a). Die intensiven Bemühungen, der internationalen Fachwelt in sprachlich zugänglicher Form umfassende bibliographische Informationen über laufende Neuerscheinungen aus dem eigenen und dem weiteren slawischsprachigen Umfeld zu vermitteln, waren also nur für den Bereich der Phonologie in größerem Maße erfolgreich. Die wirkungsvollste Maßnahme, die der Prager Linguistik-Zirkel ergriff, um die sprachliche Rezeptionsschwelle zu senken, war aber nicht bibliographischer Art. Vielmehr stellte sich der Linguistik-Zirkel auch in seiner eigenen Editions- und Publikationstätigkeit sprachlich frühzeitig auf ein internationales Publikum ein. Als zentrales Medium der Fachkommunikation mit dem Ausland wurden die Travaux du Cercle Unguistique de Prague gegründet, die seit 1929 in unregelmäßiger Folge teils monographisch und teils als Sammelbände, immer aber in westlichen Weltsprachen erschienen: Sowohl diese Travaux, als auch ein vom Zirkel herausgegebenes Heft, das die Vorträge seiner Mitglieder [...] auf dem Amsterdamer Kongresse [für phonetische Wissenschaften] bringt, sind französisch, englisch oder deutsch geschrieben, um leichter in die Entwicklung der Sprachforschung allenthalben eingreifen zu können. (Havränek 1936a: 317) Vor dem Hintergrund der Nationalitätenspannungen innerhalb der Tschechoslowakei ist die vollständige Ausblendung des Tschechischen aus einer in Prag erscheinenden Publikation im Inland offenbar auf Kritik gestoßen. Roman Jakobson erinnert sich daran, dass „some biased Czech natives disapproved of the use of foreign languages in the Prague periodical" (Jakobson 1971a: 534). Die Wahl der Publikationssprache war im LinguistikZirkel aber vorrangig auf eine internationale Wirksamkeit abgestellt und blieb somit von der virulenten Sprachenproblematik innerhalb der Tschechoslowakei weitestgehend unbeeinflusst. Ein Großteil der Publikationen, die der Prager Zirkel in eigenem Namen edierte oder maßgeblich mitherausgab, war im Sinne dieser Wirkungsabsicht in westeuropäischen Fremdsprachen verfasst. Neben den acht Bänden der Travaux mit einem Gesamtumfang von über 1800 Seiten waren dies in zeitlicher Abfolge die de l'Association phonologique internationale, should be published in the first issue of the Acta Unguistim, to be published in the month of July." Die erbetene rasche Ubersendung der bibliographischen Sammlung bestätigte Hjelmslev schon in seinem Brief vom 8.5.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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beiden schon erwähnten Festschriften Xenia Pragensia (1929) und Charisteήα (1932) sowie der Band mit Vorträgen zur Amsterdamer Phonetikkonferenz (Conferences des membres du Cercle linguistique de Prague 1933). 1935 gab Trubetzkoy auf Deutsch seine knappe Anleitung ψ phonologischen Beschreibungen heraus (Trubetzkoy 1958). In der Schriftenreihe des von Mathesius geleiteten Englischen Seminars der Karlsuniversität erschienen zudem öfters englische Texte, hier ist besonders Trnkas monographische Phonological Analysis of Present Day Standard English zu erwähnen (Trnka 1935a). Gegen Ende der dreißiger Jahre suchte man im Prager Zirkel nach (finanziellen) Möglichkeiten, die international ausgerichtete Publikationstätigkeit noch auszuweiten. Zum einen war im Gespräch, die bislang unregelmäßig herauskommenden Travaux „in ein periodisches Organ" 17 zu überführen. Zum anderen, und offenbar davon unabhängig, dachte man spätestens seit Mitte 1937 über „die Herausgabe einer internat. sprachwiss. Zeitschrift für strukturale Linguistik" 18 nach. Hier wurde recht bald eine Kooperation mit dem Kopenhagener Linguistik-Zirkel gesucht, in dem „de fagon independente" (Brondal/ Hjelmslev 1939: 1) ähnliche Editionspläne erwogen wurden. The Prague proposal of issuing a joint journal was accepted and elaborated by V. Brondal and L. Hjelmslev, but the tragic political events of 1938 forced us to leave the long planned Acta Linguistica in the hands of our Danish friends. (Jakobson 1971a: 534)
Die Mitglieder des Prager Linguistik-Zirkels sind daher nur im umfangreichen „Conseil international" der Zeitschrift Acta linguistica vertreten, deren erstes Heft 1939 herauskam. Zusätzlich zu der eigenen Editionstätigkeit in westeuropäischen Fremdsprachen veröffentlichten die Mitglieder der Prager Schule eine Vielzahl von unselbständigen Beiträgen in ausländischen Zeitschriften, Kongressakten und Festschriften. Alles in allem bilden die vom Linguistik-Zirkel in seiner klassischen Periode auf Deutsch, Englisch oder Französisch publizierten Texte ein Korpus von erstaunlichem Umfang, das es mit der Textproduktion von sprachwissenschaftlichen Gruppierungen aus Deutschland, England oder Frankreich der Größe nach sicherlich ohne weiteres aufnehmen konnte.
17
18
Das Sitzungsprotokoll des Ausschusses vom 1.2.1938 berichtet von einer anberaumten Audienz in der Kanzlei des Staatspräsidenten: „Bude zädäno ο sirsi subvence na ,Travaux', jez se zmeni ν periodicky organ." [Es wird um eine umfangreichere Subvention für die ,Travaux' gebeten, welche in ein periodisches Organ überführt werden] (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Im Sitzungsprotokoll des Ausschusses vom 30.5.1937 findet sich als eigener, nicht näher kommentierter Tagesordnungspunkt der oben übersetzte Eintrag „18) Vydäväni mezinär. jazykop. casopisu pro strukturälni linguistiku (Havränek, Jakobson, Mathesius)" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
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Erst nachdem sich der Linguistik-Zirkel durch seine internationalen Aktivitäten in ausländischen Fachkreisen bereits als ,Prager Schule' profiliert hatte (vgl. 1.1), begann er zusätzlich seine „Tätigkeit intensiv dem einheimischen Forum zuzuwenden" (Mathesius 1936a: 143). Neben seiner internationalen Publikationstätigkeit brachte der Prager Zirkel im Verlauf der dreißiger Jahre auch eine Reihe von tschechischen Veröffentlichungen heraus. Den Anfang machte hier das schmale Bändchen von Jakobson und Mukarovsky zur Sprache T.G. Masaryks (Masaryk a fee 1931). Es folgte der Sammelband Spisovnä cestina α jasykova kultura (1932), in dem die vieldiskutierten Vorträge von Mitgliedern des Zirkels zur tschechischen Schriftsprache und zu Fragen der Sprachkultur abgedruckt sind. Im Jahr 1935 wurde die „Zeitschrift des Prager Linguistik-Zirkels", S/ovo a slovesnost, gegründet, die sich „der Kultur des Wortes in Kunst, Wissenschaft und Leben widmen" wollte. Bei aller thematischen Vielfalt sollten dabei „im Mittelpunkt [...] die theoretischen und praktischen Fragen der tschechoslowakischen Sprache und Literatur stehen." 19 Den tschechischen Romantiker Karel Hynek Mächa würdigte der Linguistik-Zirkel 1938 mit einem umfangreichen Sammelwerk (Torso a tajemstvi Mächova dila). Und in der 1937 begründeten Reihe Studie Pra^ske'ho linguistickeho krou^ku konnten bis zur Okkupation des Landes noch zwei Bände erscheinen: eine vergleichende Untersuchung zum altpolnischen und alttschechischen Vers und ein Band zu Karel Havlicek und dem tschechischen Volkslied (Hrabäk 1937 und Indra 1939). Der Inhalt all dieser Veröffentlichungen lässt eine recht klare wissenschaftssprachliche Aufgabenteilung in der Publikationstätigkeit des Prager Linguistik-Zirkels erkennen: tschechoslowakische' oder ,slawische Themen' wurden in tschechischsprachigen, seltener auch russischen Texten verhandelt, ,nichtslawische' bzw. allgemeine Themenbereiche wurden in den westlichen Wissenschaftssprachen für einen internationalen Adressatenkreis aufbereitet. Erst als der Prager Zirkel im Protektorat mit den Travaux sein internationales Sprachrohr verlor und der Zugang zur Diskussion im Ausland erschwert wurde, versuchten Bohuslav Havranek und Jan Mukarovsky mit einem ersten Band die neue Reihe der Cteni οja^yce apoesii [Vorlesungen zur Sprache und Poesie] zu etablieren, die sich mit allgemeinen sprach- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen an das einheimische Publikum wandten. 20 Selbstverständlich gab es auch früher schon zwischen den beiden sprachlich-thematischen Publikationsdomänen des Linguistik-Zirkels Überschneidungen und bewusste Übertragungen. So wurden Arbeiten zur allgemeinen Sprachwissenschaft zum Teil in fremd19 20
Vgl. die anonyme Vorankündigung von Slovo a slovesnost in der Prager Presse vom 21.10. 1934. Die Reihe ist über den ersten Band von 1942 nicht hinausgekommen.
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sprachigen und tschechischen Parallelversionen veröffentlicht. 21 Oder man versuchte Diskussionsfelder, die stark an den tschechoslowakischen Kontext gebunden waren, in fremdsprachigen Referaten auch einem ausländischen Leserkreis nahe zu bringen. 22 Im Allgemeinen aber war die sprachlich-thematische Zweiteilung der Publikationen des Prager Zirkels doch so strikt, dass seine auf den einheimischen Kontext bezogenen Arbeiten der internationalen Rezeption auch sprachlich weitgehend verschlossen blieben. Als Beispiel eines Themenbereiches, der in den Diskussionen der Prager Schule eine bedeutende Rolle spielte, der aber ausländischen Zeitgenossen kaum zugänglich war, wäre die Diskussion um Sprachpurismus und Sprachkultur zu nennen. 1932 hatte sich der Linguistik-Zirkel mit großem Erfolg in die öffentliche Debatte um die puristische Sprachpflege der Zeitschrift Nase rec [Unsere Sprache] eingeschaltet und mit seinem S a m m e l b a n d Spisovnä
cestina
α ja^ykovä
kultura
[Schrifttschechisch
und
Sprachkultur] „vom Standpunkte der neuen funktionellen Linguistik" „gegen den traditionellen cechischen historischen Purismus" (Mathesius 1933: 84) argumentiert. Die hier und in den Folgejahren intensiv bearbeiteten Probleme der Sprachkultur und Funktionalstilistik des Tschechischen wurden weit überwiegend in tschechischsprachigen Texten behandelt. So „standen Fragen der Sprachkultur in den ,Travaux' nur am Rande" (Scharnhorst/Ising 1976: 18) und wurden auch andernorts nur ausnahmsweise einmal in einer westlichen Fremdsprache entwickelt. 23 Erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg haben Ubersetzungen diesen Arbeitsbereich des klassischen Prager Strukturalismus nachträglich in Umrissen wahrnehmbar gemacht 24 und noch heute spielt er in westlichen Darstellungen zur Prager Schule eine allenfalls marginale Rolle. In den fremdsprachigen Veröffentlichungen des Linguistik-Zirkels deutlich unterrepräsentiert waren auch seine umfangreichen Arbeiten aus dem Bereich der Literaturwissenschaft, Poetik und Ästhetik, die freilich häufig Phänomene der tschechischen Literatur- und Kunstgeschichte zum Ausgangspunkt hatten. Der große Einfluss, den diese Arbeiten später auf sozial- und re21
22 23 24
So brachte beispielsweise Mathesius seinen Text „On the Phonological System of Modern English" (Mathesius 1929b) aus der Festschrift für Josef Schrijnen parallel in einer tschechischen Version als „K fonologickemu systemu moderni anglictiny" in der Zeitschrift Casopispro moderni filologii 15 (1929): 129-139 heraus. Weitere Beispiele lassen sich leicht benennen. Vgl. Trnkas deutschsprachigen Überblick über die Debatten zum Sprachpurismus in der Prager Rundschau, Trnka (1932a). Zum Beispiel von Havränek in einem deutschsprachigen Vortrag auf dem Kopenhagener Linguistenkongress, Havränek (1938). Den kompaktesten Einblick gibt die von Jürgen Scharnhorst und Erika Ising herausgegebene deutsche Anthologie Grundlagen der Sprachkultur 1, Scharnhorst / Ising (Hrsg.) (1976).
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zeptionsgeschichtliche Ansätze in der deutschen Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre hatte, begründete sich nicht zuletzt auf einer umfangreichen Ubersetzungstätigkeit, durch die „eine ganze Lawine von Entdeckungen" (Günther 1990: 273) ins Rollen gebracht wurde: In einer langen Reihe von Anthologien übersetzter Texte wurden hier Prager Arbeiten neu entdeckt, die in den dreißiger und vierziger Jahren nur auf Tschechisch veröffentlicht worden waren und daher seinerzeit weitgehend ohne internationale Resonanz geblieben waren. 25 Die Arbeiten des klassischen Prager Strukturalismus zur ,nichtslawischen' bzw. allgemeinen Sprachwissenschaft und besonders die zur Phonologie waren aber schon für Zeitgenossen im Ausland in weitem Umfang rezipierbar. Nichts deutet darauf hin, dass diese Arbeiten von deutschen Wissenschaftlern weniger wahrgenommen worden wären als beispielsweise wissenschaftliche Neuerscheinungen aus Frankreich. Sie wurden in deutschsprachigen Zeitschriften rezensiert, zum Teil dort sogar publiziert, sie wurden in den methodologischen Debatten der Zeit diskutiert und in den laufenden Bibliographien verzeichnet. 26 Dass die Wahrnehmung der Prager Schule seinerzeit in erster Linie auf allgemeine methodologische Fragen der Sprachforschung und besondere der Phonologie fokussiert war, ergab sich nicht zuletzt daraus, dass gerade diese Arbeitsfelder wirkungsbewusst in westlichen Publikationssprachen zugänglich gemacht wurden. Gab es unter den drei damals einigermaßen gleichrangig führenden internationalen Wissenschaftssprachen Englisch, Deutsch und Französisch im Prager Linguistik-Zirkel bestimmte Vorlieben, die sich dann auch in der deutschen Rezeption ausgewirkt hätten? Ich habe an anderer Stelle im Detail untersucht, welche Sprachen der Linguistik-Zirkel in den verschiedenen Domänen seiner mündlichen und schriftlichen, wissenschaftlichen wie organisatorischen Kommunikation jeweils verwendete (vgl. Ehlers 1996). Demnach spielte das Englische, dessen Aufstieg zur weltweit wichtigsten Wissenschafts spräche in den dreißiger und vierziger Jahren 25
Von Jan Mukafovsky liegen in deutscher Übersetzung inzwischen mindestens fünf Anthologien mit Texten aus der Zeit bis 1945 (allenfalls einmal bis 1948) vor. Am Anfang dieser Reihe standen im Jahr 1967 die von Walter Schamschula übersetzten Kapitel aus der Poetik, Mukafovsky (1967). 26 Die Arbeiten des Prager Zirkels sind nicht nur in den Fachbibliographien wie dem Indogermanischen Jahrbuch verzeichnet, sondern als wenigstens teilweise deutschsprachige Veröffentlichungen zudem in den allgemeinen Titelverzeichnissen geführt worden. Nachdem der Prager Zirkel von sich aus die Travaux beim Uterarischen Zentralblatt für Deutschland vorgelegt hatte, teilte die Deutsche Bücherei Leipzig mit, „dass für Ihre Arbeiten ausserdem eine Aufnahme in den offiziellen Bücherverzeichnissen des deutschen Buchhandels vorgesehen ist, weil sie teilweise deutschsprachigen Text enthalten" (Schreiben der Deutschen Bücherei vom 16.1.1930, AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
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erst allmählich einsetzte,27 bei den internationalen Auftritten der Prager Schule eine deutlich untergeordnete Rolle. Es wurde nur von den tschechischen Anglisten und dann auch nur bei der Darstellung von im engeren Sinne anglistischen Themen verwendet, oder aber als Publikationssprache gewählt, wenn man wie im Falle des Information Bulletin 2 von 1936 (s.o.) speziell einen englischen Adressatenkreis erreichen wollte. Wo immer der Prager Linguistik-Zirkel vor einem ausländischen Publikum kollektiv methodologische Prinzipien vertrat oder sich als wissenschaftliche Institution international zu Wort meldete, nutzte er das Französische als Publikations- und Kommunikationsmedium. So sind die grundlegenden Prager „Theses" 1929 ebenso französisch veröffentlicht worden wie später das „Project de terminologie phonologique standardisee" (1931). Wie der Titel ist auch der gesamte editorische Apparat der Travaux du Cercle Unguistique de Prague französisch gehalten, und zwar auch dann, wenn der Inhalt der Bände durchgängig deutsch oder englisch verfasst war (wie in Travaux 3, 5,2 und 7). Alle erhaltenen Einladungsschreiben und Rundbriefe an ausländische Fachkollegen sind auf Französisch geschrieben, überhaupt scheint der Prager Linguistik-Zirkel neben Briefpapier mit tschechischem Briefkopf ausschließlich französisch vorgedrucktes Briefpapier benutzt zu haben. Diese besondere Rolle des Französischen als gleichsam offizielle Sprache der Prager Schule im Ausland war sicherlich bedingt durch die betonte kulturelle Orientierung der selbständigen Tschechoslowakei an Frankreich. Zum anderen konnte das Französische als Sprache de Saussures und seiner Genfer Schüler auch sprachwissenschaftliche Modernität markieren, die sich in explizite oder implizite Opposition zur (deutschsprachigen) Tradition der Junggrammatik stellte. Trotz des großen Prestiges des Französischen wurde in den fremdsprachigen Veröffentlichungen des Prager Zirkels nahezu ausnahmslos häufiger das Deutsche als das Französische verwendet. Die mit Abstand größte Zahl der Beiträge in den Travaux ist deutsch formuliert, auch auf den internationalen Kongressen wählten die Angehörigen der Prager Schule für ihre Vorträge und Diskussionsbeiträge eher das Deutsche als das Französische. Deutsch ist selbst bei den Vortragsveranstaltungen des Zirkels in Prag die meist verwendete Sprache nach dem Tschechischen. 28 Und auch das geplante Referatenorgan Glottologia sollte ja „in deutscher Sprache" berichten. Das Verhältnis zum Deutschen als Kommunikationsmedium dürfte dabei durchaus pragmatisch gewesen sein, etwa in dem 27
28
Vgl. Skudlik (1990: 178). „Das Phänomen der exklusiven Anglophonie in der Wissenschaft ist ganz modern." (ebd.: 211). Zur Rolle des Deutschen als „einstige Weltsprache der Wissenschaft" vgl. auch den Überblick in Ammon (1998: 1-15). Zu sprachlichen Aspekten der ,Binnenkommunikation' des Prager Zirkels vgl. Abschnitt 5.3 und die schon erwähnte Untersuchung in Ehlers (1996).
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2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Sinne, in dem auch die Prager Presse das Deutsche zur Publikationssprache wählte: „aus Gründen der technischen, praktischen Verständigungsmöglichkeit, die die nächstgelegene Weltsprache bietet" 29 . Da Deutschland „im ersten Drittel dieses [des 20.] Jahrhunderts die Wissenschaftsnation schlechthin" (Skudlik 1990: 179) war, konnte unter Gelehrten „die Kenntnis der deutschen Sprache vorausgesetzt werden" (ebd.: 180). Diese Voraussetzung galt nicht nur im westeuropäischen und angelsächsischen Raum, sondern gerade auch im slawischsprachigen Umfeld selbst, wo zumindest im Einflussbereich der Donaumonarchie das Deutsche „als lingua franca der Nationalitäten untereinander" (Maurer 2000: 348) eine auch außerwissenschaftliche Bedeutung hatte. Dass das Deutsche ähnlich wie nach der Jahrhundertwende noch in der Zwischenkriegszeit bisweilen als „gemeinsame Verständigungssprache aller Slaven" (Krumbacher 1908: 17) fungierte, wird an erhaltener Korrespondenz russischer Institutionen beispielhaft deutlich, die sich mit deutschsprachigen Schreiben an den Prager Linguistik-Zirkel wandten. 30 Durch die quantitative Dominanz des Deutschen in den international ausgerichteten Veröffentlichungen und Verlautbarungen der Prager Schule waren die sprachlichen Rezeptionsbedingungen in Deutschland, Osterreich und der deutschsprachigen Schweiz sogar besonders günstig. Der größte und wichtigste Teil etwa der phonologischen Literatur war den Lesern hier sogar in ihrer Muttersprache zugänglich. Die übrigen fremdsprachigen Publikationen aus Prag konnten auf außerordentlich weitverbreitete Französisch- und Englischkenntnisse bei ihren deutschen Fachkollegen rechnen. Was aber vom Prager Zirkel nicht bewusst durch Berichte und Übersetzungen über die Sprachbarriere gehoben wurde, die die slawischen Sprachen umgab, blieb im deutschen Sprachraum wie andernorts in der westlichen Welt den meisten Wissenschaftlern unzugänglich und unverständlich.
29 30
Redaktioneller Beitrag „Die Sendung der Prager Presse" in der Sonderbeilage „Presse und Gesellschaft" zur Präger Presse vom 12.4.1931: dort S. 2. Ein Beispiel: am 27.4.1934 wandte sich die Leitung der nyÖAHHHaa GnBAHOTeica CCCP hm. B. H. AeHHHa in etwas unbeholfenem Deutsch an den Prager Zirkel, um einen Schriftentausch zu vereinbaren (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
95
2.2 Slawische Sprachen als Rezeptionsbarriere
,
Prazsky U n g u i s t i c k y krfägzek b i t t e t um Druckkostenbeitrag.
Vi Prag,den
Ί.: / ·'' ;
> ... / // ' '
An das Ministerium f ü r Schulwesen und Volkskultur P r a g Die beiden u n t e r z e i o h n e t e n j D r . y i l e m M a t h e s i u s A n g l i s t i k an der Karl s-»-Univer3i tat ,und D r . F r i e d r i c h
, ο r d . P r o f e s s o r der 3 1 ο t t y , ord.
P r o f e s s o r dar v e r g l e i c h e n d e n indogermanischen Sprachwissenschaft an der Deutschen U n i v e r s i t ä t i n Prag,beehren s i c h , i n i h r e r Eigenschaft a l s Vorsitzender des Prazsky l i n g u i s t i c k y krouisek be zw. a l s Herausgeber der zu g r ü n denden J a h r e s s c h r i f t f o l g e n d e s ganz ergebonst zu u n t e r b r e i t e n . fpfj^^l Es i s t e i n i n der Wissenschaft s e i t langem schwer empfundener
Zu&tand,daß
d i e Arbeiten^ssst±Kh auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft,namentlich auf dem T e i l g e b i e t e der allgemeinen Sprachwissenschaft,soweit s i e i n e i n e r der s l a v i s c h e n Sprachen a b g e f a s s t s i n d , n i c h t die gebührende Beachtung f i n den.Es l i e g t d i e s an geringen Kenntnis d i e s e r Sprachen i n den Ländern M i t teleuropas und Westeuropas,von anderen E r d t e i l e n ganz zu schweigen.Und doch kann es keinem Z w e i f e l unterliegen,daw i n diesen Arbeiten,mögen es Buchwerke oder E i n z e l a u f 3 ä t z e i n Z e i t s c h r i f t e n s e i n , g e r a d e f ü r die Erkenntn i s a l l g e m e i n s p r a c h l i c h e r Probleme und deren Lösung i n h e u t i g e r S e i t h e r vorragendes g e l e i s t e t w i r d ; j a man kann sagen,daß von den Gelehrten
slavi-
seher Länder i n diesen Z e i t e n ganz neue Ideen und eine ganz neue Gesamte i n s t e l l u n g zu diesen prägen v o r g e t r a g e n werden.Es i s t daher e i n großer Schaden f ü r d i e Wissenschaft,dai3 diese Leistungen n i c h t so v e r b r e i t e t und damit n i c h t so bekannt s i n d , w i e es i h r ','/ert e r f o r d e r t . Die Gelehrten, die s i c h i n dem prazsky l i n g u i s t i c k y krouzek zu gemeinsamer A r b e i t gerade auf dem Gebiete der allgemeinen Sprachwissenschaft zusammengefunden haben,ha-
96
2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
ben diesen Mangel besonders scharf erkannt und
nders
c
bedauert.Daher haben sie sich entschlossen,ihn entschieden beseitigen zu. helfen,und sie glauben,diesen Zweck am besten durch Schaffung einer Jahresschrift zu erreichen,die iaixsmi^ai&iäs^^xg^jts^^
ii^kurzen,
aber ausreichenden Referaten in deutscher Sprache eine sorgfältige Uebersicht dessen bringen soll,was innerhalb eines Berichtsjahres auf dem Gebiete der allgemeinen Sprachwissenschaft in Werken slavischer und auch anderer schwer zugänglicher Sprachen geleistet worden ist.sie wird etwa 8>10 Druckbogen umfassen müssen,um ihren Zweck zu erfüllen,und soll den folgenden Titel führen: G l o t t o l o g i a
.
chen Vereinigung. Als Herausgeber ist der ord.Professor an der Deutschen Universität Dr. Friedrich
3 1 ο t t y bestimmt worden.Das erste Jahresheft soll im Spät-
herbst dieses Jahres erscheinen. Aus den beigelggten Kostenvoranschlägen ergibt sich,daß die Drucklegung einschließlich der Lieferung des Papiers und des Heftens etwa
Xc
betragen wird.Der Prazsky linguistick^ krouzek ist nun nicht in der Lage, diese Summe aus eigenem zu bestreiten,und bittet daher ganz ergebenst, einen Druckkostenbeitrag in der Höhe von
Kc bewilligen zu wollen.
Es erscheint als sicher,daß sich diese Jahresschrift,da sie einem wohl allenthalben empfundenen Bedürfnis entspricht,allmählich einen solchen Abonnentenkreispeichern wird,der ausreicht,um das Unternehmen selbst zu finanzieren.Aber im Anfange ist dies nicht der Pali,sondern es wird einige Zeit verstreichen,bis die ganze Auflage (L.000 Stück) verkauft sein wird·, auch muß für die Zeit der Einführung der Jahresschrift mit einer großen Zahl von Freiexemplaren gerechnet werden,die nichts einbringen,sondern im
2.2 Slawische Sprachen als Rezeptionsbarriere
Gegenteil noch Werbekosten (portö u.dergl.) verursachen.Für diese Zeit ist also eine Unterstützung des Unternehmens von selten des Ministeriums dringend notwendig,und so geben wir uns der angenehmen Hoffnung hin,daß das Ministerium in Würdigung der angeführten Gründe und in der Erkenntnis, daß es sieh um ein in der Wissenschaft dringend notwendiges Unternehmen br handelt,die von uns vorgetragene Bitte um Druckkostenunterstützung geneigtest erfüllen wird.
Mit dem Ausdruck unserer ausgezeichneten Hochachtung
Dokument 2: Entwurf eines Antrages auf Druckkostenunterstützung für das geplante Referatenorgan Glottologia von Friedrich Slotty, handschr. datiert 14.3.1930 (AAVCR/ P L K / Kart. 4 / i.e. 27)
97
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption: Der Prager Zirkel als „organizational center of modern phonology" Am Rande der phonologischen Arbeitstagung 1930 in Prag gab der Belgrader Slawist Aleksandar Belic der Prager Presse ein Interview, in dem es vor allem um „Wege zur Erneuerung der Sprachwissenschaft" ging. Belic hob in diesem Gespräch die große Bedeutung des Linguistik-Zirkels für die Entwicklung der nachsaussureschen Linguistik hervor: Es gibt in den verschiedenen Kulturzentren der Welt verschiedene linguistische Gesellschaften, aber der Linguistische Zirkel in Prag ist gegenwärtig der bedeutendste von denen, die sich als Hauptziel ihrer Arbeit die eben charakterisierte Richtung [der „neolinguistischen Schule Saussures"] gewählt haben. Prag ist — durch die Regsamkeit seiner Linguisten und durch die organisatorischen Fähigkeiten des Prof. Dr. Vilem Mathesius u.a. zu einem Mittelpunkt der ganzen linguistischen Bewegung geworden.1 Die besondere Rolle des Linguistik-Zirkels wird hier zu einem guten Teil auf die „organisatorischen Fähigkeiten" seines Vorsitzenden Mathesius zurückgeführt. Auch Mathesius' Schüler Bohumil Trnka würdigt in einer Zeitungsnotiz den „reichen Ertrag von dessen organisatorischem Werk, sowohl auf dem Feld der tschechischen Anglistik wie dem der Linguistik überhaupt" (Trnka 1932b)2, Mathesius sei ein „geborener Organisator" [rozeny Organisator] (ebd.). Aber Mathesius' organisatorische Unternehmungen beruhen nicht nur auf einem gleichsam angeborenen Hang und einem natürlichen Talent. Sie sind vielmehr bewusst gewählte Mittel, um die kulturpolitische Programmatik des schöpferischen Aktivismus' [tvorivy aktivismus] umzusetzen, die er in einer Reihe von populären Schriften entwickelte. 3 Auf der Basis schonungsloser Analysen zur Lage der damali1
2
3
„Wege zur Erneuerung der Sprachwissenschaft. Aus einem Gespräch mit Aleksandar Belic." In: Prager Presse vom 21.12.1930: 8. Der einspaltige Artikel ist mit dem Kürzel „Kb." unterzeichnet und dürfte demnach vom Kulturredakteur Frantisek Kubka stammen. Mathesius könne mit Zufriedenheit „tesiti se ζ bohate zne sveho vlastniho a organisacniho dfla jak na poli ceske anglistiky, tak linguistiky vübec." Der Text Trnkas ist im Zeitschriftenausschnittarchiv des Prager Zirkels erhalten (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 26); es war mir leider nicht möglich, die dort nicht nachgewiesene Seitenzahl der Originalveröffentlichung zu ermitteln. Seine wichtigsten Artikel zu diesem Themenkreis fasste Mathesius in den Sammelbänden Mathesius (1925a) und (1944) zusammen. Zum kulturpolitischen Hintergrund
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
99
gen Kultur in der Tschechoslowakei entwirft Mathesius in diesen Texten Perspektiven zum Aufbau eines eigenständigen kulturellen Lebens in dem gerade unabhängig gewordenen Staat. Bemerkenswerterweise sieht Roman Jakobson 1932 gerade diese kulturpolitischen Ambitionen von Mathesius als „den besten Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit des Forschers" (Jakobson 1932: 6) an. Ähnlich charakterisiert Jahrzehnte später auch Mathesius' ehemaliger Mitarbeiter, Rene Wellek, seinen Lehrer vor allem anhand seiner kulturpolitischen Bestrebungen. Mathesius, der in der Tradition des tschechischen Protestantismus stünde und sich am Vorbild T.G. Masaryks einerseits und dem Modell der englischen Kultur andererseits orientiert habe, kennzeichne in erster Linie „his deep concern for the building of the newly liberated nation" (Wellek 1976: 9).4 Jakobson konzentriert sein kleines Porträt des tschechischen Anglisten, das er zu seinem fünfzigsten Geburtstag 1932 veröffentlichte, ganz auf dessen knappen Lagebericht über die „tschechische Wissenschaft" (Mathesius 1925b: Titel). In diesem Text kommt Mathesius zu einem bitteren Befund: Der zeitgenössische tschechische Wissenschaftsbetrieb sei geprägt von „kleingeistigem Skeptizismus, unpersönlicher Buchgelehrsamkeit und eigennütziger Vereinzelung" (ebd.: 90)5: Jakoby veda u näs nebyla zäpasem ο poznäni, nybrz jen resenim vedeckych üloh podle danych pravidel se znämkami a odmenami za cistotu a üpravnost provedeni. (ebd.) Als ob die Wissenschaft bei uns nicht Ringen um Erkenntnis wäre, sondern nur das Lösen von gelehrten Schulaufgaben nach vorgegebenem Muster mit Benotung und Belohnung für die Sauberkeit und Gefälligkeit der Ausführung.
Was Mathesius hier kritisiert, wird dabei nicht nur als allgemeine Beschreibung der „normal-wissenschaftlichen Arbeit" (Kuhn 1976: 177) innerhalb des positivistischen Paradigmas in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verstanden, sondern zugleich als Spezifikum gerade der „tschechischen Wissenschaft" angesehen, das sich aus dem Fehlen einer eigenständigen wissenschaftlichen Tradition ergebe. Aber Mathesius hält den beklagenswerten Zustand der tschechischen Wissenschaft nicht für unabänderlich:
4
5
der wissenschaftlichen und organisatorischen Tätigkeit von Mathesius vgl. Toman (1995: 71-86, 97-101). Auch ein neuerer Handbuchartikel zu Mathesius macht auf diesen Aspekt seines Schaffens am Rande aufmerksam: „Mathesius acted also as an organiser of academic Community life; he was interested in culture in a very broad sense and actively supported a desire to culture, especially on a national basis." (Nekula 1999: 3) Im tschechischen Original: „Malodusnä skepticnost, neosobnä kniznost a sobeckä atomicnost ceskeho sveta vedeckeho [...]."
100
2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Neni to stav, ktery by se nedal zmenit. Je pravda, ze individuälni odvahou nevynikäme. Nase odvaha je räzu spis korporativniho. [...] Silnych a poctivych lidi, oprenych jen ο samy sebe, mäme na pr. u srovnäni s närody anglosaskymi mälo. Ale neni-li näm individualni odvaha uz däna do vinku nebo nevyvinula-li se dosud u näs tradici, nelze rici, ze by se nedala ve vede stejne jako jinde posilovati vhodnym ovzdusim nebo nahradit speciälni nasi odvahou korporativni. (Mathesius 1925b: 89) Das ist kein Zustand, der nicht verändert werden könnte. Es ist wahr, dass wir nicht mit individueller Kühnheit hervortreten. Unsere Kühnheit ist eher korporativer Art. [...] Starke und ehrenhafte Menschen, nur auf sich selbst gestellt, haben wir im Vergleich zum Beisp. mit dem angelsächsischen Volk wenige. Aber auch wenn uns die individuelle Kühnheit nicht in die Wiege gelegt wurde oder bei uns noch keine Tradition herausgebildet hat, kann man nicht sagen, dass sie in der Wissenschaft und anderswo nicht durch eine angemessene Atmosphäre gekräftigt oder gerade durch unsere korporative Kühnheit ersetzt werden könnte.
Jakobson verbindet diese 1925 aufgewiesene Veränderungsmöglichkeit durch Korporation unmittelbar mit der ein Jahr später von Mathesius initiierten Gründung des Prager Linguistik-Zirkels: Die Worte über die tschechische korporative Kühnheit' in der erwähnten Skizze waren nicht umsonst gefallen. Die nächste Etappe hieß - Ecole linguistique de Prague. Mathesius geht als Forscher und Organisator der Wissenschaft streng systematisch vor. (Jakobson 1932: 6)
Mathesius selbst stellt seine organisatorische Initiative später als Reaktion auf „dringende intellektuelle Bedürfnisse unseres Wissenschaftsmilieus" (Mathesius 1936a: 137) dar, die zugleich auf eine günstige Konstellation in der internationalen Wissenschaft gestoßen sei. Vor dem Hintergrund seines kulturpolitischen Engagements ist die Gründung des Prager Linguistik-Zirkel durch Vilem Mathesius in der Tat anzusehen als „wellconceived attempt on his part to organize a specific segment of Czech scholarly life and thus to implement Masaryk's program in the area of research and education" (Toman 1995: 99). Der Horizont von Mathesius' kulturellem ,Aktivismus' ist dabei keineswegs auf das Nationale verengt, sondern zielt vielmehr auf eine Integration der tschechoslowakischen Kultur und Wissenschaft in den europäischen Kontext. 6 Das Pathos der Organisation wurde aber auch von anderen führenden Vertretern der Prager Schule geteilt. Dabei werden in der Konzeption organisierter Wissenschaft mitunter etwas andere Akzente gesetzt als bei 6
So sieht Mathesius in der gewonnenen staatlichen Autonomie sogar die Gefahr einer stärkeren wissenschaftlichen Isolierung (Mathesius 1925b: 88). Ob man Mathesius aber von Beginn an wirklich „his desire to turn Prague into a world center of linguistics" (Toman 1995: 4) zuschreiben kann, möchte ich bezweifeln. Ein solches, eher für Jakobson charakteristisches Ziel dürfte sich bei Mathesius erst nach den ersten internationalen Erfolgen des Prager Zirkels herausgebildet haben.
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
101
Mathesius. Für Jakobson, der als „cementing force of the Circle" (Souckova 1976: 2) und sein langjähriger Vizepräsident dort ebenfalls eine organisatorische Schlüsselfunktion wahrnahm, verband sich mit dieser Konzeption ein unübersehbar anderer kulturpolitischer Hintergrund als bei Mathesius' schöpferischem Aktivismus. Bei seinen Angriffen auf „den Atomismus des Wissens" und den „äußersten Individualismus der Forschung" (Jakobson 1988c [1935]: 74), die der positivistische Wissenschaftsbetrieb hervorgebracht habe, verweist Jakobson nämlich antithetisch auf „die russischen großzügigen Versuche der Planung der Wissenschaft" (ebd.)7. Bei aller Kritik im Detail wird dieses Vorbild als „für die westlichen Gelehrten besonders aufschlußreich" (ebd.) empfohlen. Die Vereinbarungen internationaler Wissenschaftskooperation, die auf dem Genfer Linguistenkongress nicht zuletzt unter aktiver Teilnahme des Prager Zirkels getroffen worden waren, begrüßte Jakobson denn auch mit den Worten: In einer Reihe von Referaten wurde das Kampfprogramm um die internationale Planwirtschaft in der Sprachwissenschaft formuliert. Es wurden Resolutionen gefaßt, die eine Vervollkommnung der internationalen linguistischen Bibliographie, eine Standardisierung der Grundsätze der phonetischen Transkription und eine Koordinierung, wenn schon keine Unifizierung der linguistischen Terminologie bezwecken. (Jakobson 1931c: 9)
Das Konzept der Wissenschaftsorganisation wird bei Jakobson ausdrücklich auf die damalige bolschewistische Kulturpolitik bezogen, zugleich aber an eine typisch russische „ältere Tradition" (Jakobson 1988c: 72) zurückgebunden, die sich aus gesellschaftlichen und geopolitischen Bedingungen der russischen Kultur erkläre. Die Form der „neuen Sovjetwissenschaft" sei jedenfalls als Gegenmodell zur positivistischen „Zerstückelung des Wissens" (ebd.: 73) von exemplarischer Bedeutung und könne im Kontext westlicher Wissenschaft als „eine fremde Anregung, auf einen anderen ideologischen Boden verpflanzt, reiche Früchte" (ebd.: 75) erbringen. Auch diese ,Verpflanzung' ihrerseits — an anderer Stelle spricht Jakobson von der „Einimpfung der russischen wissenschaftlichen Tradition" (Jakobson 1929b: 637) - „müßte eine planmäßige sein, um Früchte zu tragen" (Jakobson 1988c: 74). Während für Mathesius' Programm der „Korporation" die organisatorische Vernetzung und Bündelung wissenschaftlicher Einzelleistungen im Vordergrund steht, erweitert Jakobson den Gedanken des „kollektiven Schaffens" (Jakobson 1929b: 637) in der Wissenschaft um den Aspekt rationaler Planung unter dem Gesichtpunkt effizienter Wirkung. Viel stärker und vor allem früher als Mathesius argu7
In der Originalveröffentlichung des Artikels aus der Prager Presse war an dieser Stelle in missglückter deutscher Wortbildung von „Planierung der Wissenschaft" die Rede gewesen, in der hier zitierten Textversion vom Herausgeber korrigiert.
102
2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
mentiert Jakobson dabei mit dem revolutionären Sendungsbewusstsein einer internationalen Avantgarde. Den Ubergang des Prager Linguistik-Zirkels von „einer freien Vereinigung in einen fest organisierten Verband" (Mathesius 1936a: 145), der nach dem Uberraschungserfolg auf dem Linguistenkongress 1928 in Den Haag vollzogen wurde, habe ich bereits in 1.1 dargestellt. Am Ende dieses Wandlungsprozesses stand der Linguistik-Zirkel als eingetragener Verein mit einer entsprechend vereinsrechtlich gegliederten institutionellen Struktur. Diese Vereinsgründung mit der satzungsmäßigen Festschreibung auf die „funktional-strukturale Methode" 8 wird von Josef Vachek noch 1999 gegen den offenbar von Zeitgenossen erhobenen Vorwurf „des angeblichen Sektierertums und der Intoleranz" verteidigt: [...] bylo jiste nutne probojovävat novy näzor düraznymi argumenty, ktere vsak zpravidla nepfekrocily hranice fair play. (Vachek 1999: 22) Es war sicher notwendig, den neuen [sprachwissenschaftlichen] Ansatz mit energischen Argumenten durchzusetzen, die allerdings die Grenzen des fair play meist nicht überschritten.
Bereits Ende 1929 war der Linguistik-Zirkel „come un' organizzazione combattiva e disciplinata, con tesi programatiche precise", (Jakobson 1971b [1933]: 541) aufgetreten; die Vereinsgründung gab dieser linguistischen ,Kampfgruppe' nachträglich nur noch ein juristisch verbindliches institutionelles Rüstzeug. Im Abschnitt 5.5 wird die bewusst gegen andere Formen wissenschaftlicher Kooperation abgegrenzte Arbeitsweise und Gruppenstruktur des Prager Linguistik-Zirkels im Einzelnen vorgestellt. An dieser Stelle soll nur skizziert werden, welche Folgen die wissenschaftsorganisatorische Planwirtschaft' für den Verlauf der Rezeptionsprozesse hatte. Die Vereinsgründung erbrachte zunächst einmal handfeste finanzielle Vorteile. Gegenüber einer universitätsinternen Institution bot eine Konstitution als ,,freie[..] Forschungsgesellschaft" 9 damals offensichtlich weit 8
9
Vgl. § 1 der Vereinssatzung. Jindrich Toman verweist zu Recht auf die wissenschaftsgeschichdiche Bedeutung dieses unscheinbaren Textes und druckt ihn im Anhang seines Buches in englischer Ubersetzung ab, Toman (1995: 263-265). Vgl. neuerdings in tschechischer Originalversion in Vachek (1999: 93-96). Im Falle der ebenfalls Ende 1930 gegründeten „Deutschen Forschungsanstalt für Slavistik" war dem Initiator Gerhard Gesemann vom Schulministerium von der zunächst angestrebten „Errichtung eines staatlichen Universitätsinstitutes" abgeraten worden: „Der Grund ist der: ein staatliches Institut erhält nur Dotationen, die sehr beschränkt sind, eine freie Gesellschaft Subventionen, die weit grössere Summen ausmachen" (Schreiben Gesemanns an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 20.10.1930, AUK/ FFNU/ Slovansky seminar). Wie der Prager Linguistik-Zirkel ist die Deutsche Gesellschaft für slamstische Vorsehung daher als freie Vereinigung nach dem tschechoslowakischen Vereinsrecht gegründet worden, zur Parallelgründung beider Institutionen vgl. 5.5.
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
103
bessere Subventionsmöglichkeiten. Subventionen von staatlicher und privater Seite, die der Zirkel schon in seiner Satzung einplante, 10 bildeten später in der Tat das materielle Rückgrat der Organisation, sie wurden zu einem ganz erheblichen Anteil zur Stimulation der internationalen Rezeption genutzt (vgl. 2.1). Sodann wirkte sich der „korporative" Zusammenschluss mehrerer Wissenschaftler unter einer gemeinsamen Zielsetzung schon unter quantitativem Aspekt günstig auf die Außenwahrnehmung aus. So war der spezifisch Prager Ansatz der funktionalen Sprachwissenschaft mit einer Dichte und Fülle von Publikationen in der nationalen und internationalen Fachöffentlichkeit vertreten, wie es ein einzelner Autor kaum je hätte erreichen können. Schon die zahlenmäßig massive Präsenz von Vertretern der Prager Schule auf den internationalen Fachkongressen machte es ihr vergleichsweise leicht, die Diskussion in Plenarsitzungen und in Sektionen immer wieder zu dominieren (vgl. 1.1). Auch für die Durchsetzung der Phonologie spielte eine große Rolle, dass sie von Beginn an stets von einer Vielzahl von Stimmen gestützt wurde: Gemeinsames Auftreten der Phonologen auf verschiedenen Kongressen [...] waren der Weg zu weiteren Siegen, aber viel wichtiger war der Umstand, daß nicht nur der Name [der Phonologie] volle Geltung gewann, sondern auch zahlreiche gute Arbeiten zunächst der Prager, dann auch ausländischer Phonologen genügend Zeugnis über die Stellung, die diese ,neue' Wissenschaft in der Welt einnahm, abgaben. (Tschizewskij 1976: 25)
Koordiniertes und arbeitsteiliges Vorgehen erleichterte dem Prager Zirkel die laufenden Tätigkeiten wie die Herausgabe von Publikationen und Periodika, die Veranstaltung der Vortragsabende oder die Ausrichtung der Phonologietagung 1930. Es ermöglichte dem Zirkel aber auch eine kampagnenartige, gleichzeitige Präsenz in einer Vielzahl von Fach- oder Presseorganen. Ein Beispiel für eine derartige Publikationskampagne ist etwa das arbeitsteilig koordinierte Auftreten von Mitgliedern des Prager Zirkels gegen das Buch Deutsche und Tschechen des Prager Slawisten Konrad Bittner (vgl. 5.4). Ein anderes Beispiel ist der Plan einer vielstimmigen Artikelserie zum zehnjährigen Jubiläum des Zirkels, die über in- und ausländische Fachzeitschriften breit gestreut werden sollte: Κ 10 letemu trväni P.L.K, mohou napsati clänky: Wellek (Slav. Rev.), Jakobson (Slaw. Rundsch.), Mukarovsky (Monde slave), Trnka (Language, CMF), Vachek (Engl. Studies), v. Wijk (Ν. Taalg.), Havränek, Korinek, Noväk ..., n
10 11
Vgl. § 3 der Vereinssatzung, bei Toman (1995: 264). Protokoll zur Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 21.12.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Bei dem mit CMF abgekürzten Zeitschriftentitel handelt es sich um den Prager Casopis pro modernt filologii, „N. Taalg." dürfte die in Groningen herausgegebene De Nieuwe Taalgids meinen.
104
2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
Zum zehnjährigen Bestehen des Prager Linguistik-Zirkels können Artikel schreiben: Wellek [usw.]
Die Organisationsbasis des Prager Zirkels machte gezielte Öffentlichkeitsarbeit mit internationaler Reichweite möglich. Die satzungsmäßige Ausgliederung organisatorischer Funktionen und Gremien verbunden mit der Einrichtung von Instanzen des institutionellen Gedächtnisses' (Sitzungsprotokolle, Anwesenheitslisten, Zeitschriftenausschnittsarchiv) sicherten allgemein geregelte Prozesse der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung und die Entwicklung längerfristiger Handlungsstrategien. Ein immer wiederkehrendes Thema bei den Beratungen des geschäftsführenden Ausschusses waren der Stand der Außenkontakte und die Reaktionen der Fachöffentlichkeit auf Aktivitäten des Prager Zirkels. In diesem Zusammenhang wurde etwa erörtert und entschieden, auf welchem Wege die Veröffentlichungen des LinguistikZirkels an das Publikum herangeführt werden könnten (vgl. 3.1, 3.2, 3.3). Ein Beispiel für ein strategisches, an die jeweiligen Gegebenheiten angepasstes Vorgehen des Prager Zirkels ist auch die Herausgabe einzelner Bände der Travaux oder der bibliographischen Bulletins, die zeitlich, thematisch oder auch sprachlich bewusst auf die großen internationalen Fachkongresse abgestimmt waren (vgl. 1.1, 2.2). Organisiert wurde im Prager Linguistik-Zirkel nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, planmäßig organisiert wurde auch die Vermittlung dieser Arbeit an die nationale wie internationale Fachöffentlichkeit. Der Prager Zirkel dehnte seine wissenschaftsorganisatorischen Bestrebungen aber früh schon auch in den internationalen Raum aus. Eine erste erfolgreiche organisatorische Initiative war hier die Gründung der „Kommission für die funktional-strukturale Erforschung der slawischen Sprachen" im Jahr 1929 (vgl. 1.1). Diese Bestrebungen konvergierten mit internationalen Tendenzen einer beginnenden Herauslösung der Sprachwissenschaft aus dem angestammten Kontext der Nationalphilologien, die sich im Aufbau einer weltweiten, eigenständigen Organisationsstruktur des Faches manifestierten. 12 Das 1925 am Rande einer Phonetik-Konferenz einberufene Comite International Permanent de Ungutstes bildete eine erste übergreifende Fachvertretung speziell für die Sprachwissenschaft und hatte neben der internationalen Forschungsplanung und der Standardisierung von Terminologie und Transkriptionssystemen vor allem die Ausrichtung der internationalen Linguistenkongresse zur Aufgabe. 13 In dieses Comite, 12
13
So war der erste internationale Linguistenkongress „gedacht als allgemeiner Linguistenkongreß, d.h. er war aufgebaut, wie Meillet richtig hervorhob, auf dem Gedanken der Emanzipation der Linguistik von der Philologie, der ja seit den Junggrammatikern die Sprachwissenschaftler zusammengeschlossen hat." (Spitzer 1928: 440) Vgl. den ersten Rechenschaftsbericht der Organisation von Mohrmann (1933).
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
105
das sich aus bis zu fünfzehn Sprachwissenschaftlern möglichst verschiedener Fachrichtungen und Nationen zusammensetzte, wurde 1931 auch Vilem Mathesius gewählt: 14 Den Ausschlag für die Wahl gab seine Stellung als Vorsitzender des Cercle linguistique de Prague, dessen von dem [...] Fürsten Trubetzkoi-Wien angeregte Arbeiten die Laudehre als Phonologie im Gegensatz zu der älteren Phonetik auf eine neue Basis gestellt haben, sowie der Wunsch, einen Anglisten in unserem Kreise zu haben [...].15
Der Vorsitzende des Prager Linguistik-Zirkels war also zugleich im umfassendsten Organisationskomitee der internationalen Sprachwissenschaft vertreten, und damit war eine Verbindung geknüpft, die vorzüglich zu Mathesius' Ziel einer Integration der tschechischen Wissenschaft in den gesamteuropäischen Kontext gestimmt haben dürfte. Eine organisatorische Initiative von internationalem Maßstab ergriff der Linguistik-Zirkel aber auch speziell für den Bereich der Phonologie. Dass auch beim Aufbau dieser neuen Disziplin mit dem Pathos planmäßiger Organisation vorgegangen wurde, wird deutlich, wenn Trubetzkoy „die Frage der Organisierung der phonologischen Arbeit zu einer Lebensfrage der Phonologie" (Trubetzkoy 1933b: 112) erhebt: Die Beschreibung der phonologischen Systeme aller Sprachen der Welt ist dringend notwendig. Diese Beschreibung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie möglichst einheitlich durchgeführt und international organisiert ist. (ebd.: 109)
Erste Überlegungen, „eine internationale Gesellschaft für die vergleichende Erforschung der phonologischen Systeme der Welt' zu gründen" (Trubetzkoy 1929: 66), gehen auf Gespräche am Rande des Linguistenkongresses 1928 in Den Haag zurück. Eines der Hauptziele der 1930 nach Prag einberufenen Phonologiekonferenz war entsprechend „eine Organisationsbasis für weitere systematische Arbeit auf dem Gebiete der Phonologie [zu] schaffen" (Mathesius 1930: 8). Jakobson, Mathesius und Trubetzkoy wurden von den Prager Kongressteilnehmern beauftragt, als vorläufiges Arbeitskomitee die Gründung einer „Association phonologi-
14
15
16
Das Ernennungsschreiben des Generalsekretärs des Comites, Josef Schrijnen, vom 12.10.1931 ist im Teilnachlass von Mathesius im Pilsener Stadtarchiv erhalten (Archiv mesta Plzne/ LP 806/ c. inv. 24). Nachträgliches Ergänzungsschreiben zum „Bericht über die Tagung des Comite International Permanent des Linguistes zu Paris am 25/6.4.1938" des Breslauer Turkologen Carl Brockelmann an das Reichswissenschaftsministerium vom 13.7.1939 (BArch/ REM 4901/ 3176: Bl. 20). Brockelmann war als Mitglied des Comites vom Reichsministerium zu genaueren Auskünften über Mathesius aufgefordert worden (a.a.O.: Bl. 18). Im Original kursiv gesetzt.
106
2 Äußere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
que internationale (Internationale phonologische Arbeitsgemeinschaft)" vorzubereiten: Le comite devra entretenir des rapports constants avec tous ceux qui travaillent dans le domaine de la phonologie et organiser un bureau de renseignements pour les questions phonologiques. (Proces-verbaux des seances 1931: 305)
Auf dem ersten internationalen Kongress für phonetische Wissenschaften fand 1932 dann regulär „la premiere reunion de l'Association Internationale pour les Etudes Phonologiques" (Schrijnen 1935: 15) statt. Der Arbeitsgemeinschaft wurde nun ein international besetztes „Comite d'Administration" mit wechselnder Präsidentschaft vorangestellt, im Zentrum wirkten aber weiterhin die Initiatoren aus dem Prager Zirkel: [...] le travail d'organisation courant ä ete confie ä un Bureau consistant de MM. V. Mathesius (Tresorier et Administrateur), Prince Ν. Trubetzkoy (Secretaire General) et R. Jakobson (Secretaire-Adjoint), (ebd.)
Nachdem die Gesellschaft innerhalb weniger Jahre stark angewachsen war, wurde 1936 beschlossen, sie in nationale Sektionen zu untergliedern. Am Ende der dreißiger Jahre hatten einige dieser Ländersektionen sich bereits zu beachtlicher Größe entwickelt. Andre Martinet teilte 1938 in seinem Bericht über die phonologische Arbeitsgemeinschaft mit, que la Section americaine, avec une cinquantaine de membres, est la plus nombreuse; puis viennent, par ordre d'importance, les Sections polonaise, tchecoslovaque et francaise, avec de vingt ä trente membres chacune; des sections sont egalment constituees en Bulgarie, en Hongrie et au Japon. Dans d'autres pays comme le Danemark, l'Esthonie, la Hollande, l'Italie, la Norvege et la Roumanie, les phonologues n'ont pas attendu l'aboutissement des tentatives de groupement pour se mettre au travail. (Martinet 1939: 511)
Bis zum Tod Trubetzkoys, dessen Funktion als Sekretär der phonologischen Arbeitsgemeinschaft dann von Martinet übernommen wurde, lag die „travail d'organisation courant" ausschließlich in Händen von Angehörigen der Prager Schule. Der Prager Linguistik-Zirkel fungierte in der Tat als „the organizational center of modern phonology" (Jakobson 1971c [1932]: 25). Heinrich Lausberg sah später in der organisatorischen Tätigkeit des Linguistik-Zirkels sogar dessen Hauptverdienst um die Phonologie: Nicht die Erfindung, sondern die konsequente Organisation und Durchführung phonologischer Forschung ist so das bleibende Verdienst des Prager Kreises. (Lausberg 1949: 250)
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre scheint die Doppelbelastung der Prager Organisatoren mit der Leitung zweier stark expandierender wissenschaftlichen Gesellschaften — Linguistik-Zirkel und phonologischer Arbeitsgemeinschaft — mitunter zu Schwierigkeiten geführt zu haben. Er-
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
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schwerend dürfte sich hier auch ausgewirkt haben, dass wichtige Mitglieder aus dem geschäftsführenden Ausschuss des Zirkels — Bohuslav Havranek, Roman Jakobson und Jan Mukarovsky - unterdessen in Brno bzw. Bratislava ihre Lehrtätigkeit aufgenommen hatten, und daher nur noch zeitweise in Prag anwesend und aktiv sein konnten. 17 Von den organisatorischen Schwierigkeiten war zum Teil auch die planmäßige Verbreitung von Publikationen betroffen. Gerade Trubetzkoy, bei dem in Wien besonders viele internationale Verbindungen zusammenliefen und der deshalb in besonderem Maße auf die Kooperation seiner Kollegen in der Tschechoslowakei angewiesen war, äußerte Unzufriedenheit über die organisatorischen Abläufe: Es ist sehr bedauerlich, daß bisher so wenig Reklame für meine ,Anleitung' [zu phonologischen Beschreibungen] gemacht wurde. Ich habe bereits vor einigen Monaten diesbezüglich an R. Jakobson geschrieben, er scheint aber meinen Brief nicht beachtet zu haben. Das Einkommen vom Verkauf der ,Anleitung' sollte ja den Anfang des Kapitals der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft bilden, so daß vom Erfolge dieses Verkaufs die weiteren Publikationen der Arbeitsgemeinschaft abhängen.18 Trubetzkoy gibt in seinem Brief dann detaillierte Arbeitsanweisungen wahrscheinlich an Bohumil Trnka, auf dem als Geschäftsführer des Linguistik-Zirkels damals der Hauptteil der Organisationsarbeit lastete, zumal Mathesius wegen seiner Sehbehinderung nur sehr eingeschränkt tätig werden konnte. Auch die großangelegte Fragebogenaktion, mit der die Internationale phonologische Arbeitsgemeinschaft wenig später kurzgefasste phonologische Beschreibungen möglichst vieler Sprachen zusammentragen wollte, hatte offenbar erhebliche Anlaufschwierigkeiten. Trubetzkoy wartete schon Anfang Juni 1937 darauf, dass ihm aus Prag die gedruckten phonologischen Fragebögen in deutscher, französischer und englischer Version zugesandt würden 19 , um sie an Interessenten und Mitglieder der internationalen Arbeitsgemeinschaft weiterreichen zu können. Anfang August „schickte Trnka endlich den Fragebogen" (Trubetzkoy 1975: 396), allerdings nur in der französischen Version. In einem aufgebrachten Brief beschwerte sich Trubetzkoy dann Ende September bei Jakobson, dass er immer noch keine deutschsprachigen Exemplare des Bogens erhalten ha17 18 19
Jakobson lehrte seit 1933 an der Universität Brno, wo ab 1934 auch Havränek tätig war. 1934 wurde Mukarovsky nach Bratislava berufen. Handschr. Brief Trubetzkoys an einen nicht namentlich genannten Adressaten (wahrscheinlich Trnka) „Wien, 16. Februar 1937" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Trubetzkoy (1975: 395), am 16.6.1937 schrieb er aus Wien zusätzlich an wahrscheinlich Trnka, dieser möge ihm „die ganze Auflage' (mit Abzug der für die Tschechoslovakei erforderlichen Zahl der Exemplare)" des Bogens zusenden (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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2 Äußere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
be, und deshalb unter anderem einer Anfrage von Max Weinreich nicht nachkommen könne: 20 Hto >Ke MHe AEAATB? n i i c a n MaTe3iiycy HAU TpHKe? - onarb AOHKa η Kanaa HnGyAt nyTamma. (ebd.: 399)
SYAET
npoBO-
Was soll ich tun? Mathesius oder Trnka schreiben? - da gibt es wieder Verzögerung und irgendein Durcheinander.
Umgehend zu bearbeiten sei außerdem eine Bestellung Weinreichs von fünf Exemplaren der Anleitung phonologischen Beschreibungen (Trubetzkoy 1958 [1935]), die wegen der Devisenbestimmungen in Polen nicht einfach abzuwickeln sei: Κ τ ο >κε 3TO CAEAAET? ΠοίίΜΗτε, *rro CO3AAE Arbeitsgemeinschaft, Μ Η τεΜ caMHM Β3ΗΛΗ Ha CCÖH H3BeCTHHe o6iI3aTeAI>CTBa, KOTOphlC HaAO ΒΗΠΟΛΗΊΓΠ). (Trubetzkoy 1975: 399) Wer kann das erledigen? Begreifen Sie doch, dass wir eine bestimmte Verpflichtung auf uns genommen haben, als wir die Arbeitsgemeinschaft gründeten, die wir erfüllen müssen.
Als ein weiterer Monat verstrich, ohne dass Weinreich die gewünschten Bücher erhalten hatte, versuchte Trubetzkoy in noch schärferem Ton über Jakobson Druck auf die Prager Zentrale auszuüben: He paöoTaeT Harn annapaT, Aa Η T O A M O ! [...] A H Ö O HaAO npiicnocoönTb Β ripare Kaicoro HHOYIB ΛΟΛΒΗΟΓΟ napim, AH6O HAAO 3aKptiBaTb AABONNY! Πο»aAyiicTa, NPHMHTE MEPT>I! BeAB TaK HCAI>3H, STO Κ;ΙΚΟΗ ΤΟ Μ&ΚΑΥΙΓΛΡΟΑΗΜΗ CKaHAaA! (Trub8tzkoy 1975: 406) Unser Apparat arbeitet nicht, immer noch nicht! [...] Entweder man muss in Prag irgendeinen tüchtigen Burschen einsetzen, oder wir müssen den Laden zumachen! Bitte ergreifen Sie Maßnahmen! So geht es doch nicht, das grenzt schon an einen internationalen Skandal!
An Trubetzkoys verärgerter Reaktion ist deutlich der hohe Anspruch erkennbar, den er an eine wissenschaftliche Organisation wie den LinguistikZirkel oder die Arbeitsgemeinschaft stellte. Die Metapher des ^Apparates' akzentuiert vollständig reibungslose Kooperation und effektives Funktionieren. Trubetzkoys aufgebrachte Interventionen zeigten ganz offensichtlich Wirkung. Am 25. Oktober 1937 stand zum ersten Mal eine „Diskussion über die Einrichtung eines regulären Sekretariats des Prager LinguistikZirkels (bezahlte Kraft)" 21 auf der Tagesordnung des geschäftsführenden Ausschusses. Der Vorschlag wurde grundsätzlich „positiv entschieden". Im Frühjahr 1938 hatte man dann den von Trubetzkoy geforderten „tüchtigen Burschen" gefunden, der insbesondere Trnka, aber auch ande20 21
Vgl. 3.4, Abschnitt zu Weinreich. „Diskuse ο zrizeni rädneho Sekretariate P.L.K, (placene sily). Rozhodnuto positivne." Protokoll der Sitzung vom 25.10.1937, Protokollheft, AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7.
2.3 Organisatorische Grundlagen der internationalen Rezeption
109
„tüchtigen Burschen" gefunden, der insbesondere Trnka, aber auch andere Mitglieder des Zirkels von laufender Organisationsarbeit entlasten konnte, die diese bislang allein versehen hatten. 22 Novym sekretäfem P.L.K, bude s platnosti od 1. brezna t.r. ustanoven PhC Josef Snobl. Mimo veci tykajici se sekretärske agendy bude vesti ν patrnosti üctoväni spolku, obstarävati präce redakcmho räzu a vypomähati knihovnikovi.23 Als neuer Sekretär des Prager Linguistik-Zirkels wird mit Gültigkeit vom 1. März dieses Jahres PhC Josef Snobl angestellt. Außer den Angelegenheiten der Sekretariatsgeschäfte wird er die Buchhaltung der Gesellschaft führen, Redaktionsarbeiten versehen und dem Bibliothekar aushelfen. Der ,Apparat' des Linguistik-Zirkels und der phonologischen Arbeitsgemeinschaft dürfte nach dieser Anpassung an die gewachsene Größe und Reichweite der Organisationen wieder erheblich reibungsfreier gearbeitet haben. Pathos und Praxis der Organisation unterscheiden die Prager Schule der Linguistik von anderen Strömungen und Gruppierungen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft. Auch die Tendenzen des europäischen Strukturalismus fanden hier zum ersten Mal eine effektive organisatorische Vertretung. Die Schüler de Saussures [...] konstituierten zwar in Genf [...] einen eigenen Linguistenkreis, der aber kaum größere Bedeutung erlangte; die französischen Schüler de Saussures [...], so vor allem Meillet, hatten keine organisatorischen Ambitionen (von einer französischen strukturalistischen Schule kann erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rede sein [...]). (Maas 1992: 468) Die besondere organisatorische Geschlossenheit der Prager Schule ist schon von Zeitgenossen als Charakteristikum wahrgenommen und durchaus als Vorbild empfunden worden. 24 Der norwegische Phonetiker Ernst W. Selmer beispielsweise beklagte die vielfältige Fraktionierung der internationalen Experimentalphonetik: Es fehlt an Einheit und Plan in den Arbeitsmethoden der verschiedenen Forscher, von denen jeder auf seinem Gebiete Nützliches leisten mag, deren Endergebnisse aber nur in ganz vereinzelten Fällen sich als Einzelglieder in 22
23
24
Zumindest zeitweise erhielt der Prager Linguistik-Zirkel allerdings durch eine studentische Hilfskraft Unterstützung, so erledigte Josef Vachek nach eigener Auskunft ab 1930 „für den Zirkel als Student Sekretariatsarbeiten" [konal pro Krouzek jako Student präce sekretärske] (Vachek 1999: 22). Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 1.2.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Seit dem Herbst 1936 betreute Josef Korinek die kleine Bibliothek und das Archiv des Prager Zirkels, vgl. Sitzungsprotokoll vom 22.10.1936, a.a.O. Zum Beispiel bei dem Vossler-Schüler Eugen Lerch (vgl. 4.4), die Vorbildwirkung des organisatorischen Modells des Linguistik-Zirkels für die deutsche Slawistik untersuche ich genauer in Abschnitt 5.5.
110
2 Außere Rahmenbedingungen der Strukturalismusrezeption
eine Kette von immer vorwärtsschreitender geistiger Erkenntnis einfügen lassen. (Selmer 1933: 161)
Obwohl Selmer inhaltlich gegen die Phonologie polemisiert, empfiehlt er seinen Fachkollegen in dieser Situation die Prager phonologische Arbeitstagung als ein organisatorisches Modell für eine einzuberufende experimentalphonetische „Arbeitswoche": In dieser Beziehung sind die Phonologen ganz anders systematisch und taktisch klug verfahren. Auf der Tagung in Prag vom 18. bis 21. Dezember 1930 haben sie die Grundlinien einer standardisierten phonologischen Terminologie erörtert und gleichzeitig die Richtlinien für die künftige phonologische Forschung aufgezogen, (ebd.: 163)
Der starke Wille zur Organisation verstand sich im Prager LinguistikZirkel dabei nicht nur als fachgeschichtliche Reaktion auf den Betrieb der positivistischen Normalwissenschaft in den Philologien, sondern hatte sowohl bei seinen tschechischen wie bei seinen russischen Mitgliedern weitreichende kulturpolitische Hintergründe. Und er manifestierte sich nicht allein in langfristiger Forschungsplanung, vielmehr bezog der Linguistik-Zirkel gerade auch die Öffentlichkeitsarbeit in die „sprachwissenschaftliche Planwirtschaft" ein. Rezeptionsprozesse überließ man im Prager Zirkel so wenig als möglich dem Zufall, sie waren Ziel organisierten Handelns auf der Basis institutionalisierter Kooperation.
3 Rezeption des Prager Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft: Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte Welche Kenntnis also hatte man im deutschsprachigen Raum von den Veröffentlichungen der Prager Schule? Waren sie hier für potentielle Interessenten überhaupt zugänglich? Eine solche Fragestellung muss sich, wie schon gesagt, die Quellenbasis erst erschließen, die eine Antwort rekonstruierbar werden lässt. Aufgefundene Archivalien erst bieten einen erstaunlich genauen, wenn auch stark fragmentarischen Einblick, auf welchen Distributions wegen die Texte des Prager Strukturalismus damals über die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft verbreitet worden sind (3.1, 3.2). In vielen Fällen ermöglichen erhaltene Dokumente sogar, die Versendung einzelner Buchexemplare oder Sonderdrucke bis in die Hand ihrer Adressaten zu verfolgen, Vorgänge der Rezeption also namentlich und zeitlich genau zu bestimmen (3.2). Erste Hinweise auf die Zugänglichkeit der Prager Publikationen in deutschen Universitätsbibliotheken mussten um wenigstens stichprobenartige Anfragen bei den jeweiligen Bibliotheken ergänzt werden, um auch hier ein vorläufiges Bild zu gewinnen (3.3). Der mit Abstand umfangreichste Abschnitt des folgenden Kapitel gilt aber dem Versuch, das Netz der persönlichen Kontakte zu rekonstruieren, die Angehörige der Prager Schule mit Fachkollegen im deutschsprachigen Ausland unterhielten (3.4). Auch hier bildeten archivalische Belege den Ausgangspunkt. Wo immer es mir möglich war, wurden aber auch veröffentlichte Quellen herangezogen, um den fachlichen Hintergrund all dieser Kontakte zu umreißen. Hier mündet die Rekonstruktion der Rezeption bereits in Ansätze zu vielen einzelnen Wirkungsgeschichten, wie sie das vierte Kapitel dann an einigen Fallbeispielen ausfuhrt. Über das kommunikative Verhältnis der deutschen Sprachwissenschaft zur internationalen Fachwelt gerade in der Zeit des Nationalsozialismus sind bis heute vielfach fragwürdige Allgemeinplätze in Umlauf (vgl. 1.2). Wenn man den Spuren der Rezeption von Prag in das deutschsprachige Ausland nachgeht, erweist sich, dass die angeblich isolierte deutsche Gelehrtengemeinschaft auch in den dreißiger Jahren mit ihrem internationalen Umfeld in recht reger wissenschaftlicher Kommunikation stand. Es
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
zeigt sich dabei auch, dass wohl der Prager Linguistik-Zirkel den Aufbau des wissenschaftlichen Austausche gezielt suchte und förderte, dass die Initiative zur Kontaktaufnahme in vielen Fällen aber nachweislich auch von der deutschsprachigen Seite ausging. Erkennbar wird zudem, welcher Medien und Foren sich diese Kommunikation bediente und in welchen Institutionen und Teildisziplinen sie besonders gepflegt wurde. Die Rezeptionsgeschichte des klassischen Prager Strukturalismus beleuchtet also einen Ausschnitt aus der Geschichte der internationalen Wissenschaftskommunikation, von dem noch immer nur wenig Einzelheiten bekannt sind.
3.1 Veröffentlichungen der Präger Schule auf dem deutschen Buchmarkt: Absatz über den Kommissionsverlag Otto Harrassowitz Erste Überlegungen, die Verbreitung der Veröffentlichungen des Zirkels insbesondere im Ausland neu zu organisieren, gehen auf das Frühjahr 1931 zurück. Diese Überlegungen standen in deutlichem Zusammenhang mit der Herausgabe des vierten Bandes der Travaux. Dieser Band versammelte ja die Akten der Internationalen Phonologischen Arbeitstagung des Jahres 1930 in Prag, die der unmittelbaren Vorbereitung des zweiten Internationalen Linguistenkongresses in Genf im darauf folgenden Jahr gegolten hatte. Noch während der Editionsarbeiten wurden daher verschiedene Möglichkeiten erwogen, wie dieser Tagungsband am wirkungsvollsten unter den Teilnehmern der Genfer Linguistenkonferenz verbreitet werden könnte (vgl. 3.2). Im Zusammenhang mit diesen Erwägungen kam der geschäftsführende Ausschuss des Zirkels zu der Feststellung, dass der bisherige Verlag — die Jednota ceskoslovenskjch matematikü α fysikil· — bei der Verbreitung der Travaux „versagt, insbesondere bei der Verbreitung im Ausland" 2 . Schon auf der nächsten Sitzung wurde „über die Frage eines neuen Kommissionsverlages für die Publikationen des Zirkels" 3 gesprochen. Diese Frage wurde in den folgenden Sitzungen immer wieder aufgegriffen, aber erst im Herbst 1931, also nach dem Erscheinen des vierten Bandes der Travaux, endgültig entschieden. Nachdem man zunächst an einheimische Verlage gedacht hatte, schlug Roman Jakobson wenig später für den Vertrieb im Ausland den Leipziger Verlag Otto Harrassowitz vor, während für Frankreich eigens ein französischer Kommissionsverlag gesucht werden sollte. In diesem Sinne wurde am 31. Oktober beschlossen, mit den Verlagen Harrassowitz und Champion (Paris) Kontakt aufzunehmen. 4 Aus diesem Kontakt entspann sich eine dauerhafte, enge Geschäftsbeziehung zwischen dem Prager Zirkel und dem Verlag Harrassowitz, von 1 2 3 4
1939 änderte der Verlag seinen Namen in jednota ceskjch matematikü α jysikü. "Ze Jednota matem. a fysiku selhävä, zvläste ν propagaci ν cizine". Protokoll der Ausschusssitzung vom 25.3.1931 (Protokollheft, AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). „Jednäno ο otäzce noveho komisionäre pro publikace Krouzku, navrhoväny fy Orbis a Taussig", Protokoll der Ausschusssitzung vom 8.4.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Vgl. a.a.O. die Sitzungsprotokolle vom 8.4., vom 15. 6. und 31.10.1931.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
der man heute nicht einmal mehr in der nun in Wiesbaden ansässigen Firma Harrassowitz Kenntnis hat, da sie ihr gesamtes Verlagsarchiv im Krieg verlor. 5 Wertvolle Bruchstücke der Geschäftskorrespondenz birgt dagegen das Archiv der Akademie der Wissenschaften in Prag. 6 Diese Korrespondenz vermittelt trotz ihres fragmentarischen Charakters gute Einblicke in die Zielsetzungen und den Verlauf der wechselseitigen Beziehungen. Da sie zum Teil auch sehr detaillierte Informationen zur Entwicklung des Buchverkaufs enthalten, sind diese Archivalien als rezeptionsgeschichtliche Dokumente ersten Ranges einzustufen. In ihrem ersten Schreiben an Harrassowitz bieten der Vorsitzende und der Sekretär des Prager Zirkels dem Leipziger Verleger „ihre Publikationen in Kommission für alle Länder mit Ausnahme Frankreichs und der Tschechoslowakei" 7 an. In diesen beiden Ländern habe der Verlag H. Champion bzw. die Jednota ceskoslovenskjch matematikü α jysikü jeweils die Kommission übernommen. Selbstbewusst unterstreichen die Verfasser des Schreibens, dass die Veröffentlichungen des Zirkels „in allen linguistischen Kreisen den grössten Beifall gefanden hätten" und legen „als Beweiss [sie] dessen" einen Artikel aus der Prager Presse bei, in dem die internationale Resonanz der „Prager phonologischen Forschung" 8 geschildert wird. Der Zweck der Anfrage bei Harrassowitz wird unmissverständlich benannt: Es liegt uns nun sehr daran, dass unsere Veröffentlichungen möglichste Verbreitung finden. Wir bitten um geffl. Mitteilung, in welcher Weise Sie dieser Aufgabe gerecht werden möchten. (Vgl. Anm. 6) Harrassowitz zeigte sich sogleich „ausserordentlich interessiert[...]" 9 . Den Zielen des Prager Linguistik-Zirkels glaubte er bestens entsprechen zu können: 5 6
7 8
9
Ich danke Herrn Michael Langfeld vom Harrassowitz-Verlag für die freundliche Auskunft. Der größte Teil der Korrespondenz liegt unter AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19, zur Ergänzung können andere Dokumente des Fonds herangezogen werden. Dass der Briefwechsel sehr viel umfangreicher gewesen ist, als die erhaltenen Schriftstücke belegen, geht aus den beiden Verzeichnissen eingegangener und abgeschickter Post des Prager Zirkels hervor, die im Archiv-Fonds „PLK" unter den Inventarnummern 1 und 2 zu finden sind. Schreiben vom 21.11.1931 „an den verehrlichen Verlag Otto Harrassowitz" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Bei dem im Schreiben nur mit einer Seitenzahl identifizierten Artikel aus der Prager Presse dürfte es sich mit großer Sicherheit um den anonymen Beitrag „Die Prager phonologische Forschung" (Prager Presse, 8.7.1931: 5) handeln. Ein anderer Artikel vergleichbaren Inhalts, der a.a.O. ebenfalls auf einer fünften Seite abgedruckt wäre, ist mir aus dem Jahr 1931 nicht bekannt. Zweiseitiges Schreiben vom 27.11.1931 „an den Cercle Linguistique de Prague" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
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Bei der durchaus internationalen Einstellung meiner Firma glaube ich bestimmt, dass ich für grösstmögliche Verbreitung Ihrer Veröffentlichungen sorgen kann. Ich würde dieselben durch meine Kataloge mit bekannt machen, sodass Sie sicher sein können, dass die Interessenten in den verschiedenen Ländern auf die Werke aufmerksam gemacht würden. (a.a.O)
Im Vorstand des Zirkels wurden die von Harrassowitz genannten Bedingungen einer Kommissionsvereinbarung 10 „grundsätzlich angenommen", man fragte aber eigens noch einmal nach, „in welchen von Ihren Katalogen Sie unsere Veröffentlichungen anfuhren werden" 11 . Darauf erwiderte der Leipziger Verleger: Anzeigen werde ich Ihre Werke zunächst in meinen einschlägigen, d.h. allen sprachwissenschaftlichen Antiquariatskatalogen, sodann in meinem Zentralblatt für Bibliothekswesen, das an die Bibliotheken der ganzen Welt geht, dann in meinen Litterae Orientales, die nicht nur an Orientalisten, sondern auch an Sprachwissenschaftler überhaupt versandt werden. Dann werde ich selbstverständlich die Veröffentlichungen in meinen Verlagskatalog auch mit aufnehmen und, sofern es nötig ist, Prospekte dafür drucken. 12
Zusätzlich hatte sich Harrassowitz von jedem Titel ein Freiexemplar ausbedungen, das an die Deutsche Bücherei gehen sollte, „die die Aufnahme in die allgemeine deutsche Bibliographie veranlasst". 13 Die von Harrassowitz eröffneten Verbreitungsmöglichkeiten waren für den Vorstand des Zirkels so überzeugend, dass er den vorgelegten „Kommissions-Verlags-Vertrag" ohne Abstriche billigte und am 18. Januar 1932 unterschrieben nach Leipzig zurückschickte. 14 Noch im Januar 1932 dürften auch jeweils die ersten zwanzig Exemplare der Travaux 1, 2,
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Zu Einzelheiten dieser Vereinbarung vgl. den „Kommissions-Verlags-Vertrag" im dokumentarischen Anhang zu diesem Abschnitt. Schreiben an Harrassowitz vom 7.1.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19), die entsprechende Sitzung des Ausschusses hatte am 22.12.1931 stattgefunden (und nicht wie in dem Schreiben falschlich angeführt am „22. September"), vgl. Protokollheft: AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7. Schreiben an den „Cercle Linguistique ν Praze" vom 11.1.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Schreiben an den „Cercle linguistique de Prague" vom 27.11.1931, S. 1, a.a.O. Der Zirkel hatte sich schon früher an die Deutsche Bücherei gewandt und dafür gesorgt, dass die ersten Bände der Travaux „in den offiziellen Bücherverzeichnissen des deutschen Buchhandels" und „im Literarischen Zentralblatt für Deutschland" aufgeführt wurden, vgl. Schreiben der Deutschen Bücherei an „La Cercle linguistique des Prague" [sic] vom 16.1.1930 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Die aktuellen Veröffentlichungen des Prager Zirkels wurden natürlich auch von deutschen Fachbibliographien wie dem Indogermanischen Jahrbuch laufend nachgewiesen, vgl. 3.4, Abschnitt zu Walter Porzig. Vgl. die Reproduktion des „Kommissions-Verlags-Vertrags" im dokumentarischen Anhang.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
3 und 4 in Leipzig eingetroffen sein.15 Von diesem Zeitpunkt an waren die Veröffentlichungen der Prager Schule der Linguistik im deutschen Buchhandel erhältlich. Harrassowitz scheint seiner Verpflichtung, die Titel des Prager Zirkels in seinen Werbeprospekten zu annoncieren, gewissenhaft nachgekommen zu sein. Prager Veröffentlichungen, die in den Folgejahren erschienen, wie die Festschrift für Mathesius (Charisteria 1932) oder der Band V2 der Travaux (1934), wurden jeweils sogleich in die aktuellen Kataloge aufgenommen. 16 Harrassowitz drängte den Zirkel auch mehrfach, ihm neueste oder geplante Veröffentlichungen schnell bekannt zu geben, damit sie jeweils noch in die vorbereiteten Verlags- oder Sonderkataloge eingereiht werden könnten. 17 Auch bitte ich Sie, mich laufend mit Materialien zu versehen, die Sie zur Werbung für Ihre Veröffentlichungen für geeignet halten, auch wichtigere Besprechungen kommen dafür in Frage, besonders soweit sie in deutscher, englischer oder französischer Sprache verfasst sind.18 Wie vereinbart nahm der Verlag Harrassowitz auch Anfragen nach Rezensionsexemplaren entgegen und holte vor ihrer Erledigung die ausdrückliche Zustimmung des Zirkels ein.19 Auch Bestellungen von Titeln des Prager Zirkels, die er meines Wissens nach nicht in Kommission hatte, leitete Harrassowitz nach Prag weiter.20 Die Geschäftsbeziehungen dauerten bis zum Frühjahr 1945 kontinuierlich an, ein letzter Beleg über Bestände am Lager von Harrassowitz 15 16
17 18
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Schreiben an „H. Otto Harrassowitz" vom 18.1.1932, dem der unterzeichnete Vertrag beigelegt war. In diesem Brief auch die Nachricht, man habe gleichzeitig die Verschickung der ersten Exemplare veranlasst (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Vgl. Schreiben des Zirkels an Harrassowitz, handschr. datiert auf den 29.3.1933, sowie das Schreiben von Harrassowitz an „Dr. B. Truha" [gemeint Trnka] vom 13.3.1934 (a.a.O.). Ein zwölfzeiliger Ausschnitt aus dem „Verlagsbericht" von Harrassowitz, handschr. datiert auf den 1.4.1933, findet sich chronologisch eingereiht im Zeitschriftenausschnittsarchiv des Prager Zirkels in AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 26. Schreiben vom 13.3.1934, vom 7.10.1935, Briefkarte vom 24.10.1935, Schreiben vom 22.10.1936 und vom 17.12.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Schreiben an den „Cercle linguistique de Prague" vom 22.10.1936, a.a.O. Der Zirkel folgt dieser Aufforderung prompt und schickt schon acht Tage später „Material k propagaci" an Harrassowitz, vgl. Heft „odeslane dopisy" [abgeschickte Briefe], Eintrag vom 30.10.36 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Briefwechsel ist erhalten zu Anfragen der Zeitschriften Osteuropa und De Weegschaal. Maandblatt voor de vrienden van het Dmtsche boek sowie von Prof. Szadrowsky (Universität Zürich), Schreiben vom 17.4.1934, 9.5.1936, 22. und 24.10.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Die Zeitschrift De Wegschaal brachte 1937 in der Tat eine knappe Rezension zu den Travaux 6, vgl. Dam (1937). Ich danke Jan Noordegraaf für diesen Hinweis. So die Anfrage nach dem Bändchen mit Beiträgen von Zirkel-Mitgliedern von der Amsterdamer Phonetik-Konferenz im Jahr 1932, vgl. Briefkarte von Harrassowitz vom 21.12.1934 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
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stammt vom 27. Februar 1945.21 Der bis ins Jahr 1939 erhaltene persönlich geführte Briefwechsel ist im Ton respektvoll und freundlich gehalten. Keiner der Geschäftspartner scheint in all den Jahren Anlass zu irgendwelchen Klagen oder Forderungen gegenüber dem anderen gehabt zu haben. Ungeachtet der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vermitteln die Archivalien zu den Beziehungen zwischen dem Leipziger Verlag und dem Prager Zirkel den Eindruck selbstverständlicher Normalität. Probleme bereiteten allenfalls die Einschränkungen im internationalen Devisenverkehr. Mindestens in den Jahren 1933 bis 1935 hat man sich mit einer Verrechnung des Verkaufserlöses über Buchbestellungen Bohuslav Havräneks beim Verlag Harrassowitz beholfen: Da die Schwierigkeiten in der Ueberweisung auch in diesem Jahre dauern, verrechnen Sie, bitte, auch dieses Jahr den ganzen Betrag zum Gute der Rechnung des H. Prof. Dr. B. Havränek /Brno-Brünn/, welcher von Ihrer Firma Bücher bezieht. Unser Cercle kauft selbst keine Bücher, aber in dieser Weise lässt sich der Saldo zur gegenseitigen Zufriedenheit verrechnen. 22
Gleichwohl erwies sich die Abrechnung auf dem Wege ,indirekten Büchertaus chs' bisweilen als umständlich und verwirrend. 23 Jedenfalls ging der Leipziger Verleger im Jahr 1936 zu einer direkten Uberweisung der jeweiligen Guthaben über, für die allerdings bei der „Devisenbewirtschaftungsstelle" eigens eine Genehmigung eingeholt werden musste. 24 Um andererseits seinen Kunden aus der Tschechoslowakei „die Zahlung zu erleichtern", richtete Harrassowitz im selben Jahr in Prag ein Postscheck-Konto ein, auf das auch der Prager Zirkel empfangene Buchsendungen begleichen sollte.25 In den Folgejahren wurde der Jahreserlös aus dem Kommissionsverkauf offenbar jeweils „durch die Reichsbank" 26 an 21 22
23
24 25 26
Schreiben der Jednota ceskjch matematikü αfysikü an den Prager Zirkel (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Schreiben Trnkas an Harrassowitz vom 28.3.1935, vgl. Antwort von Harrassowitz vom 29.3.1935 und die Notiz vom 9.4.1935, in der - wahrscheinlich Trnka - die Hoffnung äußert „dass wir auch nächste Jahre [sie] die Buchung so durchführen können werden, wie in diesen zwei letzten Jahren". Schon ein Brief an Harrassowitz aus dem Jahr 1933, handschr. datiert auf den 29.8.1933, bittet um Abrechnung „zum Gute der Rechnung welche bei Ihrer Firma H. Universitätsprofessor Dr. B. Havränek" innehat; alle Dokumente unter: AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19. Vgl. den undatierten, mehrfach korrigierten Entwurf einer Briefkarte an Harrassowitz, in der man sich umständlich bemüht, eine missverständliche Abrechnung über Havräneks Kundenkonto zu klären, a.a.O. Schreiben von Harrassowitz vom 21.3.1936, a.a.O. Schreiben vom 14.7.1936, a.a.O. Vgl. die jeweiligen Begleitschreiben zur Jahresabrechnung vom 1.2.1937 und 11.3.1940 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Im Protokoll der Ausschusssitzung vom 3.11.1936 heißt es dazu: „Harrassowitz poukäzal 90 Μ berlinske üstredne mezistätniho konta. Vyplata bude [unleserlich]äna u När. banky." [Harrassowitz hat der
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
den Prager Linguistik-Zirkel überwiesen. Die Einschränkungen im internationalen Zahlungsverkehr haben das Kommissionsgeschäft zwischen Harrassowitz und dem Prager Zirkel zwar zeitweise behindert, aber seine jahrelange gedeihliche Entwicklung keinesfalls ernstlich beeinträchtigt. Den deutschen Kunden von Harrassowitz blieben die Schwierigkeiten des Devisenverkehrs gänzlich verborgen, sie konnten die Publikationen des Prager Zirkels jederzeit problemlos in Reichsmark beziehen. Die erhaltene Korrespondenz mit Harrassowitz birgt aber auch sehr wertvolle Informationen zur allgemeinen Entwicklung des Buchverkaufs über den Leipziger Verlag bis hin zu genauen Angaben zum Absatz einzelner Titel. Allerdings machen es die zahlreichen Lücken im Archivmaterial, Preiserhöhungen und Umstellungen des Abrechnungsmodus schwierig und teilweise unmöglich, ein geschlossenes und in allen Punkten gleichermaßen detailliertes Bild für die Jahre zwischen 1932 und 1945 zu zeichnen. Es waren mir auch keine Vergleichszahlen zugänglich, die erlaubt hätten, die Anzahl der abgesetzten Titel und die Höhe der Einnahmen mit dem Verkauf vergleichbarer wissenschaftlicher Publikationen im selben Zeitraum ins Verhältnis zu setzen. Bis zur Mitte des Jahres 1939 rechnete Harrassowitz die verkauften Publikationen jährlich direkt mit dem Prager Zirkel ab.27 Für die dreißiger Jahre sind der erhaltenen Geschäftskorrespondenz — mit Ausnahme des Jahres 1933 — genaue Angaben über die jeweiligen Jahreseriöse aus dem Kommissionsvertrieb zu entnehmen. Der hier angeführte Jahreserlös des Prager Zirkels betrug dabei vertragsgemäß 50% des in Deutschland tatsächlich erzielten Verkaufspreises, die andere Hälfte der Einnahmen ging an Harrassowitz und den Buchhandel (vgl. Tabelle 1 und Verlagsvertrag im Anhang). Die Daten ergeben einen sehr deutlichen und recht stetigen Zuwachs der jährlichen Einnahmen des Zirkels aus dem Verkauf seiner Bücher über den Leipziger Verleger. Dieser Einnahmezuwachs ist dabei keineswegs allein auf Preissteigerungen zurückzuführen. So wurden zwar von 1936 bis 1939 die Preise für die einzelnen Titel in je unterschiedlichem Ausmaß zwischen 20% und 43% erhöht.28 Die Einnahmen aus dem Kommissionsverkaufliegen aber schon für die erste Hälfte des Jahres 1939 um ganze 74% höher als die gesamten Einnahmen aus 1936. Im Laufe der dreißi-
27 28
Berliner Zentrale des internationalen Kontos 90 Μ überwiesen. Die Auszahlung wird [ausgeführt] durch die Nationalbank] (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Als Beispiel für diese Abrechnungen ist die Abrechnung für 1939 in den dokumentarischen Anhang zu diesem Abschnitt aufgenommen worden. Vgl. die detaillierten Abrechnungen für das letzte Vierteljahr in 1936 und die Jahresabrechnung für 1939, in der die Preise für einzelne Titel aufgeschlüsselt sind, a.a.O. Siehe auch den dokumentarischen Anhang.
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
119
ger Jahre konnte der Prager Zirkel also eine (von geringen Schwankungen abgesehen) jährlich wachsende Zahl von Titeln über seinen Kommissionsverlag im Ausland absetzen. Jahreserlös in RM Jahr
(= 50% des Gesamtertrags aus Absatz in Deutschland)
1932
52,00
1933
mindestens 36,5029
1934
69,50
1935
90,00
1936
142,00
1937
197,64
1938
123,40
1939 (bis 10.6.)
247,00
Tabelle 1: Jahreseriöse des Prager Zirkels aus Kommissionsverkauf seiner Publikationen über den Verlag Harrassowitz
Auf Wunsch 30 des Linguistik-Zirkels rechnete Harrassowitz ab Juni 1939 jeweils mit dem Prager Verlag Jednota ceskjch matematikü αfysikü ab; Angaben über den Kommissionsverkauf sind fortan deren Jahresabrechnungen mit dem Zirkel zu entnehmen. 31 Sie werden dort ausschließlich in Kronen 29
30
31
Für das Jahr 1933 fehlt eine entsprechende Jahresabrechnung im Fonds. Den angegebenen Betrag entnehme ich einer handschr. Postkarte Havräneks an Trnka mit dem Poststempel 21.10.1934, in der diese Summe für das Jahr 1933 genannt wird. Ob der genannte Betrag bereits den gesamten Jahreserlös umfasst, bleibt unklar (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Ebenso fehlt eine Abrechnung für das Jahr 1937, den Betrag entnehme ich einem Uberweisungsbeleg (Poststempel 2.5.1938), mit dem - wie in anderen Jahren - wahrscheinlich die Gesamteinnahmen aus dem Vorjahr verbucht wurden (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Vgl. Schreiben von Harrassowitz an den Prager Zirkel vom 11.3.1940, a.a.O. Dieser Wunsch wird nicht näher begründet, auch anderen Dokumenten sind keine Anhaltspunkte für die Umstellung des Abrechnungsmodus zu entnehmen. Im Hintergrund dürfte sicherlich die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei stehen, festzuhalten ist aber in jedem Falle, dass die Geschäftsbeziehungen zu Harrassowitz 1939 nicht abgebrochen wurden. Diese Archivalien liegen unter AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23, die hier versammelten Dokumente, aus denen die folgende Übersicht gewonnen wurde, werden der Übersichtlichkeit halber nicht einzeln nachgewiesen. Als anschauliches Beispiel möge die Abrechnung vom 25.8.1942 im dokumentarischen Anhang dienen. Eine letzte (vielleicht nachträgliche?) Direktabrechnung von Harrassowitz mit dem Prager Zirkel
120
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
gebucht, und der jeweilige Berechnungszeitraum wird vom Kalenderjahr auf Abrechnungen von Jahresmitte zu Jahresmitte umgestellt. Für das Jahr 1943 kann Harrassowitz die Abrechnung mit dem Prager Verlag nicht termingerecht vorlegen, „weil sein Unternehmen durch einen Luftangriff zerstört wurde." 32 Von dieser Zerstörung waren offensichtlich auch Publikationen des Prager Zirkels betroffen, denn ein Brief des tschechischen Verlages an den Zirkel spricht von „vernichteten Exemplaren" und einer Abschreibung in Höhe von 1.475 Kronen für diese.33 Angesichts der Tatsache, dass Harrassowitz aus dem Verkauf des Jahres 1943 eine Summe von 7.477,60 Kronen bereits beglichen hatte34, erscheinen die Verluste aber als vergleichsweise gering. Im Jahr 1944 wird das Leipziger Kommissionslager dann wieder durch umfangreiche Büchersendungen aus Prag aufgestockt und der Verkauf kann offenbar weiterhin ungestört fortgesetzt werden. 35 Leider fehlen für die letzten Kriegsjahre in den erhaltenen Abrechnungen der Jednota ceskjch matematikü αfysikü detaillierte Aufstellungen über abgesetzte Kommissionsexemplare. Verzeichnet werden aber der genaue Stand und die Bewegung am Leipziger Lager. Aus diesen Angaben lässt sich bis auf zwei Ausnahmen errechnen, welche Titel in wie vielen Exemplaren während der letzten drei Kriegsjahre aus dem Lager von Harrassowitz — sei es im Verkauf, als Rezensionsexemplare oder durch die Zerstörung — abgegangen sind. Tabelle 2 fasst alle Angaben zum Kommissionsverkauf einzelner Publikationstitel zusammen, die sich aus dem fragmentarischen und inkohärenten Archivalienbestand im Fonds „PLK" am AAVCR entnehmen bzw. rekonstruieren lassen.
32 33
34
35
ist merkwürdigerweise noch aus dem Jahr 1940 erhalten, da sie aber nur zwei Titel umfasst, ist sie in der folgenden Darstellung nicht berücksichtigt worden, vgl. Abrechnung vom 31.12.1940 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). „Harrassowitz dosud nevyüctoval, protoze jeho zävod byl pri naletu znicen", Abrechnung der jednota ceskjch matematikü αjjsikü vom 26.1.1943 [richtig: 1944]: Vorderseite (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). „Vzhledem k dopisu fy Otto Harrassowitz ζ 5. t.m. prilozenemu k Vasemu sdeleni ζ 21. t.m. odepisujeme znicene vytisky a cästku Κ 1475 za ne ζ üctu teto firmy" [Bezugnehmend auf das Schreiben der Firma Otto Harrassowitz vom 5. d. M., das wir zu Ihrer Mitteilung vom 21. d.M. beifügten, schreiben wir vernichtete Exemplare und einen Betrag in der ihnen entsprechenden Höhe von 1475 Κ vom Konto dieser Firma ab], Brief vom 24.7.1944, das genannte Begleitschreiben von Harrassowitz ist leider nicht erhalten (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Die überraschend hohen Eingänge am Lager im Jahr 1943 werden von Harrassowitz nahezu vollständig bezahlt. Vgl. Abrechnung der vom 29.1.1945: „Podle naseho vyuctoväni ze 26.1.1944 mela fa Harrassowitz ν Lipsku na sklade publikace za Κ 8495,- , zaplatila Κ 7477,50 ... takze dluhovala jeste Κ 1021,50." (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Vgl. die Abrechnungen der jednota ceskjch matematikü a jjsiku vom 29.1.1945 und 27.2.1945 (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23).
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
121
1936 (Okt. bis Dez.) 36
1939 bis 10.6.
Mitte 1940 bis Mitte 1941
Mitte 1941 bis Mitte 1942
Mitte 1942 bis Ende 1944
Travaux I (1929)
1
4
2
4
?
Travaux II (1929)
1
4
4
6
?
Travaux III (1930)
2
2
5
4
10
Travaux IV (1931)
1
4
5
4
26
Travaux V2 (1934)
4
7
9
6
20
Travaux VI (1936)
9
4
8
5
17
28
26
22
85
9
7
21
Travaux VII (1939) Travaux VIII (1939) Charisteria... (1932)
2
2
2
1
6
Anleitung... (1935)
10
7
7
8
40
30
62
77
67
225
Gesamtzahl abgesetzter Titel
Tabelle 2: Kommissionsverkauf einzelner Publikationen des Prager Zirkels durch den Verlag Harrassowitz
36
Die „Jahresabrechnung über den Verkauf der Veröffentlichungen durch Otto Harrassowitz" vom 31.12.1936 weist verkaufte Titel nur für die Zeit vom 10.10.1936 bis zum Jahresende einzeln aus (a.a.O.). Für die angegebenen 30 Titel erzielt der Prager Zirkel einen Erlös von 51, - RM. Über Harrassowitz sind demnach für 102, - RM Bücher abgesetzt worden. In der Zeit vom 1. Januar bis 10. Oktober desselben Jahres erbringt der Kommissionsverkauf für den Prager Zirkel aber weitere 91,- RM (bzw. 181,- RM Erlös im Buchhandel), für die eine genaue Aufschlüsselung nach Titeln leider fehlt.
122
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Die absoluten Zahlen abgesetzter Titel scheinen, auch wenn man bedenkt, dass sich die Werte gerade aus der Vorkriegszeit auf recht kurze Belegzeiträume beziehen, nicht besonders groß. Für eine stichhaltige Beurteilung dieser Zahlen wären aber Vergleichswerte zum Verkauf anderer sprachwissenschaftlicher Publikationen im gleichen Zeitraum unerlässlich. Festzuhalten bleibt, dass sich für einen Zeitraum von zweidreiviertel Jahren der reguläre Absatz von mindestens 236 Büchern des Prager LinguistikZirkels über den Verlag Harrassowitz belegen lässt. Diese Zahl erhöht sich auf insgesamt 461 Titel, wenn man die Zeit von Mitte 1942 bis Ende 1944 dazunimmt, während der allerdings eine nicht genau bestimmbare Menge von Exemplaren bei einem Bombenangriff zerstört wurde und also nicht in die Hände von Lesern gelangte. Während die absolute Zahl der verkauften Bücher also nur sehr eingeschränkt zu beurteilen ist, lässt die obige Tabelle trotz ihrer Lückenhaftigkeit recht gut den relativen Anteil einzelner Titel der Prager Schule im internationalen Buchhandel erkennen: Spitzenreiter mit großem Abstand sind im Auslandsverkauf die Travaux VII, also Nikolai Trubetzkoys Grund^üge der Phonologic, obwohl der Band mit einem Verkaufspreis von 12 RM (1939) zu den teuersten der ganzen Reihe gehörte. An zweiter Stelle steht das schmale und daher preiswerte Bändchen mit Trubetzkoys Anleitung phonologischen Beschreibungen. Beide Publikationen sind offensichtlich schon zur damaligen Zeit als Standardwerke der neuen Disziplin der Phonologie angesehen worden. Die Verkaufszahlen bestätigen auch, wie sehr die internationale Rezeption der Prager Schule auf die Phonologie fokussiert war, und welche herausragende Rolle die Person Trubetzkoys für ihre Außenwahrnehmung spielte. Bemerkenswert ist aber auch, dass Titel des Linguistik-Zirkels zum Teil mehr als zehn Jahre nach ihrem ersten Erscheinen immer noch in zwar geringerem, aber doch stetigem Maße abgesetzt werden konnten. Dies deutet darauf hin, dass die jeweils aktuellen Veröffentlichungen der Prager Schule rückwirkend auch Interesse an ihren früheren Arbeiten zu wecken vermochten. Leider enthalten die Geschäftskorrespondenz mit Harrassowitz und die Abrechnungen der Jednota ceskoslovenskjch matematikü α Jysikä kaum einmal Informationen über die Abnehmer der Publikationen beim Leipziger Verlag. Wir wissen also vorerst nicht, wer die Bücher des Prager Zirkels bei Harrassowitz gekauft hat. Da es dem Linguistik-Zirkel bei seiner Geschäftsverbindung mit Harrassowitz keineswegs allein um den deutschen Buchmarkt, sondern um eine internationale Verbreitung ging, ist anzunehmen, dass ein Teil der hier abgesetzten Bücher an Abnehmer außerhalb Deutschlands verkauft worden ist. Andererseits ist zu bedenken, dass mit der Tschechoslowakei und Frankreich zwei Länder, in denen ein besonders großes Interesse an den Veröffentlichungen des Prager Struktura-
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
123
lismus vorausgesetzt werden kann, bereits durch andere (Kommissions) Verlage beliefert wurden. 37 So dürfte die sehr große und institutionell breit etablierte scientific community deutschsprachiger Sprachwissenschaftler unter den Interessenten und Abnehmern des Verlagsangebotes von Harrassowitz eine herausragende Rolle gespielt haben. Für die tatsächliche Verbreitung der Publikationen der Prager Schule unter deutschen Sprachwissenschaftlern ist der Buchhandel natürlich nur eine, wenngleich sehr wichtige Möglichkeit neben anderen Distributionswegen, die in den folgenden Kapiteln untersucht werden sollen (vgl. 3.2, 3.3). Die vermeintlich um Jahrzehnte verspätete Rezeption des Strukturalismus in Deutschland beruht nach der Auffassung vieler Historiographen unter anderem „auf der zunehmenden Isolierung der deutschen Wissenschaft während des Faschismus und erst recht während des zweiten Weltkrieges" (Heibig 1973: 34). Soweit dieses Argument in der historiographischen Literatur zur Strukturalismusrezeption begegnet, stützt es sich allenfalls auf die Plausibilität ganz allgemeiner Vorstellungen über den Wissenschaftsbetrieb im Nationalsozialismus. Die tatsächliche Verbreitung strukturalistischer Publikationen im nationalsozialistischen Deutschland ist bislang nie überprüft worden. Für den recht gut erforschten Bereich wissenschaftlicher Bibliotheken wird die These von der zunehmenden Isolation der deutschen Wissenschaft insofern bestätigt, als die Beschaffung ausländischer Fachliteratur „im Dritten Reich zu einem schwerwiegenden Problem für die Bibliothekare der wissenschaftlichen Bibliotheken" (Happel 1989: 67) wurde: Neben politischen Gründen führten auch ökonomische Überlegungen, die auf eine Einsparung der Devisenausgaben abzielten, zu einer Reduzierung des Bezuges der Auslandsliteratur, (ebd.)
Allerdings zeigt beispielsweise Sören Flachowskys Fallstudie zur Bibliothek der Berliner Universität, dass trotz der genannten Einschränkungen „der Kauf ausländischer Literatur" auch in der Zeit des Nationalsozialismus weiterhin „eine enorm wichtige Rolle" (Flachowsky 2000: 101) spielte: So gab die UB Berlin in den Jahren 1935 bis 1938 durchschnittlich 39 % ihrer Mittel für Bücherkauf zum Erwerb ausländischer Literatur aus. (ebd.)
Was die angestrebte staatliche Kontrolle der Auslandserwerbungen betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre schrittweise „immer feinere Verfahrensweisen" der Einfluss37
Die vierte Umschlagseite eines mir vorliegenden Exemplars der Travattx 8 verzeichnet allerdings nur die jednota ceskoslovenskych matematikü α fysikü und den Verlag Harassowitz als „Commissionaires". Uber die Entwicklung der Beziehungen zum Verlag Champion fehlen mir nähere Informationen.
124
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
nähme entwickelt wurden, und diese mindestens bis 1941 durchaus nicht lückenlos griffen (Barbian 1993: 372). Tauschvereinbarungen und persönliche Beschaffungsreisen ins Ausland beispielsweise waren probate Mittel für deutsche Bibliothekare, die staatlichen Reglementierungen zu umgehen (vgl. Happel 1989: 67-71). Von einer „Isolierung" der deutschen Wissenschaft wäre also selbst für das Bibliothekswesen nur mit Einschränkungen zu sprechen. Die Rezeption von Publikationen jedenfalls des Prager Strukturalismus ist von einer „zunehmenden Isolierung der deutschen Wissenschaft während des Faschismus und erst recht während des zweiten Weltkrieges" (Heibig 1973: 34) gar nicht behindert worden. Die Dokumente zur buchhändlerischen Verbreitung von Veröffentlichungen der Prager Schule legen vielmehr einen gegenteiligen Befund nahe: - Weder waren die Zugänglichkeit von bibliographischen Informationen über Publikationen des Prager Zirkels in Deutschland beschränkt, noch bestanden grundsätzliche Schwierigkeiten, die entsprechenden Veröffentlichungen im deutschen Buchhandel zu erstehen. Die äußeren Rezeptionsbedingungen für die Prager Schule in Deutschland können wegen ihrer engagierten Kommissionsvertretung in Leipzig während der dreißiger Jahre vielmehr geradezu als optimal charakterisiert werden. Sie waren für den deutschsprachigen Leserkreis ebenso gut zugänglich wie Fachveröffentlichungen, die in Deutschland selbst verlegt worden sind. - Uber den gesamten Zeitraum von 1932 bis zum Frühjahr 1945 wurden zwischen dem Prager Linguistik-Zirkel bzw. seinem tschechischen Verleger und dem deutschen Kommissionsverlag reguläre Handelsbeziehungen gepflegt. Einschränkungen im internationalen Devisenverkehr konnten den Buchhandel zwischen Prag und Leipzig nicht gravierend beeinträchtigen. Erst in der Endphase des Krieges kam es punktuell zu einer massiven Störung in der Abwicklung der Geschäftes, die aber den Absatz der Publikationen in Deutschland keineswegs vollständig und langfristig zum Erliegen brachte. - Dem Bild der „zunehmenden Isolierung der deutschen Wissenschaft" widerspricht der Befund eines im Gegenteil stetig zunehmenden Buchabsatzes über den deutschen Verleger. Diese Tendenz dauerte offensichtlich gerade auch während der ersten Jahre des Zweiten Weltkrieges an. - Soweit für die Isolierung der deutschen Wissenschaft nicht wirtschaftliche, sondern politische Gründe geltend gemacht werden, ist festzustellen, dass jedenfalls der Kommissionsvertrieb von Publikationen des Linguistik-Zirkels von Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen weitgehend unberührt blieb. Die politischen Zäsuren von 1933 und 1938/39, die ja besondere Einschnitte gerade auch im deutsch-
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
125
tschechischen Verhältnis markierten, wirkten sich nicht auf die Zugänglichkeit von Veröffentlichungen der Prager Schule auf dem deutschen Buchmarkt aus. Auch von deutschen Zensurmaßnahmen waren die Schriften der tschechisch-russischen Wissenschafdergruppe also augenscheinlich nie betroffen.
126
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
jxomraisaioaa - Verlaga -
Vertrag·*
Zwischen dem Oercle idnguistique de i J rague, Praha ± , Smetanow nam., uad der Verlagsbuchhandlung O t f c o K a r r a s d
owi
t ζ , -Leipzig ü . i . ,
ist
folgender Vertrag g e s c h l o s s e n worden; S 1. Der Oercle L i n g u i s t i q u e de Prague ü b e r t r ä g t der j * oSHiü
^f
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η Inj c 0) 00 c S -C υ (χα c ® c Μ— 3 Μ— Ό C ί•C α} οφ > L. Ι_ JO Φ OS Τ3 0) Η— Μ g S> fH < a P4 ^ EH
S3
ο
* C3 pi Ä fH Ο EH
Dokument 4: „Jahresabrechnung über den Verkauf der Veröffentlichungen des Cercle ...", 31.12.1939,1 Seite 3 8 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19)
38
Im Begleitschreiben zu dieser „Jahresabrechnung" vom 11.3.1940 begrenzt Harrassowitz die Abrechnungszeit nur auf das erste Halbjahr 1939: „Ihrem Wunsche entsprechend habe ich über die Lieferungen nach dem 10. Juni v.J. direkt mit J e d n o t a Ceskoslovenskych Matematiku' abgerechnet."
129
3.1 Prager Publikationen auf dem deutschen Buchmarkt
Jednota
ceAdtfch
matematiku
α
Knihtiskärna, η a k I a d a te I st ν ί a k n i h k u p e c t v T e l e f o n 29308, 23714 Knihtiekärna
fydiku
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C l L l
II, Zitnd tfysikü,
8-12, 14-18 kromfe soboty odpoledne
25
P r a h a l l - 609
P r o m e t h e u s , Ρ ra h a VIII, R o k o s k a 94
Praha 11-609
25. erpna 1942. Stav komieniho skladu f y Haraaeowits ν Lipaku dne 30.öervua L942 j e tanto: r• _ _ 4 120,3 90,Travaux I 7 '210,165,11 90,10 150,- 6 XI 7 106,140,7 80,III 5 100,- 4 6 120,7 350,5 250,- 4 200,iv 6 300,135,9 90,10 150,- 6 5 275,-V/8 495,11 10 450,- 5 225,6 270,VI 18 1080,15 900,- 22 1320,VII 25 1500,600,10 7 420,S 300,VIII 12 720,_ 3 75,1 25,Chariateria 4 100,15 75,Trubetskoy 40,10 60,- 8 13 65,3206,2610,3465,2350,Siatku Κ 2610,- νώη uStujeme ΤΘ proepöoh. Krpediöni v^lohy ö i a i l y 4% 8 expfldovanyah vytistci alovenak^ ßuperrabat/Travaux IV 1 vyt, VIII: 1 itft..Studie 3 3 v y t . Öäutku jame V&a Poukasujeme Viüa - Κ 684,10,t.j. 20 h a l . ( iimi j e
221,10 301,25
14,50 147,25 Κ 684.10 sauötovali k tiäSi. tudf& po&tovai spofitelnou Κ 4751,30 + 261o,- Κ 8677,20 alovy ä e s t t i a i o Seet eet aeämaeBitaedm koruo VäS u8efc k äO.äarvmi 1942 vyrovnin. 3 projevam dokonalä uoty JtDNOTA ÖESKVCH ΜλΤΕΜΑΤΙΚΰ Α FYSIKÜ t4yTC $! vJjt^t/-^
PoStovni SBOrllalra: Pratia 13103
Dokument 5: Eingang und Ausgang der Publikationen des Prager Zirkels am Lager von Harrassowitz in Leipzig, 25.8.1942 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19)
3.2 Verbreitung der Publikationen als Frei- oder Rezensionsexemplare und im Buchaustausch Der Buchhandel war natürlich damals wie heute nicht die einzige Möglichkeit der Verbreitung von Publikationen. Gerade innerhalb der scientific community vollzieht sich der Austausch von Texten zu einem bedeutenden Anteil auf dem Wege persönlicher Kontakte zwischen Autoren und Rezipienten. Mit der Erstellung von Sonderdrucken wird dieser Besonderheit wissenschaftlicher Kommunikation traditionell schon bei der Produktion der Veröffentlichungen Rechnung getragen. Gegenüber dem öffentlichen und weitgehend anonymen Buchhandel hat diese Form der Verbreitung von Texten den Vorteil, dass sie auf konkrete Adressaten ausgerichtet ist und dem Autor damit eine gezielte Initiierung und stärkere Lenkung von Rezeptionsprozessen ermöglicht. Die Bedeutung der individuellen Versendung oder Beschaffung von Publikationen wird zusätzlich immer dann stark steigen, wenn der Buchhandel politischen, ökonomischen oder merkantilen Einschränkungen unterliegt.1 Im Feld ,jenseits des Buchhandels' ist die wissenschaftliche Kommunikation von Texten daher nicht nur gezielter an ausgewählte Rezipienten heranzutragen, sondern sie ist hier auch unabhängiger von allgemeinen gesellschaftlichen Determinanten. Aus beiden Gründen legte auch der Prager Linguistik-Zirkel stets großes Gewicht auf die individuelle Verbreitung seiner Schriften. Bis Anfang 1932 war der individuelle Kontakt, sei es in persönlicher Begegnung, sei es im Briefwechsel, mehr oder weniger der einzige Weg für den Zirkel, seine Schriften außerhalb der Tschechoslowakischen Republik zu verbreiten. Der kleine Prager Verlag, die Jednota ceskych matematikü αfy^ikü, scheint einem internationalen Buchhandel nicht gewachsen gewesen zu sein (vgl. 3.1). Schon im Jahr 1929, in dem die ersten beiden Bände der Travaux herauskamen, hat man daher im Prager Zirkel gezielte Maßnahmen ergriffen, um die Publikationen aktiv an die ausländische Leserschaft heranzutragen. Roman Jakobson berichtet Trubetzkoy im November 1929 von langwieri1
Dieser Zusammenhang lässt sich beispielsweise am Verlauf der Bestandsvermehrung der Berliner Universitätsbibliothek ablesen: „Während sich Kauf und Tausch in den Jahren 1924 - 1930 ungefähr die Waage hielten, setzte 1931, infolge finanzieller Probleme, eine stetig steigende Tauschentwicklung ein, die erst ab 1936 eine rückläufige Tendenz aufwies" (Flachowsky 2000: 82). Auch nach Kriegsbeginn „blieb der Tausch die wichtigste, weil erträglichste Einnahmequelle in Hinblick auf die Bestandsvermehrung." (ebd.)
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
131
gen Bemühungen, finanzielle Unterstützung für die kostspielige Versendung von Freiexemplaren zu erhalten. Diese Bemühungen waren schließlich sehr erfolgreich 2 : Tenepb 50
3To Bce HaAa>KeHo: m m n o c u A a e M
3K3eMIIAHpOB Π Ο H e x O C A O B a K H H
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120
100
3 K 3 e M n A a p o B BO © p a m i H i o ,
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Jetzt ist alles im Gange: wir verschicken 100 Exemplare nach Frankreich, 50 Exemplare innerhalb der Tschechoslowakei und 120 Exemplare in andere Länder, vor allem nach Russland und Deutschland.
Die Versendung selbst wurde mindestens teilweise über das tschechoslowakische Außenministerium abgewickelt. Erhalten ist ein Schreiben des Prager Verlags vom 23.12.1929, in welchem Bohumil Trnka benachrichtigt wird, welche Bände verpackt an das Außenministerium zum Versand übergeben worden waren. 4 Demnach sind zum Jahreswechsel 1929/1930 an 103 ausländische Adressen Pakete mit den ersten beiden Bänden der Travaux abgegangen, weitere 23 Adressaten bekamen nur den ersten Band und 17 nur den zweiten Band der Travaux. In einer Art Werbemaßnahme großen Umfangs wurden also insgesamt 246 Bände der Travaux an 153 verschiedene Empfänger im Ausland verteilt. Die Zahlenangaben stimmen recht genau mit den Angaben aus dem zitierten Brief Jakobsons überein, dem wir eine Verteilung auf die jeweiligen Länder entnehmen können. Es ist also davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt ein bedeutender Teil der 120 Freiexemplare, die „vor allem nach Russland und Deutschland" geschickt wurden, bei deutschsprachigen Empfängern eintraf. Jedenfalls kann man den Beginn einer breiteren Diffusion von Texten der Prager Schule in den deutschsprachigen Raum bereits auf den Anfang des Jahres 1930 datieren. Die ersten Bände der Travaux gelangten also nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen in die Hände ausländischer Leser, ein verzögerter Rezeptionsbeginn gegenüber anderen Ländern ist für Deutschland dabei nicht erkennbar. Es blieb aber nicht bei dieser einen Kampagne. Nachdem man auf dem ersten Internationalen Linguistenkongress in Den Haag die großen Wirkungsmöglichkeiten dieses Forums entdeckt hatte, nutzte der Prager Zirkel den zweiten Internationalen Linguistenkongress in Genf (1931) gezielt, um neue Kontakte zu knüpfen und seine Veröffentlichungen einem 2
3 4
Zur historiographisch leider noch gar nicht bearbeiteten Frage der Subventionierung des Prager Linguistik-Zirkels habe ich im Abschnitt 2.1 erste allgemeine Angaben gemacht. Viele Anhaltspunkte zu dieser Problematik finden sich in den Protokollen des geschäftsführenden Ausschusses sowie in AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27 und 28. Ausschnitt aus einem Brief Roman Jakobsons vom 16.11.1929, abgedruckt in Trubetzkoy (1975): 148. Schreiben auf Briefpapier der Jednota ceskosl. matematikü a fyzikü ν Praze an „pan Dr. B. Trnka" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
132
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
internationalen Fachpublikum nahe zu bringen. Kurzzeitig erwog man sogar, den vierten Band der Travaux an sämtliche Teilnehmer des Genfer Kongresses zu verschicken. 5 Dieses Projekt überschritt — bei über 200 Kongressteilnehmern — dann aber wohl doch die finanziellen Möglichkeiten des Zirkels. Exemplare Tr. IV. nebudou zasläny vsem ücastniküm zenev. sjezdu, nybrz jen jistemu poctu. Bude vsak do Zenevy zaslän dostatecny pocet exempläm, aby si interesenti mohli na miste po vytisku zakoupit. 6 Es werden nicht allen Teilnehmern des Genfer Kongresses Exemplare der Tr[avaux] IV geschickt, sondern nur einer bestimmten Anzahl. Allerdings wird eine ausreichende Anzahl von Exemplaren nach Genf geschickt, damit sich die Interessenten vor Ort jeweils ein Exemplar kaufen können.
So stellte man im geschäfts führenden Ausschuss des Prager Zirkels eine Adressenliste für die Versendung von Freiexemplaren zusammen und grenzte damit den Kreis der Empfänger auf eine besondere Zielgruppe ein: Schvälen seznam zahranicnich linguistii, kterym bude zdarma zasläno po exempläri Travaux. 7 Gebilligt wurde ein Verzeichnis ausländischer Linguisten, denen jeweils ein Freiexemplar der Travaux geschickt wird.
Hier könnte es sich etwa um die erhaltene handschriftliche Liste handeln, der eine Versandkostenrechnung mit dem Vermerk „Travaux IV dodäno na aclresy" [geliefert an die Adressen] beigeheftet wurde. Diese Liste verzeichnet 94 Namen von Sprachwissenschaftlern aus dem In- und Ausland, 19 davon aus dem deutschsprachigen Raum (s.u.). In ähnlicher Weise hatte die Geschäftsführung des Prager Linguistik-Zirkels schon zwei Monate zuvor eine Liste mit „80 Adressen im Ausland" 8 zusammengestellt, an welche der Prager Verlag Freiexemplare des soeben erschienenen dritten Bandes der Travaux versenden sollte. Auch auf dieser Liste dürften wieder Adressen in Deutschland, Osterreich oder der Schweiz verzeichnet gewesen sein. Auch wenn durch diese Werbemaßnahmen in den Jahren 1930 und 1931 große Mengen von Büchern der Prager Schule in der internationalen und damit auch in der deutschsprachigen Fachwelt verbreitet wurden, 5
6 7 8
„Prof. Karcevskij bude dotäzän na adresy clenu zenev. sjezdu, kterym se bude Trav. IV. rozesilat" [Prof. Karcevskij wird nach den Adressen der Teilnehmer des Genfer Kongresses gefragt, an die die Travaux IV verschickt werden] (Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 10.3.1931, Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Protokoll der Sitzung vom 25.3.1931 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Protokoll der Ausschusssitzung vom 15.6.1931 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Sitzung des Ausschuss vom 8.4.1931 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
133
konnte natürlich auf diese Weise keineswegs sicher gestellt werden, dass alle potentiellen Interessenten erreicht wurden. Bis zum Jahr 1932 waren interessierte Fachkollegen aus dem Ausland ihrerseits darauf angewiesen, mit dem Prager Zirkel persönlich in Kontakt zu treten, wenn sie seine Publikationen erhalten wollten. Als Beispiel für eine solche Kontaktaufnahme von Seiten der Rezipienten mag der recht gut belegte Fall von Giulio Panconcelli-Calzia dienen. Im November 1931 wandte sich der langjährige Leiter des Hamburger Phonetischen Laboratoriums brieflich an seinen tschechischen Fachkollegen Josef Chlumsky, bei dem er offensichtlich eine Verbindung mit dem Prager Zirkel vermutete: Im letzten Heft ds. Js. von „Le Maitre Phonetique" lese ich Auf [sic] S. 75, dass die dortige linguistische Gesellschaft in diesem Jahre ein besonderes Werk unter dem Titel „Travaux du Cercle Linguistique de Prague" veröffentlicht hat. Wäre es möglich, durch Ihre freundliche Vermittlung ein Exemplar dieses zweifellos wertvollen Werkes kostenlos zu erhalten? Wenn die Vox noch im nächsten Jahr erscheint, werde ich selbstverständlich das Werk ausführlich besprechen. 9
Chlumsky, der dem Zirkel nie angehörte und ihm sogar sehr kritisch gegenüber stand, leitete den Brief dann offensichtlich an den richtigen Adressaten weiter. Im Vorstand des Zirkels wurde die Anfrage des bedeutenden Hamburger Phonetikers eigens thematisiert und sogleich als Gelegenheit begriffen, einen Publikationstausch mit der von PanconcelliCalzia herausgegebenen Zeitschrift Vox anzuregen. 10 Ein Brief Bohumil Trnkas vom 12.1.1932 gibt dann dem Prager Verlag die Anweisung, „1 Austauschexemplar des 4. Bandes der ,Travaux' an die Adresse" 11 Panconcelü-Calzias in Deutschland abzuschicken. Ob es tatsächlich zu einem Austausch mit der Zeitschrift Vox gekommen ist, lässt sich anhand der mir bekannten Archivalien vorerst nicht belegen. Bei der starken „emphasis on international ties" (Jakobson 1971a: 534), die man im Zirkel nach den ersten internationalen Erfolgen entwickelte, musste die umständliche, kostspielige und doch nie umfassende Verbreitung von Frei- und Rezensionsexemplaren schon bald als ungenügend erscheinen. Wie die erhaltenen Protokolle von Sitzungen des geschäftsführenden Ausschusses erkennen lassen, ergriff man im Zirkel 9 10 11
Schreiben an Chlumsky vom 30.11.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart 2/ i.e. 18). „Panconcelli-Calzia zädä ο Trav. IV - nabidne se mu vymena za Vox." [P.-C. bittet um Trav. IV - es wird ihm ein Tausch gegen Vox angeboten] Protokoll der Ausschusssitzung vom 22.12.1931 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). "Zäroven zaslete laskave: 1 vymenny exemplar IV. svazku ,Travaux' na adresu: Univ. prof. Dr. G. Panconcelli-Calzia. Phonetisches Laboratorium der Universität Hamburg" [Zugleich schicken Sie bitte: 1 Austauschexemplar an die Adresse: ...] (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
134
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
1931 daher zusätzliche Maßnahmen, um die Wirkungsmöglichkeiten im Ausland gezielt zu vergrößern. Zum einen bereitete der Prager Zirkel eine groß angelegte „Austauschaktion ausländischer Publikationen für die Travaux" vor, für die wiederum internationale Kontaktadressen zusammengetragen wurden, die man den Prager Mitgliedern des Zirkels zur Abstimmung vorlegte. 12 Es sollten also einerseits stabile Tauschbeziehungen mit ausländischen Adressaten etabliert werden. Andererseits bereitete man die Kommissionsverträge mit Harrassowitz und Champion vor, durch die sich die internationale Zugänglichkeit der Publikationen ab Januar 1932 natürlich ganz entscheidend verbesserte (vgl. 3.1). Gleichwohl verließ sich der Zirkel fortan keineswegs allein auf die Distributionskräfte des Buchmarktes, sondern versuchte auch weiterhin, die individuelle Verbreitung seiner Schriften ,offensiv' und koordiniert zu betreiben. Auch in den späteren dreißiger Jahren gilt ein großer Teil der erhaltenen Korrespondenz der Prager Schule der Versendung und dem Austausch von Publikationen an einzelne Adressaten im In- und Ausland. „Von den festen Verbindungen mit Vertretern der ausländischen Sprachwissenschaft zeugen" nach der Selbstdarstellung des Zirkels in einem Subventionsgesuch an das Prager Schulministerium gerade auch „der Austausch von Rezensionen und Publikationen." 13 Durch die politischen Ereignisse im Gefolge des Münchener Abkommens im Jahr 1938 sieht der Prager Zirkel den Fortbestand dieser Verbindungen in ernster Gefahr: Κ udrzeni techto stykü, jichz je potfebi präve ν nynejsi dobe hrozici kulturni isolace a ztizenych pomerü zivotnich, je potrebi peneznich prostredkü, jez se Prazkemu linguistickemu krouzku nedostävaji. 14 Um diese Beziehungen aufrechtzuerhalten, was ein Erfordernis gerade in der gegenwärtigen Zeit drohender kultureller Isolation und erschwerter Lebensverhältnisse ist, gibt es einen Bedarf an finanziellen Mitteln, an denen es dem Prager Linguistik-Zirkel mangelt.
In dem Folgeantrag von 1939 wird gegenüber dem Schulministerium entsprechend neben der Kongressteilnahme und den Vortragseinladungen auch der belebte Publikationsaustausch als Erfolg in den Bemühungen um internationale Kontakte hervorgehoben: 12
13
14
„Seznam adres pro vymennou akci cizich publikaci za Travaux prikäzän uzsi komisi prazskych clenü." [Adressenliste für die Austauschaktion ausländischer Publikationen für die Travaux verabschiedet durch die engere Kommission Prager Mitglieder] Protokoll der Sitzung vom 27.2.1932, vgl. auch die vorhergehenden Sitzungen des Ausschusses (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). „O pevnych stycich se zästupei zahranieniho jazykopytu svedei vymena recensi a publikaci [...]" [Von festen Verbindungen zu Vertretern der ausländischen Sprachwissenschaft zeugt der Austausch von Rezensionen und Publikationen]. Schreiben an das Schulministerium vom 4.11.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27). Schreiben an das Schulministerium vom 4.11.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27).
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
135
Vymena publikaci s cizinou byla ozivena ν tomto roce vydänim dvou dalsich svazkü „Trauvaux", Trubetzkeho Grundzüge der Phonologie, a sborniku Etudes phonologiques, do nehoz prispela fada vynikajicich jazykopytcü zahranicnich mimo badatele domäci. Oba svazky, ozivily i zäjem zahranicnich badatelü ο Krouzek, jak lze souditi ζ recensi prvniho ζ obou vydanych svazkü. 15 Der Austausch von Publikationen mit dem Ausland wurde in diesem Jahr durch die Herausgabe zweier weiterer Bände der Travaux belebt, Trubetzkoys Grundzüge der Phonologie und der Sammelband Etudes phonologiques, zu dem neben einheimischen Forschern auch eine Reihe ausgezeichneter ausländischer Sprachwissenschaftler beigetragen hat. Beide Bände [...] belebten auch das Interesse ausländischer Forscher am Zirkel, wie man aus den Rezensionen des ersten der beiden Bände folgern kann.
In der Zeit der deutschen Okkupation des Landes wird die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit der internationalen Fachwelt von den Vertretern der Prager Schule offensichtlich als Existenzfrage gewertet. Die gezielte Verbreitung ihrer Veröffentlichungen unter Rezipienten im Ausland wurde als eine der wichtigsten Möglichkeiten gesehen, trotz der politischen Bedrängnis weiter in der internationalen Diskussion zu bleiben. Allerdings versiegen für die Zeit des Protektorates schon bald die archivalischen Quellen, so dass über die Aktivitäten des Zirkels in den vierziger Jahren nur noch spärliche Einzelheiten zu erfahren sind. Für die dreißiger Jahre birgt der Fonds „PLK" des AAVCR aber eine große Fülle wertvoller Dokumente zur Verschickung von Frei-, Rezensions- oder Tauschexemplaren ins Ausland. Belege finden sich zum Teil in erhaltener Korrespondenz, gelegentlich auch in den Protokollen der Geschäftsführung des Prager Zirkels. Auch die beiden erhaltenen, sorgfältig geführten Verzeichnisse eingegangener und abgeschickter Post lassen für die Jahre nach 1935 die andauernden Bemühungen des Zirkels nachvollziehen, seine Veröffentlichungen über den direkten Kontakt mit Rezipienten im In- und Ausland zu verbreiten. Erhalten sind zudem eine Reihe zum Teil sehr umfangreicher Listen, auf denen die Adressaten für die Verschickung der einzelnen Publikationen zusammengestellt worden sind.16 Anders als die Archivalien zum anonymen Kommissionsbuchhandel geben diese Materialien wertvollen Aufschluss darüber, welche Personen oder Institutionen auf dem informellen Wege des Buchtauschs oder 15
Schreiben an das Schulministerium vom 25.10.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 27 )· 16 Vgl. zum Beispiel die im Anhang zu diesem Abschnitt reproduzierte Zusammenstellung für die Versendung der Festschrift Charisteria, dort wird neben Zahlenangaben zu verschickten Freiexemplaren verzeichnet, welche in- und ausländischen Zeitschriften Rezensionsexemplare erhielten. Als etwas andersgeartetes Beispiel derartiger Aufstellungen von Adressaten reproduziere ich eine Liste zur Versendung des dritten Bandes der Travaux.
136
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
der Buchschenkung in den Besitz von Publikationen der Prager Schule gekommen sind oder kommen sollten. Die Natur dieser archivaüschen Belege bringt es zudem mit sich, dass ihnen nicht nur die Empfänger der Buchsendungen abzulesen sind, sondern meist sehr genau angegeben wird, welchen Titel der jeweilige Adressat aus Prag bekommen hat. Formulierungen im Begleittext der Adressenlisten oder Parallelbelege in Sitzungsprotokollen lassen meist mit großer Wahrscheinlichkeit voraussetzen, dass die entsprechenden Exemplare tatsächlich aus Prag abgeschickt worden sind. Sofern Briefwechsel erhalten ist, wird häufig der Empfang der jeweiligen Bände auch durch den Adressaten bestätigt. Nur im Falle einer umfangreichen Liste mit Personen, die zur Subskription des siebten und achten Bandes der Travaux eingeladen wurden, ist sehr fraglich, ob von allen Empfängern Bestellungen eingegangen sind. Die deutschsprachigen Personen, die ausschließlich auf dieser Liste genannt werden, führe ich in der folgenden Ubersicht daher zwar mit auf, lasse sie aber bei der quantitativen Auswertung unberücksichtigt. Die genannten Quellen können also ein punktuell sehr präzises Bild vom Publikationstransfer ins Ausland und einen in Ausschnitten recht genauen Uberblick über den (favorisierten) internationalen Rezipientenkreis der Prager Schule vermitteln. Freilich ist wegen der Lückenhaftigkeit des Materials das Bild auch hier nicht geschlossen und bei weitem nicht vollständig. Es ist auch zu bedenken, dass im Fonds „PLK" nur solche Auslandskontakte dokumentiert sind, die gleichsam offiziell über das Sekretariat des Prager Zirkels vermittelt worden sind. Welche Titel und Separatdrucke die einzelnen Autoren aus dem Zirkel auf eigene Initiative an Fachkollegen im Ausland weitergereicht haben, ist hier also nicht belegt und müsste ergänzend andernorts recherchiert werden. An dieser Stelle möchte ich alle Informationen aus dem Fonds „PLK" zusammentragen, die die Verbreitung von Publikationen des LinguistikZirkels auf dem Wege individueller Kontakte an Adressaten im deutschsprachigen Ausland 17 betreffen. Ich nenne in der folgenden Übersicht zunächst alle Personen, die ,am Buchmarkt vorbei' nachweislich Frei-, Rezensions- oder Tauschexemplaren aus Prag erhalten haben (bzw. erhalten sollten). Auch über die Belieferung deutscher Fachorgane mit Rezensionsexemplaren finden sich in den mir vorliegenden Quellen gelegentlich Informationen, die in der folgenden Ubersicht mit berücksichtigt werden sollen. Ich gebe also auch die Titel von Zeitschriften an, die Rezensionsexemplare aus Prag erhalten haben. Um Doppelnennungen zu vermeiden, unterbleibt hier die Angabe, wenn schon der oder die Herausgeber der 17
Die spezifischen Verhältnisse in Prag erfordern eine besondere Darstellung, die im Kapitel 5 gegeben wird. Die entsprechenden Belege für die individuelle Vergabe von Publikationen an Prager deutsche Wissenschaftler werden an dieser Stelle ausgespart.
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
137
betreffenden Zeitschrift in der Übersicht namentlich aufgeführt werden. Adressaten, die nicht als deutschsprachige Personen identifiziert werden konnten oder die nicht in Deutschland, Osterreich und der Schweiz ansässig waren, habe ich nicht aufgenommen. 18 Die Ubersicht verzeichnet die Adressaten von Monographien und Sammelwerken der Prager Schule in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens: Travaux 1 (1929): Melanges Unguistiques dedies au Premier congres des philo logues slaves Theodor Baader Eduard Hermann Wilhelm Horn Karljaberg Jakob Jud
18
19
20
(Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 24.11.1931) (Korrespondenz, 14.1.30) (Korrespondenz, 23.5.31) (Korrespondenz, 22.2.34) (Korrespondenz von Jaberg, 1.7.39)
Heinrich Junker
(Schreiben des Außenministeriums, 10.1.193019)
Hermann Lommel
(Protokoll der Vorstandssitzung, 24.11.1931)
Walter Porzig
(Korrespondenz, 22.12.29)
Leo Spitzer
(Korrespondenz, 7.1.32)
Eberhard Zwirner
(Korrespondenz, 28.6.38)
Universitätsbibliothek Kiel
(Korrespondenz 1936 - 194220)
Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden nicht alle Belege einzeln nachgewiesen. Korrespondenz mit Personen findet sich im Fonds „PLK" des AAVCR im Kart. 2 unter der Inventarnummer 18. Korrespondenz mit Institutionen im Kart. 2 und 3 unter der Inventarnummer 19. Das Heft mit dem Verzeichnis „Odeslane dopisy" [Abgeschickte Briefe] liegt unter AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2, das Heft mit den Protokollen der Sitzungen des geschäftsführenden Ausschusses des Prager Zirkels unter AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7. Adressen- und Namenverzeichnisse werden in der folgenden Ubersicht nur bei ihrer Ersterwähnung nachgewiesen. Zweiseitiges Schreiben des Außenministeriums an Mathesius mit Betreff „Austausch wissenschaftlicher Publikationen", demnach ist Junker an einem Publikationstausch interessiert gewesen und sollte die Travaux, vermutlich Bd. I, über das Außenministerium geschickt bekommen (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 22), vgl. 3.4. Zur Vereinbarung eines Publikationstausches mit der Universitätsbibliothek Kiel siehe unten und im Abschnitt 3.3, die erhaltene langjährige Korrespondenz mit ihrem Direktor Oberländer findet sich unter AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 22.
138
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Travaux II (1929): Jakobson, Roman: Remarques sur revolution phonologique russe comparee ä Celles des autres langues slaves Theodor Baader Eduard Hermann
du
(Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 24.11.1931) (Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 13.10.1931 / Liste: „Jednote aby zaslala", 21.10.3121)
Karl Jaberg JakobJud Walter Porzig Leo Spitzer
(Korrespondenz, 22.2.34) (Korrespondenz von Jaberg, 1.7.39) (Korrespondenz, 22.12.29)
Universitätsbibliothek Kiel
(Korrespondenz 1936 - 1942)
(Korrespondenz, 7.1.32)
Travaux III (1930): Trnka, Bohumil: On the Syntax of the English Verb from Caxton to Dryden Theodor Baader
(Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 24.11.1931/ Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III."22)
Bruno Borowski
(Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.") (Korrespondenz 4.P.1931 / Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.")
Karl Brunner
Max Deutschbein Walther Fischer Otto Funke
21 22
(Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.") (Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.") (Liste: „Jednote, aby zaslala", 21.10.31)
Handschr. Verzeichnis „An die Jednota [d.h. den Prager Verlag], sie möge verschicken:" mit Angabe der betreffenden Bände der Travaux, datiert auf 2t.10.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Maschinenschr. Namen- und Titelverzeichnis (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4). Vgl. die Reproduktion im dokumentarischen Anhang.
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
139
Eduard Hermann
(Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 13.10.1931 / Liste: „Jednote, aby zaslala", 21.10.31 / Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.")
Rudolf Hittmair
(Korrespondenz, 25.4.31)
Karl J ab erg
(Korrespondenz, 22.2.34)
Jakob Jud
(Korrespondenz vonjaberg, 1.7.39)
Levin Schücking
(Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.")
Leo Spitzer
(Korrespondenz, 7.1.32) (Korrespondenz 1936 - 1942) (Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.")
Universitätsbibliothek Kiel Englische Studien Gießener Beiträge
[wahrscheinlich: Gießener Beiträge zur Erforschung der Sprache und Kultur Englands und Nordamerikas] (Liste: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III.")
Travaux IV (1931): BJunion phom•ologique internationale tenue ä Prague Theodor Baader
(Korrespondenz laut Sitzungsprotokoll der Geschäftsführung, 24.11.1931)
Henrik Becker
(Liste: „Travaux IV dodano na adresy" 23 ) (Liste: „Travaux IV dodano na adresy") (Liste: „Jednote, aby zaslala", 21.10.31) (Liste: „Travaux IV dodano na adresy") (Liste „PubL, dostanou 4. svazek Trav." 24 / Liste: „Travaux IV dodano na adresy")
Karl Bühler Franz Brender Wilhelm Czermak Jörgen Forchhammer
23
24
Theodor Frings
(Liste „PubL, dostanou 4. svazek Trav.")
Otto Funke
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav.")
Zweiseitige handschriftl. Liste von 94 Namen, vorgeklammert auf Einzelblatt handschriftl. Versandkostenberechnung für 94 Exemplare mit dem Vermerk „Travaux IV dodano na adresy" [Travaux IV geliefert an die Adressen] (AAVCR/ PLK/ Kart. 3 / i.e. 23). Handschriftliches Namenverzeichnis „Publik., den 4. Band der Trav bekommen..." (AAVCR/ P L K / Kart. 3 / i.e. 23).
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
140
Dietrich Gerhardt Hermann Güntert Wilhelm Havers Ferdinand Hestermann Wilhelm Horn
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav.")
Gunther Ipsen
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav.")
Karl Jaberg
(Korrespondenz, 18.3.34 / Liste: „V. svazek Travaux /dil 2./ Volne vytisky" 25 / Liste „Publ. dostanou 4. svazek Trav.")
JakobJud
(Korrespondenz von Jaberg, 1.7.39 / Liste: „V. svazek Travaux /dil 2./ Volne vytisky")
Heinrich Junker
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav.") (Korrespondenz, 25.7.31 / Liste: „Travaux IV dodano na adresy")
Fritz Karpf Paul Kretschmer
(Liste „Publ, dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodano na adresy")
Karl Luick
(Korrespondenz, 23.12.31 / Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy")
Karl. H. Meyer
(Liste: „Travaux IV dodano na adresy")
Wilhelm Meyer-Lübke
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodän na adresy") (Korrespondenz, 21.7.31 / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Korrespondenz, 30.11.31) (Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Korrespondenz, 6.3.33)
Gustav Neckel Alfons Nehring Giulio Panconcelli-Calzia Anton Pfalz Anton Pirkhofer
25
(Korrespondenz, 20.11.41) (Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Liste „Publ, dostanou 4. svazek Trav.") (Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy")
Zweiseitige maschinenschr. Liste von 36 meist inländischen Adressaten auf Briefpapier des Prager Linguistik-Zirkels unterzeichnet von Bohumil Trnka. Diese Liste ist unter der Überschrift „Volne vytisky" [Freiexemplare] handschr. um weitere 18 Namen ergänzt. Ein Vermerk bei den Namen Jud und Jaberg macht deutlich, dass sie Band IV und V 2 bekommen sollten (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
Julius Pokorny Walter Porzig Alfred Schmitt Hans Sperber Leo Spitzer
Walther v. Wartburg Leo Weisgerber Eberhard Zwirner Universitätsbibliothek Kiel
141
(Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav.") (Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Liste „Publ, dostanou 4. svazek Trav.") (Korrespondenz, 7.1.32 / Liste „Publ. dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodano na adresy") (Liste „Publ., dostanou 4. svazek Trav." / Liste: „Travaux IV dodano na adresy") (Liste: „Jednote, aby zaslala", 21.10.1931 / Liste: „Travaux IV dodäno na adresy") (Korrespondenz, 28.6.37 / Verzeichnis „Odeslane dopisy, 7.7.37) (Korrespondenz 1936 - 1 9 4 2 )
Conference des membres du Cercle linguistique de Prague au Congres des säences phonetiques (Amsterdam 1932). (1933) Karl Bühler Alfred Schmitt Max Vasmer Leo Weisgerber
(Brief Havräneks an Trnka, 27.4.193326 / Brief Trnkas vom 28.4.193327) (Brief Havräneks an Trnka, 27.4.1933 / Brief Trnkas vom 28.4.1933) (Brief Havräneks an Trnka, 27.4.1933 / Brief Trnkas vom 28.4.1933) (Brief Havräneks an Trnka, 27.4.1933 / Brief Trnkas vom 28.4.1933)
Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenaHo... (1932) Theodor Baader
26 27 28
(Liste: „Adresy k rozesiläni Charisterii"28 / Liste: „Charisteria. Jmeno platiciho"29)
AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18. AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19. Fünfseitiges Verzeichnis „Adressen zur Versendung der Charisteria", S. 4 und 5 enthalten 36 „Adresy zahranieni" [ausländische Adressen], neben den einzelnen Adressen nachträglicher handschr. Vermerk „bezahlt" bzw. „angemahnt", auch die übrigen Dokumente zur Festschrift für Mathesius verdeutlichen, dass dieser Band vom Prager Zirkel auch direkt an ausländische Adressaten verkauft worden ist. Die Liste ist in zwei handschr. überarbeiteten Versionen erhalten in AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4.
142
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Henrik Becker
(Brief Roman Jakobsons vom 20.11.1932, vgl. Abschnitt 4.1)
Karl Bühler
(Liste: „Adresy k rozesilani Charisterii" / Liste: „Upominky za Charisteria" 30 )
Leo Weisgerber
(Liste: „Adresy k rozesiläni Charisterii" / Liste: „Upominky za Charisteria") Eberhard Zwirner (Verzeichnis „Odeslane dopisy, 7.7.37) Universitätsbibliothek Kiel (Korrespondenz 1936 - 1942) Angli. Beibl. [Anglia Beiblatt] (Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü" 31 ) Archiv für das Studium der neueren Sprachen Englische Studien Uteraturblattfür und romanische
germanische Philologie
Die neueren Sprachen
(Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü") (Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü") (Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü") (Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü")
Zeitschrift für slavische Philologie (Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü") Indogermanische Forschungen
(Aufstellung „Charisteria. Tisknuto 500 vytiskü")
Travaux V2 (1934): Trubet^koy, Nikolai: Description phonologique derne 2: Morphonologie
29 30 31 32
du russe mo-
Henrik Becker
(Liste in Brief des PLK an Jednota..., 10.4.1934 32 )
Albert Debrunner
(Liste in Brief des PLK an Jednota..., 10.4.1934)
Dietrich Gerhardt
(Korrespondenz, 20.11.41)
Zweiseitige, maschinenschr. und handschr. Liste der Adressaten, die den Band Charisteria bezahlt haben, (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4). Einseitiges handschr. Namensverzeichnis „Mahnungen für Charisteria" (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Handschriftliche Aufstellung u.a. über verschickte Rezensionsexemplare (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4); vgl. dokumentarischer Anhang. Zweiseitiges Schreiben mit Briefkopf des Prager Zirkels an den Prager Verlag]ednola... vom 10.4.1934 mit der Bitte „weitere Rezensionsexemplare" an die angeführten 42 meist ausländischen Adressaten zu versenden (AAVCR / PLK/ Kart. 2/ i.e. 19).
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
Wilhelm Horn
(Liste in Brief des PLK an Jednota..., 10.4.1934)
Karl J ab erg
(Korrespondenz, 18.3.34 / Liste: „V. svazek Travaux /dil 2./ Volne vytisky") (Liste: „V. svazek Travaux /dil 2./ Volne vytisky")
Jakob Jud Heinrich Junker Alfred Schmitt
(Liste in Brief des PLK an Jednota..., 10.4.1934)
Max Vasmer
(Liste in Brief Jakobsons, nachträglich überschrieben „Travaux V,2, Recensni vytisky" / Liste in Brief des PLK an Jednota...,10.4.1934)
Eberhard Zwirner Universitätsbibliothek Kiel Osteuropa
(Verzeichnis „Odeslane dopisy", 7.7.37) (Korrespondenz 1936 - 1 9 4 2 ) (Liste in Brief des PLK an Jednota..., 10.4.1934)
Gerhard Deeters Eduard Hermann Franz Hirschberg Heinrich Junker
34
(Verzeichnis „odeslane dopisy", 4.4.1936) (Liste in Brief Jakobsons, nachträglich überschrieben „Travaux V,2, Recensni vytisky" 33 )
Leo Spitzer
Trubet^koy, Nikolai: Anleitung
33
143
phonologischen Beschreibungen (1935) (Liste in Brief Trubetzkoys, 16.2.193634) (Liste in Brief Trubetzkoys, 16.2.1936) (Korrespondenz, 5.7.38 / Verzeichnis „Odeslane dopisy", 15.7.37) (Verzeichnis „Odeslane dopisy", 21.4.1936)
Handschr. undatierter Brief Roman Jakobsons an wahrscheinlich Trnka. Jakobson bittet, die Versendung der Travaux V2 an eine lange Reihe ausländischer Adressaten zu veranlassen (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Handschr. Brief Trubetzkoys wahrscheinlich an Trnka vom 16.2.1936. Trubetzkoy beklagt hier, „daß bisher so wenig Reklame für meine .Anleitung' gemacht wurde" und fordert Trnka auf, verschiedene Werbemaßnahmen, darunter die Verschickung von Rezensionsexemplaren an eine Reihe von aufgeführten Adressen, zu veranlassen: „Um auch im Auslande Besprechungen hervorzubringen sollen Rezensionsexemplare (mit entsprechendem Vermerk) einerseits an einzelne Personen, andererseits an Zeitschriften versandt werden" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
144
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Max Weinreich
(Sitzungsprotokoll des geschäftsführenden Ausschusses, 21.12.1937 / Verzeichnis „Odeslane dopisy", 29.10.37)
Manfred Szadrowsky
(Korrespondenz mit Harrassowitz, vgl. Abschnitt 3.4) (Verzeichnis „Odeslane dopisy", 7.7.37) (Korrespondenz 1936 - 1 9 4 2 ) (Liste in Brief Trubetzkoys, 16.2.1936)
Eberhard Zwirner Universitätsbibliothek Kiel Anthropos (Mödling bei Wien) Archiv für das Studium der neueren Sprachen Deutsche Uteratur^eitung Finnischugrische Forschungen Indogermanische Forschungen Neuphilologische Monatsschrift Zeitschriftfür
(Liste in Brief Trubetzkoys, 16.2.1936) (Liste in (Liste in (Liste in (Liste in (Liste in
Brief Trubetzkoys, Brief Trubetzkoys, Brief Trubetzkoys, Brief Trubetzkoys, Brief Trubetzkoys,
16.2.1936) 16.2.1936) 16.2.1936) 16.2.1936) 16.2.1936)
Travaux VI (1936): Etudes dediees au Quatrieme congres de Ungutstes Dietrich Gerhardt Karl Jaberg Eberhard Zwirner Universitätsbibliothek Kiel
(Korrespondenz, 20.11.41) (Korrespondenz, 10.11.36) (Korrespondenz, 28.6.37 / Verzeichnis „Odeslane dopisy", 7.7.37) (Korrespondenz 1936 - 1 9 4 2 )
Travaux VII (1939): Trubet^koy Nikolai: Grund^üge derVhonologie *A. Arnholtz (Berlin bzw. Lyngby) Theodor Baader
35
(Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII" 35 ) (Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce"36)
Die „Adressenliste zur Subskription der Travaux VII-VIII" umfasst auf 6 Seiten 175 ausländische Adressaten, (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Da diese Liste lediglich die Einladung zur Subskription betrifft, gibt sie keine sichere Auskunft darüber, welche Personen den entsprechenden Band tatsächlich subskribiert haben. Sofern sich nicht weitere Belege für den Empfang des entsprechenden Bandes fanden, habe ich die Adressaten der Einladungen zur Subskription in der Ubersicht mit * markiert und bei der quantitativen Auswertung unberücksichtigt gelassen.
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
*Henrik Becker
(Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIH")
*Albert Debrunner
(Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII")
*Gerhard Deeters
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
Eugen Dieth
(Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce")
Jörgen Forchhammer
(Korrespondenz, 3.5.39 / Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce") (Liste: „Dosle subskripce") (Korrespondenz, 20.7.39) (Korrespondenz von Jaberg, 20.7.39) (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII")
A. Francke Verlag (Bern) Karl Jaberg Jakob Jud *Karl Menges Paul Menzerath *Karl H. Meyer
36
145
(Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII")
* Alfred Schmitt
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
*Eduard Schwyzer
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
Wolfgang Steinitz
(Verzeichnis „Odeslane dopisy", 7.6.40)
*Max Vasmer
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
*Max Weinreich
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
*Leo Weisgerber
(Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII")
Masch. Liste mit 52 meist ausländischen Adressaten unter der Überschrift „Dosle subskripce" [Eingegangene Subskriptionen], Aus den Vermerken zu den einzelnen Namen wird deutlich, dass es sich um Subskribienten der Bände VI und VII der Travaux handelt (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4).
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
146
*Eberhard Zwirn er Universitätsbibliothek Kiel
(Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII") (Korrespondenz 1936 - 1942)
Travaux VIII (1939): Etudes phonologiques dediees ä la memoire de M. le prince N.S. Trubet^koy Theodor Baader *Henrik Becker * Albert Debrunner *Gerhard Deeters Eugen Dieth *Jörgen Forchhammer *Karl Menges Paul Menzerath *Karl H. Meyer * Alfred Schmitt *Eduard Schwyzer
(Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce") (Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresaf pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce") (Korrespondenz, 3.5.39 / Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII) (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII" / Liste: „Dosle subskripce") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresar pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII")
Wolfgang Steinitz
(Verzeichnis „Odeslane dopisy", 7.6.40)
*Max Vasmer
(Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII") (Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII")
*Leo Weisgerber *Eberhard Zwirner
(Liste: „Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII")
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
147
Der fachliche Hintergrund dieser Büchersendungen an einzelne deutschsprachige Wissenschafder wird im Abschnitt 3.4 beleuchtet. An dieser Stelle sollen zunächst nur die quantitativen und zeitlichen Aspekte der individuellen Distribution von Veröffentlichungen des Linguistik-Zirkels zusammenfassend betrachtet werden. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick, wie viele Exemplare verschiedener Publikationen des Prager Zirkels auf dem Wege individueller Kontakte während der dreißiger Jahre in den deutschsprachigen Raum oder an deutschsprachige Adressaten verschickt worden sind: Titel
Anzahl
Travaux I
(1929)
11
Travaux II
(1929)
7
Travaux III
(1930)
15
Travaux IV
(1931)
36
Charisteria
(1932)
13
Conferences
(1933)
4
Travaux V2
(1934)
13
Anleitung
(1935)
15
Travaux VI
(1936)
4
Travaux VII
(1939)
9
Travaux VIII
(1939)
4
Alle Titel
131
Tabelle 3: Frei-, Rezensions- und Tauschexemplare, die in den 30er Jahren in das deutschsprachige Ausland geschickt wurden
Demnach sind 131 Einzeltitel am Buchhandel vorbei in den deutschsprachigen Raum gelangt. Diese Zahl umfasst wohlgemerkt nur die archivalisch belegten Buchsendungen, die über das Sekretariat des Prager Zirkels abgewickelt worden sind, und nicht auch die auf persönliche Initiative der einzelnen Autoren verbreiteten Monographien und Sonderdrucke. Auch die erste umfangreiche Büchersendung, bei welcher zum Jahreswechsel 1929/1930 insgesamt 120 Exemplare der ersten beiden Bände der Travaux nach Russland und Deutschland verschickt wurden (s.o.), ist in dieser Tabelle sehr wahrscheinlich noch nicht berücksichtigt. Sie erfolgte noch vor der Eintragung des Prager Zirkels als Verein und damit in einer Zeit, in der noch keine Akten des Sekretariats angelegt wurden. Adressenlisten für
148
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
die Versendung der ersten beiden Bände der Travaux sind nicht erhalten. Die tatsächliche Zahl der über persönlichen Kontakt im deutschsprachigen Ausland verbreiteten Schriften des Prager Zirkels dürfte daher deutlich höher als die nachweisbaren 131 Bände liegen. Auffallend ist die breite Streuung des auf diese Weise verschickten vierten Bandes der Travaux. Hier erhält die offensive Bemühung der Prager Schule um internationale Anerkennung am Beginn der dreißiger Jahre ihren deutlichen Niederschlag in den erhaltenen Archivalien. Zum avisierten Rezipientenkreis gehörte zu dieser Zeit an prominenter Stelle gerade auch die deutschsprachige Fachwelt. Die Tabelle zeigt außerdem, dass auch in der Zeit nach 1933 nachweisbar beständig Neuerscheinungen als Frei- oder Rezensionsexemplare die Grenze ins deutschsprachige Ausland passierten. Die belegbaren Zahlen deuten allerdings darauf hin, dass der Umfang der Buchversendungen hier vergleichsweise geringer war als in den ersten Jahren der großen Werbekampagnen der Prager Schule. Wegen der Kommissionsvereinbarung mit Harrassowitz konnte sich der Linguistik-Zirkel in den Jahren nach 1932 ja darauf verlassen, dass seine Veröffentlichungen auch ohne aktive Unterstützung einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich waren. Noch bis zum Ende der dreißiger Jahre legte der Prager Zirkel aber erkennbar Wert darauf, eine ganze Reihe von ausgewählten Fachkollegen im deutschsprachigen Ausland individuell mit Fachliteratur zu versorgen. Dass man auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch mit zahlreichen Interessenten und potentiellen Abnehmern in der deutschsprachigen Fachwelt rechnete, zeigt die Adressenliste zur Subskription des siebten und achten Bandes der Travaux. („Adresär pro subscripci Travaux VII-VIII", s.o.). Da eine Reihe von Personen bzw. Institutionen mehrere Publikationen aus Prag erhalten haben, ist der Kreis der identifizierbaren Adressaten im deutschsprachigen Raum deutlich kleiner als die Zahl der verschickten Einzeltitel. Immerhin lassen sich allein aus den im Fonds „PLK" erhaltenen Aufzeichnungen und Korrespondenzen 52 verschiedene Personen identifizieren, die im Untersuchungszeitraum über einen direkten Kontakt Publikationen des Linguistik-Zirkels erhalten haben. Mindestens 20 deutschsprachige Personen haben dabei zwei und mehr Veröffentlichungen vom Prager Zirkel erhalten, mit dem sie demnach einen mehr als nur punktuellen, teilweise sogar jahrelangen Kontakt hatten (vgl. 3.4). Neben der gezielten Verbreitung von Frei- und Rezensionsexemplaren seiner Bücher war der Linguistik-Zirkel schon früh bestrebt, Tauschvereinbarungen mit ausländischen Wissenschaftsinstitutionen zu etablieren. Für reichsdeutsche Einrichtungen gewann der Tauschhandel mit Fachpublikationen in den dreißiger Jahren vor allem aus politischen Gründen wachsende Bedeutung. Deutsche Universitätsbibliotheken bei-
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
149
spielsweise fanden im Büchertausch mit ausländischen Bibliotheken einen geeigneten Weg, die immer besser organisierte ideologische Kontrolle des Erwerbs ausländischer Literatur und die Beschränkungen im internationalen Devisenverkehr zu umgehen. 37 Als der Prager Linguistik-Zirkel im Sommer 1931 daran ging, Verzeichnisse internationaler Fachzeitschriften zusammenzustellen, denen ein Tausch mit der eigenen Reihe der Travaux vorgeschlagen werden sollte,38 spielten politische Rücksichten zunächst noch keine Rolle. Hier ging es zum einen natürlich darum, durch regelmäßige Buchankündigungen und Rezensionen in ausgewählten wissenschaftlichen Zeitschriften eine breite und kontinuierliche Wirkung in Fachkreisen im Ausland zu erzielen. Zum anderen hoffte die Prager Schule, auf diese ökonomisch einigermaßen ausgeglichene Weise ihrerseits Zugang zu kostspieligen oder schwierig zu beschaffenen Fachpublikationen der internationalen Sprachwissenschaft zu erhalten. Neben der Wirkungsabsicht bestimmten daher eigene Rezeptionsinteressen die Auswahl der angestrebten Tauschpartner: Zäsadne rozhodnuto, [sie] prihlizeti predevsim k periodiküm, kterä jsou jinak ν Praze nepristupnä, a k tem, kterä se zabyvaji mluvnicemi exotickych jazykü, na publikace ο umelem, a ο zavädeni latinky u exotickych jazykü aj. 39 Grundsätzlich entschieden, vor allem Periodika zu berücksichtigen, die ansonsten in Prag nicht zugänglich sind, und solche, die sich mit den Grammatiken exotischer Sprachen befassen, Publikationen über künstlerische Sprache und über die Einführung der lateinischen Schrift bei exotischen Sprachen u.a.
Die Verzeichnisse gewünschter Austauschpublikationen wurden von Mitgliedern des Linguistik-Zirkels arbeitsteilig für die einzelnen Disziplinen zusammengestellt: Slawistische Zeitschriften wurden von Roman Jakobson und Bohuslav Havränek zusammengetragen, Zeitschriften aus der Germanistik und Anglistik von Vilem Mathesius und Bohumil Trnka ausgewählt, während Vladimir Buben (1888-1956) die romanistischen Fachorgane sichtete. Von diesen Verzeichnissen ist nur die handschriftliche Titelliste Bubens erhalten geblieben. 40 Diese Liste umfasst 16 europäische 37
38 39 40
Vgl. Happel (1989: 70-71). Um einen anschaulichen Beleg vom großen Umfang des Buchtausches zu geben: In der Bibliothek der Berliner Universität lag im Jahr 1936 „die Zahl der durch den Tausch erworbenen Bücher [...] dreimal höher als die der durch Kauf erworbenen" (Flachowsky 2000: 82). „Usneseno sestaviti seznam vedeckych casopisü, ktere by mohl vymenovat sve publikace za Travaux" Protokoll der Sitzung vom 22.5.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. l/i.c.7). Protokoll der Ausschusssitzung vom 9.2.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Lose, handschriftliche Beilage zum Heft „Odeslane dopisy" mit der Überschrift „Seznam romanistickych casopisü, ktere by mohly byti pozädäny ο vymenu publikaci" [Liste romanistischer Zeitschriften, die um einen Publikationstausch gebeten werden könnten] (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Nach einem Vorschlag des geschäftsführenden Ausschusses vom 22.5.1931 sollte Vladimir Buben das Verzeichnis romanisti-
150
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Fachzeitschriften aus dem Bereich der Romanistik, mit denen ein Publikationstausch angestrebt werden sollte. Sechs dieser Zeitschriften erschienen in Deutschland: - Balkan-Archiv, - Gießener Beiträge %ur romanischen Philologie, - Romanische Forschungen, - Zeitschrift fürfranzösische Sprache und Uteratur, - Zeitschrift für romanische Philologie, - Sprache und Kultur der Romanen [gemeint wahrscheinlich: Sprache und Yatltur der germanischen und romanischen Völker, romanistische Reihe]. Die übrigen zehn Einträge nennen Titel aus verschiedenen romanischsprachigen Ländern. Die in Deutschland erscheinenden philologischen Fachzeitschriften spielten am Anfang der dreißiger Jahre beim projektierten Publikationstionstausch des Prager Zirkel also eine verhältnismäßig große Rolle, die ihrer damaligen internationalen Reputation entsprach. Die Initiative der Prager Schule fand im deutschsprachigen Raum aber offenbar kaum Resonanz. Es sind jedenfalls nur wenige archivalische Belege für dauerhafte Tauschvereinbarungen 41 mit Institutionen und Zeitschriften aus dem deutschsprachigen Raum erhalten. Eine in der Mitte der dreißiger Jahre zusammengestellte Ubersicht über den „Publikationstausch" führt unter insgesamt 49 genannten Instituten und Zeitschriften aus dem In- und Ausland nur drei Kooperationen mit deutschsprachigen Partnern an: - mit der Universitätsbibliothek in Kiel - mit der von Leo Spitzer herausgegebenen Reihe der „Kölner Romanistischen Arbeiten"
41
scher Zeitschriften zusammenstellen, vgl. Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7. Für Buben als Autor dieser Liste spricht auch das verwendete Briefpapier mit dem Briefkopf des Seminars für romanische Philologie der Universität Bratislava, an der Buben 1931 noch als außerordentlicher Professor wirkte. Gelegentlich haben sich die Empfänger von Freiexemplaren ihrerseits mit Separatdrucken oder Monographien bedankt. Eduard Hermann z.B. verbindet seinen Dank für die Travaux I damit, seinerseits „zwei Abhandlungen zu übersenden" (Briefkarte vom 14.1.1930). Karl Brunner kündigt eine solche Gegengabe für die Zukunft an: „Ich werde mich gern durch Ubersendung von Arbeiten von mir u. Schülern dafür erkenntlich zeigen, daß Sie mir diese schöne Arbeit [Travaux III] zukommen ließen" (Briefkarte vom 4.P.1931). Es ist aber aus den Archivalien nicht zu erkennen, dass dieser wechselseitige Austausch von Publikationen zu dauerhaften und expliziten Vereinbarungen geführt hätte (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
151
- und dem Sprach- und Sachadas Italiens und der Südschweiz von Jaberg und Jud. 42 Dabei geht die Tauschvereinbarung mit den Kölner Romanistischen Arbeiten auf das Jahr 1931 zurück, der Buchaustausch mit Jaberg wurde im Jahr 1934 definitiv beschlossen (vgl. 3.4). Und die Verbindung mit der Universitätsbibliothek Kiel wurde erst 1936 geknüpft (vgl. 3.3). Diese Liste wäre noch um den Publikations tausch mit Eberhard Zwirners Archiv für vergleichende Phonetik zu ergänzen, der erst im Jahr 1937 vereinbart wurde und sich auch auf die tschechischsprachige Zeitschrift des LinguistikZirkels Slovo a slovesnost erstreckte (vgl. 3.4, Abschnitt zu Dietrich Gerhardt). Zwei weitere brieflich vereinbarte Tauschvorhaben werden in dem Verzeichnis nicht aufgeführt. 43 In allen vier (bzw. sechs) belegten Fällen ging die Initiative übrigens von deutscher Seite aus.44 Auffällig ist hier nicht nur die insgesamt geringe Zahl der Tauschvereinbarungen, sondern auch die Tatsache, dass sich gerade die traditionsreichen und für die jeweilige Disziplin zentralen deutschen Fachperiodika offensichtlich nicht für einen Publikationstausch gewinnen ließen. Dasselbe gilt allerdings auch für die Beziehungen zu Frankreich, das im genannten Verzeichnis der Tauschvereinbarungen sogar nur mit zwei wissenschaftlichen Institutionen vertreten ist. Die hohe Zahl osteuropäischer, skandinavischer und niederländischer Tauschpartner deutet darauf hin, dass der auf beiderseitigen Vorteil angelegte Austausch von Veröffentlichungen in erster Linie zwischen ,marginaleren' Institutionen oder Wissenschaftsstandorten attraktiv war. Die etablierten Institutionen und Publikationen aus den seinerzeit fuhrenden Wissenschaftsnationen Frankreich und Deutschland waren in viel geringerem Maße darauf angewiesen, 42
Das Verzeichnis ist rückläufig am Ende des Heftes „Odeslane dopisy, Vymena publikaci 1935-41" eingetragen und trägt die Überschrift „Vymena publikaci. Jmeno a adresa korporace n. listavu (n. casopisu)" [Publikationstausch. Name und Adresse von Korporationen oder Instituten (oder Zeitschriften)] (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). 43 Auch Wilhelm Horn regte nach Erhalt der Travaux I einen regelmäßigen Publikationstausch an: „Ich wäre sehr dankbar für die weitere Zusendung Ihrer Veröffentlichungen und werde Ihnen gerne eigene Arbeiten und Arbeiten meiner Schüler zusenden. Den Anfang werde ich machen mit der Zusendung des letzten Heftes der von mir herausgegebenen (Giessener) Beiträge" (Schreiben vom 23.5.1931). Er bzw. die Gießener Beiträge erhalten zwar später einige Folgebände der Travaux, werden aber im Verzeichnis „Vymena publikaci..." nicht aufgeführt. Dort ist auch Heinrich Junker nicht genannt, mit dem ebenfalls ein Publikationstausch zumindest geplant worden ist, vgl. Anm. 15. Zu beiden vgl. 3.4. 44 Vgl. das Schreiben Karl Jabergs vom 22.2.1934 und das Schreiben Eberhard Zwirners vom 29.4.1937 (beide AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Das Schreiben der Universitäts-Bibliothek Kiel vom 26.10.1936 und zwei Briefe aus dem Kölner Romanischen Seminar vom 19.10.1931 und 7.1.1932 finden sich unter AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19. Im dokumentarischen Anhang gebe ich den von Leo Spitzer persönlich unterzeichneten Brief als Beispiel wieder.
152
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
wiesen, ihre internationale Resonanz und die Verbreitung ihrer Veröffentlichungen aktiv zu befördern als Vertreter der ,kleinen' Wissenschaftsnationen. Zentrale deutsche Fachperiodika wie die Indogermanischen Forschungen oder die Zeitschrift für slawische Philologie sind denn auch ohne jede ,Gegenleistung' laufend mit Rezensionsexemplaren aus Prag versorgt worden. Ich fasse abschließend die wichtigsten Ergebnisse des vorliegenden Abschnittes zusammen: - Für die Rezeption der Prager Schule spielte der Versand von Rezensions-, Frei- oder Tauschexemplaren eine außergewöhnlich große Rolle. Besonders in den Jahren, bevor seine Veröffentlichungen auf dem internationalen Buchmarkt zugänglich waren, versuchte der Linguistik-Zirkel mit massiver staatlicher Unterstützung auf diesem Wege eine breite Resonanz im Ausland zu erzielen. - Seit Anfang 1930 kamen so auch die ersten beiden Bände der Travaux in größerer Anzahl im deutschsprachigen Ausland in Umlauf. Auch nach dem Abschluss des Kommissionsvertrages mit Harrassowitz im Jahr 1932 und noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges legte der Prager Zirkel sichtlich Wert darauf, deutschsprachige Adressaten mit individuellen Büchersendungen auf aktuelle Neuerscheinungen aufmerksam zu machen. Mindestens 131 Druckschriften der Prager Schule gingen auf diese Weise von Prag aus am Buchhandel vorbei an ausgewählte deutschsprachige Wissenschafler im Ausland. - Der Versuch, einen Büchertausch mit wichtigen Fachzeitschriften anderer Länder zu initiieren, zeigte allerdings — anders als bei den ,kleinen' Wissenschaftsnationen — in Deutschland und Frankreich kaum erkennbaren Erfolg. Allerdings wandten sich einige deutschsprachige Wissenschafder bzw. deutsche Institutionen ihrerseits an den Prager Zirkel, um den regelmäßigen Austausch von Publikationen anzuregen. Einige dieser Verbindungen hatten über den Kriegsbeginn hinaus Bestand.
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
153
Travaux du cercle linguistique'de Prague,
Prof.Baaderovi/skrz Dr.Vachka/ Morgan CallawayfAustin ο Kemp Malone,Baltimore • ,r , , ο Sir William ^raigie,Chicago UM ο G.O.Curme,Chicago .* 7 f ο A.J.F.Zieglschmid,Io'wa Journal of E. ami G-erm. Phil. · Philological Quarterly A.E Ji.Swaen,Amesterdam '· • · Kruisinga ο »and.r Gaaf Englische Studien • • ?/.Fischer .Giessen , L .L .Schücking, Lipsko B.Boirowski,Lipsko — Μ .Deuts chbe in »Marburg f- • . Studia Neogh. . • A.Trampe Bodtker Meuphil . Mitte Hungen, Finsko N.Bdgholm * + -B.CX.Wyld. . . C.Τ .Onions ' .. 1 Κ.Brunner Prof .CizcTskii ^ ' Prof .Brun . V Prof.Teshiere . " . Prof .Buben • '„. •-•':-·. Dr .Kurz . . . 1 '' prof.Vazny R.Huehon,Pariz G.van.Langenhove,Ghent 1 Bulletin de la Soc.de L. *'.·. ' Prof-.Cohen Prof .Juret Prof .Juret ' Giessener"Beiträge Bogatyrev Zermuntski Ε .Herrmann
Dokument 6: „Travaux du cercle linguistique de Prague. III" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4)
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
154
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Dokument 7: Brief Leo Spitzers an Bohumil Trnka, 7.1.1932 (AAVCR/ P L K / Kart. 2/ i.e. 19)
3.2 Freiexemplare, Rezensionsexemplare und Buchtausch
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npaB. (Trubetzkoy 1975: 242)
Forchhammer hat wieder einen langen Brief vom Stapel gelassen. Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, ihm zu antworten. Wenn schon antworten, dann muss ich ihm klarmachen, dass er, obwohl nicht ohne Begabung, doch dumm ist — und das ist sehr schwierig in einer nicht beleidigenden Form auszudrücken. Seine 'Grundlagen der Phonetik' enthalten sehr viel Wertvolles und mit seiner Kritik der anderen phonetischen Handbücher hat er unbedingt recht.
In seinem ersten Brief an Forchhammer selbst hatte Trubetzkoy dieses zwiespältige Urteil höflicher wie folgt formuliert:
188
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Ich, z.B. kenne Ihre Arbeiten gut und schätze Sie als phonetische Arbeiten sehr hoch. Aber für meine phonologische [sie] Arbeiten kann ich davon gar keinen Gebrauch machen — eben, weil Phonetik und Phonologie ganz verschiedene Wissenschaften sind. (Trubetzkoy 1975: 457)
Wenig später nahm Forchhammer in seinem Vortrag auf dem Amsterdamer Phonetikkongress ausdrücklich auf seine Korrespondenz mit Trubetzkoy Bezug, machte aber deutlich, dass er dessen „Auffassung nicht beistimmen" (Forchhammer o.J. [1933]: 141) könne. Er identifiziert die Phonologie hier kurzerhand mit der ,theoretischen Phonetik' und äußert die "Hoffnung [...], dass die Phonologie sich bald innerhalb der Phonetik zurechtfinden" (ebd.: 142) werde. Gleichwohl verfolgte Forchhammer die Entwicklung der Phonologie offenbar auch in den folgenden Jahren mit Interesse. So bedankt er sich im Mai 1939 brieflich für „das mir zugeschickte Werk von N. Trubetzkoy ,Grundriss [sic] der Phonologie"' und erkundigt sich, wie bzw. wo er unter den Bedingungen des beschränkten Devisenhandels den Band bezahlen sollte: Für den Fall, dass die Zustellung des Geldes ohne Schwierigkeiten erfolgen kann, würde ich sie bitten, mir noch ein zweites Exemplar zuzuschicken. 40
Nach einer tschechischen, handschriftlichen Notiz auf dem Briefbogen ist das gewünschte zweite Exemplar am 11.5.1939 aus Prag abgeschickt worden. Obwohl Forchhammer die phonologische Literatur also zur Kenntnis nahm, scheint er noch lange Zeit in dem von Trubetzkoy attestierten „Missverständnis" befangen geblieben zu sein. Noch 1942 identifiziert er das Phonem ohne funktionelle Fundierung als „Sammelname für alle Lautnuancen [...], die von einer bestimmten Sprachgemeinschaft als derselbe Sprachlaut' aufgefaßt werden" (Forchhammer 1942: 27). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg prägt er für seine strikt artikulatorische Sprechkunde den terminologisch am Phonem orientierten Grundbegriff des „Laiems" und vermag sie so unmissverständlich von der Phonologie abzugrenzen: Im Gegensatz zur akustischen Einstellung der Phonetik und zur artikulatorischen der Laletik geht die Phonologie von linguistischen Gesichtspunkten aus. Sie interessiert sich überhaupt nicht viel für den Klang und noch weniger für die Bildung der Sprechelemente, sondern nur für ihre sprachliche Funktion, d.h. für ihre Fähigkeit, Wörter voneinander zu unterscheiden. Demnach wird die Phonologie auch bisweilen ,funktionelle' oder strukturelle Phonetik' genannt. (Forchhammer 1951: 174)
Das Werk Forchhammers könnte beispielhaftes Material bieten für eine historiographische Untersuchung der mitunter recht langwierigen Wir-
40
Brief Forchhammers „An den Cercle linguistique de Prague", München, 5.5.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
189
kungsgeschichte der Trennung von Phonologie und Phonetik innerhalb der deutschsprachigen Phonetik. Theodor FRINGS (1886 Dülken — 1968 Leipzig); Germanistik; Bonn, Leipzig (ab 1927) - zugesandte Publikation: Travaux IV Der Beleg, dass Frings den vierten Band der Travaux aus Prag erhalten halt, ist der einzige Hinweis auf direkte Kontakte, den die Prager Archivalien geben (vgl. 3.2). Eine Episode aus den Briefen Trubetzkoys an Jakobson zeigt, dass man in der Prager Schule lautgeschichtliche Arbeiten von Frings mit Interesse zur Kenntnis nahm. Im Sommer 1936 empfiehlt Trubetzkoy Jakobson dessen Artikel zum rheinischen und litauischen Akzent als „gründliche Arbeit" zur Lektüre (Trubetzkoy 1975: 361). Auf Bitten Jakobsons sollte Trubetzkoy später den entsprechenden Band mit nach Prag bringen (ebd.: 368). Eine Veröffentlichung von Frings zum Heldenlied kommentiert Trubetzkoy kurz darauf sehr abfällig (ebd.: 369370). Im Übrigen geben aber auch die Briefe Trubetzkoys keine Anhaltspunkte für eine direkte Verbindung mit dem Leipziger Germanisten. Gegenüber der Phonologie scheint Frings am Anfang der dreißiger Jahre skeptisch gewesen zu sein. In Eduard Hermanns Buch über Lautgesetz und Analogie (1931) findet er jedenfalls „gute Bemerkungen gegen die Phonemlehre" (Frings 1933b: 281). Eine sorgfältige Sichtung der Texte von Frings auf Reaktionen gegenüber der Phonologie wäre ein wichtiger Beitrag zur Frage nach einer frühen deutschen Strukturalismusrezeption, denn seine kulturmorphologische Sprachbetrachtung war einer der prominentesten Neuansätze in der Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit. 41 Otto FUNKE (1885 Salzburg-
1973
Bern); Anglistik;
Bern
- zugesandte Publikationen: Travaux III, Travaux IV - Teilnahme am 2. und 3. Linguistenkongress 1931 und 1933 Funkes Verbindung nach Prag war zum einen biographischer Art, denn an der dortigen Deutschen Universität hatte er sich 1914 habilitiert und bis 1923 gelehrt, ehe er nach Bern berufen wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Funke seinen etwa gleichaltrigen Fachkollegen Mathesius noch aus dieser frühen Zeit persönlich kannte, denn Mathesius verfügte über für damalige tschechische Verhältnisse ungewöhnlich enge Kontakte zur 41
Als einflussreichste „Begründung der Zusammenhänge zwischen sprachlicher und politischer Geographie" (Frings 1926: 92) kann sicher Frings' Beitrag zu dem Sammelwerk Kulturströmungen und Kulturpnvin^en in den Rheinlanden gelten (Frings 1926).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Deutschen Universität (vgl. Toman 1995: 73), hatte er doch selbst am dortigen englischen Seminar studiert. Funkes stark philosophisch ausgerichtete sprachwissenschaftliche und editorische Arbeit blieb aber auch inhaltlich zeidebens eng an Prag und die dortige Brentano-Schule (insbesondere an Anton Marty) orientiert. Aus diesem Interesse heraus verfolgte er etwa die Entwicklung von Bühlers Sprachtheorie seit ihren frühen Ausformulierungen, um sie kritisch an Anton Marty zu messen (Funke 1927: 137-138). Die Entwicklung der Phonologie hat Funke offenbar sogleich als aktuelle Umsetzung der bei Marty entworfenen sprachlichen „Formenlehre" gesehen und sie an entsprechendem systematischem Ort seiner eigenen „Strukturlehre" mit ihren beiden Polen „Zeichenlehre" und „Bedeutungslehre" integriert (Funke 1945: 228). Im Juni 1942 legt Funke auf Gastvorträgen in Bonn und Marburg diese Strukturlehre beispielsweise einer „Charakteristik des englischen Sprachsystems" zugrunde und beruft sich für seine „strukturelle Zeichenlehre" dabei ausdrücklich und ausführlich auf die Phonologie, wobei er Trnka und Trubetzkoy als Gewährsmänner nennt (ebd.: 132 ff.). AdhemarGELB (1887 Moskau - 1936 Schöneberg b. Calw); Psychologie, phie; Frankfurt a.M., Halle a.S. (seit 1931), 1933 entlassen
Philoso-
- Mitglied der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft Der Psychologe Gelb bewegte sich besonders mit seinen Forschungen zur Aphasie in der Nähe der Sprachwissenschaft. Großes Interesse fanden unter Linguisten seiner Zeit etwa seine zusammen mit Kurt Goldstein unternommenen Untersuchungen zur Farbnamenamnesie (vgl. Weisgerber 1926 oder 1929: 15 f.). Trubetzkoy schickte im Sommer 1933 ein sprachpsychologisches Themenheft des Journal de Psychologie an Jakobson und machte ihn unter anderem auf einen Artikel Gelbs (Gelb 1933) darin aufmerksam, dieser sei „teilweise" von Interesse (Trubetzkoy 1975: 282). Im Prager Archivfonds des Linguistik-Zirkels ist der einzige Hinweis auf direkte Kontakte mit Gelb der Nachweis, dass er Mitglied in der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft gewesen ist.42 Dietrich GERHARDT (1911 Breslau); Phonetik, allgemeine Slawistik; Halle, 'Braunschweig (ab 1940)
Sprachwissenschaft,
- zugesandte Publikationen: Travaux IV, Travaux V2, Travaux VI Ein Zeitzeuge der frühen Rezeption des Prager Strukturalismus an deutschen Hochschulen ist Dietrich Gerhardt. Er war so freundlich, mir aus42
„Liste de membres de L'Association Internationale pour les etudes phonologiques" (AAVCR/ PLK / Kart. 1/ i.e. 12).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
191
führlich schriftliche Auskunft über seine erste Bekanntschaft mit der Entwicklung der Prager Schule während seiner Studienzeit in Halle zu geben. Seine Erinnerungen bieten einen wertvollen Einblick in die Rezeption des Prager Strukturalismus aus der Perspektive eines damaligen Studenten und sollen deshalb hier eingehend referiert werden. 43 Gerhardt hatte in Halle bei Georg Baesecke Germanistik gehört und bei Franz Specht vergleichende Sprachwissenschaft studiert. Im Sommer 1932 begann Dmitrij Tschizewskij in Halle als Lektor Slawistik zu vertreten, der die Anfangsjahre des Linguistik-Zirkels in Prag begleitet hatte und auch von Deutschland aus engen Kontakt mit der Prager Schule unterhielt. Bei ihm belegte Gerhardt nun auch Veranstaltungen der Slawistik und promovierte später bei ihm: Ich war also mit den Glanzleistungen der Sprachvergleichung akademisch groß geworden, und war daher umso mehr beeindruckt (um nicht zu sagen: bekümmert), als 1932 Tschizewskij in Halle begann und ich von der kopernikanischen Wende (so kam es mir vor) in der Sprachwissenschaft erfuhr, die sich in Prag vollzogen hatte.
Das unvermittelte Aufeinandertreffen der indogermanistischen Tradition und strukturaler Ansätze in seinem Studium beschreibt Gerhardt im Rückblick als eine Erziehung „zum binokularen Sehen": Auf der einen Seite habe die Beweiskraft der „durchaus .positivistischen' Methoden" beim Nachweis indoeuropäischer Sprachverwandtschaft gestanden, andererseits leuchtete der Gedanke des Systems und der ,Struktur' sofort ein, noch dazu, wenn er von so glänzenden Meinungsführern vorgebracht wurde wie Trubetzkoy oder Jakobson [...]. Das ,psychologistische' der Anfänge störte mich nicht, jeder kleine Aufsatz aus Prag schien mir mindestens so interessant, wie Brugmanns Grundriß.
Dabei war der Kontakt mit seinem Lehrer Tschizewskij für den Studenten der einzige Zugang zu den sprachwissenschaftlichen Neuerungen, „nur durch ihn habe ich von der Prager Linguistik erfahren". Tschizewskij habe zwar „nie eine eigene Veranstaltung zur Phonologie abgehalten", sondern neben den Sprachkursen „ausschließlich geisteswissenschaftliche Themen behandelt". Er habe ihn aber über „persönliche Gespräche" mit der Prager Schule bekannt gemacht, zum „Selbststudium" angeregt und ihm auch die entsprechende Literatur aus „den Beständen seiner berühmten Bibliothek" an die Hand gegeben, „so die TCLP [Travaux], die ich sukzessive durchstudierte". Selbst habe ich eigentlich sehr früh, schon während des Studiums, mit der praktischen Anwendung begonnen, da ich Mundarten in Thüringen aufnahm 43
Die Zitate in den folgenden Absätzen sind zwei mehrseitigen Briefen entnommen, die mir Prof. Gerhardt am 14.6.2001 und am 30.6.2001 schrieb. Ich danke ihm herzlich für seine wertvollen Informationen.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
und für Westermanns Lautarchiv deskriptiv zu beschreiben hatte, und gerade die geschilderte Möglichkeit, in Halle auch die herkömmliche Sprachwissenschaft auszuüben und mit den neuen Methoden zu vergleichen, überzeugte mich von den Vorteilen dieser Arbeitsweise.
Obwohl für ihn selbst die Phonologie gerade im Kontrast mit den überkommenen linguistischen Theorien und Methoden so große Überzeugungskraft entfaltete, schätzt Gerhardt ihre Wirkung unter den übrigen Hörern Tschizewskijs gering ein. An entsprechende Diskussionen innerhalb der Studentenschaft kann er sich nicht erinnern: Die wenigen Slavistik-Studenten [3-5] waren wohl nicht speziell phonologisch interessiert, und sie nahmen wohl die strukturalistische Grundlage des Unterrichts hin, ohne zu wissen, woher sie kam. Diskussionen über Methodenfragen gab es natürlich, aber nie mit besonderer Betonung auf der Prager Schule.
Von anderen Lehrenden der Universität Halle hat Gerhardt allenfalls negative Reaktionen auf die Arbeiten der Prager Schule in Erinnerung: Mein Lehrer Specht nannte den Indogermanenaufsatz von Trubetzkoy ,eine Unverschämtheit', und im übrigen hörte man nichts aus dem Kreise der Kollegen. In den übrigen Sprachfächern, besonders der Germanistik, wußte man nichts von ihr [der phonologischen Arbeitsweise] und wollte es wohl auch nicht wissen.
Die Beispiele von Hans Bauer und — für den Bereich außerhalb der „Sprachfächer" — von Ernst Benz und Adhemar Gelb zeigen, dass es auch in Halle Wissenschaftler gab, die die subjektiven Erfahrungen des damaligen Studenten relativieren (siehe die jeweiligen Abschnitte oben). Es ist dabei natürlich zu bedenken, dass zwischen der Rezeption aktueller wissenschaftlicher Tendenzen oder gar der aktiven Teilnahme an den Diskussionen der Fachvertreter und den Inhalten der universitären Lehre mitunter ein große Kluft liegen konnte. Festzuhalten bleibt aber Gerhardts aus eigener Erfahrung gewonnener Gesamteindruck über die Rezeption des Prager Strukturalismus während seines sprachwissenschaftlichen Studiums: Dabei hatte die Phonologie etwas Konspiratives und man befand sich ziemlich allein mit dieser Art Studien.
Wenige Jahre später hatte Gerhardt Gelegenheit, zumindest brieflich in direkten Kontakt auch mit anderen Vertretern der Prager Schule zu kommen. Schon seit seiner Jugendzeit in Breslau hatten zwischen der Familie Gerhardts und Eberhard Zwirner „lebhafte Beziehungen" bestanden, die auch in den Folgejahren nie ganz abrissen. Zwirner war also über den universitären Werdegang Dietrich Gerhardts recht gut unterrichtet und holte
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ihn 1940 44 „als Wissenschaftlichen Hilfsarbeiter, wie es damals hieß, an sein Staatliches Institut für Lautforschung (später Kaiser-Wilhelm-Institut für Phonometrie) in Braunschweig": Ich mußte dort als Factotum zwar sozusagen alles machen, da der Leiter selbst, kaum daß ich angetreten war, einberufen wurde und als Militärarzt bis Kriegsende draußen blieb, aber ich lernte durch die Arbeit am Archiv' [für die vergleichende Phonetik] und durch den später hinzugekommenen Isländer Svein Bergsveinsson viel über Zwirners Vorhaben, der sozusagen eine positivistische Phonologie betrieb, in der die Konzepte dieser Richtung meßbar gemacht werden sollten und durch eine subtile Sprachstatistik unterbaut wurden. Die drei im Prager Archiv der Akademie der Wissenschaften erhaltenen Briefe Gerhardts entstammen seiner Tätigkeit in der Schriftleitung des Archivs für vergleichende Phonetik. Schon diese Briefe zeigen, dass Gerhardt als ,Factotum' keineswegs nur mit den organisatorischen Abläufen in der Redaktion befasst war, sondern die hier geführte wissenschaftliche Diskussion engagiert verfolgte. Seit seiner Gründung hatte Zwirners Zeitschrift der Auseinandersetzung mit der Phonologie immer wieder Raum geboten (vgl. die Abschnitte zu Alfred Schmitt und Eberhard Zwirner), daran sollte sich auch nach dem Ausbruch des Krieges nichts ändern. So wandte sich Gerhardt Ende März 1941 an Bohumil Trnka mit der Bitte, einen geplanten Ubersichtsbericht über die phonologische Forschungsliteratur in westlichen Sprachen von Eli Fischer-Jörgensen „durch einen zweiten über die phonologischen Arbeiten in den slavischen Sprachen zu ergänzen" 45 . Seine Begründung, wieso man in der Redaktion des Archivs gerade Trnka als Autor gewinnen wollte, lässt erkennen, dass Gerhardt sich noch am Anfang der vierziger Jahre mit Tschizewskij gelegentlich auch über die Entwicklung der Phonologie austauschte: Bei meinem Lehrer D. I. Cyzevskyj in Halle habe ich nun kürzlich gesehen, daß Sie, Herr Professor, in Slovo a slovesnost bereits einen kürzeren Bericht über die allgemeine phonologische Literatur gegeben haben. Deshalb hat es Dr. Zwirner begrüßt, daß ich mich an Sie wenden wollte und unterstützt meine Bitte wärmstens.46 Aus einem wenige Tage später, am 3.4.1941, abgegangenen Brief Tschizewskijs an Bohuslav Havränek geht hervor, dass Gerhardt auch mit 44 45 46
Schröpfer (1971: 8) datiert die Anstellung in Braunschweig auf 1939, nach Simon (1992: 248) nahm das von Zwirner geleitete Institut erst am 1.4.1940 seine Arbeit in Braunschweig auf. Brief Gerhardts, Braunschweig 30.3.1941. Der Adressat Trnka wird nicht namentlich genannt, ist aber aus dem Kontext zu erschließen (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Brief Gerhardts, Braunschweig 30.3.1941, a.a.O. Bei dem erwähnten Forschungsbericht Trnkas dürfte es sich um Trnka (1940) gehandelt haben (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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diesem in Kontakt getreten war, und dass zwischenzeitlich offenbar auch Havränek als möglicher Autor des Berichts ins Auge gefasst wurde. Tschizewskij setzt sich bei Havränek außerdem dafür ein, dass Arbeiten seines Schülers in der Zeitschrift des Linguistik-Zirkels rezensiert würden: Ich habe gestern Herrn Gerhardt gesehen, der mir erzählte, dass Sie für ihn das [sie] phonologische Bericht schreiben und dass seine Arbeit vielleicht in Sflovo] a Sflovesnost] besprochen wird. In den nächsten Wochen erhalten Sie noch eine seiner Doktorarbeiten, die besonders das Thema der Uebersetzungstechnik betrifft; vielleicht wird sie auch Interesse finden.47 Es war dann aber doch Trnka, der den gewünschten Bericht in den darauf folgenden Monaten übernahm, und Gerhardt hat sein Manuskript ins Deutsche übersetzt. Mitte November legte er Trnka nicht nur die Übersetzung seines Beitrags vor, sondern schickte auch einen Korrekturabzug von Fischer-Jorgensens Artikel nach Prag, der mit kleineren Änderungen in Untertitel und Anmerkungen auf den Folgebericht Trnkas abgestimmt werden sollte (Fischer-Jorgensen 1941). Auch an Bohuslav Havränek sollten Fischer-Jorgensens Korrekturfahnen weitergeleitet werden, hier wurde der Prager Zirkel also recht weitgehend in die Redaktionsabläufe des Archivs eingebunden. In einem nicht erhaltenen Antwortbrief ging Trnka offensichtlich auf Einzelheiten von Gerhardts Übersetzung ein, und dieser nimmt wenig später seinerseits zur Diskussion einzelner eingedeutschter Termini kompetent Stellung. Er resümiert: Ich bin durch die Ubersetzung wenigstens gezwungen gewesen, den phonologischen Gedankengängen einmal genau nachzugehen, die man allzuleicht zur Kenntnis zu nehmen pflegt, und der ganze Bericht hat mich von der ersten bis zur letzten Zeile stets interessiert.48 Trnkas Bericht erschien dann gleich im ersten Heft des neuen Jahrgangs im Archiv (Trnka 1942a). Die Bruchstücke von Gerhardts Briefwechsel mit dem Prager Zirkel werfen aber auch ein zusätzliches Licht auf den Austausch von Publikationen mit der Redaktionsgruppe um Zwirner. Demnach ist das von ihm geleitete „Deutsche Spracharchiv" in Braunschweig nicht nur mit Sammelbänden und Monographien des Linguistik-Zirkels versorgt worden, sondern bezog aus Prag offensichtlich außerdem regelmäßig die „Zeitschrift des Prager Linguistik-Zirkels", Slovo a slovesnost. Einer der Briefe 47
48
Der Brief ist abgedruckt in Toman (Hrsg.) (1994): 214-215. Bei der erwähnten Arbeit dürfte es sich um Gerhardts Doktorarbeit über Gogol' und Dostoevski) gehandelt haben (Gerhardt 1941a). Gerhardt hatte zwei Jahre zuvor einen Artikel zur Ubersetzung veröffentlicht (Gerhardt 1939), der eventuell aus dem Umfeld der Doktorarbeit stammte, ob dieser oder etwa ein ungedruckter späterer Text gemeint ist, bleibt unklar. Zweiseitiger Brief Gerhardts, Braunschweig 20.11.1941, an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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Gerhardts verdeutlicht, welchen Wert man auch diesem tschechisch geschriebenen Publikationsorgan beimaß: Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit, aber ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit doch wohl gleich mitteilen, dass wir das neueste Heft von S1S1 [Slovo a slovesnost] noch nicht erhalten haben. Wenn Sie sich noch einmal in Ihrer freundlichen Weise für uns verwenden könnten, so wäre ich Ihnen auch dafür dankbar. 49
Der Prager Zirkel schickte aber auch mindestens eine Nummer des von Vilem Mathesius mit herausgegebenen Casopis pro moderni filologii nach Braunschweig, in der Trnka einige Arbeiten kritisch besprach, die Sveinn Bergsveinsson im Archiv für vergleichende Phonetik veröffentlicht hatte. Gerhardt fasst die Hauptargumente Trnkas für die eigene Zeitschrift zusammen und übersetzt Auszüge aus dessen Artikel ins Deutsche (Gerhardt 1941b). Als Slawist sorgte Gerhardt mit seinen Ubersetzungen also dafür, dass die Diskussion zwischen „Phonometrie und Phonologie" — so der Titel seines zuletzt genannten Referates — noch am Anfang der vierziger Jahre für einen deutschen Leserkreis nachvollziehbar waren. Auf Prager Seite handelte man durchaus im eigenen Interesse, wenn man dafür Sorge trug, dass dieser engagierte Vermitder auch privat über Publikationen des Linguistik-Zirkels verfügen konnte. Gerhardt seinerseits geht auf das entsprechende „freundliche Anerbieten" Trnkas gern ein: Und nun noch die Antwort auf Ihre verheißungsvolle Frage: Ich habe von den TCLP [Travaux] hier Band IV, V/2 und VI in Händen. Wenn Sie wirklich für mich noch weiteres erwirken könnten, so wäre mir das allerdings eine außerordentliche Freude. 50
Hermann GÜNTERT (1886 Worms — 1948 Heidelberg); Indogermanistik, chende Sprachwissenschaft; Heidelberg
verglei-
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 1., 3. und 4. Linguistenkongress 1928,1933 und 1936 Da Güntert drei der Internationalen Linguistenkongresse besucht hat, war geradezu unvermeidlich, dass er Vertretern der Prager Schule bei Vorträgen oder Diskussionen begegnet ist. Für einen weitergehenden direkten Kontakt spricht im erhaltenen Prager Archivmaterial allerdings lediglich der doppelte Hinweis, dass man Güntert den vierten Band der Travaux zukommen ließ (vgl. 3.2).
49 50
Schreiben Gerhardts, Braunschweig 13.11.1941, an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Zweiseitiges Schreiben Gerhardts, Braunschweig 20.11.1941, an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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In der ersten Auflage seiner auf ein breiteres Publikum zielenden Grundfragen der Sprachwissenschaft von 1925, die auf Arbeiten von Bally, Meillet, de Saussure und Vendryes verweist (Güntert 1925: 134-135), ist von der Phonologie naturgemäß noch nicht die Rede. Der Bearbeiter der posthumen zweiten Auflage, Anton Scherer, hält es 1956 für geboten, dass „ein kurzer Abschnitt über die Phoneme [...] hinzugefügt" (Güntert 1956: Vorwort zur Neubearbeitung) wird. Dieser wahrhaft „kurze Abschnitt" (ebd.: 21-22) bleibt in dem nach wie vor dominant kulturgeschichtlichen Buch Günterts ein Fremdkörper. Schon in früheren Texten des Heidelberger Indogermanisten war der durchaus positive Bezug auf die „soziologische Richtung" der Sprachwissenschaft im Gefolge de Saussures (Güntert 1929: 390) eingebettet in eine Zielsetzung der Sprachwissenschaft, die „letzten Endes die eigenartige Denkweise und Geistesart eines Volkes und einer Zeit zu erfassen" (ebd.: 393) suchte. Immerhin greift Güntert in seinem auf breite Leserkreise berechneten Buch über den Ursprung der Germanen 1934 in lautgeschichtlichen Erörterungen gern auf Termini wie „phonologisch", „Phonologie" und „Lautsystem" zurück (Güntert 1934: 81-97). Er konstatiert hier nicht nur die Aktualität der neuen Betrachtungsweise, sondern begrüßt sie ausdrücklich als fruchtbare Fragestellung: Mit Recht wendet man in letzter Zeit der Prüfung des ausgewählten Lautsystems einer Sprache, also der sog. .Phonologie', besondere Aufmerksamkeit zu. (ebd.: 81) Die phonologische Perspektive auf die Lautgeschichte wird dabei explizit gegen die „bloß phonetische" (ebd.: 84) abgehoben. Günterts Interesse an der Phonologie beschränkt sich aber deutlich auf die Tatsache, dass Sprachen sich im Inventar ihrer Phoneme unterscheiden, und anhand von Vergleichen des jeweiligen Phoneminventars etwa indogermanische von vor- bzw. außerindogermanischen Sprachen zu unterscheiden seien. Die Struktur der „Lautsysteme" spielt für die Argumentationen Günterts ebenso wenig eine Rolle wie die funktionale Orientierung der Phonologie. Entsprechend fällt auch seine Definition der Phonologie aus, die er im Glossar „einiger sprachwissenschaftlicher Fachausdrücke" im Anhang seines Buches gibt: Phonologie. Die Lehre von der Lautauswahl in einer Sprache und die Schilderung des Lautvorrats einer Sprache als geschlossenes Ganze, (ebd.: 185) Sein reduziertes Verständnis von Phonologie kommt auch dort zur Geltung, wo sich Güntert ausdrücklich gegen sprachimmanente Erklärungen der germanischen Lautverschiebungen durch Paul Kretschmer ausspricht (ebd.: 86, 91), die auf der Linie der Prager Konzeption des therapeutischen Wandels' liegen (vgl. Abschnitt 4.3). Für die Analyse des Lautwan-
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dels räumt Güntert der Phonologie letztlich nur Beschreibungs-, aber keine Erklärungskompetenz ein: Nur die geschlossene Durchführung der umwälzenden Lautrevolution kann die Phonologie feststellen und beschreiben, aber nicht deren Veranlassung und Grund! Wir brauchen den geschichtlichen Hintergrund, wenn wir die germanische Lautverschiebung wirklich verstehen wollen, (ebd.: 87-88) Güntert erklärt den Lautwandel allein im Rahmen einer Substrattheorie, für die er in seinem Buch kultur- bzw. sachgeschichtliche, aber auch rassische Argumente zusammenträgt. Die im Laufe der dreißiger Jahre zunehmende Hinwendung Günterts auf kultur- und religionsgeschichtlichen Studien, die dann auch politisch aktualisierbar waren, 51 dürfte seine begrenzte Aufgeschlossenheit für neuere strukturale Tendenzen mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt haben. Wilhelm HAVERS (1879 Aachen — 1961 Wien); allgemeine und Sprachwissenschaft; Wür^burg, Breslau (seit 1929), Wien (seit 1937)
vergleichende
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 3. Linguistenkongress 1933 Dass Havers in seinem Handbuch der erklärenden Syntax die Abhandlung von Trnka zur Syntax des englischen Verbs (Travaux III) noch nicht kennt, mag sich daraus erklären, dass er sein Manuskript schon „Ostern 1930 abgeschlossen" hatte (Havers 1931: VII). So werden in dem außerordentlich umfangreichen Anmerkungsapparat des Buches aus dem Zusammenhang der Prager Schule lediglich einige Texte von Friedrich Slotty genannt. Immerhin ist Havers über Slottys Arbeit zu „Wortart und Wortsinn" (Slotty 1929) zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem ersten Band der Travaux in Berührung gekommen (Havers 1931: 213). Im Text seines Handbuchs findet sich dann ein gänzlich vereinzelter Hinweis auf Trubetzkoy (ebd.: 142), während sich die Argumentation im Übrigen am theoretischen Horizont der Vossler-Schule und am Funktionalismus Wilhelm Horns orientiert. Gegenüber diesen Bezugspunkten spielt selbst die gelegentlich erwähnte Genfer Schule der Linguistik eine untergeordnete Rolle. Havers hat am Anfang der dreißiger Jahre den vierten Band der Travaux als Freiexemplar aus Prag bekommen (vgl. 3.2). Für weitergehende Kontakte zum Linguistik-Zirkel fehlen im Prager Fonds Belege. Als Nachfolger auf dem Lehrstuhl Paul Kretschmers dürfte Havers in Wien wahrscheinlich mit Trubetzkoy in näheren Kontakt getreten sein. Allerdings
51
Zur politisierten „Volksforschung u n c j Kulturgeschichte" in der Zeitschrift Wörter und Sachen, deren Redaktion Güntert ab 1938 übernahm, vgl. Hutton (1999: 38 ff.).
198
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finden sich in Trubetzkoys Briefen keine Bestätigungen für eine solche Bekanntschaft. Eduard HERMANN (1869 Coburg— 1950 Göttingen); allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft; Göttingen - zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux II, Travaux III, Anleitung - Mitglied der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft - Teilnahme am 2. und 4. Linguistenkongress 1931 und 1936 - Sonderdruck(e) Hermanns in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Seinem erhaltenen Dankesschreiben „für Ubersendung der Travaux 1" legt Eduard Hermann Anfang 1930 zwei eigene Abhandlungen bei.52 Dieser Band muss Hermann immerhin so beeindruckt haben, dass er seine Leseerfahrungen noch bei den Abschlusskorrekturen seines Buches über Lautgesetz und Analogie berücksichtigte. 53 Die nachträgliche Einbeziehung Prager Texte führt hier dazu, dass Hermann in seinem Buch lediglich „from time to time [...] with some anxiety" auf die Phonologie verweist, wie Leonard Bloomfield in seinem rüden Verriss der Arbeit bemerkt (Bloomfield 1932: 228). Seine Auseinandersetzung mit der Phonologie lässt Hermann aber auch in andere Publikationen des folgenden Jahres einfließen. Im Sommer 1931 kam es auf dem Genfer Linguistenkongress zu einer persönlichen Begegnung mit Trubetzkoy. Hermann hatte in Genf sein gerade erschienenes Buch vorgestellt und in seinem Vortrag dessen zentrale Argumentation gegen die Annahme ausnahmsloser Lautgesetze unterstrichen. Im Anschluss an den Vortrag mahnt Trubetzkoy in einem protokollierten Diskussionsbeitrag eine differenzierte Sicht der Problematik an, indem er „verschiedene^..] Arten der Lautveränderung unterscheidet" 54 . Für diejenigen „Lautveränderungen, die das ganze Lautsystem der Sprache berühren", sei das Konzept der Ausnahmslosigkeit weiterhin unabdingbar, weniger weit reichende Lautveränderungen „können Ausnahmen haben". Auf diese Weise könne „der Begriff des ,phonologischen Systems' [...] eine neue Basis für die Lautgeschichte bieten" (a.a.O.). Die Auseinandersetzung mit Trubetzkoy scheint Hermanns Interesse an der Arbeit des Prager Zirkels bestärkt zu haben, denn wenige Wochen nach dem Kongress ging eine weitere Bücherbestellung in Prag ein. Eine Protokollnotiz der entsprechenden Vorstandssitzung des Zirkels zeigt sehr
52 53 54
Schreiben Göttingen, 14.1.1930 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Vgl. Hermann (1931a) und den weiter unten zitierten Brief Trubetzkoys. Diskussion zu Hermann (1933), dort: 171-172.
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anschaulich, dass Hermann mit seinem Rezeptionsinteresse durchaus auf der Höhe der Zeit war: Prof. Hjelmslev a Brondal zädaji ο zasläni 3. sv. Trav., Ed. Hermann ο 2. a 3., doc. Pelikan ο 4. sv. Prof. Hjelmslev und Brondal bitten um die Ubersendving des 3. Bds. der Travaux, Ed. Hermann um den 2. und 3. Bd., Doz. Pelikan um den 4. Bd.55 Zugleich vollzieht sich in der Wahrnehmung der Phonologie bei Hermann ein merklicher Wandel. 1931 hatte er die Fruchtbarkeit des Prager Ansatzes für eine neue Theorie des Sprachwandels noch skeptisch beurteilt: [...] die Bestrebungen des Fürsten Trubetzkoy und seiner Freunde, die Laute der Sprachen in ein phonetisches [sie!] System zu bringen (s. jetzt Travaux du cercle linguistique de Prague I, 1929) und ähnliche Bemühungen (Sapir Language I 1925, 37f.) werden nicht imstande sein, die Laudehre zu frischem, fröhlichem Leben zu erwecken, solange immer noch über ihr das Gespenst der ausnahmslosen Lautgesetze schwebt. (Hermann 1931b: 150) Ein Jahr später bereits kritisiert er in der Rezension einer Arbeit zur germanischen Lautverschiebung, „daß die Bestrebungen der Phonologie noch nicht berücksichtigt sind", entschuldigt dieses Versäumnis aber mit „der Jugend dieser Betrachtungsweise" (Hermann 1932: 132). Er selbst hat sich unterdessen offensichtlich auf die Position Trubetzkoys zubewegt und merkt an: Es muß aber hervorgehoben werden, daß gerade von der Phonologie aus auch auf die germanische Lautverschiebung Licht fallen kann, (ebd.) Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen entspann sich im Jahr 1932 eine zeitweise äußerst intensive Korrespondenz zwischen Hermann und Mitgliedern des Linguistik-Zirkels, die von diesen allerdings zunehmend als unergiebig empfunden wurde. Im Februar erkundigt sich Trubetzkoy bei Jakobson: N P H C A A A AH BaM Hermann CBOJO KIIHTT 'Lautgesetz und Analogie? BooßmeM, K H H r a rAynaa. HHOAHS npo6,\eMa AO KOHiia He npOAyMaHa. 3naKOMCTBO C φ θ Η Ο Λ Ο Π - I C M BO B p e M H K O p p e K T y p h I C K O p e e n O B p e A H A O
KHHre,
H6O noAyqHAocb HH TO, HH ce. (Trubetzkoy 1975: 239) Hat Ihnen Hermann sein Buch 'Lautgesetz und Analogie' geschickt? Im Ganzen ein dummes Buch. Kein einziges Problem ist bis zu Ende durchdacht. Die Bekanntschaft mit der Phonologie während der Korrektur hat dem Buch eher geschadet, denn es ist nichts Halbes und nichts Ganzes dabei herausgekommen. Im Herbst desselben Jahres vermeldet Trubetzkoy, Hermann habe ihm seinen Artikel „Phonologische Mehrdeutigkeit eines Lautes" geschickt. Trubetzkoys Urteil über diese Arbeit fällt wiederum recht negativ aus. Er
55
Protokoll der Sitzung vom 13.10.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
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hält Hermann aber immerhin zugute, „dass der Mensch ernsthaft und angestrengt über diese Themen nachdenkt" (Trubetzkoy 1975: 260). Trubetzkoy berichtet, er habe in einem Brief versucht, die Missverständnisse auszuräumen, woraufhin Hermann ihm seinerseits „mit zwei Briefen innerhalb von drei Tagen" (ebd.) geantwortet habe. Da Hermann offensichtlich auf seinem Standpunkt beharrt, erscheint Trubetzkoy eine weitere Diskussion sinnlos: O T B e r n T b e M y β mätkoh opMC, hto A e noAyMaÖTe xoponieHKO, μολοαοη hcaobck, — η nepeBecm pa3roBop. (ebd.)
AyMaio
Ich denke, ich werde ihm in behutsamer Form antworten: denken Sie nochmal hübsch darüber nach, junger Mann - und das Gesprächsthema wechseln.
Bei aller Uberhebung (Hermann ist 21 Jahre älter als er selbst!) will Trubetzkoy also keineswegs einen Abbruch der Verbindung riskieren, denn er möchte sich Hermann als wertvollen Informanten zum Beispiel über die Lautgeschichte des Neugriechischen erhalten (ebd.). Hermann hat 1932 aber offenbar nicht nur mit Trubetzkoy eine fachliche Auseinandersetzung gesucht. Gegenüber Trubetzkoy beschwert er sich: Herr R. Jakobson hat auf mehrere Sendungen noch nicht reagiert. Vielleicht hat er sie nicht erhalten, weil ich seine Adresse nicht richtig kenne. Darf ich bitten, ihm meinen beifolgenden Aufsatz zu übersenden und mir bei Gelegenheit seine richtige Adresse zu verraten, (zitiert bei Trubetzkoy 1975: 262)
Diese Beschwerde veranlasste Trubetzky wiederum zu einem spöttischen Kommentar gegenüber Jakobson. Er empfahl diesem aber, Hermann seinerseits Sonderdrucke zu schicken und im Übrigen im Umgang mit ihm eine Strategie zu verfolgen, wie er sie selbst eingeschlagen hatte: also die Kontaktaufnahme zu erwidern, eine tiefergehende Auseinandersetzung über phonologische Detailfragen aber zu vermeiden: n O A e M H 3 H p O B a T b Β I I H C b M C H e C T O ITT, n O T O M y H T O O H y n p f l M O T B e p A H T
CBOe
- a yace r r p o ö o B a A - , ho moäho B K p a i n e y n o M i m y r b hto A e 'trotzdem ich mit Ihren Ansichten über die phonologische Mehrgültigkeit der Laute nicht einverstanden bin' h.t.a. (Trubetzkoy 1975: 262-263) Es lohnt sich nicht, im Brief zu polemisieren, denn er besteht hartnäckig auf seiner Position — ich habe es schon versucht — man kann aber kurz daran erinnern, dass 'trotzdem ich mit Ihren Ansichten über die phonologische Mehrgültigkeit der Laute nicht einverstanden bin' usw.
Auch wenn Hermann Mitglied der phonologischen Arbeitsgemeinschaft wurde und zumindest durch sie über internationale Entwicklungen der Phonologie auf dem Laufenden war, scheint sein eigenes Forschungsinteresse sich von lautgeschichtlichen Fragestellungen bald auf andere Bereiche verlagert zu haben. Sein Vortrag auf dem Kopenhagener
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
201
Linguistenkongress zeigt, dass das Theorieumfeld der Prager Schule für Hermann dabei ein wichtiger Orientierungsrahmen blieb. In seinen nur lose zusammenhängenden Bemerkungen über die „Sprache als Sinngebilde" (Hermann 1938), die auch Raum für einen rassistischen Exkurs bieten, versucht er, seine universale Konzeption der Frage im Organonmodell Bühlers zu verorten. Dass Hermann noch am Ende der dreißiger Jahre Neuerscheinungen aus der Phonologie wohlwollend bespricht, wird in der Zeitschrift des Prager Zirkels Slovo a slovesnost wiederum dankbar vermerkt (Lyer 1941). Tatsächlich bleibt für Herman die Frage, ob und wie die phonologische Forschung berücksichtigt ist, noch jetzt ein wichtiges Beurteilungskriterium auch für deutsche Veröffentlichungen aus der Sprachwissenschaft. So rät er Walther von Wartburg für eine spätere Neuauflage von dessen 1943 erschienener Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft. Ich möchte empfehlen, die Strukturanalyse ausführlicher zu behandeln, genauer auf die Phonologie einzugehen, die nicht mit einem Hinweis auf Grammonts äußerst wichtiges Werk: Traite de Phonetique abgetan werden kann, noch dazu wo ein deutscher Student kaum in der Lage sein wird, sich dieses zu kaufen, sowie auf die Strukturanalyse des Satzes. (Hermann 1949: 213) 56
Während Jakobson noch Jahrzehnte später davon überzeugt ist, dass Hermann „proved to be unable to catch the rudiments of the new standpoint" (Jakobson 1975: VI), werten andere Autoren Hermanns Verhältnis zur Prager Schule keineswegs nur als grobes Selbstmissverständnis. Für Stempel bewegt sich Hermann 1932 außergewöhnlich weit „im Rahmen der Prager Konzeption" (Stempel 1978: 38, Anm. 173). Und nach Maas kommt Hermann über seine Ablehnung der Junggrammatik „zu einer durchaus produktiven Auseinandersetzung mit der Prager Phonologie (er stellt Überlegungen zur Neutralisierung, zur Junktur und dergleichen an)" (Maas 1988: 269). An Eduard Hermann ließe sich exemplarisch studieren, welche Rolle Anleihen bei internationalen Entwicklungen des Strukturalismus für die seinerzeit sehr aktuelle Auseinandersetzung um die Lautgesetze in Deutschland spielten. Ferdinand HESTERMANN (1878 Wesel Sprachwissenschaft; Münster, Westf.
—
1959
Jena); allgemeine und vergleichende
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 1. und 4. Linguistenkongress 1928 und 1936
56
Wartburg hat diese Kritik später tatsächlich beherzigt, vgl. den Abschnitt zu v. Wartburg unten.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Auf dem Ersten Internationalen Linguistenkongress in Den Haag war Hestermann mit einer Vielzahl thematisch breit gefächerter „Propositions" zu den Fragen der Kongressleitung hervorgetreten. Die Vertreter des Prager Zirkels könnten hier auf den seinerzeit noch nicht habilitierten Spezialisten für außereuropäische Sprachen aufmerksam geworden sein. Außer dem Beleg fur den erhaltenen Travaux-Band deutet in den Prager Archivalien aber nichts auf einen engeren Kontakt zu Hestermann. Fran% HIRSCHBERG
- zugesandte Publikation: Anleitung Die beiden Briefkarten von Franz Hirschberg, der nach eigenen Aussagen „weder phonetisch noch phonologisch noch auch nur linguistisch geschult" 57 war, belegen, dass die Arbeiten des Prager Zirkels gelegentlich auch deutsche Leser außerhalb des Umkreises der professionellen Philologen erreichen konnten. Innerhalb der überlieferten Korrespondenz des Prager Zirkels werfen diese Briefe zugleich ein scharfes Schlaglicht auf den allgemeinen politischen Hintergrund, vor dem sich der intellektuelle Austausch in den dreißiger Jahren abspielte: Mit sprachphilosophischen und linguistischen Privatstudien beschäftigt, hatte ich mich an Herrn Professor Mathesius in Prag wegen eines phonologischen Aufsatzes von ihm gewandt. Herr Professor Mathesius hat meiner Bitte in liebenswürdigster Weise entsprochen und mich dabei auf die Broschüre von Prof. Trubetzkoy hingewiesen: Anleitung zu phonologischen Beschreibungen — 1935'; Sie würden gegebenenfalls auf meine Bitte mir ein freies Exemplar zukommen lassen können. Darf ich diese Bitte hiermit aussprechen? Ich würde die Bitte um Kostenfreiheit nicht aussprechen, wenn ich nicht als deutsch-jüdischer Flüchtling und früherer Rechtsanwalt aufs schwerste um meinen Lebensunterhalt zu kämpfen hätte. 58
Die erbetene Broschüre ist wenig später aus Prag abgeschickt worden, und Hirschberg muss sie in seinem französischen Exil unverzüglich gelesen haben. In seinem Dankesschreiben vom 23.7.1938 bekundet er, er habe in Trubetzkoys Text „mich sehr interessierende Stellen gefunden" 59 . Rudolf HlTTMAIR (1889 Wien - 1940 Innsbruck); Anglistik; Dresden, Tübingen (ab 1932), Wien (ab 1936), 1938 in Ruhestand versetzt, Innsbruck - zugesandte Publikation: Travaux III - Teilnahme am 3. Linguistenkongress 1933
57 58 59
Briefkarte St. Maur des Fosses (Seine) 23.7.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Briefkarte St. Maur des Fosses (Seine) 5.7.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Vgl. Briefkarte vom 23.7.1938, a.a.O.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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Von dem in Innsbruck habilitierten Anglisten ist folgender Brief aus dem Jahr 1931 im Prager Archivbestand des Linguistik-Zirkels erhalten: Dear Professor Mathesius May I ask a question. I am very interested in syntax, esp. in historical syntactical problems. Just now I came to know that your pupil, Mr. Dr. Trnka whom I met at Göttingen in 1927 published a very good investigation ,On the syntax of the English verb from Caxton to Dryden' Cercle linguistique de Prague No. 3. But that is all - I could not make out the publisher etc. As I am just working about Caxton (you remember perhaps my remarks at Salzburg) could you kindly inform me where I may get this book for the Seminar Bibl. & for me personally? I do not know the address of Mr. Trnka. So I had to apply to you. Excuse my bothering you.60 Dieser Anfrage sind also mindestens zwei frühere persönliche Begegnungen mit Vertretern der Prager Schule vorausgegangen. Das erwähnte Treffen mit Mathesius in Salzburg könnte auf der 57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner im September 1929 stattgefunden haben, auf dem Mathesius einen Vortrag über die Ziele und Aufgaben der vergleichenden Phonologie gehalten [hat], worin er deutschen Anglisten linguistische Methoden vorführte, die [...] jetzt besonders von dem Prazsky linguisticky krouzek [...] weiterentwickelt werden.61 Hittmair scheint auch der Frau von Mathesius bekannt gewesen zu sein, die er am Ende seines Briefes grüßen lässt. Wenige Tage später erhält Hittmair aus Prag Antwort und ein Exemplar des gewünschten Buches. 62 Aus einer Mitteilung des Innsbrucker Anglisten Anton Pirkhofer (s.u.) geht hervor, dass Hittmair 1932 auch im Besitz verschiedener Sonderdrucke von Trnka und Mathesius war und diese an seinen Schüler (?) in Innsbruck weitergab. 63 Hittmair hat Pirkhofer 1933 in einer „Besprechung" 6 4 zu dessen geplanter Arbeit über die Phonologie beraten.
60 61 62 63 64
Schreiben, Innsbruck, 25.4.1931 auf einem Briefpapier mit dem Kopf „Wagner'sche Universitätsbuchhandlung Innsbruck" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Anonyme Notiz in Slavische Rundschau 1 (1929): 804. So die tschechische Notiz auf der zweiten Seite von Hittmairs zitiertem Brief, a.a.O. Englisch geschriebene Postkarte, Innsbruck, 19.11.1932 an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Postkarte Innsbruck 6.3.1933, Pirkhofer an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart 2/ i.e. 18).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Wilhelm HORN (1876 Rehbach, Odenwald - 1952 Berlin); Anglistik; Berlin (ab 1933)
Breslau,
- zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux IV, Travaux V2 - Teilnahme am 2. Phonetikkongress 1935 Horns These von der Funktionsbedingtheit des Sprachwandels hatte auf Seiten der Prager Schule schon früh Interesse gefunden. Schon vor der Gründung des Linguistik-Zirkels sieht Mathesius in Horn den „pioneer" einer Theorie des Lautwandels, die gegen frühere mechanistische Ansätze herausstreicht, „that phonetic qualities of speech have communicative and expressive values" (Mathesius 1926: 194) und dass eben diese Werte den historischen Prozess bestimmen. Auch Jakobson machte seinen ehemaligen Lehrer und Freund Nikolaj Dum ovo bereits 1927 auf Horn aufmerksam.65 Ein erhaltener Brief Horns an den Prager Zirkel belegt, dass dieses Interesse durchaus wechselseitig war. Horn regte 1931 einen Publikationstausch an: Sehr geehrte Herren, Sie haben die Freundlichkeit gehabt mir den ersten Band Ihrer Veröffentlichungen zuzusenden. Dieser Band bietet eine Fülle von wertvoller Förderung und Anregung auf dem Gebiet der slavischen und, was mich besonders interessiert, der allgemeinen Sprachwissenschaft. Ich spreche Ihnen meinen verbindlichen Dank für die freundliche Gabe aus. Ich wäre sehr dankbar für die weitere Zusendung Ihrer Veröffentlichungen und werde Ihnen gerne eigene Arbeiten und Arbeiten meiner Schüler zusenden. Den Anfang werde ich machen mit der Zusendung des letzten Heftes der von mir herausgegebenen ,(Giessener) Beiträge'.66 Bei der zum Tausch angebotenen Zeitschrift handelt es sich um die Gießener Beiträge %ur Erforschung der Sprache und Kultur Englands und Nordamerikas, die am Englischen Seminar der Universität Gießen herausgegeben wurden, wo Horn zwischen 1908 und 1926 als Ordinarius wirkte. Ob es zu einem regelrechten Buchtausch zwischen beiden Seiten gekommen ist, lässt sich anhand der Prager Archivalien nicht belegen. Ein Freiexemplar von Trnkas Studie über die englische Syntax (Travaux III) ist jedenfalls an die Gießener Beiträge geschickt worden (vgl. 3.2). Horn selbst hat nachweislich bis mindestens 1934 Veröffentlichungen vom Sekretariat des Prager Zirkels zugeschickt bekommen. In seinem Rückblick auf die Entwicklung der englischen Sprachforschung der vorausgehenden zehn Jahre gibt Horn in der BehaghelFestschrift von 1934 unter anderem ein kurzes Referat über die Phonolo65 66
Brief Jakobsons an Durnovo vom 4.2.1927 abgedruckt und kommentiert in Toman (Hrsg. 1994: 105-108, vgl. auch 78). Zweiseitiges Schreiben, Breslau 23.5.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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gie. Hier erweist er sich als Kenner auch entlegenerer Publikationen der Prager Schule, der also nicht nur aus den Travaux schöpfte. Horn bringt hier darüber hinaus die eigene funktionale Theorie des Sprachwandels, die er in Sprachkörper und Sprachfunktion (Horn 1923) vorgestellt hatte, ausdrücklich in die Nähe der diachronischen Phonologie: Mit der Anschauung von dem Zusammenhang zwischen Sprachkörper und Sprachfunktion berührt sich die neuerdings geübte phonologische Methode. Mit dem Namen Phonologie bezeichnet sich die ,funktionelle Lautwissenschaft' [folgt eine knappe Darstellung der wesentlichen Grundsätze der Phonologie und Hinweise auf phonologische Literatur zum Englischen]. Daß in der Entwicklungsgeschichte einer Sprache sich nicht einzelne Laute ohne Zusammenhang mit anderen verändern, daß vielmehr die Lautwandlungen miteinander in Verbindung stehen, das hat schon die seitherige Sprachforschung erkannt. Besonders Luick hat das wiederholt hervorgehoben. (Horn 1934: 277-278) Die Begegnungen Horns mit Repräsentanten des Linguistik-Zirkels auf dem Londoner Phonetik-Kongress von 1935 standen offenbar unter dem Zeichen einer merklichen Distanzierung. Trubetzkoy bewertet Horns Londoner Vortrag in einem Brief als „ziemlich fade" (Trubetzkoy 1975: 341). Horn hatte hier zwar wiederum unterstrichen, „die durch die Tonbewegung bedingte Wandlung der Vokale" habe im Neuenglischen „nicht einzelne Laute ergriffen, sondern das gan^e Vokalsystem" (Horn 1936: 18). Dieser experimentell gewonnene Befund wird dann aber nicht im Sinne der historischen Phonologie ausgewertet, sondern rein phonetisch beschrieben. Noch aus einem weiteren Grund musste der Vortrag auf die anwesenden Vertreter der Prager Schule wohl „ziemlich fade" wirken. Für Horn drückt sich in der Intonation ganz „das Gefühlsmäßige, das Seelische in der Sprache aus": Der Vokalwandel ist also nicht mechanisch, sondern seelisch bedingt, (ebd.) Gegen diese Verengung der sprachlichen Ausdrucksfunktion auf die individual-psychologische Ebene hat sich in der Diskussion nach Horns Vortrag dann gleichsam stellvertretend für den Prager Zirkel Jan Mukarovsky ausgesprochen: V debate, kterä se na konci dopoledniho zasedäni ν pondeli pojila k jeho prednäsce, zdüraznil prof. Mukarovsky, ze intonace nemusi byti podminena psychologicky, nybrz müze byti i väzäna na urcite sociälni prostfedi. (Trnka 1935b: 7) In der Debatte, die sich am Ende der Vormittagssitzung am Montag an seinen Vortrag anschloss, hob Prof. Mukarovsky hervor, dass die Intonation nicht nur psychologisch bedingt sein müsse, sondern auch an bestimmte soziale Milieus gebunden sein kann.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Horn seinerseits trug auf dem Abschiedsbankett des Kongresses mittelenglisch geschriebene Spottverse auf die Phonologie vor, die mit den Worten endeten wat is phonemes, wat is sunds?
twelf men haf twelf difinitiuns. (Trubetzkoy 1975: 344)67 Auch wenn diese Verse im Zusammenhang mit anderen humorvollen Unterhaltungseinlagen dargeboten wurden, drückt sich in ihnen doch eine deutliche Skepsis gegenüber der ,definitionssüchtigen' Phonologie aus, die übrigens damals auch von vielen anderen deutschen Sprachwissenschaftlern geteilt wurde. Trubetzkoy, der diesen Auftritt in einem Brief an Jakobson schildert, hat den „stürmischen Applaus" (ebd.), den Horn für seine eingängigen Verse erntete, mit spürbarer Bitterkeit registriert. Für ihn bestätigt der Lacherfolg des Auftritts ernste Befürchtungen über die ungünstige Selbstdarstellung der Phonologie auf dem Londoner Kongress. Die Nähe des Linguistik-Zirkels zu zeitgenössischen „proto-fünctionalist discussions" (Toman Hrsg. 1994: 78), die in der deutschen Anglistik vor allem durch Wilhelm Horn (und z.T. von Karl Luick) geführt wurden, lohnte eine genaue historiographische Untersuchung. Edmund HUSSERL (1859 Prostejov/~Proßnit% Mähren - 1938 Freiburg); Philosophie; Freiburg Neben Karl Bühler ist es unter den zeitgenössischen deutschen Wissenschafdern vor allem Edmund Husserl, dessen Rezeptionsbeziehung zum Prager Strukturalismus von der Forschung eingehender thematisiert worden ist. Insbesondere ist die große Bedeutung Husserls für die russische Theoriegeschichte und damit auch für die nach Prag emigrierten russischen Mitglieder des Prager Zirkels hervorgehoben worden. 68 Ich möchte an dieser Stelle nur zusammentragen, was sich zum Kontakt zwischen Husserl und dem Linguistik-Zirkel aus den Prager Archivalien ermitteln lässt. Husserls Vortrag im Prager Zirkel im Jahre 1935 ist Gegenstand einer mehrteiligen erhaltenen Korrespondenz zwischen Kurt Grube, dem Sek67
68
Hausmann (2003: 172) bringt das hier beschriebene Abrücken Horns von der Phonologie in Verbindung mit Horns frühen, zum Teil opportunistischen Sympathien für den Nationalsozialismus. Ohne nähere Ausführung kann diese Erklärung nicht recht überzeugen, denn es hatte sich im Laufe meiner Arbeit immer wieder gezeigt, wie wenig die Phonologie-Rezeption von politischen Vorgaben beeinflusst war. Zur Husserl-Rezeption in der Sprachtheorie des Prager Linguistik-Zirkels sei hier nur auf die monographische Darstellung bei Holenstein (1975) oder Dennes (1997) verwiesen, die neuere Literatur verarbeitet. Münch (2003) hebt demgegenüber die besondere Bedeutung der Brentano-Schule innerhalb der Phänomenologierezeption der Prager Schule hervor.
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retär des Cercle philosophique de Prague69, und Vilem Mathesius. Schon im Frühjahr war verabredet worden, den Vortrag Husserls in Kooperation mit dem philosophischen Zirkel zu organisieren. 70 Grube teilte Mathesius mit, dass Husserl vom 11. November an im Hotel Zlatä husa am Wenzelsplatz wohnen werde und bereit sei, am 18. November im LingustikZirkel zu sprechen. 71 Mathesius wandte sich daraufhin brieflich an Husserl an dessen Prager Hoteladresse, um diesen Termin zu bestätigen: Es tut mir sehr leid, dass mein Gesundheitszustand [Mathesius war fast vollständig erblindet] mir nicht erlaubt Ihnen einen Besuch abzustatten und Ihnen persönlich für Ihre Bereitwilligkeit zu danken. Wir schätzen es sehr hoch, dass ein glücklicher Zufall uns ermöglicht Sie in unserer Mitte zu begrüssen. 72
Einen zweiten Brief schickt Mathesius an Grube, um organisatorische Einzelheiten zu klären: Der Diskussionsabend soll an dem erwähnten Tag um halb acht /in den Einladungen werden wir 'Λ acht schreiben/ in dem Hörsaal des Englischen Seminars im 1. Stock des Hauptgebäudes unserer Fakultät stattfinden. Die Wahl des Themas ist Herrn Professor ganz frei gelassen. Man erwartet nur, dass sich das Thema auf das Verhältnis seiner Philosophie zur Sprachwissenschaft beziehen wird. Die nötigen Details wird unser Geschäftsführer Prof. B. Trnka verabreden. 73
Demnach hat der philosophische Zirkel eine Adressenliste zusammengestellt, an die der Linguistik-Zirkel zusätzliche Einladungen zu der Veranstaltung verschickte. Bei dem Vortrag waren „14 Mitglieder" und „31 Gäste" 74 anwesend. Als Titel gibt die nachträgliche Veranstaltungsübersicht Trnkas „Phänomenologie und Sprachwissenschaft" 75 an. Einem Bericht in der Prager Presse zufolge ging Husserl in seinem Vortrag anders als erwartet nicht auf die Logischen Untersuchungen ein, sondern griff „in fesselnder Weise auf die Geschichte seines Gedankenaustausches mit Dilthey zurück[...]" und skizzierte „von dort her den Einbau der Linguistik in eine allgemeine Geisteswissenschaft" (Prager Presse 22.11.3576). Vor Husserls Rede hatte Jakobson in einem Einleitungsreferat „den engen Zusammen69 70 71 72 73 74 75 76
Zu Grube und dem philosophischen Zirkel vergleiche Abschnitt 5.4. Protokoll der Sitzung des Ausschusses vom 9.4.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Brief Grabes, Prag, 10.11.1935 an Mathesius (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Brief von Mathesius an Husserl, 11.11.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Brief von Mathesius an Grube, 11.11.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Vgl. die Notiz im Verzeichnis der Veranstaltungen unter dem Datum 18.11.1936. Leider wurde zu dieser Sitzung, wie ebd. ausdrücklich vermerkt, eine separate Anwesenheitsliste ausgegeben, die offenbar verloren ist. Casopispro moderntfilologii22 (1936): 300. Bei Vachek (1999): 105 wird abweichend als Titel „Phänomenologie der Sprache" verzeichnet. Der knappe Bericht mit dem Titel „Linguistik und Phänomenologie" ist mit dem Kürzel „L.S." unterzeichnet und könnte mithin von Leopold Silberstein verfasst worden sein. Zu Silberstein vgl. 5.4.
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hang der modernen Linguistik" in Russland und der Tschechoslowakei mit der Husserlschen Phänomenologie hervorgehoben: Die jungen Moskauer Linguisten hätten während des Krieges nicht Mittel noch Umwege gescheut, sich Husserls Werk ,in fast kontrabandistischer Weise' zu beschaffen, (ebd.)
Husserl scheint über seine Rezeption in der russischen und tschechischen Sprachwissenschaft zu diesem Zeitpunkt nicht voll im Bild gewesen zu sein, er zeigte sich nach Jakobsons Ausführungen „von diesen weitreichenden Auswirkungen ehrlich überrascht: zumal der Weiterbau seiner rein philosophischen Lehre ihm die Verfolgung dieser Ausstrahlungen unmöglich gemacht hat" (ebd.). Diese Bemerkung deutet daraufhin, dass Husserl auch über die Entwicklung der Prager Schule bis zu diesem Zeitpunkt wenig oder gar nicht informiert gewesen ist. An der Verbindung war ihm in der Folgezeit aber so sehr gelegen, dass er dem Prager Zirkel 1936 zum zehnjährigen Bestehen gratulierte. 77 Gunther IPSEN (1899 Innsbruck — 1984 Oberursel, Taunus); Philosophie, gie; Leipzig, Königsberg (ab 1933), Wien (ab 1939)
Soziolo-
- zugesandte Publikation: Travaux IV Der einzige Hinweis auf einen direkten Kontakt zum Linguistik-Zirkel in den Prager Archivalien ist ein Vermerk, dass Ipsen den vierten Band der Travaux aus Prag erhalten hat. Ipsen hatte aber schon früher Veröffentlichungen des Prager Zirkels rezipiert und versucht, sie in seine eigenen, vorwiegend sprachphilosophischen Überlegungen einzubeziehen. Bereits in seinem kurzen Uberblick über die Sprachphilosophie der Gegenwart von 1930 verweist er auf die Phonologie, die im Gefolge Saussures und Husserls an einer konsequenten „Erneuerung der Lautlehre" (Ipsen 1930: 1617) arbeite. Er überträgt hier ganz im Sinne der Prager Schule die Saussuresche Wertetheorie auf die Lautebene. Allerdings parallelisiert er Trubetzkoys Ansätze der Phonologie 78 mit der Schallanalyse der SieversSchule, der er selbst nahe stand. Wenig später wird bei Ipsen aus dieser vermeintlichen Parallelität ein deutliches Überbietungsverhältnis. Die Phonologie bleibe bei ihrer grundsätzlich richtigen Analyse der Lautform der Sprache letztlich bei „den Einzellauten wenigstens im Sinne konkreter Stellen im Lautsystem" (Ipsen 1932: 9-10) stehen. Erst die Schallanalyse betrachte die „konkrete Ganzheit der Lautung" (ebd.: 10), wobei unter der
77 78
Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935-1941" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Husserl bekam am 22.12.36 ein Dankesschreiben für die Gratulation. Der unmittelbare Bezug ist hier Trubetzkoy (1929), er führt später aber auch Slotty (1929) an, der ebenfalls im ersten Band der Travaux abgedruckt ist.
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Lautung ein „physiognomischer Ausdruck des sprechenden Menschen" (ebd.: 11-12) verstanden wird: Die Analyse der Lautung führt vom Ganzen zum Teil. Auch sie findet ein letztes Element als das kleinste konkrete rhythmische Glied des Ausspruchs. Aber dies Element der Lautung ist nicht der Laut, sondern die Silbe·, sie ist das Glied, das als letzte unitas multiplex alle wesentlichen Dimensionen der Lautung in sich enthält. Hier bleibt eine Aufgabe, die noch ungelöst ist: das Verhältnis der Silbe zu den unterscheidenden Bestimmungen zu klären, die durch die Laute angedeutet werden. Als Aufgabe hat sie schon Humboldt klar gesehen, sein Begriff der Artikulation führt an die Lösung heran. Gelungen ist sie noch nicht. Erst damit wäre auch der Anschluß an die Phonologie gewonnen und das Problem der Sprachform der Einsicht nahe gebracht, (ebd.:
10)
Die aus heutiger Sicht etwas abwegig anmutende Annäherung der Phonologie und der ausdrucksphysiognomischen Schallanalyse ist übrigens durchaus nicht nur von Ipsen und nicht einmal nur von deutscher Seite versucht worden. In Abschnitt 5.5 berichte ich u.a. über die epische bzw. rhythmisch-phonologische Arbeitsgemeinschaft im Umfeld der Prager deutschen Slawistik, in der sich um 1930 Vertreter der Schallanalyse (Franz Saran, Gustav Becking) und der Prager Schule (Roman Jakobson, Gojko Ruzicic) zusammenfanden, um die Vortragstechnik südslawischer Volksepik anhand von Tonaufzeichnungen zu untersuchen. Die zumindest zeitweilige Berührung von Schallanalyse und Phonologie ist meines Wissens historiographisch noch überhaupt nicht untersucht. Ipsen selbst scheint am Ende der dreißiger Jahre von seinen früheren Ausführungen weit abgerückt zu sein. Mit ausdrücklicher Abgrenzung gegen „die ganze Sprachlehre de Saussures mit ihrem Grundbegriff systeme" (Ipsen 1938: 305, Anm. 2) zieht er aus der Uneinheitlichkeit sprachhistorischer Entwicklungen den denkbar phonologiefernen Schluss „die Sprache ist wesentlich unsystematisch" (ebd.: 305). Karl JABERG (1877 Langenthal, Schweif— 1958 Bern); Romanistik; Bern - zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux II, Travaux III, Travaux IV, Travaux V2, Travaux VI, Travaux VII - Teilnahme am 1., 2. und 4. Linguistenkongress 1928, 1931 und 1936 Den Kontakt mit der Prager Schule der Linguistik zählt Jaberg nach dem Zweiten Weltkrieg rückblickend zu den wichtigsten „Begegnungen" 79 seines eigenen wissenschaftlichen Werdegangs. Er verlegt die erste Begeg79
Jaberg (1965). Dem Vorwort des Herausgebers zufolge handelt es sich bei diesem autobiographischen Fragment um einen Vortrag, „mit dem Jaberg im Herbst 1945 eine von der Universität Bern veranstaltete Vorlesungsreihe über die Sprache eröffnete" (ebd.: 8).
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nung mit Vertretern der Prager Schule, die bleibenden Eindruck bei ihm hinterließ, auf den Genfer Linguistenkongress im Jahr 1931: 80 Die Bekanntschaft mit der Doktrin der letzteren [Prager Linguisten] und die Begegnung mit ihrem bedeutendsten Vertreter, dem Fürsten Trubetzkoy, war mein letztes sprachwissenschaftliches Erlebnis. Trubetzkoy hielt im Jahre 1931 am Linguistenkongreß in Genf einen kurzen, prägnanten, scharf pointierten Vortrag über die neue Disziplin, deren Begründer er war, die Phonologie. Groß, schmal, vornehm stand er auf der Estrade. Er sprach kurz, bestimmt, selbstsicher, und doch lag etwas Traumhaftes, Fernes in dem feinen, fremden Gesicht mit den tiefen Augen und den blassen Wangen des Mannes, der wenige Jahre nachher, noch nicht fünfzigjährig, sterben sollte. (Jaberg 1965: 18-19) Jabergs in Prag erhaltenen Briefe dokumentieren, dass er großes Interesse an einer kontinuierlichen Rezeption der jeweils aktuellen Veröffentlichungen der Prager Schule hatte und auch seine eigenen Arbeiten in Prag gelesen wissen wollte. Demnach muss er spätestens im Jahr 1931 die ersten Publikationen des Zirkels erhalten und sich mit einer ähnlichen „Sendung" (s.u.) revanchiert haben. Daraufhin ruhte der Kontakt offenbar für einen längeren Zeitraum. Jaberg nimmt Anfang 1934 die Verbindung mit dem folgenden Brief wieder auf: Sehr geehrte Herren, Sie waren so gütig, mir s.Z. die drei ersten Bände Ihrer Arbeiten zuzusenden. Unterdessen werden wohl weitere Bände erschienen sein. Wenigstens sehe ich eben, dass in der Bibliographie des Indogerm. Jahrbuches für 1931 Bd. IV mit einigen Arbeiten verzeichnet ist, die mich besonders interessieren. Ich würde gerne meine Publikationen mit den Ihrigen tauschen und sende Ihnen heute meine Rektoratsrede [Jaberg 1932] und ein Separatum aus der RliR [Revue de linguistique romane]81, bin auch bereit, Ihnen den ersten Band des .Sprach- und Sachadasses Italiens und der Südschweiz' zu senden, falls Ihnen das erwünscht ist (Es gehen zwei oder drei Exemplare des Werkes nach Prag, ohne dass ich von allen weiss, für was für Abnehmer sie bestimmt sind).82 Aus Jabergs Dankesbrief geht hervor, dass er aus Prag den Band IV und V2 der Travaux zugeschickt bekam und der Prager Zirkel seinerseits Interesse für den Sprach- und Sachatlas bekundet hatte. Jaberg ließ also den ers80 81
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Jaberg hatte Trubetzkoy und andere Mitglieder des Prager Zirkels schon 1928 auf dem 1. Linguistenkongress in Den Haag treffen können. Die Ankündigung dieses Separatums versieht Jaberg mit der Fußnote: „Es ist das einzige, was seit meiner letzten Sendung von mir publiziert worden ist" (a.a.O). Dieser gleichsam entschuldigende Zusatz deutet darauf hin, dass es sich bei dem Sonderdruck ,nur' um den kurzen Kongressbericht Jaberg (1931) gehandelt hat, der 1931 erschien, und nicht um den schon ein Jahr älteren Beitrag aus derselben Zeitschrift 0aberg 1930). In der Tat publizierte Jaberg in den Jahren 1931 bis 1934 neben seiner Rektoratsrede und den entsprechenden Bänden des Sprachatlasses nur Rezensionen und andere Kleinigkeiten in nichtwissenschaftlichen Periodika. Schreiben Jabergs, Bern, 22.2.1934 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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ten Band dieses Werkes nach Prag schicken und hob die Nähe der eigenen Arbeiten zu denen der Prager Schule hervor: Die phonologischen Arbeiten Ihrer Vereinigung interessieren mich um so mehr, als ich von anderer Seite her zu ähnlichen Auffassungen gekommen bin. 83
Entsprechend quittiert er den Empfang des sechsten Bandes der Travaux mit der Versicherung: Ich verfolge die Probleme, die bei Ihnen im Zentrum stehen, mit der grössten Aufmerksamkeit und bin sehr froh, durch Sie auf dem Laufenden gehalten zu werden. 84
Der nächste erhaltene Brief Jabergs erreichte Prag wenige Monate nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Wahrscheinlich in Anbetracht dieser politischen Entwicklung wechselt Jaberg nun zum Französischen als Kommunikationsmedium. Er resümiert zunächst den früheren Publikationstausch mit dem Prager Zirkel und regt dessen Fortsetzung auch in Zukunft an. Hier wie in früheren Briefen bezieht er auch seinen Mitarbeiter Jakob Jud in den Buchtausch ein: J e serais tres heureux de continuer cet echange, d'autant plus que je m'interesse tres vivement aux etudes phonologiques et que je m'en suis particulierement occupe dans ces demiers temps. Je possede les volumes 1, 2, 3, 4, 52, 6 de vos Travaux, mon collaborateur J.Jud les volumes 1, 2, 3, 4. Seriez-vous dispose ä nous envoyer ä nous deux ce qui a paru depuis en echange du vol. II de l'AIS \Atlas linguistique et ethnographique de lltalie et de la Suisse meridional*e\?
Das — nun wieder deutsche — Dankesschreiben Jabergs lässt erkennen, dass auf diese Anfrage mindestens der 7. Band der Travaux nach Bern geschickt worden war: Die ,Grundzüge' von Trubetzkoy zu besitzen, an deren Studium ich mich sofort gemacht habe, ist mir besonders wertvoll. 85
Der in diesem Brief angekündigte zweite Band des Sprach- und Sachatlasses ist Anfang August 1939 in Prag eingetroffen. 86 Der Publikationstausch mit Jaberg gehört zu den längstandauernden Kontakten zu deutschsprachigen Linguisten, die im Archivalienbestand des Prager Zirkels dokumentiert sind.87 83 84 85 86 87
Schreiben Jabergs, Bern, 18.3.1934 an Trnka (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Schreiben Jabergs, Bern, 10.11.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Schreiben Jabergs, Bern, 20.7.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Verzeichnis „Dosle dopisy 1935-1953", Eintrag vom 2.8.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 1). Dieser Publikationstausch ist einer der wenigen zum deutschsprachigen Raum, der in einer handschriftlichen Zusammenstellung „Vymena publikaci" aufgeführt wird, die am Ende des Heftes mit dem Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935
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Wenige Jahre nach seinem letzten erhaltenen Brief macht Jaberg in einem Vortrag deutlich, dass sein brieflich immer wieder bekundetes Interesse für Trubetzkoy und die Phonologie mit einer recht großen skeptischen Distanz einherging. Jaberg formuliert in seiner Rede einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber aller „Systematik", der zur damaligen Zeit auch von anderen deutschsprachigen Rezipienten der Phonologie geteilt worden ist: Saussure und Trubetzkoy sind Systematiker, ich möchte fast sagen fanatische Systematiker; sie haben Schulen begründet, die zum Dogmatismus neigen. Dogmatismus mag pädagogisch und in gewissem Sinne sogar wissenschaftsgeschichtlich seine Vorteile haben, auf die Länge hemmt er den Fortschritt genau so, wie Schlagwörter den Fortschritt hemmen. [...] Meine Damen und Herren, Systematik ist Illusion, Theorie ist Stückwerk; der Mensch allein ist ein Ganzes in dem, was er denkend erlebt. (Jaberg 1965: 19-20)
Für den Onomasiologen und Dialektologen Jaberg ist die Phonologie daher wohl weniger durch die ,Systematisierung' synchronischer Lautbeziehungen, als vielmehr wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen für die diachronische Perspektive und die Sprachgeographie attraktiv gewesen: Wenn man sich, wie in jeder hochgezüchteten Geisteswissenschaft, zu allerlei Subtilitäten hat verführen lassen, so sind doch höchst interessante Probleme angegriffen worden, so das Problem der Veränderung phonologischer Systeme, das die Lautentwicklung von einer atomisierenden Analyse zur ganzheitlichen Betrachtung zurückführt, und das Problem der Sprachbünde, das auf Grund phonologischer Analogien Verwandtschaften, z.B. zwischen den Balkansprachen aufdeckt, die weder der Wortschatz noch die grammatische Struktur verraten, (ebd.: 19)
Jakob JUD (1882 Wängi, Schweif— 1952 Zürich) ;~Komanistik; Zürich - zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux II, Travaux III, Travaux IV, Travaux V?, Travaux VII - Teilnahme am 2. Linguistenkongress 1931 Dass der Zürcher Romanist Jakob Jud die Travaux in lückenloser Folge aus Prag geschickt bekam, scheint vor allem auf die Vermittlung von Karl Jaberg zurückzugehen, der in seiner Korrespondenz mit dem LinguistikZirkel darauf bedacht war, dass der Publikationstausch mit Prag auch seinen Kollegen einbezog: Gewiss würde auch mein Mitarbeiter, Herr Prof. Jud in Zollikon bei Zürich, Guggerstr. 32, Ihre Publikationen gerne erhalten. 88
88
- 41" rückläufig und auf dem Kopf eingetragen worden ist (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Schreiben Jabergs, Bern, 22.2.1934 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
213
Die beiden Herausgeber des Atlas linguistique et ethnographique de l'ltalie et de la Suisse meridionale haben sich offensichtlich über die jeweils erhaltenen Bücher ausgetauscht, denn Jaberg konnte 1939 genau angeben, welche Bände der Travaux Jud schon bekommen hatte.89 Die Vermittlerrolle Jabergs in Juds Verhältnis zur Prager Schule wird besonders deutlich, wenn jener sich „für die freundliche Zusendung der für mich und für meinen Freund Jud bestimmten Bände der ,Travaux"' 90 stellvertretend bedankt. Ob Jud über diesen vermittelten Publikationstausch hinaus auch personlichen Kontakt zu Vertretern der Prager Schule hatte, ist aus den Prager Archivalien nicht erkennbar. Heinrich F. J. JUNKER (1889 Offenbach — 1970 Berlin); vergleichende senschaft, Iranistik; Teip^ig
Sprachwis-
- zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux IV, Travaux Vi, Anleitung - Teilnahme am 3. Phonetikkongress 1938 - Sonderdruck(e) Junkers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Henrik Becker war seit dem Jahr 1926 Habilitand bei Junker in Leipzig mit einer Arbeit über das Tschechische und Ungarische, aus deren Zusammenhang auch sein Vortrag vor dem Prager Linguistik-Zirkel im Oktober des Jahres stammte. Junker dürfte also schon von der Existenz dieser sprachwissenschaftlichen Vereinigung unterrichtet gewesen sein, ehe diese überhaupt öffentliche Wirksamkeit entfalten konnte (vgl. Fallstudie zu Becker in 4.1). Ein ungewöhnlich frühes Interesse Junkers an den Arbeiten der Prager Schule findet auch archivalische Bestätigung: Nach einem erhaltenen Brief des tschechoslowakischen Außenministeriums, das in den Jahren 1929 und 1930 die Versendung von Publikationen des Prager Zirkels in das Ausland abwickelte, ging eine der Sendungen an das Sprachwissenschaftliche Institut der Universität Leipzig „zu Händen von Prof. Junker". Einem Zusatz zu dieser Adresse ist zu entnehmen, dass Junker offenbar einen Publikationstausch angeregt hatte:
89 90
Vgl. den oben zitierten französischen Brief Jabergs vom 1.7.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Schreiben Jabergs, Bern, 20.7.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
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/: nabizi za to vymenu vlastnich publikaci, ktere pocnou vychdzeti na jare t.r.:/91 /: er bietet dafür einen Austausch mit eigenen Publikationen an, die im Frühjahr dieses Jahres zu erscheinen beginnen :/
Ob dieser Büchertausch wirklich zustande gekommen ist, ist allerdings vorerst nicht nachweisbar. Andere Dokumente des Archivbestandes des Linguistik-Zirkels zeigen aber, dass Junker noch mindestens bis zur Mitte der dreißiger Jahre Veröffentlichungen des Prager Zirkels erhalten hat. Demnach ist Junker am 4.4.1936 brieflich eine Büchersendung angekündigt worden, und er hat wenig später vom tschechischen Verlag den Band V2 und Trubetzkoys Anleitung als „Rezensionsexemplare" an seine Leipziger Privatadresse geschickt bekommen. 92 In einem programmatischen Beitrag zur Krise der Sprachwissenschaft von 1931 verortet Junker „Gegenstand und Aufgaben der Sprachwissenschaft" in den Dimensionen der Sprachtheorie Humboldts (Junker 1931). Hinweise auf Entwicklung strukturaler Linguistik fehlen hier noch ganz. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitet Junker ganz selbstverständlich mit dem Phonembegriff und stellt ein Phonem-System des Koreanischen vor (vgl. Junker 1957). Wie sich Junkers Verhältnis zur Prager Schule in dem zwischen diesen beiden Veröffentlichungen liegenden Zeitraum entwickelte, wäre im Detail zu untersuchen. FntzKARPF
(geb. 1897-
1932 Gra^); Anglistik;
Gra^
- zugesandte Publikation: Travaux IV Die Kontakte mit dem „Realschulprofessor und Privatdozent[en] der englischen Philologie" (Ziegler 1932: 129) sind offensichtlich sehr früh und zwar über Vilem Mathesius geknüpft worden. Bereits 1927 veröffentlicht Karpf eine Rezension zu dem Beitrag von Mathesius in der Festschrift für Josef Zubaty (Karpf 1927). Karpf hatte diesen Beitrag, wie ausdrücklich vermerkt wird, nur als „Sonderabdruck" vorliegen und dürfte ihn also von Mathesius persönlich erhalten haben. Offenbar hat man den Grazer Anglisten später auch bei den Vorbereitungen für die Internationale phonologische Arbeitstagung einbezogen, die der Linguistik-Zirkel im Dezember 91 92 93
Zweiseitiges Schreiben des Außenministeriums, Zeichen 158.996 1929 Sekce 1/5, an den Prager Zirkel zu Händen von Mathesius, Prag, 10.1.1930 (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 22). Vgl. die Einträge vom 4.4. und 21.4. im Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935-1941" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Das biobibliographische Lexikon der Anglistik teilt zu Karpf nur das Geburtsjahr und das Jahr der Habilitation 1930 mit, Haenicke (1981): 216. Ein Nachruf in Die Neueren Sprachen meldet 1932 seinen frühen Tod (Zeiger 1932), ohne nähere Informationen zu Werdegang und Wirkungsorten Karpfs zu bringen.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
215
1930 in Prag veranstaltete. Wie Vilem Mathesius in seiner Eröffnungsrede ausführte, gehörte „M. Karpf, de Graz" zu den ausländischen Sprachwissenschaftlern, die in Grußadressen ihre Sympathien und ihre guten Wünsche für die Tagung ausgedrückt hätten (Mathesius 1931a: 291). Karpf bekam denn auch im darauf folgenden Jahr den Band mit den Kongressakten (Travaux 4) aus Prag. Erhalten ist eine Postkarte vom Juli 1931, auf der sich Karpf bei Mathesius „für den 4. Band der Travaux mit seinen sehr wertvollen Beiträgen" 94 bedankt. Er hatte den Band zu diesem Zeitpunkt jedenfalls passagenweise schon genau gelesen, denn er mahnt zwei kleine Druckfehler bzw. Irrtümer an. In der Postkarte geht es außerdem um die Unterbringung eines „Frl. Sutnar", die — vielleicht eine Studentin von Mathesius? — nach Graz ziehen sollte und für die Karpf nun „einen guten Kostplatz ausfindig gemacht" habe. Die Verbindung zu Mathesius ging also offensichtlich über eine rein fachliche Verbindung hinaus. 1933 erschien posthum eine Rezension des früh Verstorbenen zu den ersten beiden Bänden der Travaux (Karpf 1933a). Karpf empfahl den Lesern hier zur Einführung in die Phonologie neben Elise Richters Forschungsbericht (Richter 1930) auch Mathesius (1929a) und Trnka (1929), war in seiner Textkenntnis also durchaus nicht auf die Travaux beschränkt. Er weist in seiner Rezension unter anderem darauf hin, dass der „Systemgedanke" (Karpf 1933a: 255) der Phonologie schon bei Karl Luick angelegt sei und kritisiert an den Prager Arbeiten nur, „daß meist wenig bekannte Sprachen behandelt werden" (ebd.) und die Terminologie vereinheitlicht werden sollte. Aus einer anderen Rezension Karpfs geht hervor, dass er natürlich gerade auch den dritten, ,anglistischen' Band der Travaux ν on 1930 kannte (Karpf 1933b: 318), der im selben Jahr wie seine eigenen Studien %ur Syntax in den Werken Geoffrey ChaucerP erschienen war und in dem Trnka ebenfalls Probleme der historischen Syntax des Englischen behandelte. Ob es in diesem Zusammenhang einen engeren Austausch zwischen Trnka und Karpf gegeben hatte, wäre noch zu untersuchen. Paul Wilhelm KRETSCHMER (1866 Berlin - 1956 Wien); allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft; Wien - zugesandte Publikation: Travaux IV - Mitglied der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft
94 95
Postkarte mit kleiner Stadtansicht von Graz an Mathesius vom 25.7.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Erschienen 1930 in Wien bei W. Baumüller als 55. Band der Wiener Beiträge %ur englischen Philologie.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
- Teilnahme an allen vier Linguistenkongressen 1928, 1931, 1933 und 1936 - Sonderdruck(e) Kretschmers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Schon lange vor der Gründung des Prager Linguistik-Zirkels sind der Wiener Indogermanist und sein viel jüngerer Kollege Trubetzkoy in Kontakt gekommen. Dieser steuert bereits 1926 einen Artikel zur Festschrift für den sechzigjährigen Kretschmer bei (Trubetzkoy 1926). In den veröffentlichten Briefen Trubetzkoys an Jakobson ist häufig von Kretschmer die Rede. Diese Briefe lassen erkennen, dass die beiden Wiener Sprachwissenschaftler in einem recht engen und vertrauensvollen Verhältnis zueinander standen. So war Kretschmer für Trubetzkoy einerseits ein wichtiger Informant über Sprachen, die dieser selbst nicht kannte (vgl. z.B.: Trubetzkoy 1975: 260). Andererseits betrieben die beiden zusammen regelrecht ,Kongress-Politik'. Kretschmer war Mitglied des Comite International Permanent de Linguistes (C.I.P.L.), das als Dachorganisation die Internationalen Linguistenkongresse in den Jahren nach 1928 veranstaltete. In dieses kleine Gremium war im Oktober 1931 auch Vilem Mathesius gewählt worden, der damit wohl an organisatorischen Abläufen beteiligt gewesen sein dürfte, aber wegen seiner Blindheit in den dreißiger Jahren nicht mehr ins Ausland reiste und daher keinen Gesprächskontakt mit Kretschmer oder anderen C.I.P.L.-Mitgliedern hatte. Trubetzkoys Briefe zeigen nun, dass Kretschmer sich in Fragen der Kongressorganisation auch mit Trubetzkoy beriet, so etwa über die Pläne, an welchem Ort der Vierte Linguistenkongress stattfinden solle (ebd.: 283). Trubetzkoy seinerseits bespricht mit Kretschmer selbst solche Details wie die Frage, wer den Vorsitz bei bestimmten Sektionen dieser Kongresse übernehmen sollte, die der Prager Zirkel für seine möglichst wirksamen Auftritte brauchte (vgl. ebd.: 208). Kretschmer bekam den vierten Band der Travaux direkt aus Prag zugeschickt, andere Veröffentlichungen mag er über Trubetzkoy persönlich erhalten haben. 1936 gratulierte er dem Prager Zirkel zu seinem zehnjährigen Jubiläum und bekam im Dezember des Jahres ein Dankschreiben dafür aus Prag. 96 In einer Selbstdarstellung des Linguistik-Zirkels in der Enzyklopädie Ottüv slovnik wird Kretschmer 1938 neben anderen „führenden Sprachwissenschaftlern" als Gewährsmann genannt, dessen positive Einstellung zur Prager Schule deren großen internationalen Erfolg belege (Jakobson 1938). Die beiden bibliographische Bulletins der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft reihen einzelne Arbeiten Kretsch96
Vgl. Verzeichnis _,,Odeslane dopisy. Vymena pubükaci 1935-1941", Eintrag vom 22.12.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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mers zur Frage der Lautverschiebungen unter die phonologienahen Neuerscheinungen. 97 Trubetzkoy beruft sich in seinen provokanten „Gedanken über das Indogermanenproblem" auf sprachgeschichtliche Arbeiten seines Wiener Kollegen, um darzulegen, dass es „eigentlich gar keinen zwingenden Grund zur Annahme einer einheitlichen indogermanischen Ursprache" (Trubetzkoy 1939: 82) gebe. Kretschmer seinerseits verfasste 1939 einen ausführlichen Nachruf auf Trubetzkoy, legt dabei den Schwerpunkt aber bemerkenswerterweise vor allem auf den „universalen Sprachforscher" (Kretschmer 1939: 344), während er dem ,Phonologen Trubetzkoy' nur eine knappe Seite widmet. Hermann LOMMEL (1887 TLrlangen — 1968 Prien, Chiemsee); Trankfurt a. Main
Indogermanistik;
- zugesandte Publikation: Travaux I Nach einer Entscheidung des geschäftsführenden Gremiums des Linguistik-Zirkels sollte der Saussure-Ubersetzer Lommel im November 1931 den ersten Band der Travaux aus Prag zugeschickt bekommen. Vermutlich hatte Lommel zuvor gerade an diesem Band spezielles Interesse geäußert, der ja bereits über zwei Jahre gedruckt vorlag. Wenn der Prager Zirkel von sich aus auf aktuelle Neuerscheinungen aufmerksam machen wollte, präsentierte er 1931 üblicherweise bereits den vierten Band der Reihe. Der Hintergrund der Büchersendung an Lommel wird in dem entsprechenden Sitzungsprotokoll leider nicht vermerkt, und es finden sich in den Prager Archivalien auch keine weiteren Belege für eine länger währende Verbindung. Karl LUICK (1865 Florisdorf, Wien - 1935 Wien); Anglistik; Wien - zugesandte Publikation: Travaux IV - Sonderdruck(e) Luicks in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Der Anglist Karl Luick gehörte zu Trubetzkoys wissenschaftlichen Ansprechpartnern in seinem Wiener Arbeitsumfeld. In einem Brief vom Oktober 1930 zählt ihn Trubetzkoy zu „meinen Wienern" (Trubetzkoy 1975: 180), mit denen der genaue Termin für die geplante Internationale Phonologische Arbeitstagung in Prag im Dezember abgesprochen werden sollte. Man legte also offensichtlich Wert auf die Teilnahme Luicks an dieser Konferenz. Dass Luick nicht aus inhaltlichem Desinteresse der Prager Tagung dann doch fernblieb, zeigt ein ausführlicher Bericht Trubetzkoys
97
Bulletin d'information 1 (1932): 63 und Information bulletin 2 (1936): 9.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
über einen Vortrag, den er wenige Monate später in Wien hielt. Er schreibt im April 1931 an Jakobson: ITepeA caMMM HanaAOM nacxaAbHMx κϊιηηκυλ nponeA AOKAaA ο φοιιοΛοπ-πι
β Sprachwissenschaftliche Gesellschaft. Ycnex 6wa Βοαμιιοη. Bee npHHÄAH
OMeHl) CO^yBCTBeHHO Η npeHH« IIpOIHAH C 60ΛΜΗΗΜ OJKHBAefflieM. AyHK OHeHL· COHyBCTBeHHO OT3MBaACH θ6 HCTOpHHCCKOH φοΗΟΑΟΓΗΗ Η ΓφΗΒΟΑΗΛ paA aHTAHHCKHx npHMepoB (He Bee OAHHaKOBO VAaiHwe). Oh, mokav npoiHM, CKa3aA, HTO 3HaKOMCTBO C φοΗΟΛΟΙΗΜΟΟΚΙ-ΙΜΗ TeOpHÄMH eMy ΛΗΗΗΟ oöAcrHHAO coBecT, h6o upe>KAe, KorAa eMy npHXOAHAH β roAOBy TeAeoAOranecKiie oötacHeHHÄ 3β\·κοβμχ sBAeHHÖ, oh crapaAca hx i iporouarb KaK HeHay^Hbie, a Tenepb bhaht, hto sto toabko npeApaccyAOK. [...] ^epeß HecKOAhKO ah en nocAe Moero AOKAaAa 06 Hein eine roBopHAH, - KaK MHe nepeAaeaAH CTOpoHHHe na6,viOAaTe.-\n. TaK hto BirciaTAeirae 5e3ycAOBHO 6bi/\o np0H3BeAeH0. (ebd.: 198-199) Noch vor Beginn der Osterferien hielt ich einen Vortrag über die Phonologie in der Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft. Der Erfolg war groß. Alles wurde sehr wohlwollend aufgenommen und die Diskussion mit großer Lebhaftigkeit geführt. Luick äußerte sich sehr einvernehmlich über die historische Phonologie und nannte eine Reihe von englischen Beispielen (nicht alle waren treffend). Er sagte unter anderem, dass ihm persönlich die Bekanntschaft mit den phonologischen Theorien das Gewissen erleichtere, denn früher habe er sich bemüht, wann immer ihm teleologische Erklärungen für lautliche Erscheinungen durch den Kopf gingen, diese als unwissenschaftlich zu zerstreuen, und nun erkenne er, dass alles ein Vorurteil sei. [...] Noch einige Tage nach meinem Vortrag wurde darüber gesprochen — wie mir sympathisierende Beobachter mitteilten. Es wurde also zweifellos ein starker Eindruck hervorgerufen.
Auch wenn Trubetzkoys Optimismus in seinem Brief letztlich gedämpft bleibt, wertet er die Reaktion Luicks auf seinen Vortrag als wichtigen Beleg für die „unerwartete Tatsache, dass wir manchmal durchaus auch von alten Linguisten akzeptiert werden" [oSmchhiot t o t HeoaaiAaHHbiH ΛΛΗ Hac c|)aKT, mto nac npHeviAi-OT hhoh pa3 coBceM crapwe ahhibhctbi] (ebd.). Wie wichtig für den Prager Zirkel seinerzeit ein „großer Erfolg" im Ausland war, wird deutlich daran, dass Jakobson Trubetzkoys Bericht nicht nur sogleich in den geschäftsführenden Aussschuss des Zirkels weitertrug, sondern er dort sogar zu Protokoll genommen wurde: Mistopfedseda sdeluje ze prof. Troubeckoj ve videnske Sprachwissenschaftliche Gesellschaft pfednäsel ο fonologii; ν debate po jeho prednäsce vyslovil zvläste prof. Luick souhlas s teleologickym prineipem ν historickem hläskoslovi. Der stellvertretende Vorsitzende [Jakobson] teilt mit, dass Prof. Trubetzkoy in der Wiener Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft einen Vortrag über die 98
Protokoll zur Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 8.4.1931 ( A A V C R / P L K / Kart. 1/ i.e. 7).
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Phonologie hielt; in der Debatte nach seinem Vortrag äußerte vor allem Prof. Luick seine Zustimmung zum teleologischen Prinzip in der historischen Laudehre. Luick bekommt wenig später folgerichtig den gerade erschienenen vierten B a n d der Travaux zugeschickt, in dem die Akten der Prager PhonologieTagung abgedruckt sind. Empfangen Sie meinen besten Dank für die freundliche Übersendung des 4. Bandes Ihrer ,Travaux'. Er enthält viel Wertvolles und die neue Betrachtungsweise, die mit dem Namen ,Phonologie' verknüpft ist, verspricht viel Belehrung." Bei der Neuauflage seiner Deutschen iMUtlehre im J a h r 1932 berücksichtigt Luick zumindest im Vorwort, dass in den neun Jahren seit der letzten Auflage die Phonologie entwickelt worden war. Er nimmt aber doch von einer grundlegenden Umarbeitung des Buches Abstand: Größere Änderungen sind aber nicht vorgenommen worden. Allerdings schien die inzwischen [seit der letzten Auflage] entwickelte .Phonologie' im Sinne vieler slavischer Sprachforscher Einlaß zu heischen, denn das was ich bisher als .selbständigen Laut' im Gegensatz zu Lautfärbungen, die von der Umgebung abhängen, bezeichnet hatte, ist ja ein ,Phonem' im Sinne der neuen Richtung: es fragt sich, ob nicht dieser Begriff eingeführt werden sollte. In diesem ganz elementar gehaltenen Büchlein schien es mir aber besser, bei der bisherigen Bezeichnungsweise zu bleiben, da sich der Sachverhalt durch sie ausreichend wiedergeben ließ. Eine sachliche Änderung, die sich aus der genaueren Erfassung des Phonembegriffes ergab, ist die Angabe bezüglich unserer h-Laute am Schluß des § 73. (Luick 1932: IX) Entsprechend begrüßt Luick, dass Daniel Jones in der Neuauflage seines Outline of English phonetics von 1932 die Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Phonologie grundsätzlich einbezieht. Luick selbst argumentiert hier bei seinen kritischen Einwänden gegen Jones mitunter ganz im Sinne der Prager Schule: Neu eingeführt ist [bei Jones] der Begriff Phonem, der in vielen Fällen eine klarere Formulierung und Scheidung ermöglicht. Freilich kann ich im einzelnen Jones nicht immer folgen. Die Laute / und i werden als zum selben Phonem gehörig hingestellt (§ 242), während doch in Wortpaaren wie read und rid der Unterschied zwischen / und i den Bedeutungsunterschied begründet, also eine Funktion hat. (Luick 1934: 96) Im J a h r 1933 veröffentlichte Josef Vachek eine Abhandlung, in welcher die Nähe zwischen den lautgeschichtlichen Arbeiten Luicks u n d der historischen Phonologie detailliert belegt wird (Vachek 1933). Es ist dies einer der recht seltenen Fälle, in denen die ansonsten eher Revolutionär' auftretende Phonologie selbst eine Vorgeschichte bzw. Vorläuferfiguren kon-
99
Schreiben Luicks, Wien 23.12.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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struiert. Die Veröffentlichungssprache von Vacheks Text — er sollte ursprünglich unter dem deutschen Titel „Karl Luick als Vorläufer der historischen Phonologie" erscheinen100, wurde dann aber englisch in Prag publiziert — zeigt, dass diese Traditionslinie vor allem dem Ausland angeboten werden sollte. Nach Vachek ist Luick schon vor der Jahrhundertwende mit seiner Methode der relativen Chronologie zu der Einsicht gekommen, „that the development of languages takes place on teleological lines" (Vachek 1933: 289). Immer wieder zeige sich in seinen Arbeiten „the idea of the mutual dependence of sounds" (ebd.: 278) und „a beginning of phonological thinking" (ebd.: 279). Da Luick aber durch sein „Junggrammatiker heritage of psycho-physiology" (ebd.: 286) gebunden gewesen sei, habe er keinen konsequenten Begriff des Systems entwickeln können, „reducing the systematizing tendencies of the language to mere psychophysiological factors" (ebd.: 288): As a precursor of historical phonology, Prof. Karl Luick may, thus, be said to have done all that he possibly could without getting into a severe collision with the scientific traditions of his time — the immense majority of his contemporaries and successors have not even realized the problems he was so near to solve, (ebd.: 291) Auch Trubetzkoy bescheinigt Luick 1933, er sei einer der wenigen deutschen Sprachwissenschafder, die keine „Furcht [...] vor teleologischen Erklärungen an den Tag legten" (Trubetzkoy 1973: 79).101 Ein Jahr später unterstreicht Mathesius in der deutschsprachigen Zeitschrift Englische Studien nochmals, „daß Prof. Luick in seinen sprachgeschichtlichen Studien wiederholt auf selbständigem Wege dem in der heutigen Linguistik sich gut bewährenden phonologischen Standpunkt nahe gekommen ist" (Mathesius 1964: 398). Luick selbst hat, wie die Zitate am Beginn dieses Abschnitts zeigten, spätestens am Anfang der dreißiger Jahre in der historischen Phonologie 100 Unter diesem Titel angekündigt in Bulletin d'information Ν. 1 (1933): 63. 101 Auch Vachek beschreibt die Ubergangssituation Luicks im wissenschaftlichen Paradigmenwechsel mit gleichsam wissenschaftspsychologischen Begriffen. Wo Trubetzkoy die ,Furchdosigkeit' des Neuerers Luick akzentuiert, legt Vachek Gewicht gerade auf seine ,Furcht', die überkommenen wissenschaftlichen Standards ganz zu verlassen: „It is highly probable that it was a fear that he might leave scientific ground which prevented Prof. Luick from abandoning completely the beaten tracks of his time" (Vachek 1933: 291). Herbert Cysarz charakterisiert diese Haltung als typisch für „diese Forscher aus dem 19. Jahrhundert": „Unter den Dozenten, die ich jemals hörte, bleibt Luick wohl derjenige, der am seltensten etwas Schiefes oder gar Unrichtiges ausgesprochen hat. Er versagte sich Meinungsäußerungen bis zum Äußerstmöglichen, eigentlich noch darüber hinaus, er unterstrich jeden arbiträren Modus durch den Vorbehalt: ,in gewissem Sinne bis zu einem gewissen Grade'. Vielleicht hat Luick solcherart weniger Zweifelhaftes doziert als mancher beneidenswerte Naturforscher" (Cysarz 1980: 33).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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eine Bestätigung eigener Ergebnisse gesehen. Wie weit die Annäherung an die Arbeiten der Prager Schule im letzten Jahrzehnt seines Lebens wirklich gingen, gäbe Stoff für eine eigene wissenschaftsgeschichtliche Studie. Unter den Wiener Schülern Luicks jedenfalls ist die Uberzeugung, dieser sei ein „Vorläufer der Phonologie" (Koziol 1937: 124) gewesen, nach seinem Tod selbstverständlich. 102 Paul MENZERATH (1883 Düren - 1954 Bonn); Psychologie, Phonetik; Bonn - zugesandte Publikationen: Travaux VII, Travaux VIII - Teilnahme am 1., 3. und 4. Linguistenkongress 1928, 1933 und 1936 sowie am 2. und 3. Phonetikkongress 1935 und 1938 - Sonderdruck(e) Menzeraths in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Von den Protagonisten der zeitgenössischen Experimentalphonetik hat vor allem Paul Menzerath über viele Jahre hinweg das Interesse der Prager Schule auf sich gezogen. In seinen Briefen an Jakobson, der selbst mit dem Namen Menzerath Ende 1931 noch keine klaren Vorstellungen verband, übermittelt Trubetzkoy immer wieder Hinweise auf Veröffentlichungen Menzeraths, die meist mit einem kurzen anerkennenden Kommentar versehen werden (Trubetzkoy 1975). Die besondere Wertschätzung Menzeraths kommt auch in Trubetzkoys brieflichem Bericht über den Londoner Phonetikkongress von 1935 zum Ausdruck. „Außerordentlich interessant" sei der Röntgentonfilm gewesen, den der Bonner Phonetiker hier vorgeführt habe. „Interessant" sei aber auch Menzeraths Vortrag, weil er gezeigt habe, dass „der Begriff der Artikulation eines Einzellautes eine Illusion" (ebd.: 344) ist.103 Trubetzkoy ist dabei nicht der einzige Vertreter der Prager Schule, der Menzeraths Arbeiten verfolgte. Auch nach Trubetzkoys Tod legte man Wert auf einen wissenschaftlichen Austausch. Nach einem Beschluss des geschäftsführenden Ausschusses des Prager Zirkels wurde der Bonner Phonetiker Anfang 1939 brieflich „um einen Vortrag gebeten". 104 Bemerkenswert ist an dieser Einladung, dass der Linguistik-Zirkel auch nach der deutschen Okkupation der Sudetengebiete an einem intensiven Austausch 102 Eher als Kuriosum, das aber immerhin auf einen häufigeren Umgang mit Luick deutet, sei noch angefügt, dass Trubetzkoy den Namen Luicks in seinen Grundlagen der Phonologie als Beispiel für ungewöhnliche Vokalkombinationen im Deutschen anführt (Trubetzkoy 1989: 229-230). 103 Vgl. Menzerath (1936). 104 Protokoll einer undatierten Sitzung des Ausschusses, die zeitlich zwischen der vorhergehenden Ausschusssitzung vom 19.12.38 und der darauf folgenden Vollversammlung vom 27.2.1939 stattgefunden haben muss. Vgl. die Abfolge der entsprechenden Protokolle im Protokollheft (AAVCR/ PLK/ Kart. 1 / i.e. 7).
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mit Reichsdeutschen' Wissenschaftlern interessiert war. Dass der geplante Vortrag nicht zur Verwirklichung kam, verdankt sich denn auch zunächst rein persönlichen Gründen, die in einem anrührenden Brief Menzeraths an Trnka geschildert werden. Für Ihre freundliche Einladung, die ich heute Morgen erhielt, danke ich Ihnen verbindlichst. Ich möchte Sie freundlichst bitten, mir ein Herbstdatum vorzubehalten, da ich leider jetzt nicht imstande bin, auch nur etwas Vernünftiges zu tun. Ein grosses Unglück ist mir im letzten Monat zugestossen: ich habe meine Frau verloren, und so können Sie sich denken, wie mir zumute ist. Aber im Herbst komme ich sehr gern und werde Ihnen meine neuen Theorien vortragen. 105
Menzerath hat offenbar auch die Frau Trnkas persönlich gekannt, denn er bittet abschließend „mich Ihrer verehrten Gattin zu empfehlen" (a.a.O.). Die weiteren politischen Entwicklungen dürften die Pläne, den Gastvortrag auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, zunichte gemacht haben. Zu dem vorgeschlagenen „Herbstdatum" war Prag bereits die Hauptstadt des Protektorates und der Linguistik-Zirkel hatte nach der Schließung der tschechischen Universitäten seine institutionelle Grundlage verloren. Auch am Beispiel Paul Menzeraths wird deutlich, dass die Arbeiten der Prager Phonologie im Zusammenhang der deutschen Experimentalphonetik schon vor 1945 genau wahrgenommen und phonologische Argumente ganz selbstverständlich in die internen Diskussionen der Disziplin übernommen worden sind. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der artikulatorisch fundierten Phonetik Jörgen Forchhammers setzt sich Menzerath 1942 beispielweise für „die klare Scheidung [der Lautlehre] in Phonologie und Phonetik" (Menzerath 1942: 90) ein. Einer der zentralen Einwände gegenüber seinem Münchener Fachkollegen ist, dass dieser sowohl in der Gesamtanlage seiner Lautlehre als auch im Detail seiner Darstellung — etwa bei der Interpretation der kombinatorischen Varianz — die beiden Betrachtungsebenen vermische: Zwei Dinge werden also nicht auseinander gehalten: Sprache und Sprechen, Phonologie und Phonetik, (ebd.: 101)
Menzerath unterstreicht auch nach 1945 sein Desinteresse an sprachwissenschaftlichen Methoden, die den „Gestaltcharakter" der Sprache nicht hervortreten ließen: Rühmend hebe ich dagegen den bedeutenden Fund der durch die phonologische Forschung (Fürst Trubetzkoy, S. Karcevskij [sic], R. Jacobson [sie]) gesicherten Struktur der Lautsysteme aller Sprachen hervor. (Menzerath 1954: 2)
105 Schreiben Menzeraths an Trnka, Bonn, 24.2.1939 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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Seine folgende statistische Analyse zur phonotaktischen Architektonik des deutschen Wortschatzes verwendet wo nötig wiederum selbstverständlich Grundbegriffe der Phonologie, endet allerdings in einer grundsätzlichen Abgrenzung des eigenen statistischen Ansatzes von den „abstrakten" Prinzipien der Phonologie (ebd.: 121-128).106 Karl Heinrich MEYER (1890 - 1945 Königsberg); Slawistik; Münster/ Westfalen, Königsberg (ab 1935) - zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 1. Linguistenkongress 1928 - Sonderdruck(e) Meyers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Seit seiner Berufung im Jahr 1928 bemühte sich der aus Leipzig umhabilitierte Slawist um die Einrichtung eines Lektorates für „Osteuropäische Sprachen und Kulturen mit besonderer Berücksichtigung des Russischen" an dem jungen Slavischen Seminar in Münster. Zugleich begann Meyer die Suche nach einem wissenschaftlich qualifizierten russischen Muttersprachler, der unter zunächst finanziell wenig attraktiven und unsicheren Bedingungen die Stelle übernehmen würde. Ende 1929 konnte Meyer seinem Dekan melden, dass er auf einer Pragreise einen möglichen Bewerber getroffen habe: In Prag hält sich zur Zeit ein russischer Emigrant, P. Bogatyrjöv, auf, der bis in die Bolschewistenzeit ausschliesslich in Russland gelebt, seitdem in der Tschechoslowakei seine Studien abgeschlossen hat, daher auch das Tschechische gut beherrscht. B. hat sich durch vortreffliche Arbeiten auf dem Gebiete der russischen Dialektologie und der ostslavischen Ethnographie einen anerkannten Namen gemacht. Er würde, wie ich während meines Prager Aufenthaltes im Oktober dieses Jahres erfahren habe, eine Stelle in der vorgeschlagenen Form annehmen.10 Dokumente aus dem Universitätsarchiv Münster, insbesondere die dort erhaltenen Akten zum Slavischen Seminar, dokumentieren in großer Dichte die hartnäckigen Bemühungen Meyers, Bogatyrev für die Universität Münster zu gewinnen und ihn dann durch schrittweise verbesserte Bedingungen dauerhaft an das im Aufbau befindliche Seminar zu bin-
106 Zu den Versuchen, den Arbeiten des Bonner phonetischen Instituts nach dem Zweiten Weltkrieg neue gesellschaftliche Resonanzräume zu erschließen vgl. Kuhlmann (2003: 170 ff.). Kuhlmanns Urteil, Menzerath gehöre „nicht zu den phonetischen Modernisierern", weil er seinen eigenen Ansatz in Menzerath (1954) von der Phonologie abgrenze, scheint mir aber übereilt. 107 Brief Meyers, Münster i. W., 4.11.1929 (Univ.-Archiv Münster/ Phil. Fak./ DienstAkt. Β V Nr. 4g).
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den.108 Ergebnis dieser Bemühungen war, dass mit Bogatyrev eines der frühesten und aktivsten Mitglieder des Prager Zirkels seit dem Sommersemester 1931 in Deutschland lehrte und erst nach der Erfahrung eines ersten Semesters nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Oktober 1933 fluchtartig das Land verließ, um nach Prag zurückzukehren. Bogatyrevs Lehrtätigkeit umfasste in Münster auftragsgemäß „russische Sprachkurse und Sprachübungen über russische Volkskunde" 109 , griff aber über eine reine Sprachvermitdung deutlich hinaus und erstreckte sich auch auf Fachveranstaltungen zur slawischen Volkskunde wie zur russischen und tschechischen Literatur. Meyer hat nach eigener Auskunft „grossenteils selbst an seinen russischen Vorlesungen teilgenommen" 110 und streicht in der Korrespondenz mit Universität und Wissenschaftsministerium immer wieder seine rückhaltlose Anerkennung für Bogatyrevs wissenschaftliche und didaktische Leistungen heraus. Unter der großen Menge von Büchern, die Meyer bei seiner Wegberufung 1935 aus der Seminarbibliothek in Münster ausgliederte und nach Königsberg mitnahm, waren einige, die recht deutlich auf eine Herkunft aus Bogatyrevs wissenschaftlichem Umfeld schließen lassen, unter anderem die ersten beiden Bände der Trai>aux.m Meyer hielt nicht nur große Stücke auf die funktional-strukturale Ethnographie aus dem Umkreis der Prager Schule, sondern er trat auch als Anhänger der Phonologie auf. Da er nach eigenen Angaben „seit 1913 zeitweise zu dem engsten Schülerkreise des Begründers der Schallanalyse, Geheimrat Prof. Dr. Eduard Sievers" 112 gehörte, verfolgte er auch später Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Lautwissenschaften mit Aufmerksamkeit. In einer Rezension zu Alfred Schmitts Akzent und Diphtongierung hebt er lobend hervor, dass der Autor von den „Arbeiten des Prager linguistischen Zirkels" wenigstens den ersten der seinerzeit erschienenen vier Bände der Travaux kenne und sich auf ihn beziehe. Meyer selbst, der zwar
108 Einzelheiten zur Anstellung Bogatyrevs in Münster und über seine Lehrtätigkeit dort berichte ich in Ehlers (1999a). Zur Frage einer wahrscheinlichen Verbindung zur zeitgenössischen deutschen Volkskunde, insbesondere zur Schule Julius Schwieterings in Münster vgl. Ehlers (1998a). 109 Lehrauftrag des Wissenschaftsministeriums an Bogatyrev vom 26.3.1932 (Univ.Archiv Münster/ Kurator/ Bd. 1/ Fach 40/ Nr. 5). 110 Schreiben Meyers an den Dekan, Münster i. W., 5.2.1932 (Univ.-Archiv Münster/ Phil. Fak/ Dienst-Akt. Β V/ Nr. 4g). 111 Vgl. die Bücherliste im Anhang an Meyers Schreiben an den stellvertretenden Kurator der westf. Wilhelms-Universität, Königsberg, 17.11.1935, dort S. 3 (Univ.-Archiv Münster/ Kurator/ Bd. 1/ Fach 13/ Nr. 24). 112 Aus einem Schreiben Meyers an die Organisatoren des 5. Internationalen Linguistenkongresses, denen er sich als Referent über die Schallanalyse anempfehlen wollte (Schreiben vom 25.11.1938, BArch/ REM 4901/ 2980/ Bl.: 215).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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die „ekstatische Lust an neugeprägten Termini" in den Texten der Prager Schule tadelt, gibt folgende positive Gesamtwertung ihrer Leistung: Dennoch ist die betonte Zurückfuhrung der Sprachforschung auf die im Bewußtsein der Sprechenden lebendige Sprache, weg von der technisch verfeinerten, naturwissenschaftlich objektiven Analyse, durchaus fruchtbar und neu und eröffnet schöne Perspektiven. (Meyer 1935: 141)
Meyer bringt dann ein Kurzreferat einiger Grundgedanken der Phonologie und schließt seine Rezension nach einem Hinweis auf Jakobsons „meisterhafte[...] Studie über die ,Betonung und ihre Rolle in der Wortund Syntagmaphonologie'" 113 mit der Empfehlung an Schmitt, „seine anregenden Akzentstudien in dieser Richtung [zu] ergänzen" (ebd.). Dass die Verbindung zum Linguistik-Zirkel auch nach Bogatyrevs Rückkehr nach Prag und Meyers Wechsel nach Königsberg nicht gänzlich abbrach, lässt sich daran erkennen, dass man ihm noch am Ende der dreißiger Jahre ein Subskriptionsangebot für den siebten und achten Band der Travaux an seine Königsberger Adresse schickte.114 Welche Spuren der außerordentlich enge Kontakt zu Petr Bogatyrev im Werk Karl Heinrich Meyers hinterlassen hat, wäre lohnend zu prüfen. Einen ersten Anhaltspunkt für diese wirkungsgeschichtliche Frage könnte die Beobachtung von Scholz bieten, „daß sich der Interessenschwerpunkt K. H. Meyers in seinen Münsteraner Jahren wesentlich verlagert hatte" (Scholz 1987: 234) „vom Sprachwissenschaftlichen zum Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen" (ebd.). Wilhelm MEYER-LÜBKE (1861 Dübendorf, Schweif - 1936 Bonn); Bonn
Romanistik;
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 1. Linguistenkongress 1928 Der Bonner Romanist hatte den Vorsitz bei der historischen „Quatrieme reunion generale" des Ersten Internationalen Linguistenkongresses, während der Bally, Jakobson, Mathesius, Sechehaye und Trubetzkoy ihre berühmten Thesen zur strukturalen Sprachforschung vorstellten. Mathesius berichtet 1936, wie es zu den gemeinsamen Thesen der Genfer und der späteren Prager Schule gekommen war. Nachdem man erkannt hatte, wie eng die eingereichten Antworten auf die Fragen der Kongressleitung beieinander lagen, entschloss man sich kurzfristig, die Positionen zu gemeinsamen Thesen zusammenzufassen und in einem gemeinsamen Auftritt dem Plenum vorzulegen. 113 In Travaux 4 (1931): 164-182. 114 Sechsseitige Liste „Adresaf pro subskripci Travaux VII - VIII", dort Nr. 78 auf S. 3 (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23).
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Proto jsme pozvali na vecer pfede dnem, kdy mel sjezd jednat ο thesich predlozenych ke ctvrte otazce, na spolecnou schüzku s nämi do jedne ζ haagskych kavären oba Zenevany a mimoto i profesora Meyera-Lübke, ktery mel prislusne schüzi sjezdove pfedsedat. (Mathesius 1936: 140) Deshalb luden wir für den Abend vor dem Tag, an dem der Kongress über die eingereichten Thesen zur vierten Frage [der Kongressleitung] verhandeln sollte, die beiden Genfer und außerdem Professor Meyer-Lübke, der der betreffenden Sitzung der Tagung Vorsitzen sollte, in eines der Haager Cafes.
Meyer-Lübke hat also die Formulierung eines der wichtigsten Manifeste des frühen europäischen Strukturalismus aus nächster Nähe verfolgt. Einem Kongressbericht Leo Spitzers zufolge hat man am darauf folgenden Tage dieses Manifest in der Plenarsitzung nicht nur vorgetragen, sondern regelrecht abstimmen lassen. Es ist in einem Uberraschungserfolg vom Kongress „ohne Gegenstimmen angenommen" (Mathesius 1936: 140) worden. Meyer-Lübke hatte den Thesen „trotz seiner eigenen historischen Einstellung" (Spitzer 1928: 441) ebenfalls zugestimmt, allerdings angemerkt, diese Thesen könnten dem Kongress „eigentlich nur zur Beachtung ,empfohlen' werden" (ebd.). Vermutlich war es die Erinnerung an die positive Haltung Meyer-Lübkes, die Trubetzkoy bewog, seinen Namen ins Spiel zu bringen, als es um die Frage ging, welchen Vorsitzenden sich die Prager Schule für die phonologische Sektion auf dem Folgekongress in Genf wünschen würde (Trubetzkoy 1975: 205).115 Meyer-Lübke hat an dem Genfer Linguistenkongress dann doch nicht teilgenommen. Er bekam aus Prag aber 1931 den vierten Band der Travaux zugeschickt, den man in Genf präsentiert hatte (vgl. 3.2). Für weitere direkte Kontakte gibt es jedenfalls in den Prager Archivalien keine Belege. Hans-Heinrich Baumann nennt Meyer-Lübke als einen der sehr wenigen Vertreter eines ,,strukturell-linguistische[n] Theorietypus" (Baumann 1977: 134), der ansonsten in der deutschen Romanistik vor 1945 kaum Fuß gefasst habe. In dessen berühmter Einführung in das Studium der Komanischen Sprachwissenschaft (3. Aufl. Heidelberg 1920) findet Baumann „einen streng strukturellen Reflex in der sogenannten Sprachcharakteristik": Meyer-Lübke steht hier, wie Trubetzkoy, in der Nachfolge des TypusBegriffs von Gabelentz. Sein Sprachmodell ist das eines systematischen Organismus, wonach kein Teil einer Sprache ohne den anderen denkbar ist, wo eines vom anderen abhängt und es bedingt, (ebd.: 135)
Wie weit die Affinitäten hier wirklich reichen bzw. in welches Verhältnis der „Schweizer Positivist Meyer-Lübke" (Spitzer 1993 [1946]: 181) sich 115 Nach einer Anfrage der Genfer Kongressorganisatoren erwägt Trubetzkoy in seinem Brief an Jakobson vom 12.5.1931, Jespersen oder Meyer-Lübke als Vorsitzenden vorzuschlagen. Tatsächlich hatte den Vorsitz der entsprechenden Sektion dann Paul Kretschmer.
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3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
selbst in Bezug auf den Prager Strukturalismus setzte, wäre im Detail erst zu prüfen. Gustav NECKEL (1878 Wismar — 1940 Dresden); Germanistik, Nordistik; Berlin - zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 1., 3. und 4. Linguistenkongress 1928, 1933 und 1936 Erhalten ist eine Postkarte „An den Cercle linguistique de Prague", in welcher sich Neckel für eine Büchersendung aus Prag bedankt: Ich danke verbindlichst für Bd. 4 der Travaux du cercle linguistique und habe den Aufsatz von D. Cyzevskyj [sie] über Phonologie und Psychologie mit großem Interesse und grundsätzlicher Zustimmung gelesen. 1 1 6
Weitere Spuren eines Kontaktes lassen sich in den Archivalien des Prager Zirkels nicht erkennen. Alfons NEHRING (1890 Bischwit^ Niederschlesien - 1967 Wür^burg); Indogermanistik; Wür^burg, ab 1933 in den USA: Milwaukee, Wisconsin (ab 1938), New York (ab 1943) - zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 2. und 3. Lingustenkongress 1931 und 1933 Nehring schickte 1930 zur Eröffnung der Internationalen Phonologischen Arbeitstagung eine Grußadresse nach Prag (Mathesius 1931a: 291). Das könnte daraufhindeuten, dass er selbst zur Teilnahme eingeladen gewesen war (vgl. ähnlich Czermak, Pfalz, Weisgerber). Später bekam er den Travaux-Band mit den Tagungsbeiträgen zugeschickt. Nehrings Name findet sich außerdem auf einer Adressenliste des Prager Zirkels, die frühestens aus dem Jahr 1932 stammt. 117 Die Verbindung könnte abgebrochen sein, als Nehring 1933 ins Exil gehen musste. Giulio PANCONCELU-CALZIA (1878 Rom Hamburg
1966 Hamburg);
Phonetik-
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Sonderdruck(e) Panconcelli-Calzias in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Der Inhaber der ersten planmäßigen Professur für Phonetik in Deutschland bat im November 1931 seinen tschechischen Kollegen Chlumsky um Vermittlung beim Prager Zirkel, dem er einen Publikationstausch mit der 116 Postkarte Neckeis, Charlottenburg, 21.7.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 117 „Adresär" mit ausländischen Gelehrten (AAVCR/ PLK/ Kart. 1 / i.e. 4).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Zeitschrift Vox vorschlagen wollte. Einzelheiten dieses Vorgangs berichte ich in Abschnitt 3.2, in dem auch der erhaltene Brief Panconcelli-Calzias zitiert wird. Die Entwicklung der Phonologie hält Panconcelli-Calzia noch 1941 offenbar für nicht „wirklich geschichtlich"' (Panconcelli-Calzia 1994: 9) im Sinne einer Geschichte der Phonetik, denn sie bleibt unerwähnt, obwohl seine Geschichtszahlen der Phonetik erst im Jahre 1932 ihren letzten Eintrag verzeichnen. Anton PFALZ (1885 Deutsch-Wagram, manistik; Wien
Österreich - 1958 Zipf, Österreich);
Ger-
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Sonderdruck(e) von Pfalz in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Die überlieferten Briefe Trubetzkoys an Jakobson zeigen deutlich, dass Trubetzkoy in Wien mit Anton Pfalz in recht engem Austausch stand (Trubetzkoy 1975). Dieser Kontakt ist schon in den zwanziger Jahren aufgenommen worden, und er hatte für den sendungsbewussten Trubetzkoy offensichtlich eine große Bedeutung: Β BeHe noKa η3·βαβηλ totobhoct npnHjrn> ynacTi-ie β φοΗΟΛΟΓΗπεοκοή pa6oTe TOAhKO oahh προφ. Ahtoh Πφ3Λΐ>ιι (repMaHHCT-AHaAeKTOAor, φακTHHecKHH AnpeKTop τ. Ha3. 'Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch'). Ά AaA
eMy OTTHCK cboch craTbn, ho xoponio 6h nocAarb eMy o6a BurrycKa TpyAOB KpyacKa. AApec: [...]118
In Wien hat bis jetzt nur Prof. Anton Pfalz Bereitschaft gezeigt, an der phonologischen Arbeit teilzunehmen (Germanist und Dialektologe, amtlicher Leiter des sogenannten ,Bayerisch-Österreichischen Wörterbuchs1). Ich gab ihm einen Sonderdruck meiner Abhandlung, es wäre aber gut, ihm beide Bände der Arbeiten des Zirkels zu senden. Adresse: [...]
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Pfalz auch schon die ersten beiden Bände der Travaux aus Prag bekommen hat. Trubetzkoy hatte die dialektologischen Arbeiten von Pfalz jedenfalls früh schätzen gelernt. In der schriftlichen Fassung des Referates, das er 1930 auf der Phonologischen Arbeitstagung vortrug, stützte er sich unter anderem auf dessen Dissertation zur Mundart des Marchfeldes (Trubetzkoy 1931a: 101). Im Jahr 1930 ist der Dialektologe und Schüler Paul Kretschmers denn auch zur Teilnahme an dieser Arbeitstagung eingeladen worden, musste aber absagen: Indem ich für die freundliche Einladung zu den Beratungen, die am 18. bis 21. dM. in Prag stattfinden, ergebenst danke, bin ich zu meinem lebhaften Bedauern gezwungen, infolge von Familienverhältnissen, die meine Abreise 118 Brief Trubetzkoys an Jakobson vom 2.11.1929, Trubetzkoy (1975): 148.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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von Wien und einen längeren Aufenthalt in Innsbruck notwendig machen, auf die Beratungen, die mich außerordentlich interessieren, zu verzichten. 119
Mathesius zählt Pfalz in seiner Eröffnungsansprache der Konferenz zu den Sympathisanten „für unsere Sache" (Mathesius 1931a: 291) und dieser bekam später die Tagungsakten zugeschickt. Außer einem Eintrag auf einer Adressenliste 120 finden sich allerdings zunächst keine weiteren Spuren eines Kontaktes mit Pfalz in den Archivalien des Prager Zirkels. Es ist aber zu bedenken, dass er in Wien jederzeit persönlich mit Trubetzkoy zusammentreffen konnte. In einem Brief vom 26.10.1937 an Jakobson berichtet Trubetzkoy etwa von einer Begegnung mit Pfalz, bei der man sich offenbar über dessen aktuelle dialektgeographische Untersuchungen unterhalten hatte (Trubetzkoy 1975: 407). Auch in dieser Zeit erachtete man die Nähe der wissenschaftlichen Ansätze für so groß, dass man Pfalz sogar in ein geplantes Gemeinschaftsprojekt des Linguistik-Zirkels mit einbeziehen wollte. In der Diskussion war Mitte 1937 ein Sammelband mit phonologischen Beschreibungen der verschiedenen Sprachen, die in der Tschechoslowakischen Republik gesprochen wurden. Dieser Band sollte als Band 7 der Travaux nach der damals schon in Vorbereitung befindlichen Gesamtdarstellung der Phonologie durch Trubetzkoy erscheinen: Debata ο fonolog. popisech jazykü zastoupenych ν CSR (cikänstina: Korinek; polstina: Havränek, nemcina: Pfalz, Trost). 121 Debatte über die phonologischen Beschreibungen der Sprachen, die in der CSR vertreten sind (Zigeunersprache: Korinek; Polnisch: Havränek, Deutsch: Pfalz, Trost).
Es ist allerdings nicht ersichtlich, ob man Pfalz bereits persönlich an diesen Plänen beteiligt hatte. Das Projekt ist offenbar recht bald aufgegeben worden. Wie auch immer scheint eine wirkungsgeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis zwischen Pfalz und der Prager Schule gerade auch für die Mitte der dreißiger Jahre sehr lohnend: In Zur Phonol[ogie] der bairisch-österreichischen Mundart (1936), P[falz] became the first G[erman] dialectologist to apply the principles of structuralist phon o l o g y ] developed by his Viennese colleague N. Trubetzkoy, and he encouraged students to undertake similar structuralist studies of Austrian dialects. (Wiesinger 1996: 723)
119 Postkarte mit kleiner Ansicht von Bregenz (Vorarlberg), Wien, 11.12.1939 (AAVCR/ PLK/Kart. 2/i.e. 18). 120 „Adresär" mit ausländischen Gelehrten (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4) 121 Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 30.5.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Zur geplanten Abfolge weiterer Themenbände der Travaux vgl. im selben Protokoll den Tagesordnungspunkt 16.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Anton PlRKHOFER (1909 - 1969); Anglistik; Tübingen (ab 1932), Wien (ab 1935), Halle (ab 1940)'22 - zugesandte Publikation: Travaux IV Anders als die meisten anderen Dokumente des Fonds „PLK" am Archiv der Akademie der Wissenschaften in Prag richten sich die erhaltenen Briefkarten des jungen Innsbrucker Anglisten Pirkhofer an Bohumil Trnka nicht als den Sekretär des Prager Zirkels, sondern als Gewährsmann für die Phonologie, insbesondere die Phonologie des Englischen. Trnka beriet Pirkhofer nicht nur bei dessen Vorbereitung eines Referates, sondern versorgte ihn auch mit der in Innsbruck seinerzeit nicht greifbaren Lektüre. Die Briefe belegen, dass die Phonologie in Innsbruck bereits am Anfang der dreißiger Jahre Diskussionsthema auch im Studium war, und sie gewähren zugleich auch einen Blick auf den Weg der phonologischen Literatur, die durchaus nicht nur von Prag aus in den deutschsprachigen Raum eingeführt werden musste, sondern zu diesem Zeitpunkt bereits innerhalb der deutschsprachigen Gelehrtengemeinschaft zu zirkulieren' begann: I am very sorry to have troubled you about the off-prints of some papers of yours which I am interested in through my present line of study. I am trying to get all papers [unleserlich: there are?] on the subject of Phonology, especially as seen from the standpoint of modern English. I am already in the possession of some of the papers you mentioned as having been published in ,Xenia Pragensia' of 1929. They were kindly sent to me by Prof. Hittmair, and include the paper of Prof. Mathesius as well as an offprint of your ,Bemerkungen zur Homonymie'. I will try to get hold of the whole volume in which your paper on the Phonological Structure is contained, through the Indogermanische Seminary, for which I am preparing my ,Referat' on Phonology. With the best thanks for your kindness in sending me two of the desired volumes and for the valuable information you gave me. 123
Im nächsten Brief bittet Pirkhofer, ihm die geliehenen Publikationen „noch etwas länger zu überlassen", fällige Prüfungen hätten ihn gezwungen, das Referat, „das ich bei Herrn Prof. Amann halten will," auf das
122 Die biographischen Daten zu Pirkhofer verdanke ich Frank-Rutger Hausmann, der sie in österreichischen Archiven recherchiert hat. Eine kurze Darstellung der letztlich scheiternden akademischen Laufbahn des frühen NSDAP- und SA-Mitglieds Pirkhofer bringt Hausmann (2003: 492-493). 123 Briefkarte an Trnka, Innsbruck, 19.11.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Über die Veröffentlichungsorte der von Hittmair erhaltenen Separatdrucke ist Pirkhofer nicht ganz im Klaren. In Xenia Pragensia veröffentlichte Mathesius einen Text zur vergleichenden Phonologie und Trnka „Some remarks on the phonological structure of English" (Mathesius 1929 und Trnka 1929), dies sind die beiden einzigen phonologischen Beiträge zu dieser Festschrift. Trnkas „Bemerkungen zur Homonymie" stammen dagegen aus Travaux 4.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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Semesterende zu verschieben. Er gibt erneut einen knappen Lektürebericht und umreißt seine Zielsetzung wie folgt: Die Sache interessiert mich sehr; außer den von Ihnen überlassenen Schriften studiere ich auch die Festschrift für Schrijnen und von den ,Travaux' Bd. 4, mit den Vorträgen die auf der internationalen Prager Phonologic tagung von 1930 gehalten wurden. Es handelt sich für mich darum, einen Uberblick über den gegenwärtigen Stand der Phonologie mit allen ihren Einzelzweigen zu gewinnen, was bei der Verschiedenheit der Terminologie der verschiedenen Schulen nicht immer leicht ist. 124
Trnka muss in seinem Antwortschreiben nicht nur der „freundliche[n] Uberlassung der Phonologieschriften" zugestimmt, sondern Pirkhofer auch auf weitere Literatur zum Thema hingewiesen haben. Auch einen Kontakt mit Trubetzkoy hat Trnka offenbar vermittelt. Pirkhofer schreibt in seinem Dankesbrief: Ich habe schon einen Teil meines Referates gehalten und werde im nächsten Teil noch einen Überblick über die Beziehung der Phonologie zur historischen Sprachwissenschaft, über das Teleologische in ihr, und eine Verteidigung gegen den Vorwurf, sie sei nur ,Augenphilologie' geben. Es ist schade, daß ich dazu den Aufsatz von Herrn Dr. Vachek nicht mehr einsehen kann, der mich sehr interessiert hätte. Die Phonologie ist als Anregung jedenfalls außerordentlich wertvoll, und es wird mir eine Freude sein, Herrn Prof. Troubetzkoy über meine Arbeit zu berichten. Mein altes Interesse für Slawistik ist dabei erneuert worden, besonders wegen der Modernität ihrer Methoden. Herr Prof. Ammanji 125 ist selbst gut beschlagen in der Phonologie, auch Prof. Brunner. Mit Herrn Prof. Hittmair habe ich diese Tage eine Besprechung über dieses Thema. 126
Julius POKORNY (1887 Prag — 1970 Zürich); Indogermanistik, Keltologie; Zürich und Bern (ab 1943)
Berlin,
- zugesandte Publikation; Travaux IV - Teilnahme am 1., 3. und 4. Linguistenkongress 1928, 1933 und 1936 - Sonderdruck(e) Pokornys in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Wie eine ganze Reihe anderer Sprachwissenschafder in Deutschland bekam auch Pokorny 1931 den vierten Band der Travaux aus Prag geschickt. Der Vortrag, den er auf dem Ersten Linguistenkongress gehalten hatte und den eventuell auch Vertreter der Prager Schule gehört haben (Pokor124 Schreiben Innsbruck, 6.2.1933 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 125 Es handelt sich um Hermann Josef Ammann (1885 Bruchsal - 1956 Innsbruck), seit 1928 Prof. für Indogermanische und vergleichende Sprachwissenschaft in Innsbruck. 126 Postkarte mit Ansicht von Admont, Steiermark, an Trnka, Innsbruck 6.3.1933 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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ny o. J.), dürfte jedenfalls nicht der konkrete Anlass gewesen sein, gerade den Berliner Keltologen mit einem Freiexemplar zu bedenken. Pokorny bemüht in seinem Vortrag über die „Theorie der Substrate und die Entstehung des Indogermanischen" die üblichen Konzeptionen von „idg. Ursprache", „Kulturkreisen", „Rasse" (ebd.), die Trubetzkoy später mit scharfen Worten aus linguistischen Reflexionen „über das Indogermanenproblem" verwies (Trubetzkoy 1939). Auf einen näheren Kontakt deutet in den Prager Archivalien allenfalls die Notiz, dass sich in Trubetzkoys Bibliothek ein oder mehrere Sonderdruck(e) Pokornys fanden. In den edierten Briefen Trubetzkoys wird Pokorny allerdings gar nicht erwähnt (vgl. Trubetzkoy 1975). Walter PORZIG (1895 Ronneburg Thüringen - 1961 Main%); vergleichende Sprachwissenschaft und klassische Philologie; Bern, Jena (ab 1935), Straßburg (ab 1941) - zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux II, Travaux IV - Teilnahme an den ersten drei Linguistenkongressen 1928, 1931 und 1933 Im Fall von Walter Porzig scheint der Prager Zirkel den Kontakt aufgenommen und einen regelmäßigen Publikationstausch angeregt zu haben. In einer Postkarte an den „Cercle linguistique de Prague" stimmte er 1929 dieser Anregung zu, ohne dass ersichtlich würde, ob er auf die Büchersendung des Linguistik-Zirkels wirklich mit einer entsprechenden Sendung eigener Publikationen geantwortet hätte: Für die freundliche Übersendung der ersten beiden Nummern der Travaux du Cercle linguistique spreche ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank aus. Der reiche Inhalt hat mich sehr interessiert, und ich komme gern Ihrem Wunsche nach, Ihnen meine Veröffentlichungen, Kritiken usw. im Austausch zuzusenden. 127
Porzig bekam dann im darauf folgenden Jahr einen Separatdruck von Mathesius zugeschickt, mit dem er also offensichtlich in einem persönlichen Austausch stand: Für die freundliche Übersendung Ihrer interessanten Studie über die vergleichende Phonologie sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. 128
127 Postkarte mit Ansicht des Chateau d'Oex vom 22.12.1929, Wabern b. Bern (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 128 Postkarte mit Ansicht von Davos, Wabern b. Bern, 14.10.1930 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Bei dem angesprochenen Text dürfte es sich um Mathesius (1929a) gehandelt haben.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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Der letzte Beleg einer direkten Verbindung zur Prager Schule im ArchivFonds des Linguistik-Zirkels ist die Notiz, dass Porzig 1931 den vierten Band der Travaux bekommen hat (vgl. 3.2). Da Porzig vorwiegend auf dem Gebiet der Syntax und später vor allem der Semantik arbeitete, dürfte er kaum thematisches Interesse an der Phonologie gehabt haben. Daher findet aus dem ersten Band der Travaux vor allem der Aufsatz seines Fachkollegen Friedrich Slotty seine Aufmerksamkeit (Porzig 1962 [1930/31]: 261). Porzig hatte sich allerdings schon früh aus methodologischen Gründen den internationalen strukturalen Entwicklungen angenähert und insbesondere den Systembegriff übernommen: Die unbewußte Kollektiv-Intelligenz ist der Träger des sprachlichen Systems, auf den die Schüler de Saussures mit Recht den größten Wert legen. (Porzig 1928: 326) Porzigs wichtiger Beitrag über „Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen" von 1934 hält sich nicht nur in seinem Aufbau an die strikte Trennung von synchronischer und diachronischer Betrachtung, sondern versteht sich auch als „durchschlagende Widerlegung derjenigen, die am systemcharakter der spräche zweifeln" (Porzig 1973: 79). Wie weit Porzigs Interesse für Sach- und Geistesgeschichte oder seine eigentümliche Zuordnung von Intellekt zum Sprachsystem, dem er eine wesentlich affektive parole entgegen stellt (Porzig 1928), mit den Vorgaben Saussures wirklich vereinbar ist, kann hier nicht diskutiert werden. 129 Ob auch speziell die Phonologie für Porzigs Arbeiten eine methodologische Inspirationsquelle gewesen ist, wäre an seinen Texten im Einzelnen zu untersuchen. Der direkte Kontakt zur Prager Schule scheint jedenfalls eine Weile geruht zu haben, als Porzig sich Mitte 1937 in seiner Funktion als Mitherausgeber des Indogermanischen Jahrbuchs (zusammen mit Albert Debrunner, s.o.) an Trubetzkoy wandte. Dieser berichtet darüber wie folgt an Jakobson: Γ Ieo>KH/\aHiio ΙΙΟΛΥΗΙΙΛ niicbMO οτ Porzig'a, κοτορκΗ Tenepb peAaKTHpyeT «Indogermanisches Jahrbuch». O H XOHCT 3aBecTn Β STOM acypHaAe OTAEAHHyio DHÖAHorpacjiiiio no ΦΘΗΘΛΘΓΗΗ Η npeAAaraeT MHC BCCTH 3'iy pyGpHKy, HaHHHaH c 23-ΓΟ TOMa (cpOK npHCMAKH n e p B O r o o630pa — HIOAb 1938). BnÖAiiorpacjpHJi IJ Β AO CHX nop CBOAHAach κ cmicKy 3arAani A F o S o n w r a a a craTba p o c T O K C K o r o npHBaTAorteHTa Alfred Schmitt'a ο P A S A U H I I Η M O K A V d, b, g Η t, p, k Β H e MENKOM H3hnce. C ' i a i b H A i o ö o r r b r T H a a . CcuAaeTca Ha Φ Ο Η Ο Λ Ο Γ Η Κ ) , H O , n o B H A H M O M y , 3 H a e T T O A b K O p e r i C H 3 H i o 3 λ ι ι 3 Η Ρκχτερ. Ä y M a i o r r o o v a T b e M y C B O H O T T H C K H . (Trubetzkoy 1975: 239) In der Nummer 3-4 der Zeitschrift 'Theutonista' gibt es einen interessanten Artikel von dem Rostocker Privatdozenten Alfred Schmitt über den Unterschied zwischen d, b, g und t, p, k in der deutschen Sprache. Der Artikel ist interessant. Er weist auf die Phonologie hin, kennt aber offensichtlich nur die Rezension von Elise Richter. Ich denke, ich werde ihm meine Sonderdrucke schicken. 143
Auf dem wenig später einberufenen Phonetikkongress in Amsterdam gab es dann Gelegenheit zu persönlichen Begegnungen. Schmitt beteiligte sich aktiv an der „General Discussion" zu phonologischen Vorträgen Trubetzkoys und Havraneks, in die sich auch Jakobson einschaltete. Schmitt fordert in seinem protokollierten Diskussionsbeitrag eine terminologische Klärung des Phonembegriffs und bringt einen Einwand gegen die strikte Trennung von Phonologie und Phonetik vor. Sein Argument setzt dabei bezeichnenderweise gerade den „Funktionswert", den „phonologischen Gesichtspunkt" (Schmitt o. J.: 37), als primär an: 142 Brief Schalks an Trnka, Köln 28.11.1936 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 143 Bei dem erwähnten Artikel handelt es sich um Schmitt (1931b). Auch in seiner Habilitationsschrift über Akzent und Diphtongemng (Schmitt 1931a) bezieht sich Schmitt auf die Phonologie, vgl. die Rezension K. H. Meyers (1935), aus der ich oben in dem Meyer gewidmeten Abschnitt zitiere.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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Man kann nicht von Sprachlaut reden, ohne dabei schon eine im Grunde phonologische Einstellung zu haben, (ebd.)
Offenbar im Zusammenhang mit dieser Begegnung ist Schmitt dann der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft beigetreten 144 und sein Artikel über „Media, Tenuis und Aspirata" (Schmitt 1931b) wird in das bibliographische Bulletin dieser Organisation eingereiht (Bulletin d'information 1 1932: 61). Auch wenn Schmitt bis mindestens 1934 nachweislich Neuerscheinungen aus Prag zugeschickt bekam, scheint der persönliche Austausch aber für einige Jahre eher geruht zu haben. Trubetzkoy bedauert später, dass Schmitt in den Jahren nach 1932 „nicht Gelegenheit finden konnte, mit den Phonologen in unmittelbaren Kontakt zu treten" und es keine ,,persönliche[...] Rücksprache" oder „Briefwechsel" (Trubetzkoy 1937: 130) gegeben habe. Erst mit der Veröffentlichung von Alfred Schmitts „Die Schallgebärden der Sprache" im Jahr 1936 wird eine zweite Phase, diesmal sehr kritischer Diskussion eröffnet. Seinem als Grundsatzartikel angelegten Text schickt Schmitt eine „Vorbemerkung" voran, die nicht nur eine jahrelange Auseinandersetzung mit der Phonologie erkennen lässt, sondern diese regelrecht als Bezugsrahmen für die eigene wissenschaftliche Arbeit herausstellt: Meine Untersuchung hat mich zur Ablehnung des Phonembegriffes der phonologischen Schule gefuhrt und damit in Widerspruch zu Forschern gebracht, deren Persönlichkeit und wissenschaftliche Leistung ich hoch verehre. Ich habe daher den Ergebnissen meiner Arbeit anfangs selbst recht skeptisch gegenübergestanden. Aber seit der Abfassung des ersten Entwurfs, der etwa zwei Jahre zurückliegt [nach der Datierung der Vorbemerkung: 1932], bin ich jedesmal bei neuer Uberprüfung wieder zu dem gleichen Schluß gekommen; daher glaube ich, jetzt meine Untersuchung, ohne mich dem Vorwurf leichtfertiger Übereilung auszusetzen, der Öffentlichkeit vorlegen zu dürfen. (Schmitt 1936: 57)
Anders als in vielen anderen Fällen, hält Trubetzkoy die Einwände Schmitts für so bedenkenswert, dass er dessen Artikel seinerseits eine ausführliche Besprechung widmet (Trubetzkoy 1937). Er nutzt dabei die Gelegenheit, in einem prominenten deutschen Fachorgan, Zwirners Archiv für vergleichende Phonetik, die Grundlagen der Phonologie noch einmal in bündiger und anschaulicher Form darzustellen. Demnach erweisen sich Schmitts Einwände gegen die Phonologie im Wesentlichen als bloßes „Mißverständnis" (ebd.: 130), welches darauf beruhe, dass ihm „der Be144 Vgl. Trubetzkoy (1937): 130, wo allerdings als Zeitangabe für Schmitts Mitgliedschaft nur „vor ein paar Jahren" gegeben wird. Schmitt ist auf einer „Liste de membres de ['Association Internationale pour les etudes phonologiques" (AAVCR/ PLK/ 1/ i.e. 12) aufgeführt, die auf die zweite Hälfte der dreißiger Jahre zu datieren ist. Auf den erhaltenen Listen früherer Entstehungszeit ist er noch nicht verzeichnet.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
griff des Systems [...] ebenso wie die Begriffe Funktion und Opposition" fern lägen (ebd.: 151). Trubetzkoy schließt seine Erwiderung daher mit der Hoffnung, daß nach der Klärung der Mißverständnisse, die diesen scharfsinnigen Forscher auf den Irrweg der Ablehnung der Phonologie geführt haben, er wieder in unsere Reihen eintreten wird, um am Aufbau einer neuen strukturellen Sprachwissenschaft schaffend mitzuwirken, (ebd.: 152) Offenbar setzen die beiden Opponenten die Diskussion auch „brieflich" (Schmitt 1938: 161) fort. Trubetzkoys Hoffnungen erwiesen sich aber bald als zu optimistisch. Schmitt veröffentlicht 1937 nicht nur eine recht negative Besprechung von Trubetzkoys Anleitung (Schmitt 1937), sondern er weist auch Trubetzkoys Entkräftung seiner Kritik mit einer umfangreichen Erwiderung „Über den Begriff des Lautes" (Schmitt 1938) - wieder im Archiv für vergleichende Phonetik — zurück. Auch wenn Schmitt hier einzelne Gegenargumente Trubetzkoys diskutiert, beharrt er letztlich auf seinen früheren Positionen. Für ihn umfasst das „Normensystem einer Sprache" auf der lautlichen Ebene „die übliche Aussprache der Worte, oder, wie ich es an anderer Stelle [Schmitt 1936] bezeichnet habe, die Normalform der Schallgebärden" (Schmitt 1938: 171). Die Phoneme akzeptiert er allenfalls als „Beschreibungsbegriffe" (ebd.: 173), um die gestalthaften Aussprachenormen von Sprachlauten vereinfachend zu charakterisieren. Als Beschreibung von komplexen lautlichen Realisierungsnormen Hegt Schmitts Phonembegriff damit viel näher an der statistisch fundierten Phonemkonzeption Zwirners als an der distinktiven Phonemdefinition der Prager Schule. Ungeachtet der bleibenden Differenzen betrachtet man Schmitt in Prag aber weiterhin als wichtigen Ansprechpartner in Deutschland, den man etwa zur Subskription des siebten und achten Bandes der Travaux einlud (vgl. 3.2). Ob er die Bände tatsächlich bestellt hat, ist archivalisch vorerst nicht belegt. Den sechsten Band der Travaux hatte Schmitt 1939 in einer Rezension vorgestellt, die sich aber auf eine ausführliche Inhaltsangabe ohne nähere Einlassungen beschränkte (vgl. Schmitt 1939). Levin Ludwig SCHÜCKING (1878 Burgsteinfurt Anglistik; Leipzig
— 1964 Farchant,
Oberbayern);
- zugesandte Publikation: Travaux III Dass der Anglist Schücking am Anfang der dreißiger Jahre Trnkas On the Syntax of the English Verb (Travaux III) als Freiexemplar zugeschickt bekam, lag aus fachlicher Sicht nahe. Offensichtlich bestand aber zwischen Schücking und Vertretern des Prager Zirkels auch in der Folgezeit eine Verbindung, denn man erfuhr 1935 von Schückings Plan einer Pragreise und
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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scheint ihn daraufhin auch zu einem Vortrag im Linguistik-Zirkel eingeladen zu haben. Als der Ausschuss der Vereinigung im April 1935 über die Veranstaltungsfolge im Mai beriet, legte man einen geplanten Vortrag Schückings auf den 27.5.1935 fest: Ο tyden pozdeji by prednäsel prof. Schücking, nävstivi-li Prahu. 145 Eine Woche später [nach dem Vortrag Camaps am 20.5.] würde Prof. Schücking vortragen, falls er Prag besucht.
Der Besuch im Prager Zirkel ist nicht zustande gekommen. Die Tatsache, dass für den Kontakt mit Schücking keine weiteren Belege im Prager Archivbestand existieren, deutet darauf hin, dass die Verbindung hier über einzelne Vertreter des Prager Zirkels, wahrscheinlich Mathesius oder Trnka, vermittelt war, die dann auch die notwendige Korrespondenz für eine Vortragseinladung führten. Schückings Soziologie der literarischen Geschmacksbildung (Schücking 1923) ist schon in den zwanziger Jahren ins Russische übertragen und im Umfeld des russischen Formalismus rezipiert worden. 146 Jan Mukarovsky zitiert in seiner literatursoziologischen Grundsatzschrift über Ästhetische Funktion, Norm und Wert als soziale Fakten sowohl aus Schückings Original wie aus dessen russischer Ubersetzung (Mukarovsky 1936: 40 und 54). Das Buch ist für die tschechoslowakische Literaturwissenschaft so bedeutsam, dass es noch im Zweiten Weltkrieg in slowakischer Ubersetzung erscheint, die der Mukarovsky-Schüler Mikulas Bakos mit einem programmatischen Vorwort einleitet (vgl. Chvatik 1981: 65-66). Vermutlich begründete sich hier das Interesse der Prager Schule an einer Einladung Schückings in den Linguistik-Zirkel. Eine genauere Untersuchung der Verbindung zwischen Schücking und der Prager Schule wäre von besonderem Interesse, da es sich hier um einen der sehr wenigen Kontakte zu deutschen Gelehrten handelt, bei dem ein literaturwissenschaftlicher Hintergrund vorausgesetzt werden kann. Hans SPERBER (1895 Wien - 1963 Columbus, OH, USA); Germanistik; Köln, Columbus (seit 1933) - zugesandte Publikation: Travaux IV Der Nachweis, dass Sperber den vierten Band der Travaux aus Prag zugeschickt bekam, ist der einzige archivalische Beleg in den Prager Materialien für einen direkten Kontakt zum Linguistik-Zirkel.
145 Vgl. Protokoll der Sitzung vom 27.5.1935 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). 146 L. Sjukking, Sodologtja literaturnogo vkusa. Leningrad, 1928, mit einem Vorwort von Viktor Zirmunskij. Ich danke Michael Dewey für diesen Hinweis.
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Leo SPITZER (1887 Wien - 1960 Forte dei Marmi, Italien); Romanistik; burg, Köln (ab 1930), Istanbul (ab 1933), Baltimore (ab 1936)
Mar-
- zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux II, Travaux III, Travaux IV, Travaux V2 - Teilnahme am 1. Linguistenkongress 1928 - Sonderdruck(e) Spitzers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Zu einer ersten intensiven Begegnung kam es auf dem ersten Internationalen Linguistenkongress, wo Spitzer mit Trubetzkoy und Jakobson zusammentraf: Both met Spitzer in 1928, during the Hague Congress of Linguists, and had a long and friendly nocturnal discussion with him about the concept of System' in linguistics. (Trubetzkoy 1975: 294, Anm. 3) Im Oktober 1931 erreichte den Sekretär des Prager Zirkels dann ein französisches Schreiben aus dem Romanischen Seminar der Universität Köln. In diesem Brief wurde zunächst die am dortigen Institut unter Leitung von Leo Spitzer herausgegebene Reihe der „Kölner Romanistischen Arbeiten" mit ihren bereits erschienen und den in nächster Zeit geplanten Bänden vorgestellt. Sodann unterbreitete die unterzeichnende Assistentin, „Spitzers Lieblingsschülerin Rosemarie Burkart" (Hausmann 2000: 301), das folgende Tausch- und Kooperationsangebot: Nous serions heureux si votre universite voulait bien echanger ses propres publications dans le domaine roman contre les volumes de la collection de Cologne. Dans l'espoir de voir s'organiser entre nos deux universites une heureuse collaboration sur l'objet commun de nos etudes, nous vous prions, Monsieur, de bien vouloir agreer l'expression de notre consideration distinguee.147 Dieses AnHegen ist, vielleicht da es nicht durch Spitzer selbst formuliert wurde, etwas schief vorgetragen. Der Brief richtet sich an „M. le Secretaire du ,Cercle Linguistique de Prague'", an eine Institution also, die als eigenständiger wissenschaftlicher Verein zwar universitätsnahe arbeitete, aber wohl kaum über Publikationen der Universität verfügen konnte. Außerdem wäre der Prager Zirkel für Publikationen speziell zur Romanistik eher eine ungeeignete Adresse gewesen. Der gleich zum Jahresbeginn eingehende Dankesbrief Leo Spitzers zeigt denn auch, dass das Ansinnen doch etwas anders gemeint und vom Empfänger auch entsprechend verstanden worden war:
147 Schreiben R. Burkarts an „M. le Secretaire du ,CercIe Linguistique de Prague'", Köln, 19.10.1931 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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Für Ihre gütige Zustimmung zu unserem Vorschlag des Reihentausches und für die Übersendving der vier Bände der ,Travaux du Cercle Linguistique de Prague' sage ich Ihnen ergebenst Dank. Ich habe veranlasst, dass unser Verleger Ihnen sogleich die drei bisher erschienenen Bände der ,Kölner Romanistischen Arbeiten' zusendet. Die späteren Bände werden Ihnen jeweils nach Erscheinen zugehen. In der Hoffnung auf eine weitere fruchtbare Ausgestaltung und Fortdauer der Beziehungen unserer Institute zeichne ich mit vorzüglicher Hochach-
Es blieb nicht allzu viel Zeit für eine fruchtbare Ausgestaltung der Beziehungen, denn Spitzer wurde schon im darauf folgenden Jahr als Jude zwangspensioniert und ins Exil gezwungen. Der Prager Zirkel hielt dessen ungeachtet am Reihentausch zunächst fest und gab im April 1934 dem Prager Verlag die Anweisung, den gerade erschienenen fünften Band der Travaux als Rezensionsexemplar nach Köln zu schicken. In der Zieladresse fehlt schon der Name Spitzers, und die Sendung geht lediglich an „Kölner romanistische Arbeiten, Köln, Universität" 149 . Ob der Publikationstausch mit dem Kölner Romanischen Seminar später unter Fritz Schalk, mit dem der Linguistik-Zirkel ja ebenfalls in Verbindung stand, fortgesetzt bzw. wieder aufgenommen wurde, ist vorerst nicht erkennbar.150 Dagegen nimmt Spitzer aus seinem türkischen Exil recht bald mindestens noch einmal Kontakt auf. Trubetzkoy berichtet Ende 1933 in einem Brief an Jakobson, dass Spitzer ihm aus Istanbul geschrieben habe, um zu fragen, „ob es eine deutsche oder französische Ubersetzung meiner ,Turanischen Elemente'" 151 (d. i. Trubetzkoy 1925) gebe. Dass Spitzer Interesse an einer so speziellen, eurasiatischen Veröffentlichung Trubetzkoys äußert, ist schon verwunderlich. Uberraschend ist auch die Tatsache, dass Trubetzkoy dem seinerzeit dringend Anstellung suchenden Jakobson empfiehlt, sich an Spitzer zu wenden und ihn zu bitten, sich für seine Berufung nach Istanbul einzusetzen. Spitzer ist zwar überhaupt „der einzige (mir und Ihnen) bekannte Professor aus Istanbul" (Trubetzkoy 1975: 293294), Trubetzkoy hält die Verbindung zu ihm jedenfalls noch 1933 für so
148 Schreiben Spitzers an Trnka, Köln, 7.1.1932 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 149 Schreiben des PLK (frz. Briefkopf) an Jednota ceskoslov. matematikü a fysikü, Prag, 10.4.1934 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2 / i.c.19). 150 In der umfassendsten Zusammenstellung über die Publikationstauschverbindungen des Prager Zirkels ist jedenfalls weder von Spitzer noch von seinen Kölner Komanistischen Arbeiten, sondern nur vom „Roman. Seminar der Universität Köln" die Rede (Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935-1941", dort Liste „Vymena publikaci" am Ende des Heftes). 151 Brief Trubetzkoys an Jakobson vom 5.12.1933, in Trubetzkoy (1975): 294.
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tragfähig, dass er hier realistische Chancen für eine Vermittlung zugunsten Jakobsons sieht. Dass Spitzer die Entwicklung der Phonologie von Beginn an mit eher skeptischem Interesse verfolgt hat, wird schon an seinem Bericht über den ersten Linguistenkongress in den Haag deutlich. Die „interessanten Vorschläge der französischen Schweizer und Russen (Bally, Sechehaye, Karcevski, Trubetzkoj, Jakobson)" und die manifesthaft propagierte Trennung von Phonetik und Phonologie, geben ihm vor allem Anlass, den eigenen Vossler-nahen, „deutschen" Ansatz antithetisch gegen die strukturalen Neuerungen abzugrenzen: Der deutsche Standpunkt, der in der Sprache doch vorwiegend das Schöpferische, die Energeia sieht, kam dieser französisch-russischen Betrachtung des Systemhaften an der Sprache gegenüber wenigstens öffentlich nicht zu Wort. (Spitzer 1928: 441)
Im amerikanischen Exil beteiligte sich Spitzer später an offenen „polemischen Auseinandersetzungen" (Maas 1992: 475) mit strukturalen Ansätzen in der dortigen Sprachwissenschaft (ebd.: 474-475). Mindestens bis in die fünfziger Jahre bleibt aber der Kontakt immerhin so eng, dass Jakobson sich an der Festschrift für Spitzer mit einem eigenen Beitrag beteiligt (Jakobson 1958). Ob Spitzer wirklich, wie Utz Maas urteilt, „die Entwicklungen der Sprachwissenschaften seit den 20er Jahren einfach nicht verstand" (Maas 1992: 475), wäre an einer genauen Analyse seiner Rezeption dieser Entwicklungen in der damaligen Zeit erst zu prüfen. Wolfgang STEINITZ (1905 Breslau - 1967 Berlin); Finno-Ugnstik, Berlin, Leningrad (ab 1934), Stockholm (ab 1937)
Slawistik;
- zugesandte Publikationen: Travaux VII, Travaux VIII - Sonderdruck(e) von Steinitz in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Am 14.3.1935 machte Trubetzkoy Jakobson in einem Brief auf die Dissertation von Wolfgang Steinitz aufmerksam. Das Buch über den Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung biete „umfangreiches Material" (Trubetzkoy 1975: 331) für Jakobsons damalige Studien zum Epos und zum Klagelied. Jakobson muss diesem Hinweis tatsächlich bald nachgegangen sein, denn im Frühjahr 1936 veröffentlicht er in der Präger Presse eine Rezension unter anderem zu Steinitz, in der er dessen „bahnbrechende[n] Versuch einer ,Grammatik des Parallelismus'" (Jakobson 1966: 62) in ihrem Geltungsbereich prinzipiell auch auf russische Bylinen und epische Volksdichtung anderer Ethnien ausweitet. Die gemeinsamen Interessen beschränken sich aber nicht auf poetologische bzw. folkloristische Themenbereiche, vielmehr ist es der 1934 in die Sowjetunion emi-
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grierte Steinitz, der phonologische Beschreibungen in die Finno-Ugristik einführte. 152 Steinitz selbst hebt 1938 auf dem Kopenhagener Anthropologie-Kongress den Gewinn hervor, den die phonologische Perspektive gegenüber einer phonetischen Analyse der einzelnen finno-ugrischen Sprachen erbringen kann: Die finnischen Forscher beobachten auf das Genaueste die verschiedenen Artikulationsstellungen, Quantitätsverhältnisse usw., verstehen aber nicht das Lautry.rfe«?, das die Laute in jeder einzelnen Sprache in besonderer Weise bilden, unterscheiden also nicht Phoneme und kombinatorische Varianten. So bezeichnet z.B. Karjalainen im Kasymer Dialekt des Ostjakischen 21 qualitativ verschiedene Vokale - es gibt aber nur 10 Vokalphoneme, das Vokalsystem ist also gar nicht besonders kompliziert. Die unerhört komplizierte, unübersichtliche Transkription hat sowohl den Aufzeichnenden selbst wie den Mitforschern das Verständnis des Lautsystems dieser Sprachen erschwert [...]. (Steinitz 1939: 375)
Spätestens auf diesem Kongress hatte Steinitz Gelegenheit zu einer Begegnung mit Petr Bogatyrev, der hier ebenfalls einen Vortrag hielt (Bogatyrev 1939). Offensichtlich entwickelte sich mit dem Ethnographen der Prager Schule ein so enger fachlicher Austausch, dass dieser Steinitz noch Jahrzehnte später einen Beitrag in seiner Festschrift widmete (Bogatyrev 1965). An der Steinitz-Festschrift beteiligte sich übrigens auch Jakobson mit einem Artikel (Jakobson 1965). Die politischen Entwicklungen nach 1939 brachten Steinitz und Jakobson schon bald in einen unvorhersehbar direkten und langwährenden persönlichen Zusammenhang. Als Jakobson auf seiner Flucht durch Skandinavien vor den nachrückenden deutschen Truppen zwischen April 1940 und Mai 1941 für ein Jahr im schwedischen Exil lebte (vgl. Jangtfeld 1997), begegnete er dort dem deutschen Emigranten: In Stockholm trat ich mit zwei Ausländern in Verbindung, Jänos Lötz (19131972) 153 und Wolfgang Steinitz (1908-1967). Beide waren Spezialisten für finno-ugrische Sprachen und arbeiteten am Institut für Ungarisch an der dortigen Hochschule. Wir trafen uns jede Woche einmal, um Fragen der Phonologie zu diskutieren, die sich uns stellten. Auf der Grundlage der Erkenntnisse, die uns über die slavischen Sprachen und das Französische bereits vorlagen, und nach der Analyse des Ungarischen und verwandter sibirischer Sprachen konnten wir feststellen, daß die phonologische und die grammatische Ordnung methodologisch sehr eng miteinander verbundene Probleme aufwerfen. (Jakobson/Pomorska 1982: 39)
152 Gulya (1996): 885. Vladimir Skalicka bedauert schon 1939, dass das phonologische Vorgehen von Steinitz in der finnougrischen Sprachwissenschaft noch keine größere Vorbildwirkung entfaltet habe (Skalicka 1939: 63). 153 Das lexicon grammaticorum, hrsgg. von Stammerjohann, gibt als Todesjahr von Lötz 1973 an.
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Kaum einen Monat nach Jakobsons Ankunft in Stockholm wurde in Prag der tschechische Verlag der Travaux „auf Wunsch Prof. Havraneks" 154 beauftragt, Freiexemplare des siebten und achten Bandes an Steinitz nach Schweden zu schicken. Die persönliche und inhaltliche Nähe von Wolfgang Steinitz zur klassischen Prager Schule hatte nach dem Krieg unmittelbare Auswirkungen auf die Rezeption des Strukturalismus in der DDR, in der Steinitz bald eine einflussreiche Rolle in der Wissenschaftspolitik einnahm. 155 Gegen die vulgärmarxistischen Lehren Nikolaj Marrs hatte im Sommer 1950 Stalin persönlich eine Debatte um die marxistische Sprachwissenschaft eröffnet, die eiligst auch in der DDR aufgegriffen wurde. Gegen die allzu einsinnige Fachöffentlichkeit setzte sich Steinitz im Neuen Deutschland dafür ein, einen standhaften Anti-Marristen wie Viktor Vinogradov, aber auch die diffamierte Strukturale Methode der russischen Sprachwissenschaft der \7orkriegszeit (Trubeckoj, Jakobson u.a.) oder des .bürgerlichen' de Saussure zu rehabilitieren. (Bott im Druck b: 14) Am Beispiel des überstürzten und politisch forcierten Aufbaus des Sonderlehrgangs für Slawisten an der Humboldt-Universität zeigt die minutiöse Untersuchung von Bott (im Druck b), welches taktische Geschick es Steinitz abforderte, innerhalb der proklamierten marxistischen Sprachwissenschaft fachliche Standards zu verteidigen. Steinitz war es zu verdanken, dass man den Mitgliedern des Lehrgangs neben intensiver ideologischer Schulung auch „die Methode strukturaler Sprachbetrachtung vermittelte" (ebd.: 28). In der DDR wurde am „Ende der fünfziger Jahre auf Anregung von W. Steinitz eine ,Arbeitsstelle Strukturelle Grammatk' eingerichtet" (Albrecht 1988: 79), die in der Adaption auch des amerikanischen Strukturalismus zu einem frühen Zentrum für strukturale Sprachforschung in Deutschland wurde. Manfred SZADROWSKY (1886 Rorschach, St. Gallen - 1974 Chur); Chur und Zürich
Germanistik;
- zugesandte Publikationen: Anleitung Der 1930 in Zürich habilitierte Germanist hatte sich zunächst an den Kommissionsverlag Harrassowitz gewandt, um ein Exemplar von Trubetzkoys Anleitung ψ phonologischen Beschreibungen - vermutlich als Rezensionsexemplar — zu bekommen. Harrassowitz leitete diese Anfrage dann an den Prager Zirkel weiter. Schon einen Tag nach dem Eingang der Anfrage 154 Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vyraena publikaci 1935-1941", dort Eintrag vom 7.6.1940 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). 155 Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Steinitz lotet auf breiter Quellenbasis die Monographie von Bott (im Druck a) aus.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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geht am 12.5.1936 an Harrassowitz die Nachricht ab, dass Szadrowsky das gewünschte Buch aus Prag geschickt bekommen habe.156 Max VASMER (1886 St. Petersburg - 1962 Berlin); Slawistik; Berlin - zugesandte Publikationen: Conference, Travaux V2 - Sonderdruck(e) Vasmers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Als Herausgeber der bald schon international renommierten Zeitschrift für slavische Philologie und als Inhaber des Berliner Lehrstuhls für Slawistik war Vasmer für den Prager Zirkel natürlich schon früh eine wichtige Kontaktperson in Deutschland. Trubetzkoy ist gleich im ersten Jahrgang (1925) von Vasmers Zeitschrift mit zwei Beiträgen vertreten und veröffentlichte auch in den Folgejahren häufiger an diesem Ort.157 Neben Trubetzkoy und vor allem Tschizewskij, der über Jahre eine Art Stammautor bei Vasmer wurde, nutzten andere Mitglieder des Prager Zirkels die Zeitschrift allerdings nur sehr selten als Forum. Vasmers Bedeutung wird aber beispielsweise auch an der Tatsache deutlich, dass Jakobson ihn mindestens zweimal persönlich in Berlin aufsuchte, um sich bei ihm für seinen Freund und Lehrer Nikolaj Durnovo einzusetzen. Auch diese brieflich dokumentierten persönlichen Kontakte bestanden bereits in der Gründungszeit des Zirkels.158 In den dreißiger Jahren bekam Vasmer mindestens zwei Bücher des Prager Zirkels als Freiexemplare zugeschickt und wurde zur Subskription des siebten und achten Bandes der Travaux eingeladen (vgl. 3.2). In einem erhaltenen Dokument wird er gar unter die „Freunde des Zirkels" 159 gezählt. Fachlich war diese Verbindung allerdings eher locker. Mit seiner „Lebensaufgabe und -leidenschaft" (Bott 1999: 157), der Etymologie des Russischen, richtete sich Vasmers Interesse auf einen Themenbereich, der der Prager Schule recht fern lag. Auch auf der Ebene der Methodologie gab es keine größeren Annäherungen:
156 Vgl. die entsprechenden Notizen in den Verzeichnissen eingegangener und abgeschickter Korrespondenz vom 11. bzw. 12.5.1936 in den Heften „Dosle dopisy 19351953" und „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935-1941" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 1 und 2). 157 Insgesamt publizierte Trubetzkoy zwischen 1925 und 1937 zehn Titel in der Zeitschrift. 158 Von einem Treffen mit Vasmer in Berlin berichtet Jakobson in einer Postkarte vom Sommer 1926 und von einem weiteren Treffen in einem Brief vom 4.2.1927, beide abgedruckt in Toman (Hrsg. 1994: 102 und 105-108). 159 Brief Trnkas, Prag, den 28.4.1933 an einen nicht namentlich genannten „Herrn Doktor", der unter anderem mit der Verschickung von Separatdrucken beauftragt wird (AAVCR/ PLK/ 2/ i.e. 19).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Vasmer arbeitete immer strikt nach den erprobten Methoden der vergleichenden und historischen Sprachwissenschaft, in junggrammatischer Ausrichtung, und die Tatsache, daß er keinerlei Stellung zu neueren Thesen, vornehmlich denen des Strukturalismus, bezog, läßt darauf schließen, daß er es nicht für notwendig erachtete sich mit den oder einigen der später so zahlreich gewordenen Richtungen, in welche der Strukturalismus sehr bald zerfiel, auseinanderzusetzen, zumal da sie ja auf Vasmers ureigenstem Gebiet, dem der Etymologie, nicht tätig geworden sind.160 Diese fachliche Distanz findet auch in einem internen Bericht ihren Ausdruck, den Vasmer nach seinem Besuch des ersten Internationalen Slawistenkongresses 1929 beim Innenministerium vorlegte: Im Allgemeinen kann vom Kongress gesagt werden, dass recht viele unnötige Vorträge gehalten worden sind und bleibende wissenschaftliche Ergebnisse fast nur von den dort gebildeten Kommissionen (für Bibliographie, Flurnamen, Transkriptionsfrage, Editionstechnik usw.), aber schwerlich von allen, erwartet werden können.161 Der massive Auftritt des Prager Linguistik-Zirkels, der dem Kongress den ersten Band der Travaux vorlegte und der die Diskussion in den Sektionen maßgeblich bestimmte, scheint Vasmer keineswegs überzeugt zu haben. Sowohl das zukunftweisende Programm einer methodologisch neu begründeten Slawistik, das der Zirkel mit seinen kollektiven Thesen verbreitete, als auch die von ihm eingebrachten Initiativen zu einer internationalen Kooperation verschiedener slawistischer Forschungsvorhaben, bewertet Vasmer offensichtlich mit großer Skepsis. Walther von WARTBURG (1888 Riedhol$ Schweif -1971 Ijiusanne (ab 1928), Leipzig (ab 1929), Basel (ab 1940)
Basel);
Romanistik;
- zugesandte Publikation: Travaux IV - Teilnahme am 2. Linguistenkongress 1931 Die einzige archivalische Spur einer Verbindung zwischen dem seinerzeit in Leipzig wirkenden Romanisten und der Prager Schule ist ein doppelter Beleg dafür, dass ν. Wartburg den vierten Band der Travaux zugeschickt bekam. Dem (unbekannten) Verfasser einer der beiden Namenslisten mit Empfängern für Rezensionsexemplare, auf denen v. Wartburg verzeichnet
160 Menges (1991): 164, den Hinweis auf diese Einschätzung verdanke ich Marie-Luise Bott, vgl. ähnlich Zeil (1994): 433. 161 Vierseitiger „Bericht über den Ersten Internationalen Slavistenkongress in Prag, 5. — 14. Oktober 1929", mit einem Begleitbrief vom 14.12.1929 eingereicht bei „Herrn Ministerialrat Donneverth" im Reichsministerium des Inneren (BArch./ REM 4901/ 2939: Bl. 11-15, hier 13-14).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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ist, schien zum damaligen Zeitpunkt der Adressat offenbar erklärungsbedürftig: er fügt dem Namen in Klammern den Zusatz „romanista" an. 162 Wirkungsgeschichtlich wirft diese dünne Spur aber eine interessante Fragestellung auf. Wartburg erhielt den vierten Band der Travaux, in dem Jakobson unter anderem seine „Prinzipien der historischen Phonologie" abdruckte, im selben Jahr, in dem er seine bedeutende Antrittsvorlesung an der Leipziger Akademie hielt. Sein Plädoyer für Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft (Wartburg 1975 [1931]) und seine Argumentation gegen den Dualismus von Synchronic und Diachronie bei de Saussure weist große Ähnlichkeiten mit früheren und zeitgleichen Argumenten des diachronischen Strukturalismus der Prager Schule auf. Das geht bis zu einer sehr ähnlichen Weiterentwicklung der Saussureschen Gleichgewichtsmetaphorik (vgl. auch meine Fallstudie zu Jost Trier im Abschnitt 4.3). Wartburg beharrt aber mit gewissem Recht darauf, er habe seine Einbeziehung „des freien Waltens der schöpferischen Phantasie" in die Konzeption eines Gleichgewicht erhaltenen Sprachwandels „sonst nirgends ausgesprochen gefunden" (Wartburg 1932: 143). Es habe hier keine theoretische Vorlage (und schon gar nicht bei Vossler) gegeben, sondern seine Anschauungen seien aus seiner praktischen Wortschatzarbeit hervorgegangen. Kurt Baldinger, der seit 1939 bei Wartburg studierte und später dessen Assistent wurde, bestätigt in seinen Erinnerungen Wartburgs grundsätzliche, aber kaum weitergehende Vertrautheit mit der Phonologie: Allerdings rezipierte ich [nach 1939] auch jüngere Entwicklungen: Dazu gehörte damals die noch junge Phonologie, die Wartburg nur bejahend zur Kenntnis nahm (aber er ließ ein entsprechendes Kapitel in der 2. Aufl. der Problematik und Methodik von 1962 doch lieber von Stephen Ulimann redigieren). (Baldinger 1991: 33)
In der ersten Auflage des genannten Buches von 1943 rekurriert Wartburg auf die Phonologie in der Tat gleichsam aus doppelter Distanz. Er verweist auf sie ausschließlich in einem Verzeichnis „besonders wertvoller]" Literatur, „auf die aber der Text des Buches keinen Bezug nehmen konnte". Sodann gibt er in dieser Liste als einzigen Originaltitel nur den Travaux-Band an, den er nachweislich aus Prag bekommen hatte, und empfiehlt im Übrigen die sekundäre Darstellung bei Maurice Grammont als Informationsquelle in Sachen Phonologie (Wartburg 1943: V). In Prag kommt man nach der Lektüre von Wartburgs Buch zu dem kritischen Urteil, sein Autor sei „theoretisch nicht auf der Höhe der Zeit" (Trost
162 Handschriftliche Liste „Publ. dostanou 4. svazek Trav." (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23), vgl. Abschnitt 3.2.
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
1943: 220).163 Er kenne Weisgerber (!) und Bühler nicht, vertrete eine vorsaussuresche Zeichenkonzeption und betreibe eine mangelhafte „Phonologie auf eigene Faust" (ebd.). Das Wechselverhältnis von Nähe und Distanz zum Prager Strukturalismus gäbe reichen Stoff für eine eigene historiographische Fallstudie zu Walther von Wartburg. Max WEINREICH (1894 Goldingen, New York (ab 1940)
Kurland
-
1969); Jiddistik;
Wilna,
- zugesandte Publikation: Anleitung - Teilnahme am 4. Linguistenkongress 1936 - Sonderdruck(e) Weinreichs in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Ausgangspunkt des vergleichsweise spät aufgenommenen Kontaktes mit Weinreich war eine persönliche Begegnung auf dem Linguistenkongress von 1936: Communications with Μ. Weinreich developed after the Copenhagen Congress, where his paper, ,Yiddish als Gegenstand der allgemeinen Sprachwissenschaft', favorably impressed NT [Ν. Trubetzkoy]. 164
In Trubetzkoys Briefen an Jakobson wird Weinreich das erste Mal am 2.8.1937 erwähnt. Trubetzkoy schreibt hier, er habe Weinreich einen der phonologischen Fragebögen der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft geschickt (Trubetzkoy 1975: 396). Mit ihrer breit angelegten Fragebogenaktion zielte die Arbeitsgemeinschaft auf eine Sammlung „of brief phonological descriptions of the greatest possible number of present-day languages and dialects" (Information bulletin 2 (1936): 1). Trubetzkoy beschwert sich in seinem Brief, er habe Weinreich eine französische Version des Bogens senden müssen, da man ihm aus Prag trotz Anforderung immer noch keine deutschen Exemplare geschickt habe. In einem späteren Brief teilt Trubetzkoy mit, Weinreich habe ihn Mitte September gebeten, ihm „fünf Exemplare des deutschen Textes des Fragebogens und fünf Exemplare der Anleitung" zu schicken und angefragt, ob es möglich sei, die Bücher in Polen zu bezahlen (Trubetzkoy 1975: 399). In einer engen Folge zunehmend dringender und ärgerlicher Briefe versuchte Trubetzkoy über Jakobson Druck auf Mathesius und Trnka auszuüben, der Anfrage Weinrichs schnell und wunschgemäß entgegenzukommen. Die Unkoordiniertheit und schleppende Abwicklung solcher Anfragen durch 163 Vgl. die - freilich nicht so harsch formulierte - Kritik des Buches durch Eduard Hermann, s.o. Abschnitt zu Hermann. 164 Trubetzkoy (1975): 406, Anm. 1, vgl. Weinreich (1938).
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3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
die offensichtlich überlastete Organisation des Prager Zirkels sei ein „internationaler Skandal" (ebd.: 406). In der Tat hatte Weinreich sich seinerseits am 22. Oktober noch einmal mit einer Postkarte an Trubetzkoy gewandt: Vielleicht wäre es Ihnen möglich, den betreffenden Herrn in Prag daran zu erinnern, uns die 5 Exemplare Ihrer Anleitung zu schicken? Sie sind nämlich bis jetzt nicht angekommen, (zit. bei Trubetzkoy 1975: 406)
Am 29.10.1937 sind dann endlich jeweils fünf Exemplare von Trubetzkoys Anleitung und des deutschen phonologischen Fragebogens an „Prof. Weinreich, Vilna" aus Prag abgegangen. 165 Die Hartnäckigkeit, mit der sowohl Trubetzkoy wie auch Weinreich die Uberstellung der Texte betrieben, verdeutlicht, wie sehr beiden Seiten an einer wissenschaftlichen Verbindung gelegen war. Als Spezialist für das Jiddische war die Einbindung Weinreichs in die phonologische Forschung sicher besonders wertvoll. Weinreich seinerseits scheint sich für die Vorhaben der phonologischen Arbeitsgemeinschaft in größerem Umfang engagiert und sich zum Beispiel für die weitere Verbreitung von deren Fragebogen eingesetzt zu haben. Die linguistische Kommission des von Weinreich mitbegründeten „Jiddischen wissenschaftlichen Institutes (Jiwo)" in Wilna hatte ihrerseits schon seit Jahren mit umfangreichen „Rundfragen" (Weinreich 1931: 18) gearbeitet. Wie weit phonologische Gesichtspunkte in die linguistischen Erhebungen des Jim Eingang erhalten haben, wäre noch zu untersuchen. Ob Weinreich selbst auch reguläres Mitglied der Phonologischen Arbeitsgemeinschaft geworden ist, lässt sich auf der Basis der Prager Archivalien nicht erkennen. 166 Leo WEISGERBER (1899 Met% - 1985 Bonn-Mehlem); allgemeine schaft, Keltistik; Rostock, Marburg (seit 1938), Bonn (seit 1940)
Sprachwissen-
- zugesandte Publikationen: Travaux IV, Conference, Charisteria - Mitglied der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft - Teilnahme am 1. und 4. Linguistenkongress 1928 und 1936 - Sonderdruck(e) Weisgerbers in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Vgl. meine Fallstudie in Abschnitt 4.2. 165 Verzeichnis „Odeslane dopisy. Vymena publikaci 1935-1941", Eintrag 29.10.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 2). Vgl. zu diesen Vorgängen auch den Abschnitt 2.3 dieser Arbeit. 166 Auf der jüngsten erhaltenen Mitgliederliste der Organisation, die auf die zweite Hälfte der dreißiger Jahre zu datieren ist, ist Weinreich jedenfalls (noch?) nicht verzeichnet. „Liste de membres de [Association Internationale pour les etudes phonologiques" (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 12).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Eberhard ZWIRNER (1899 Löwenberg, Schlesien - 1984 Nottuln-Schapdetten, Westfalen); Phonetik; Münster, Berlin (ab 1928), Brauschweig (ab 1940) - zugesandte Publikationen: Travaux I, Travaux IV, Charisteria, Travaux V2, Anleitung, Travaux VI - Mitglied der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft - Teilnahme an allen drei Phonetikkongressen 1932, 1935, 1938 - Sonderdruck(e) Zwirners in der nachgelassenen Bibliothek Trubetzkoys Ein erhaltener Brief Trubetzkoys an Jakobson belegt, dass Zwirner im Frühjahr 1932 einen ersten Kontakt mit der Prager Schule angeknüpft hat. Trubetzkoy schreibt am 17.5.1932: Eme ποΛγπΉΛ niiCbMo oT HeKoero Dr Eberhard Zwimer H3 BepAHHa: OH nciixHaTp, 3aiiHTepecoBaAoi Φ Ο Η Ο Λ Ο Π Ι Ε Ι Ϊ Β C B Ä 3 H C ac|>a3Heii, roBopuT, H T O φοΗΟΛΟΓΗΑ cnocoona oSMCHHTb IieAHH pHA naTOAOITIieCKHX flBACHHH Η npocHT npHCHAiiTL· oTTHCKH. (Trubetzkoy 1975: 242) Ich habe noch einen Brief von einem gewissen Dr. Eberhard Zwirner aus Berlin bekommen: Er ist Psychiater, die Phonologie hat ihn im Zusammenhang mit der Aphasie interessiert. Er sagt, dass die Phonologie geeignet sei, eine ganze Reihe von pathologischen Erscheinungen zu erklären, und er bittet, ihm Texte zu schicken.
Dieser Kontakt manifestiert sich dann auch im Bulletin d'information N. 1 der Internationalen phonologischen Arbeitsgemeinschaft, das Anfang 1933 meldet: E. Zwirner (Berlin) travaille sur l'application de la phonologie a l'etude des aphasies. (Bulletin d'information N. 1 1933: 60)
Trubetzkoy und Zwirner blieben auch in der Folgezeit in Verbindung. So weiß Trubetzkoy beispielsweise Jakobson zu berichten, dass Zwirner vorhatte, im Sommer 1933 nach Wien zu kommen, und er zitiert offenbar dessen (euphemistische) Formulierung, „Umstände, die nicht von ihm abhängen", hätten diese Reisepläne zunichte gemacht (Trubetzkoy 1975: 279). Im Archiv-Fonds des Linguistik-Zirkels hinterlassen Zwirners Kontakte mit Mitgliedern der Prager Schule erst von dem Zeitpunkt an Spuren, in dem es um Fragen institutioneller Verbindungen wie Publikationstausch oder die Herausgabe der Travaux geht. Hier ist dann ein außergewöhnlich eng dokumentierter Abschnitt eines Briefwechsels aus den Jahren 1937 und 1938 erhalten, in dem nicht nur organisatorische Vereinbarungen getroffen, sondern gelegentlich auch inhaltliche Standpunkte verdeutlicht werden. Der erste erhaltene Brief Zwirners vom April 1937 war ursprünglich an Jakobson gerichtet. Da dieser Brief aber auch Fragen organisatorischer Art betraf, ist er mit einiger Verzögerung an den Sekretär des Prager Zir-
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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kels, Trnka, weitergereicht worden. Zwirner erwähnt hier, dass er Jakobson „vor einiger Zeit [...] zwei kleinere Arbeiten von mir aus dem Januarheft" des Λrchivs für vergleichende Phonetik zugeschickt habe, und kündigt die Publikation einer „Arbeit über die neuhochdeutsche Quantität" an. Auch da versuche ich zu zeigen, dass auch eine quantitativ ausgerichtete Phonetik nicht in der Lage ist, ohne phonologische Unterscheidungen auszukommen, um ihre eigenen Messungsergebnisse zu deuten. In diesem Punkt stimme ich nicht mit Trubetzkoy überein, der immer wieder betont hat, dass die Experimentalphonetik eine naturwissenschaftliche Angelegenheit sei, die die Linguistik und Phonologie eigentlich nichts anginge. Die Experimentalphonetik hat das ja in der Tat auch angestrebt und versucht, die Sprache als Naturobjekt zu beschreiben. Meiner Ansicht nach hat sie sich damit zwischen zwei Stühle gesetzt, sich von der Linguistik getrennt und - da Sprache eben der Verständigung dient und tradiert, also nicht vererbt wird und ja auch Sprachmaschinen bisher leider noch nicht gesprochen haben - den erhofften Anschluss an Physiologie und Physik natürlich nicht gefunden. 167 Zwirner hatte Jakobson auch gebeten, ob er einem Autor, der für das Archiv für vergleichende Phonetik ein Referat „über lautkundliche Arbeiten aus dem Gebiet der Turkologie und Mongolistik" (a.a.O.: 1) vorbereite, zwei Separatdrucke aus dem 6. Band der Travaux zukommen lassen könne. 168 A m Ende seines Briefes fragt Zwirner, „ob wir nicht das ,Archiv für vergleichende Phonetik', das vierteljährlich erscheint, und die Travaux du Cercle Linguistique de Prague gegenseitig austauschen können" (a.a.O.: 2). In das Protokoll der nächsten Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses des Prager Zirkels findet dieser Vorgang nur in einem knappen Satz Eingang: Ο fonologii se zajimä casopis Archiv f. Phonetik.169 Für die Phonologie interessiert sich die Zeitschrift Archiv f. Phonetik. Zwei Monate später greift Trnka dann die organisatorischen Fragen aus Zwirners Schreiben an Jakobson auf. Er habe bereits veranlasst, dass 167 Zweiseitiges Schreiben ohne namentliche Anrede von Zwirner, Berlin-Buch, 29.4.1937: S. 1 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Dass Jakobson der Empfänger dieses Briefes war, geht aus Trnkas Antwortschreiben hervor, das im Durchschlag auf der zweiten Seite des Briefes lesbar ist. - Zwirners Bemerkung, dass Sprache „tradiert, also nicht vererbt wird", wirft ein Schlaglicht auf die bei Simon (1992) diskutierte Frage, ob es zwischen dem ,Strukturalismus' und dem Rassismus bei Zwirner einen inneren Zusammenhang gebe. Mit einer konsequent konventionalistischen Sprachtheorie ist Zwirners Versuch, „mit Magnetophonaufnahmen deutschsprechender Juden" „die rassische Seite des Sprechvorgangs zu erfassen" (dokumentiert bei Simon 1992: 260) argumentativ nicht zu verbinden. Im Lichte jedenfalls des obigen Briefzitats wären Zwirners rassistische Forschungsvorhaben ,nur' „als Opportunismus" (ebd.: 257) zu werten. 168 Es muss sich hier um K. Grenbech handeln, der 1937 einen entsprechenden Bericht in Zwirners Zeitschrift veröffentlichte, Gronbech (1937). 169 Protokoll der Sitzung vom 30.5.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Zwirner der sechste Band der Travaux als Rezensionsexemplar zugeschickt werde. Zu einem Publikationstausch sei der Prager Zirkel gern bereit: We are glad to accept this suggestion and send you our ,'Travaux' regularly.170 Um kein Ungleichgewicht zwischen den unregelmäßig erscheinenden Travaux und der phonetischen Vierteljahrsschrift aufkommen zu lassen, bietet Trnka die Zusendung auch zurückliegender Bände der Travaux an und bittet Zwirner, ihm die Nummern zu nennen, die ihn besonders interessierten. Wenige Tage später bedankt sich dieser, „dass Sie auf den Vorschlag zu tauschen so freundlich eingegangen sind"171, und fragt nach dem ersten und vierten Band der Travaux. Auch der angekündigte Band 6 sei bisher nicht eingetroffen. Die Büchersendung, die Zwirner wenig später aus Prag bekam, umfasste die Bände 4, Si und 6 der Travaux, Trubetzkoys Anleitung, die Mathesius-Festschrift sowie den Fragebogen der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft. 172 Der erste Band der Travaux wurde wenig später als Rezensionsexemplar beim Verlag für Zwirner angefordert. Die beiderseitige Annäherung geht hier aber über den Austausch von Publikationen hinaus, vielmehr bietet Zwirner nun sogar einen eigenen Beitrag für die Travaux an: Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie noch gleichzeitig fragen, ob ich Ihnen für einen der nächsten Bände Ihrer Travaux einen Aufsatz von mir über ,Sprachsoziologie' zur Verfügung stellen kann. Ich arbeite seit Wochen an dieser, sowohl unter phonologischen wie unter phonometrischen Gesichtspunkten wie mir scheint unerlässlichen Erweiterung der sprachgeographischen und sprachhistorischen Einstellung im Rahmen der Linguistik, (ebd.) Umgekehrt will Zwirner das Archiv für vergleichende Phonetik weiter für die Phonologie öffnen und lädt daher auch Trnka zu einer Veröffentlichung an dieser Stelle ein: Es wäre Prof. Westermann und mir übrigens auch eine ganz besondere Freude, gelegentlich von Ihnen einen Aufsatz im Archiv für vergleichende Phonetik veröffentlichen zu können. Trubetzkoy hat im Juliheft, das demnächst erscheint, die Bedenken von Alfred Schmitt zerstreut, und da Prof. Westermann und ich sehr daran interessiert sind, die phonetischen und auch die quantitativ phonetischen Arbeiten endlich in etwas nähere Beziehung zu der 170 Durchschlag eines englischens Schreiben an Zwirner, handschriftlich datiert auf den 24.6.1937, auf der Rückseite von dessen eben zitiertem Brief (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 171 Schreiben Zwirners an Trnka vom 28.6.1937, Berlin-Buch (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 172 Spätestens nachdem Zwirner 1939 den Slawisten Dietrich Gerhardt als Mitarbeiter gewonnen hatte, scheint man auch tschechische Veröffentlichungen des LinguistikZirkels, wie etwa seine Zeitschrift Slovo a slovesnost aus Prag bezogen zu haben, vgl. oben den Abschnitt zu Gerhardt.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
257
eigentlich linguistischen und phonologischen Diskussion zu bringen, wären wir über diesen Aufsatz besonders erfreut, (ebd.) 173
Trnka hat mindestens im September 1937 noch einmal an Zwirner geschrieben, dieser meldet sich nach längerer Krankheit erst am Anfang des neuen Jahres wieder zu Wort. Die Büchersendung aus Prag sei unterdessen angekommen, er habe seinerseits „den Verleger gebeten, Ihnen die ersten beiden Nummern des ,Archivs für vergleichende Phonetik' zusammen mit dem Heft 4 bzw. mit dem ersten Heft des neuen Jahrgangs zu übersenden." 174 Beide Seiten waren somit mit nahezu allen Nummern ihrer jeweiligen Periodika versorgt. Zwirner fügt seinem Brief aber auch den angekündigten Beitrag für die Travaux bei: Beiliegend übersende ich Ihnen eine Arbeit mit dem Titel „L'opposition phonologique et la variation des phonemes", in der ich versucht habe, die Beziehungen zwischen dem phonologischen Gesichtspunkt einerseits, dem psychologischen und dem physikalischen Gesichtspunkt andererseits an Hand eines praktischen Beispiels zu durchleuchten. Ich teile die Meinung von Trubetzkoy, dass der phonologische Gesichtspunkt von den beiden anderen unterschieden werden muss und dass es der primäre Gesichtspunkt ist. Ich glaube aber sowohl durch theoretische Überlegungen als an praktischen Beispielen zeigen zu können, dass diese psychologischen und physikalischen Gesichtspunkte - eben weil sie sekundär sind - nicht unabhängig von dem phonologischen angesetzt werden können, sondern nur in steter Beziehung zu diesem. Erst wenn diese Beziehungen ganz geklärt sind, scheint mir die psychologische Auffassung endgültig überwunden, wie sie etwa Alfred Schmitt vertritt, oder die Überschätzung des physikalischen bzw. physiologischen Gesichtspunkts, die in der Experimentalphonetik üblich ist. 17
Zwirners Bemühen, inhaltliche Gemeinsamkeiten herauszustreichen, wird in Prag durchaus registriert: „Zwirner se blizi nazoru P.L.K. [Zwirner nähert sich der Ansicht des Prager Linguistik-Zirkels]" 176 wird in dem tschechischen Entwurf eines Antwortschreibens vermerkt. Allerdings zieht Zwirner seinen Beitrag im März 1938 wieder zurück, da er ihn „hier schon jetzt sogleich" 177 publizieren könne. Schon in seinem Begleitschreiben zu dem Text hatte er betont, dass ihm eine Veröffentlichung „vor dem Genter [Phonetik]Kongress im Juli" wichtig sei, „weil ich
173 Erst Jahre später tritt Trnka auch als Beiträger im Archiv für vergleichende Phonetik auf (Trnka 1942a), vgl. den Abschnitt zu Dietrich Gerhardt in diesem Kapitel. 174 Zweiseitiges Schreiben Zwirners, Berlin-Buch, 11.1.1938: S. 1 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 175 a.a.O.: S. 1-2. 176 Vierzeiliger tschechischer Entwurf einer Antwort, datiert auf den 24.1.1938. Handschriftlich auf die zweite Seite von Zwirners Brief vom 11.1.1939 notiert (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 177 Schreiben Zwirners, Berlin-Buch, 31.3.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
dort auf diese Beziehungen noch einmal näher zurückkommen will." 178 Trnka versuchte noch, den Text für die Travaux zu erhalten, indem er darauf hinwies, dass der nächste Band noch im Herbst desselben Jahres erscheinen solle. Falls Zwirner gleichwohl auf einer Rückgabe des Manuskripts bestehe, bitte er um einen anderen Beitrag: In this case I hope that you will be able to send us another paper of the same calibre for Travaux VII. 7 9
Zwirner möchte von diesem „freundlichen Anerbieten [...] gern Gebrauch machen" und erkundigt sich, „bis wann Sie diese Arbeit in Ihren Händen haben müssen" 180 . Das zuerst eingereichte Manuskript erbittet er sich definitiv zurück, um es kurz darauf in seiner eigenen Zeitschrift abzudrucken (Zwirner 1938). An dieser Stelle bricht die überlieferte Korrespondenz leider ab. Unter anderem durch den Tod Trubetzkoys verschoben sich die Publikationspläne des Prager Zirkels erheblich. Als siebter Band der Travaux erschienen nun zuerst dessen Grundlage der Phonologie. Die ersten Beiträge für den achten Band, der jetzt als Gedenkschrift Trubetzkoy gewidmet wurde, waren im Dezember 1938 im Satz.181 Auch dieser Band erscheint somit erst 1939 als letzter Band der Travaux überhaupt — ohne einen Beitrag Zwirners. Wieso Zwirner in der Gedenkschrift für Trubetzkoy nicht vertreten ist, erscheint gerade nach der hier referierten Vorgeschichte unerklärlich. Politische Hintergründe scheinen wohl keine Rolle gespielt zu haben, denn mit Gerhard Deeters ist an diesem Band durchaus noch ein anderer reichsdeutscher Autor beteiligt. Die inhaltliche Nähe der Phonometrie und der Phonologie wird deutlich, wenn Trubetzkoy gegenüber Tschizewskij äußert, Zwirners Arbeiten seien „ein grüner Fleck in der Wüste der deutschen NachkriegsSprachwissenschaft" (zit. nach Gerhardt 1984: 239). Die Anerkennung der Prager Schule konnte Zwirner durch seine strikte Abgrenzung sowohl gegenüber der klassischen Experimentalphonetik wie auch gegenüber dem Psychologismus gewinnen, die auch in seinen oben zitierten Briefen deutlich wird. Die durchaus ungleichgewichtige Ausrichtung Zwirners zwischen den Polen Experimentalphonetik einerseits und Phonologie ande178 Schreiben Zwirners, Berlin-Buch, 11.1.1938: S. 2 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Zwirner veröffendicht seinen Text in der französischen Fassung, die er eigens für die Travaux gedacht hatte, in seiner eigenen, im übrigen durchgängig deutschsprachigen Zeitschrift, vgl. Zwirner (1938). In seinem Genter Vortrag kommt er tatsächlich auf das dort erörterte Problem der Vokalquantität zurück, vgl. Zwirner (1939a). 179 Handschriftlicher Entwurf eines Antwortschreibens an Zwirner auf der Rückseite von dessen Brief vom 31.3.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 180 Schreiben Zwirners, Berlin-Buch, 4.4.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 181 Vgl. das Protokoll der Ausschusssitzung des Zirkels vom 19.12.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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rerseits ist auch von der deutschsprachigen Fachöffentlichkeit bemerkenswert klar verzeichnet worden. Der Experimentalphonetiker Ernst Selmer fasste die methodologischen Affinitäten zwischen Zwirner und der Prager Schule in das folgende Bild: Es mag paradox klingen, aber ich glaube, daß die ,phonologische' Schule — bei der die zählende und messende Methode wahrlich nicht besonders gut angeschrieben ist leichter durch das phonometrische Nadelöhr gehe, denn daß ein älterer Experimentator in das Reich von E. und K. Zwirner komme. (Selmer 1937: 118)
Trubetzkoy hebt in seiner kritischen Würdigung Zwirners denn auch anerkennend hervor, dass der Phonometrie eine Auffassung der Sprache als „Sprachgebilde" (Langue) zugrunde liege (Trubetzkoy 1939: 10-12). Auch Zwirners Position zum Verhältnis von Phonologie und Phonetik ist, jedenfalls am Ende der dreißiger Jahre, nicht mehr so unvereinbar mit derjenigen der Prager Schule, wie „Trubetzkoy irrtümlich annimmt" (Zwirner 1939b: 33). An Argumentationen Bühlers versucht Zwirner 1939 beispielhaft zu zeigen, dass die scheinbaren Differenzen der Positionen in Wirklichkeit auf Selbstmissverständnissen der Prager Schule beruhten (Zwirner 1939b). Das Bemühen, eine gemeinsame Basis mit strukturalen Ansätzen der internationalen Sprachwissenschaft zu gewinnen, ist hier unverkennbar.182 Im Jahr 1958, zwanzig Jahre nach dem Tod Trubetzkoys, veranstaltete Zwirner in Münster ein Symposion Trubetzkoy, um Rechenschaft davon abzulegen, daß die Phonologie, deren Thesen zum ersten Mal auf dem internationalen Linguisten-Kongreß' im Haag 1928 einer breiteren Öffentlichkeit vorgetragen worden waren, ein Menschenalter nach diesem ersten Auftreten lebendig ist und daß sie sich eines der Bedeutendsten ihrer Begründer dankbar erinnert. (Zwirner 1959: 2)
Zwirner tritt hier gleichsam als Statthalter der Phonologie in Nachkriegsdeutschland auf. Den Eröffnungsvortrag auf der Tagung hielt Roman Jakobson. Neben Jakobson, Zwirner und Eli Fischer-Jorgensen waren aber nicht nur Repräsentanten der lautwissenschaftlichen Diskussion aus der Zeit vor 1945 vertreten. Mit Werner Winter, Helmut Lüdtke und Harald Weinrich sprachen hier auch schon Vertreter der ersten Generation der bundesrepublikanischen Sprachwissenschaft, deren Arbeiten für die Strukturalismusrezeption in der Bundesrepublik wenig später wichtige Impulse geben sollten. 182 Zwirner bemüht sich gleichzeitig - und mit Erfolg — um eine Anbindung an Diskussionen innerhalb der Kopenhagener Glossematik. Dies wird etwa durch die Publikation in Acta linguistica (Zwirner 1939) und durch seinen Vortrag auf dem Phonetikkongress in Gent deutlich, der entsprechend mit einem sehr einvernehmlichen Diskussionsbeitrag Hjelmslevs bedacht wurde. (Vgl- Zwirner 1939a und das beigefügte Diskussionsprotokoll im unmittelbaren Anschluss an Zwirners Vortragstext).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Die Nähe zwischen Zwirners Phonometrie und der Prager Phonologie ist in der historiographischen Literatur zur Linguistik wiederholt herausgestrichen worden. Maas bezeichnet Zwirner sogar als „marginale Figur des Prager Kreises" (Maas 1996: 180, Anm. 297). Simon sieht in Zwirner den „Begründerf...] des deutschen Strukturalismus" (Simon 1992: 256) und kündigt seit langem eine ihm gewidmete Monographie mit dem bezeichnenden Titel Deutscher Strukturalismus an (Simon, in Vorbereitung). Es ist zu hoffen, dass in dieser Darstellung auch die engen Wechselbeziehungen zur Prager Schule der Linguistik einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden.
3.4.2 Zusammenfassende Betrachtung der dokumentierten Kontakte Nachdem ich den archivalischen Spuren von Kontakten in die Biographie und in das Werk einzelner Wissenschaftler nachgegangen bin, möchte ich im zweiten Teil dieses Abschnitts die Fülle der Einzelfälle auf übergreifende Gemeinsamkeiten oder zumindest typische Charakteristika befragen. Es sollen dabei räumliche, zeitliche und fachliche Dimensionen der belegbaren wissenschaftlichen Kontakte beleuchtet werden. Allein auf der sehr eingeschränkten Basis des Prager Archiv-Fonds des Linguistik-Zirkels konnte ich belegen, dass 58 Personen aus dem deutschsprachigen Ausland mit dieser wissenschaftlichen Organisation oder einzelnen ihrer Vertreter direkten Kontakt hatten. Diese Zahl wäre zu ergänzen um die 23 Deutschen, die damals in der Tschechoslowakischen Republik lebten und innerhalb des Landes mit dem Prager Zirkel nachweislich in persönlicher Verbindung standen (zur deutschen Rezeption in der Tschechoslowakei vgl. Kapitel 5). Da es hier in erster Linie um wissenschaftliche Rezeptions Vorgänge gehen soll, wären aus dieser Personengruppe all diejenigen auszugliedern, deren Kontaktaufnahme nicht in einem engen fachwissenschaftlichen Kontext statthatte: also etwa Personen, die Veranstaltungen des Linguistik-Zirkels in Prag eher aus allgemeinen kulturellen Interessen besuchten, oder auch eine Person wie Franz Hirschberg aus der obigen Liste, der als Privatmann ohne fachlichen Hintergrund phonologische Studien trieb. Es bleibt somit bei einer archivalisch belegbaren Gesamtzahl von 78 wissenschaftlich tätigen Personen aus dem deutschsprachigen In- oder Ausland, die in der Zeit zwischen 1926 und 1945 mit dem Prager Linguistik-Zirkel direkten Kontakt hatten. Angesichts dieser Zahlen ist Eberhard Zwirners spätere Behauptung, die Prager Phonologie sei entwickelt worden, „ohne daß sie in Deutschland — mit verschwindenden Ausnahmen [...] — überhaupt zur Kenntnis genommen worden ist" (Zwirner 1967: 412), schlicht als falsch zurückzuweisen.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
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Mindestens 78 deutschsprachige (Nachwuchs)Wissenschaftier hatten von der Entwicklung der Prager Phonologie sogar über direkten Kontakt mit deren Protagonisten Kenntnis. Von „verschwindenden Ausnahmen" lässt sich bei dieser hohen absoluten Zahl auch dann nicht sprechen, wenn man sie mit der Gesamtzahl der damaligen Sprachwissenschaftler ins Verhältnis setzt. Bei Utz Maas (1996) finden sich recht überzeugende Ansätze, die Größe der Population wenigstens der reichsdeutschen Sprachwissenschaftler zu bestimmen. Seine umfassendste Schätzung basiert auf einer Hochrechnung des Jahresdurchschnitts von sprachwissenschaftlichen Dissertationen in Deutschland in den Jahren 1900 bis 1950: [...] daraus resultiert für diese 50 Jahre eine einschlägig akademisch qualifizierte Population von 3500 Sprachwissenschaftlern. (Maas 1996: 11)
Als Vergleichsgröße ist diese Zahl aber ungeeignet, nicht nur weil sie sich auf einen für meine Untersuchung viel zu weiten Zeitraum bezieht, sondern weil der „überwiegende Teil" der hier erfassten Personen über die Promotion hinaus nicht mehr wissenschaftlich aktiv „und überwiegend wohl im Schuldienst tätig war" (ebd.). Bei den meisten der oben aufgeführten Kontaktpersonen des Zirkels handelt es sich jedoch um aktive Wissenschafüer, die in der Regel habilitiert waren oder sich noch habilitierten und im Berichtszeitraum mit wissenschaftlichen Publikationen hervortraten. Eine für diese Personengruppe angemessenere Vergleichsgröße ist der Gesamtumfang des sprachwissenschaftlichen Lehrkörpers an deutschen Hochschulen, den Maas auf der Basis von Personal- und Vorlesungsverzeichnissen abschätzt. Auf Schätzungen ist man auch hier angewiesen, weil sich die Sprachwissenschaften seinerzeit mit Ausnahme der allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft noch nicht aus den Philologien herausgelöst hatten (vgl. Maas 1988 und 1.3). In der damaligen Hochschulstruktur hatten die Sprachwissenschaften ihren Ort also innerhalb der philologischen Disziplinen und waren entsprechend auch in Personalverzeichnissen der Universitäten nicht eigens identifiziert. Maas behilft sich daher damit, die ausgewiesene Zahl der Lehrenden an den philologischen Instituten zu halbieren, um so die Philologen überwiegend sprachwissenschaftlicher Ausrichtung zu erfassen. [...] bezogen auf die Lehrkörperstrukturen von 1931 sind als obere Grenze 450 Sprachwissenschaftler an den wissenschaftlichen Hochschulen anzunehmen (vergleichende Sprachwissenschaft plus jeweils 50% der anderen Philologien), davon Ordinarien:
124
Extraordinarien:
62
Privatdozenten:
58
(Maas 1988: 148)
262
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Die Zahl von 450 Personen hat auch deshalb als ein maximaler Wert zu gelten, da sich die Anzahl der akademisch Lehrenden im Lauf der dreißiger Jahre wieder stark verringerte. Maas nimmt für das Jahr 1938 nur noch 400 aktive Sprachwissenschafder (98 Ordinarien) in Deutschland an. 183 Von den 58 oben aufgeführten Kontaktpersonen des Prager Zirkels gehörten insgesamt 35 zu der von Maas geschätzten Gesamtpopulation: sie wirkten Ende 1930 in Deutschland und waren in der allgemeinen Sprachwissenschaft oder in philologischen Fächern tätig. 184 Bezogen auf die maximale Vergleichszahl von Maas lässt sich also feststellen, dass allein von 7,77 % aller seinerzeit in Deutschland professionell tätigen Sprachwissenschaftler Spuren einer direkten Verbindung mit dem Prager LinguistikZirkel im Archiv-Fonds „PLK" erhalten sind. Zöge man systematisch weitere Quellen hinzu, ließen sich weit mehr deutschsprachige Kontaktpersonen namhaft machen. Es ist hier auch daran zu erinnern, dass drei sehr aktive Mitglieder des Prager LinguistikZirkels an deutschen oder österreichischen Universitäten, also unmittelbar im deutschsprachigen Wissenschaftsmilieu lehrten. Zwischen 1931 und 1933 gab der russische Ethnograph Petr Bogatyrev an der Universität Münster Sprachkurse sowie Seminare zur slawischen Volkskunde und Literatur (vgl. Ehlers 1999a). Von 1932 bis 1945 vertrat Dmitrij Tschizewskij als Lektor kontinuierlich die Slawistik in Halle, er erfüllte hier „de facto [...] die Aufgaben eines Professors" (Schmidt 1993: 409). Seit 1922 bis zu seinem Tode 1938 hatte Nikolai Trubetzkoy den Lehrstuhl für Slawistik an der Universität Wien inne. Gerade beim Letzteren reichten die wissenschaftlichen Kontakte weit über den Bereich der Slawistik hinaus: [...] unberechenbar viele sind es, die mit diesem wahren Häuptling in der Wissenschaft in Verbindung kamen. (Hjelmslev 1939: 57) Allein Trubetzkoys Kontakte zu seinem unmittelbaren Kollegenkreis, zu „meinen Wienern", wie er schreibt (Trubetzkoy 1975: 180), wären eine eigene Untersuchung wert. Der tatsächliche Anteil deutschsprachiger Linguisten, die mit dem Prager Zirkel direkten Kontakt hatten, dürfte also sehr deutlich über den oben geschätzten 7,77 % liegen. Bei allem ist zu bedenken, dass die Zahl der Linguisten im Ausland, die auch ohne direkte Verbindungen „Kenntnis" von der Entwicklung der Prager Schule hatte, 183 Gerd Simon geht auf der Basis seiner umfangreichen Archivrecherchen sogar nur von „etwa 250 Sprachwissenschaftlern, die im Dritten Reich aktiv waren" (Simon 1986: 527), aus. Demnach ließen sich dann für ganze 14 % aller aktiven reichsdeutschen Sprachwissenschaftler Belege eines direkten Kontaktes mit dem Prager Zirkel allein im Archiv-Fonds „PLK" finden. 184 Angehörige von Fächern außerhalb der klassischen oder neuen Philologien, also Kirchengeschichte, Philosophie, Psychologie, werden hier nicht mitgezählt.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
263
natürlich ein Vielfaches über der Zahl derjenigen liegt, die direkten Kontakt zum Linguistik-Zirkel aufnahmen. Von „verschwindenden Ausnahmen" einer Kenntnis der Prager Schule im deutschsprachigen Raum kann daher überhaupt keine Rede sein. In der Tat scheint dabei gerade die Verbindung mit Deutschland besonders intensiv gewesen zu sein. Ein Vergleich der Wohnsitze der 58 Kontaktpersonen ergibt für das Ende des Jahres 1930, also einen Zeitpunkt unmittelbar vor dem Einsetzen der breiten internationalen Rezeption des Prager Strukturalismus, folgendes Verhältnis: von den angeführten Kontaktpersonen lebten Ende 1930 in Deutschland
39
in Österreich
10
in der Schweiz
5
in anderen Ländern
4
Tabelle 5: Wohnsitz der deutschsprachigen Kontaktpersonen des Prager Zirkels in einzelnen Ländern
Die Zahlen für Verbindungen nach Österreich müssten wegen der Kontakte im persönlichen Umfeld Trubetzkoys, die sich nur zum geringen Teil in den Prager Archivalien niederschlagen, im Verhältnis wohl höher liegen als hier angegeben. Dessen ungeachtet zeigt die Tabelle aber, dass die Zahl der Kontakte ins deutschsprachige Ausland vor allem von der Größe der jeweiligen säentific community äbhing. Eine besondere ,StrukturalismusFerne' Deutschlands lässt sich jedenfalls im Vergleich mit anderen deutschsprachigen Ländern aus den hier untersuchten Archivalien nicht ableiten. Aufschlussreich ist auch die Beobachtung, in welche deutschsprachigen Städte die direkten Verbindungen aus Prag führten. Sieht man sich an, an welchen Orten die oben genannten Kontaktpersonen zum Stichdatum Ende 1930 wirkten, so lässt sich zunächst einmal eine sehr breite regionale Streuung innerhalb Deutschlands, Österreichs und der Schweiz feststellen. In einigen Städten sind zu diesem Zeitpunkt aber jeweils gleich mehrere der Kontaktpersonen ansässig gewesen: Innerhalb Deutschlands lebten gleich acht Kontaktpersonen in Leipzig, fünf in Berlin, drei in Halle und jeweils zwei in Bonn, Breslau, Frankfurt/Main, Hamburg, Münster, Rostock und Köln. Von den Kontaktpersonen aus Österreich lebten damals sechs in Wien und zwei in Innsbruck. In der Schweiz wirkten gleich drei der Kontaktpersonen in Bern und zwei in Zürich. Alle anderen Städte sind im Gesamtkorpus jeweils nur einmal vertreten. Die direkten Verbin-
264
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
düngen der Prager Schule mit dem deutschsprachigen Ausland fuhren also besonders häufig in die Metropolen und großen Wissenschaftsstandorte. In Deutschland kommen viele Kontaktpersonen gerade aus den ehemaligen Zentren der junggrammatischen Schule Leipzig und Berlin. Die wissenschaftlichen Kontakte zwischen Prag und deutschsprachigen Partnerstädten beschränkten sich hier also nicht auf vereinzelte oder nur periphere Wissenschaftsstandorte, sondern wurden besonders intensiv gerade auch mit den Zentren der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft gepflegt. Schauen wir nun auf die Alters struktur der Kontaktpersonen des Prager Zirkels im deutschsprachigen Raum. Eine solche Betrachtung wird vor allem dann aussagekräftig, wenn man die Alterstruktur der Vertreter der Prager Schule zum Vergleich heranzieht, mit denen dieser deutschsprachige Personenkreis seinerzeit Verbindung hatte. Als Stichdatum soll der Einfachheit halber wieder das Jahresende 1930 gelten. Als Vergleichsgruppe seien die Vertreter des Linguistik-Zirkels herausgegriffen, die die Prager Schule in der frühen Rezeption international sichtbar vertraten, indem sie deren Position auf den ersten beiden internationalen Kongressen der Linguisten (1928 und 1931) und dem ersten internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften (1932) repräsentierten. Es sind dies Bohuslav Havränek (geb. 1893), Roman Jakobson (geb. 1896), Vilem Mathesius (geb. 1882), Jan Mukarovsky (geb. 1891), Bohumil Trnka (geb. 1895) und Nikolai Trubetzkoy (geb. 1890). Es springt sogleich ins Auge, dass die sechs Protagonisten der Prager Schule im Durchschnitt erheblich jünger sind, als die Gruppe der deutschsprachigen Wissenschaftler, mit denen sie Verbindung hatte (vgl. die folgende Tabelle). Von den 57 deutschen Kontaktpersonen (ohne Franz Hirschberg) sind die weitaus meisten Ende 1930 bereits 40 Jahre und älter gewesen (71,92 %), während umgekehrt nur zwei der sechs Prager Linguisten 40 Jahre und älter waren (33,3%). Trubetzkoy und Mathesius sind mit 40 bzw. 48 Jahren überdies vergleichsweise sehr junge Vertreter dieser Altersgruppe. Diese Altersverhältnisse sind rezeptionsgeschichtlich durchaus relevant, denn sie lassen Rückschlüsse auf den wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang der betreffenden Personengruppen zu: Die weitaus meisten der deutschsprachigen Wissenschaftler, mit denen der Prager Zirkel um 1930 herum nachweislich direkten Kontakt hatte, waren zu diesem Zeitpunkt bereits wissenschaftlich etabliert.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
Ende 1930 waren
von den Protagonisten des Prager Strukturalismus
265
von ihren Kontaktpersonen in der deutschsprachigen Wissenschaft
-
1
-
4
zwischen 30 und 39 Jahre
4
11
zwischen 40 und 49 Jahre
2
25
-
10
-
5
-
1
unter 20 Jahre zwischen 20 und 29 Jahre
zwischen 50 und 59 Jahre zwischen 60 und 69 Jahre über 69 Jahre alt
Tabelle 6: Altersstruktur der Vergleichsgruppen
Diese Verhältnisse resultieren allerdings zu einem Teil aus der Datenbasis des Vergleichs. 185 Wie auch immer sich die Altersverhältnisse zwischen der deutschsprachigen und der Prager Vergleichsgruppe aber begründen mögen, es bleibt festzuhalten, dass die oben aufgeführten deutschen, österreichischen und schweizerischen Kontaktpersonen in den meisten Fällen eine berufliche Stellung im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb bereits eingenommen und damit auch ihr methodologisches und sprachtheoretisches Profil meist längst ausgeprägt hatten, ehe sie erste Anregungen aus Prag erhielten. Von den meisten deutschsprachigen Kontaktpersonen war damit schon 1930 eine radikale methodologische Umorientierung in ihrer sprachwissenschaftlichen Arbeit kaum mehr zu erwarten, sondern allenfalls integrierende Rezeptionsmuster. Ihnen gegenüber ver185 Wie eingangs erwähnt sind im Fonds „PLK" etwa die Studenten Bogatyrevs, Tschizewskijs und Trubetzkoys, also gerade junge deutsche und österreichische Nachwuchswissenschaftler, nur ausnahmsweise repräsentiert, denn sie mussten nicht korrespondieren, um mit dem Prager Zirkel in Verbindung zu treten. Außerdem ist zu bedenken, dass von Prag aus ein Kontakt mit dem Ausland ja nur dort initiiert werden konnte, wo das Gegenüber bereits einen gewissen Namen hatte. Die Fälle von Anton Pirkhofer und Henrik Becker zeigen allerdings, dass es für Nachwuchswissenschafder aus dem deutschsprachigen Raum umgekehrt durchaus nicht völlig abwegig war, ihrerseits mit dem Prager Zirkel eine direkte Verbindung aufzunehmen.
266
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
traten die sechs Repräsentanten der Prager Schule einen auch lebensgeschichtlich deutlich ,jüngeren' Forschungsansatz. In vielen Fällen hatten die oben aufgeführten Verbindungen zwischen Prag und dem Ausland buchstäblich die Spanne zwischen zwei Wissenschaftlergenerationen zu überbrücken. Die Altersstruktur der oben dargestellten Gruppe von deutschsprachigen Kontaktpersonen des Linguistik-Zirkels ist auch in einer weiteren Hinsicht relevant für die Frage der deutschen Strukturalismusrezeption. Mehr als die Hälfte aller oben aufgeführten Personen (29 Personen) war bis 1960 bereits gestorben und dürfte sich zumeist schon viel früher aus dem aktiven wissenschaftlichen Leben zurückgezogen haben. Bis 1970 waren dann rund 79 % der dargestellten Gruppe schon verstorben. Die Ende der sechziger Jahre einsetzende breite Diskussion strukturaler Ansätze in Deutschland ist also weitgehend ohne solche Wissenschafder geführt worden, die aus eigener lebensgeschichtlicher Erfahrung die seinerzeit aufgebrachte These von Deutschland als einem ,Land ohne Strukturalismus' hätten relativieren können. Was lässt sich nun über die zeitliche Erstreckung der angeführten Kontakte sagen? Die weitaus größte Zahl der nachweisbaren Verbindungen bestand keineswegs in einem einzigen punktuellen Austausch. Diese Kontakte beliefen sich also in den seltensten Fällen darauf, dass ein Adressat im deutschsprachigen Ausland unvermutet und ohne Konsequenzen ein Freiexemplar der Travaux zugeschickt bekam. Vielmehr lassen sich in 41 der 57 Einzelfälle im Prager Archivmaterial oder in anderen Quellen (wie den Briefen Trubetzkoys) Belege für mindestens zwei, häufig auch viel mehr Kontakte zwischen den jeweiligen Partnern erbringen. In 27 der 57 Fälle lassen sich Kontakte über einen Zeitraum von drei Jahren und länger nachweisen. Insgesamt 17 der nachgewiesenen Verbindungen wurden über einen Zeitraum von 5 und mehr Jahren immer wieder aufgenommen. In den restlichen Fällen lässt sich häufig ebenfalls vermuten, dass der Austausch mehr als nur punktuell gewesen ist, allerdings können auf der Basis der hier ausgewerteten Quellen dafür keine Nachweise erbracht werden. Auffällig ist, dass die meisten dieser Kontakte zeitlich recht früh geknüpft worden sind. Das zeigt die folgende Ubersicht:
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
267
erster belegter Kontakt mit dem Prager Zirkel vor 1930
bei 13 Personen
1930 bis 1932
bei 33 Personen
nach 1932
bei 10 Personen
zeitlich nicht genau belegt
in einem Fall
Tabelle 7: Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zwischen der Prager Schule und deutschsprachigen Wissenschafüern
Eine überraschend hohe Zahl von Kontakten reicht in die Zeit vor 1930 zurück, in eine Zeit also, als der Prager Linguistik-Zirkel noch kaum internationales Renommee genoss. Hier ging es zum Teil um internationale Verbindungen von Trubetzkoy und Mathesius 186 , die in ihrem Umfeld bzw. in ihren Fächern seinerzeit schon weiteren Kreisen bekannt waren. Zum anderen sind einige dieser Kontakte wohl 1928 auf oder unmittelbar nach dem ersten Internationalen Linguistenkongress geknüpft worden (so bei Czermak, Spitzer, Weisgerber, Meyer-Lübke). Die sprunghaft anwachsende Zahl der Verbindungen mit dem deutschsprachigen Ausland in den Jahren um 1931 entspricht dann genau dem Zeitverlauf des .internationalen Durchbruchs' der Phonologie. 187 Diese Rezeptionsentwicklung war vom Prager Linguistik-Zirkel durch eine geschickte Kongress- und Publikationspolitik bewusst unterstützt worden (vgl. 1.1 und 2). Dazu gehörte auch die im Abschnitt 3.2 dargestellte gezielte Verbreitung von Rezensions- und Freiexemplaren, die eine ganze Reihe von Kontakten ins deutschsprachige Ausland befestigten oder zum Teil wohl auch erst stifteten. Wir finden in dieser Zeit in den zugrunde liegenden Archivmaterialien allerdings auch deshalb besonders viele Belege, da es hier häufig um ein organisiertes Vorgehen des Linguistik-Zirkels ging, das über sein Prager Sekretariat abgewickelt wurde. Demgegenüber fällt die Zahl nachweisbarer neuer Kontakte in der Zeit nach 1932 deutlich ab. Hier ist außerdem zu bedenken, dass eine ganze Reihe von Personen, für die ein Kontakt erst in der Zeit nach 1932 belegt ist, sehr wahrscheinlich schon früher in Verbindung mit der Prager Schule stand. Von den zehn angegebenen Fällen geht daher wohl nur ein Teil darauf zurück, dass wirklich erst in der Zeit nach 1932 ein Kontakt 186 Weder in den kleinen Archivfonds zu Vilem Mathesius im LAPNP (Prag) noch in seinem größeren Teilnachlass im Archiv mesta Plzne (Stadtarchiv Pilsen) ist Korrespondenz mit ausländischen Fachkollegen erhalten. 187 Hier unterscheidet sich die Rezeptionsentwicklung bei deutschen Wissenschafüern innerhalb der Tschechoslowakischen Republik von der Rezeption im deutschsprachigen Ausland, vgl. Abschnitt 5.4.
268
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
erstmalig geknüpft wurde, wie beispielsweise bei Wolfgang Steinitz oder Max Weinreich. Gerade für die Zeit ab 1935 ist aber die Belegsituation durch die erhaltenen Verzeichnisse ein- und abgegangener Post besonders gut, die die Korrespondenz mit dem Ausland akribisch verzeichnen. All dies spricht dafür, dass in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre tatsächlich vergleichsweise weniger neue direkte Kontakte geknüpft worden sind. Welche Gründe können hier vermutet werden? Seit Anfang 1932 wurde der Buchvertrieb über Harrassowitz organisiert (vgl. 3.1). Damit entfiel ein wichtiger Anlass, Verbindungen zwischen Prag und dem Ausland zu etablieren. Informationen über den Diskussionsstand der Phonologie waren für ausländische Wissenschafder nun mit zunehmender Leichtigkeit auch ohne direkte Kontaktaufnahme mit deren Vertretern zugänglich. Am Beispiel Anton Pirkhofers hatten wir gesehen, dass Texte der Prager Schule schon am Anfang der dreißiger Jahre auch innerhalb der deutschsprachigen Wissenschafdergemeinschaft zu zirkulieren begannen. Der Prager Zirkel sah nach seinen internationalen Rezeptionserfolgen wahrscheinlich auch seinerseits weniger Veranlassung, sich weiter organisiert um Kontakte mit einzelnen Wissenschafdern zu bemühen. Dabei werden die Angehörigen der Prager Schule ihre persönlichen Fachkontakte mit dem Ausland natürlich weiter gepflegt haben, die sich dann freilich kaum in den Archivalienfonds des Sekretariats niederschlagen konnten. Nahe liegend scheint aber auch, die geringere Zahl neu geknüpfter Kontakte auf die politische Entwicklung jedenfalls in Deutschland zurückzuführen. Einer der Gründe für die vermeintlich ausbleibende deutsche Strukturalismusrezeption ist ja nach weitgehend übereinstimmender Meinung der Sekundärliteratur „die Isolierung der deutschen Wissenschaft während der Nazizeit" (Stammerjohann 1969: 160). Ich bezweifele aber, dass die politischen Entwicklungen in Deutschland und später in Osterreich die Möglichkeiten, von dort aus internationale wissenschaftliche Kontakte zu knüpfen oder zu pflegen, wirklich wesentlich beeinflussten (vgl. 2.1). Sieht man sich für den hier behandelten Personenkreis an, auf welchen Zeitpunkt jeweils die letzten Belege für bestehende Kontakte zu datieren sind, so erweisen sich die Daten nämlich als relativ unempfindlich gegenüber den politischen Umbrüchen:
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
269
letzter Beleg für einen Kontakt mit dem Prager Zirkel vor 1930
0
1930 bis 1932
24
1933 bis 1935
7
1936 bis 1938
16
1939 und später
10
nicht genau belegt
1
Tabelle 8: Zeitlich letzter Beleg für bestehende Kontakte mit dem deutschsprachigen Ausland
Tatsächlich ist demnach eine Vielzahl von Kontakten über das Jahr 1932 hinaus im Prager Fonds „PLK" nicht mehr belegbar. Dieser archivalische Befund deutet darauf hin, dass eine ganze Reihe von Verbindungen in der Zeit der großen ,Werbemaßnahmen' der Prager Schule gestiftet, aber nicht mehr als kurzfristig aufrecht erhalten worden sind. Andererseits haben demnach aber 33 von 57 (=57,89 %) aller überhaupt nachweisbaren direkten Verbindungen zu deutschsprachigen Wissenschaftlern in der Zeit nach 1933 (weiterbestanden. Immerhin 10 wissenschaftliche Kontakte lassen sich noch für die Zeit nach dem .Anschluss' Österreichs und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs archivalisch belegen. All diese Kontakte haben ungeachtet der politischen Ereignisse (fortbestanden, und dies keinesfalls in der Form klandestiner Privatheit, sondern durchaus im Licht der Fachöffentlichkeit, wie die Beispiele Alfred Schmitts und Eberhard Zwirners zeigen. Dass die Vorstellung einer hermetischen Abschottung der deutschen Wissenschaft von den internationalen Diskussionen deren Situation in der Nazizeit offensichtlich nicht angemessen ist, habe ich bereits in 1.3 und 2.1 ausgeführt. Das lässt sich beispielsweise an der anhaltend zahlenstarken Teilnahme renommierter deutscher Sprachwissenschaftler auf den internationalen Kongressen nach 1933 erkennen. Auch das Prager Archivmaterial bestätigt, dass für die Bewertung der internationalen Beziehungen deutscher Wissenschaftler in den dreißiger Jahren die Voraussetzung einer politischen Isolation nicht greift. So sind auch die geplanten Reisen von Emst Benz (1935, 1937), Fritz Schalk (1936) und noch Paul Menzerath (1939) zu Vorträgen im Prager Zirkel keineswegs wegen politischer Restriktionen, sondern aus rein privaten Gründen gescheitert. Wenn das Netz der Kontakte hier nach 1933 tatsächlich dünner geworden sein sollte, dann wohl nur in den seltensten Fällen als unmittelbare Folge politischer Bedingungen. Bei einigen der aufgeführten Sprachwissenschaftler könnte die Vertreibung ins Exil zu einem Abbruch der
270
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
Kontakte gefuhrt haben. Das Beispiel Leo Spitzers und Karl Heinrich Menges' (vgl. 5.4) zeigen aber, dass gelegentlich sogar aus dem Exil heraus die Verbindung mit dem Prager Zirkel einstweilen fortbestanden hat. Zur inhaltlichen Dimension der direkten Verbindungen zwischen dem Prager Zirkel und dem deutschsprachigen Ausland lassen sich vorerst nur wenig allgemeine Aussagen machen, da wirkungsgeschichtliche Aspekte bei der obigen Darstellung der Einzelfälle, wenn überhaupt dann nur in ersten Annäherungen skizziert wurden. Kaum verwundern wird, dass unter den Kontaktpersonen des Linguistik-Zirkels sehr viele Wissenschafder waren, die ein besonderes Interesse an der internationalen Fachdiskussion zeigten. 36 der 57 Kontaktpersonen besuchten mindestens einen der großen internationalen Kongresse der Linguistik oder der phonetischen Wissenschaften, 20 von ihnen nahmen sogar an zwei und mehr dieser Tagungen teil. Die internationalen Linguistenkongresse der zwanziger und dreißiger Jahre stehen „gewissermaßen emblematisch für die Professionalisierung des Fachs" (Maas 1996: 97, Anm.). Wer an ihnen teilnahm, bewies nicht nur überhaupt eine starke Orientierung auf den internationalen Diskussionskontext, sondern wohl auch eine Affinität zu einem überphilologischen Verständnis von Sprachwissenschaft. Bei Albert Debrunner etwa wird die Abgrenzung der Linguistik von der Philologie explizit thematisiert (s.o.). Stellt man einmal zusammen, welche wissenschaftlichen Disziplinen die Kontaktpersonen des Prager Zirkels jeweils vertraten, lässt sich ermessen, welche Fächer im deutschsprachigen Umfeld für einen Kontakt mit der Prager Schule offenbar besonders aufgeschlossen waren und welche Fächer eher nicht. Da sich der Zuschnitt der jeweils vertretenen Fächer im Laufe der universitären Tätigkeit der einzelnen Protagonisten gelegentlich wandelte, ist eine eindeutige Zuweisung einer wissenschaftlichen Disziplin nicht immer unproblematisch. Eine solche Eindeutigkeit ist aber hilfreich, um einen ungefähren Überblick über die Relationen zwischen den Fächern zu erlangen.188 Um Klarheit über die in Einzelfällen vielleicht diskutablen Fächerzuweisungen zu erhalten, führe ich in der folgenden Tabelle die Fachvertreter namentlich an:
188 Auch dort, wo ein Wissenschaftler zwei oder mehr Fächer vertrat, habe ich mich in der folgenden Ubersicht jeweils für die Angabe nur eines Faches entschieden. Auch dabei galt es, den damaligen Forschungsschwerpunkt oder aber die Disziplin zu benennen, die den inhaltlichen Rahmen für den Kontakt mit der Prager Schule abgab. Eugen Dieth etwa, der Anglistik und allgemeine Phonetik vertrat, wird hier der Phonetik zugeordnet ebenso wie Dietrich Gerhardt, der gegebenenfalls auch der Slawistik zuzuordnen wäre.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
Fachrichtung
Vertreter
271
Anzahl
Brender, Debrunner, Deeters, Güntert, Havers, Hermann, Hestermann, Junker, Kretschmer, Lommel, Nehring, Pokorny, Porzig, Schmitt, Weisgerber
15
Anglistik
Borowski, Brunner, Deutschbein, Fischer, Funke, Hittmair, Horn, Karpf, Luick, Pirkhofer, Schücking
11
Romanistik
Jaberg, Jud, Meyer-Lübke, Richter, Schalk, Spitzer, v.Wartburg
7
Germanistik
Baader, Becker, Frings, Neckel, Pfalz, Sperber, Szadrowsky
7
Phonetik
Dieth, Forchhammer, Gerhardt, Menzerath, Panconcelli-Calzia, Zwirner
6
Slawistik
Meyer, Vasmer
2
Philosophie, Psychologie
Bühler, Gelb, Husserl, Ipsen
4
andere Fächer
Bauer, Benz, Czermak, Steinitz, Weinreich
5
allgemeine/ indogermanische Sprachwissenschaft
Tabelle 9: Zugehörigkeit der deutschsprachigen Kontaktpersonen zu einzelnen Fächern
Dass unter den Kontaktpersonen an erster Stelle Vertreter der allgemeinen Sprachwissenschaft bzw. der Indogermanistik stehen, scheint aus thematischer Sicht kaum verwunderlich. Mit Blick auf die viel schwächer vertretene Phonetik könnte dieser Befund schon darauf hindeuten, dass man der Phonologie im deutschen Ausland schon früh eher im Horizont allgemein sprachwissenschaftlicher und methodologischer Fragen Aufmerksamkeit widmete als unter speziell lautwissenschaftlichen Problemstellungen. Dafür spricht dann auch die Tatsache, dass es Verbindungen zur Philosophie und Psychologie in Deutschland und Osterreich gab. In Einzelfällen scheint auch die Zugehörigkeit des in Prag lehrenden deutschen Indogermanisten Friedrich Slotty zum Linguistik-Zirkel unter deutschsprachigen Indogermanisten das Interesse für die Arbeiten dieses Kreises gefördert zu haben. Bemerkenswert ist auch die unterschiedlich starke Repräsentanz der neuphilologischen Disziplinen unter den deutschsprachigen Kontaktper-
272
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
sonen des Prager Zirkels. Zur Beurteilung dieser Differenzen gilt es zu berücksichtigen, dass die Neuphilologien im Grad ihrer institutionellen Entwicklung zum Teil erheblich voneinander abwichen. Dass etwa die Slawistik so außerordentlich schwach vertreten ist, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass sie in deutschsprachigen Ländern seinerzeit noch ,Orchideenfach' war. 189 Fragen der slawischen Sprachwissenschaft wurden in Forschung und Lehre zum Teil auch durch die Indogermanistik abgedeckt (vgl. 4.2 zu Weisgerber), in der auch entsprechende Sprachkompetenzen durchaus verbreitet waren. Dennoch bleibt erstaunlich, dass bei dem starken slawistischen Akzent in den Arbeiten der Prager Schule nur zwei Kontakte zur deutschsprachigen Slawistik archivaüsche Spuren hinterlassen haben, zumal die Verbindung mit Max Vasmer eher organisatorischen als inhaltlichen Charakter hatte. Beim Vergleich der übrigen Neuphilologien fällt dann ins Gewicht, dass die Germanistik gegenüber der Anglistik und Romanistik damals institutionell sehr viel breiter ausgebaut war. Aus der Aufschlüsselung bei Maas (1996: 148) geht hervor, dass der wissenschaftliche Lehrkörper der Germanistik an deutschen Hochschulen während der dreißiger Jahre stets mehr als doppelt so groß war wie der der Schwesterphilologien Romanistik und Anglistik. Im Jahr 1931 vertraten in Deutschland demnach 52 Ordinarien und 25 Extraordinarien die Germanistik, die Anglistik wurde durch 25 Ordinarien und 10 Extraordinarien, die Romanistik nur durch 20 Ordinarien und 12 Extraordinarien repräsentiert. Vor diesem Hintergrund deuten die archivalischen Befunde darauf hin, dass in der zeitgenössischen Germanistik nur ein vergleichsweise sehr geringes Interesse an einem direkten wissenschaftlichen Austausch mit dem Prager Linguistik-Zirkel herrschte. Hier wäre am ehesten von „Ausnahmefällen" einer Kontaktaufnahme zu sprechen, zumal sich einstweilen nur bei Theodor Baader, Henrik Becker und Anton Pfalz eine tiefer gehende fachliche Beziehung abzeichnet. Dagegen sticht die deutschsprachige Anglistik mit der hohen Zahl ihrer direkten Verbindungen zum Prager Zirkel deutlich heraus. Dies hängt zum einen sicher damit zusammen, dass anglistische Studien in der Arbeit des Linguistik-Zirkels von Beginn an einen wichtigen Schwerpunkt bildeten und diese, wie etwa der dritte Band der Travaux, im Ausland sehr wohl wahrgenommen wurden. Die Anglistik ist mit dem Vorsitzenden Vilem Mathesius und dem langjährigen Sekretär Bohumil Trnka aber auch insti189 Obwohl in den Jahren der Weimarer Republik die „Phase der Konsolidierung und Verselbständigung der Slawistik [...] ihren Höhepunkt" (Zeil 1994: 575) erreichte, blieb die Zahl der Lehrstühle im Vergleich mit den anderen Neuphilologien immer noch verschwindend gering. Bis 1939 wurden nur fünf Lehrstühle in Deutschland installiert (Seemann 1990: 259).
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
273
tutionell innerhalb des Linguistik-Zirkels stark vertreten. Das könnte nun zusätzlich dazu geführt haben, dass in dem überwiegend organisatorische Abläufe erfassenden Archivalienfonds „PLK" gerade Korrespondenzen mit ausländischen Anglisten überdurchschnittlich gut überliefert sind. In den Verlautbarungen beider Seiten zeichnet sich aber auch ab, dass eine bestimmte Fachtradition innerhalb der deutschsprachigen Anglistik intensive Kontakte mit der Prager Schule besonders begünstigt hat. Vorbereitet durch Karl Luick war durch Wilhelm Horn und seine Schüler innerhalb des Faches der Boden für funktionalistische Sprachauffassungen bereitet worden, ehe noch die Prager Schule ihre internationale Wirksamkeit entfaltete. Sowohl von Prager Seite wie von Seiten deutschsprachiger Anglisten ist am Anfang der dreißiger Jahre die Parallelität der Argumentationsweisen herausgestrichen worden. 190 Zu einer differenzierten Bestimmung der Positionen scheint man erst im Verlauf der folgenden Jahre gefunden zu haben. Gegenüber der allgemeinen Sprachwissenschaft und der Anglistik ist die Zahl der Kontaktpersonen, die schwerpunktmäßig im Bereich der Phonetik tätig waren, erstaunlich gering. Es ist aber schwierig, diese geringe Zahl zu bewerten, da hier entsprechende Vergleichsgrößen fehlen. Als selbständiges Fach ist die Phonetik in Deutschland erst 1920 mit der Habilitation Panconcelli-Calzias etabliert worden, der zwei Jahre später auch die erste planmäßige Professur in dieser Disziplin erhielt (PanconcelliCalzia 1994: 78). Im Allgemeinen war die Phonetik auch später an den Universitäten meist anderen Lehrstühlen zugeordnet (so etwa im Falle der Anglisten Wilhelm Horn oder Eugen Dieth) und/oder in phonetischen Laboratorien institutionalisiert. Angaben über die Anzahl der im damaligen Zeitraum an philosophischen oder medizinischen Fakultäten professionell mit Phonetik befassten Wissenschaftler sind mir nicht bekannt. Für die Frage, ob es unter den deutschsprachigen Kontaktpersonen des Prager Zirkels ein nennenswertes Interesse für speziell lautwissenschaftliche Fragestellungen gab, findet sich im Archivalienfonds des Linguistik-Zirkels aber noch ein weiterer Anhaltspunkt. Es sind dort nämlich auch einige Dokumente zu Aktivitäten und zum Mitgliederstamm der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft erhalten. Die umfangreichste erhaltene Mitgliederliste dieser Organisation umfasst insgesamt 78 Namen aus der Tschechoslowakischen Republik und aus dem Ausland. 191 Neben den ,inlandsdeutschen' Mitgliedern Gustav Becking und Friedrich Slotty ver190 Es ist die Frage, ob man angesichts dieser Grundsatzdiskussion um Laut- und Sprachwandel pauschal von „beschränkten [...] methodologischen Potenziale[n] der Anglistik" (Pfeiffer 2002: 40) in Deutschland sprechen kann. 191 „Liste de membres de l'Association Internationale pour les etudes phonologiques", drei Seiten (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 14).
274
3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
zeichnet die Zusammenstellung elf weitere Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Ausland. Bei all diesen Personen darf ein Interesse an einer international koordinierten Erforschung der phonologischen Systeme einzelner Sprachen als Motivation für den Beitritt vorausgesetzt werden. Dabei ist innerhalb der phonologischen Arbeitsgemeinschaft nach fünfzehn slawischsprachigen Mitgliedern aus der Tschechoslowakei die deutschsprachige Gruppe die zweitstärkste. Allerdings gilt es auch hier, die Größe der jeweiligen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften in Rechnung zu stellen. In den Niederlanden hatte die Arbeitsgemeinschaft (neben Baader) acht Mitglieder, aus Dänemark kamen sechs Mitglieder. Die Beteiligung dieser kleinen Wissenschaftsnationen an der internationalen phonologischen Forschungsorganisation ist also im Verhältnis viel höher einzustufen als die deutschsprachige. 192 Im Vergleich allerdings mit der großen Wissenschaftsnation Frankreich, die in der Arbeitsgemeinschaft nur mit sechs Mitgliedern vertreten war, fällt die deutschsprachige Beteiligung anfangs durchaus bemerkenswert aus. Diese Situation änderte sich allerdings bis zum Ende der dreißiger Jahre: Frankreich stellte nach Aussagen Andre Martinets 1938 nach den USA und der Tschechoslowakei die drittstärkste Landessektion der phonologischen Arbeitsgemeinschaft. 193 Worin das Interesse an der Phonologie bei den einzelnen Kontaktpersonen jeweils begründet war, lässt sich ohne nähere wirkungsgeschichtliche Untersuchungen ihrer sprachwissenschaftlichen Arbeiten nicht übergreifend und schon gar nicht abschließend sagen. Auffällig ist aber bereits nach der ersten Sichtung des Materials, dass unter den deutschsprachigen Rezipienten mehrere sind, die besonders der diachronischen Phonologie Aufmerksamkeit widmen. Dieses Interesse steht dabei regelmäßig im Kontext der Grundsatzdebatte um die Lautgesetze, wobei in der historischen Phonologie Bestätigung für die eigene Argumentation gegen junggrammatische Konzeptionen des Sprachwandels gesucht wird (so beispielsweise bei Hermann Güntert, Eduard Hermann, Wilhelm Horn, Leo Weisgerber). Auch für andere Autoren stehen offenbar methodologische und sprachtheoretische Aspekte der Phonologie im Zentrum des Interesses, die bei der Suche nach einer paradigmatischen Neuorientierung der deutschen Sprachwissenschaft relevant gemacht werden konnten (beispielsweise bei Henrik Becker, Karl Bühler, Otto Funke). 192 Die gegenüber Deutschland unverhältnismäßig intensivere Rezeption der Phonologie in den Niederlanden ist schon für Zeitgenossen sichtbar gewesen: „Linguisten als A. W. de Groot, N. v. Wijk, J. van Ginneken hebben de leerstellingen der fonologie in ons land gepropagiert en op het Nederlands toegepast. Dat is veel minder in Duitsland en voor het Duits gebeurd." (v. Dam 1937: 188). Ich danke Jan Noordegraaf für den Hinweis auf diesen Text. 193 Martinet (1939: 511), zur Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft vgl. auch 2.3.
3.4 Persönliche Kontakte und Korrespondenzen im Überblick
275
So weit für die obigen Einzeldarstellungen auch wissenschaftliche Publikationen eingesehen wurden, ergab sich der deutliche Befund, dass sich die Diskussion von Arbeiten der Prager Schule schon am Anfang der dreißiger Jahre in die Veröffentlichungen deutschsprachiger Wissenschafder niederzuschlagen begann. Hier sind nicht nur die frühen und umfänglichen Forschungsberichte von Elise Richter (1930) und Leo Weisgerber (1930) zu nennen, sondern auch auf viele eher beiläufige Erwähnungen in Monographien und Zeitschriftenbeiträgen hinzuweisen, die immerhin belegen, dass man die Neuansätze aus Prag in der deutschsprachigen Fachdiskussion sehr früh explizit berücksichtigte (z.B. bei Hermann Güntert, Eduard Hermann, Gunter Ipsen, Wilhelm Horn, Alfred Schmitt). Am Beispiel Anton Pirkhofers war erkennbar geworden, dass die Phonologie schon am Anfang der dreißiger Jahre auch in der universitären Lehre eine Rolle zu spielen begann. Wenn auch eindeutig die Phonologie im Zentrum des Interesses des deutschsprachigen Auslands stand, so interessierten sich einzelne Kontaktpersonen wie etwa Rudolf Hittmair besonders auch für die Syntaxstudien aus dem Umkreis des Prager Zirkels. An der Gruppe der vorgestellten Kontaktpersonen ist aber recht deutlich zu erkennen, dass im deutschsprachigen Wissenschaftsmikeu nahezu ausschließlich die sprachwissenschaftliche Arbeit der Prager Schule auf Widerhall stieß. Einen literaturwissenschaftlich poetologischen Hintergrund hatte offenbar allenfalls der Kontakt zu Franz Brender und vermutlich der zu Levin Schücking. Ein besonderes Interesse an der funktional-strukturalen Ethnographie Prager Prägung lassen unter den auslandsdeutschen Verbindungsmännern wohl nur Karl Heinrich Meyer und Wolfgang Steinitz erkennen. Beide Themenbereiche, die in den internen Diskussionen der Prager Schule durchaus einen breiten Raum beanspruchten, spielten in der internationalen Wahrnehmung dieser Schule offenbar nur eine verschwindend geringe Rolle. Diese thematisch eingeschränkte Sicht auf die Prager Schule begründet sich zu einem guten Teil allerdings in deren eigener Veröffentlichungspraxis, die literaturhistorische, poetologische und ethnographische Beiträge überwiegend an ein einheimisches Publikum adressierte und ihre international orientierten Publikationen ganz überwiegend sprachwissenschaftlichen Problemstellungen vorbehielt (vgl. 2.2).194 Fassen wir einige Ergebnisse meiner Auswertung archivalischer Belege für Verbindungen zwischen dem Prager Zirkel und dem deutschsprachigen Ausland anschaulich zusammen, indem wir die dargestellten Einzel194 Wie immer wären aber auch fachimmanente Gründe für die mangelnde Resonanz in Rechnung zu stellen. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass die funktional-strukturale Ethnographie auch dort, wo sie mit der Volkskunde in Deutschland in unmittelbaren Kontakt kam, keine Spuren einer Wirkung hinterließ, vgl. Ehlers (1998a).
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3 Der Weg der Texte, das Netz der Kontakte
fälle zu einer ,idealtypischen Kontaktperson' zusammenschmelzen: Der typische Verbindungsmann in der deutschsprachigen Wissenschaft hatte bereits vor 1932 den Kontakt mit dem Prager Zirkel aufgenommen, und hielt diese Verbindung durch gelegentliche weitere Kontakte über mehrere Jahre hinweg aufrecht. Er war zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme bereits über 40 Jahre alt, also deutlich älter als seine Partner in Prag. Dieser Wissenschafder gehörte typischerweise dem Lehrkörper einer deutschen Universität an und vertrat dort die allgemeine Sprachwissenschaft oder die Anglistik. Er hatte seinen Platz in den methodologischen und sprachtheoretischen Fraktionierungen seines Faches schon gefunden, ehe er von den neuen Entwicklungen aus Prag erfuhr. Die Prager Schule zog vor allem mit ihren sprachwissenschaftlichen Arbeiten seine Aufmerksamkeit auf sich. Hier galt besonders der neuen Disziplin der Phonologie sein Augenmerk, auch wenn er selbst nicht unbedingt an speziell lautwissenschaftlichen, sondern eher an allgemeinen methodologischen und sprachtheoretischen Fragestellungen interessiert war. Seine Orientierung an den internationalen Diskussionen bekundete er auch dadurch, dass er mindestens einen der Linguistenkongresse im Ausland besuchte. Dort hatte er vielfältige Gelegenheit, Vertreter der Prager Schule in Vorträgen oder Diskussionen auch persönlich zu erleben, von deren Veröffentlichungen er im Übrigen das eine oder andere Exemplar zu Hause im eigenen Bücherschrank stehen hatte. Als im politisierten Kontext der späten sechziger Jahre eine breite Rezeptionswelle des amerikanischen Strukturalismus die deutschsprachige Linguistik aufzuwühlen begann, war dieser Mann bereits verstorben.
4 Wirkung des Präger Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft: Vier Fallstudien Das dritte Kapitel hatte gezeigt, dass deutsche Sprachwissenschaftler die Arbeiten der Prager Schule selbstverständlich auch rezipieren konnten, ohne mit deren Vertretern in einen persönlichen Kontakt getreten zu sein (3.1, 3.3). So sind bei zwei der vier Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus, die das folgende Kapitel vorstellt, (vorerst) keine direkten Verbindungen nach Prag zu belegen. Hier wurden Anregungen produktiv verarbeitet, die man allgemein zugänglichen Texten entnahm oder durch die damalige Fachdiskussion vermittelt bekam. Dies dürfte, so groß die Zahl der in 3.4 dokumentierten Kontakte auch erscheinen mag, die bei weitem üblichere Weise von Rezeption und Wirkung des Prager Strukturalismus im deutschsprachigen Ausland gewesen sein. Bei Henrik Becker und Leo Weisgerber standen allerdings persönliche Begegnungen am Beginn eines langjährigen wissenschaftlichen Austausches. Da hier die persönlichen Hintergründe der wissenschaftlichen Wirkung in ihrer Entwicklung mit dokumentiert werden sollen, müssen die diesen beiden Sprachforschern gewidmeten Abschnitte weit umfangreicher ausfallen als die beiden anderen Fallstudien. An vier ausgewählten Beispielen wird das folgende Kapitel also darstellen, wie deutsche Sprachwissenschafder Theoreme und Methoden des Prager Strukturalismus in ihre eigene wissenschaftliche Arbeit integrierten. Dabei soll zum einen herausgearbeitet werden, welche positiven Anknüpfungspunkte die vier Wissenschafder in den Veröffentlichungen ihrer Prager Kollegen fanden. Zum anderen wird genau zu prüfen sein, welchen Anpassungen, Umformungen und Erweiterungen die rezipierten Inhalte im Kontext des jeweiligen sprachwissenschaftlichen Werkzusammenhanges unterworfen wurden. Ich möchte betonen, dass die vier Fallstudien hier nicht als seltene Ausnahmefälle einer produktiven Aufnahme von Anregungen aus Prag vorgestellt werden, sondern als leicht zu ergänzende Beispiele einer durchaus breiten Wirkung des Prager Strukturalismus, die über die Grenzen einzelner philologischer Disziplinen hinausreichte. Mit Henrik Becker und Jost Trier sind zwei meiner Fallstudien innerhalb der Germanistik angesiedelt, Leo Weisgerber vertrat die allgemeine Sprachwissenschaft und Eugen Lerch die deutschsprachige Romanistik. Eine
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
weitere Fallstudie zur Wirkung des Prager Strukturalismus im deutschen Wissenschaftsmilieu der Stadt Prag wird im fünften Kapitel (5.5) zusätzlich die deutsche Slawistik zum Gegenstand haben. Dass sich für eine Wirkungsgeschichte des Prager Strukturalismus auch in der deutschsprachigen Anglistik eine Reihe lohnender Untersuchungsfälle bieten würden, habe ich in Ansätzen bereits in 3.4 verdeutlicht. Natürlich ist die neue Disziplin der Phonologie in Deutschland gerade auch im Umfeld der Lautwissenschaften, in Experimentphonetik, Schallanalyse wie Phonometrie, diskutiert worden. Auch hier läge reichlich Stoff für wirkungsgeschichtliche Untersuchungen, deren Ausführung aber einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben müssen. Von den zahlreichen methodologischen Fraktionen der damaligen deutschen Sprachwissenschaft sind wenigstens einige wichtige Richtungen in meinen Fallstudien angesprochen. Neben dem eigenwilligen und eher marginalen Ansatz einer funktionalen Grammatik bei Henrik Becker ist hier mit Leo Weisgerber und Jost Trier die frühe Sprachinhaltsforschung vertreten, die in der Diskussion um eine frühe deutsche Strukturalismusrezeption eine so zentrale Rolle spielte (vgl. 1.3). Eugen Lerch ist unter den Schülern Karl Vosslers wohl derjenige, der dessen wirkungsmächtiges Programm des Idealismus am konsequentesten für die Sprachwissenschaft umzusetzen suchte und zu einer linguistischen Kulturkunde weiterentwickelte. Die im fünften Kapitel untersuchte Prager deutsche Slawistik vertrat eine kulturkundliche Gegenstandsbestimmung ihres Faches, wie sie — zum Teil unter Berufung auf Vossler — auch von zahlreichen Anglisten und Romanisten geteilt wurde. Das gesamte methodologische Feld der damaligen deutschen Sprachwissenschaft ist freilich mit wenigen Einzelstudien nicht annähernd abzudecken. Hier ist unter der Voraussetzung des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht mehr als ein Anfang zu machen. 1 Ich habe die vier Fallstudien chronologisch nach dem Beginn einer erkennbaren Rezeption des Prager Strukturalismus angeordnet. Henrik Becker hatte schon vor der Gründung des Linguistik-Zirkels Kontakt mit dessen späteren Protagonisten (Abschnitt 4.1). Leo Weisgerber trat mit ihnen nach einer Begegnung auf dem Linguistenkongress von 1928 in wissenschaftlichen Austausch (Abschnitt 4.2). Jost Trier näherte seine Wortfeldtheorie in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre Argumentationen der Prager Schule an (Abschnitt 4.3). Und Eugen Lerch, der sich seit 1934 auf strukturale Tendenzen in der Sprachwissenschaft berief, stützte sich am Ende der dreißiger Jahre ausdrücklich auch auf Arbeiten der Prager Schule der Linguistik (Abschnitt 4.4). 1
Auch die bisher umfassendste Monographie zur deutschen Sprachwissenschaft der dreißiger Jahren, Christopher Huttons Linguistic and the Third Reich (1999), musste sich einstweilen mit einzelnen Fallstudien begnügen.
4.1 „Als Sprachwissenschaftler bin ich ein halber Tscheche" 1 : Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker 4.1.1 Leben und Werk Am 6. Oktober 1926 hielt der damals vierundzwanzigjährige Leipziger Germanist Henrik Becker in Prag einen Vortrag mit dem Titel „Der europäische Sprachgeist". Am selben Abend, im Rahmen derselben kleinen Veranstaltung im Arbeitszimmer von Vilem Mathesius wurde der Prager Linguistik-Zirkel gegründet. Folgte man einem 1984 in der Zeitschrift Sprachpflege erschienenen Nachruf, dann hätte Becker mit seinem Vortrag zu den regelmäßigen Diskussionen des Linguistik-Zirkels „den Anstoß gegeben" (Liebsch 1984: 84)2. Das ist sicherlich übertrieben. Beläuft sich aber die Beziehung zwischen Becker und dem Prager Linguistik-Zirkel auf eine bloße zeitliche Koinzidenz, durch die Beckers Vortrag das Privileg zufällt, eine lange Reihe von Veranstaltungen eröffnet zu haben, die zu den bedeutendsten in der europäischen Sprach- und Literaturwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts zählen sollten? Auch das trifft, zumindest aus dem Blickwinkel Beckers gesehen, nicht zu. Seine Kontakte zum wissenschaftlichen Umfeld von Mathesius reichten schon in die Zeit vor der Gründung des Linguistik-Zirkels zurück. 3 1
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Aus einem nicht namentlich adressierten Brief Beckers an „einen tschechischen Kollegen" vom 28.5.1976 (Univ.-Archiv Jena/ Bestand V/ Abt. X/ Nr. 273: 265). Dieser im Durchschlag erhaltene Brief ist offenbar als Begleitschreiben mit der im dokumentarischen Anhang abgedruckten autobiographischen Notiz „Mein Verhältnis zum Prager Sprachkundekreis" nach Prag geschickt worden. Eine erste Version dieser Fallstudie erschien als Ehlers (1994). In der Zwischenzeit habe ich eine ganze Reihe weiterer Archivalien aufgefunden, die es erlauben, die Beziehung Beckers zum Prager Zirkel hier sehr viel präziser zu beschreiben, als es auf der Basis der mir damals zugänglichen Quellen möglich war. Nach über zehnjährigen Recherchen zur frühen deutschen Strukturalismusrezeption sehe ich in Becker heute nicht mehr einen seltenen Ausnahmefall in einem ansonsten von strukturalen Tendenzen unberührten Wissenschaftsraum. Sein Werk ist nur ein einzelnes Beispiel in einer durchaus breiten Rezeptionsgeschichte, Henrik Beckers persönliche Beziehungen zu Vertretern der Prager Schule sind allerdings außergewöhnlich eng und dauerhaft bzw. außergewöhnlich gut archivaüsch dokumentiert. Eine genaue Schilderung von Zustandekommen und Ablauf dieser Gründungssitzung gibt Mathesius (1936a), engl, in Vachek (1966: 137-151). Ein eventuell erster Pragaufenthalt Beckers ist für Mitte 1925 belegt. Beckers Familie hatte offensichtlich private Kontakte zur Familie des in Prag tätigen Slawisten Matija
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Und diese Kontakte sollten über nahezu sechs Jahrzehnte bis kurz vor dem Tod Beckers im Jahr 1984 nie ganz abreißen. Henrik Beckers Anbindung an die Arbeit der Prager Schule war schon in deren klassischer Periode bis 1939 für einen Wissenschafder aus Deutschland außergewöhnlich eng und aktiv. Die erhaltenen Anwesenheitslisten von Sitzungen des Prager Zirkels lassen zwar erkennen, dass Becker in dieser Zeit wohl überhaupt nur an zwei der regelmäßigen Versammlungen teilnahm (nach der genannten Gründungsversammlung nur an der sechsten Sitzung, also schon am 3. März 19274). Becker reiste aber in den folgenden Jahren mehrfach nach Prag, um für sein Habilitationsprojekt zu recherchieren und ortsansässige Sprachwissenschafder zu konsultieren. Dabei spielte vor allem sein „Spätlehrer" 5 Mathesius, aber auch andere Zirkel-Mitglieder wie Bohumil Trnka und Roman Jakobson eine besondere Rolle. Im Dezember 1930 steuerte er dann — als einziger Deutscher neben Karl Bühler — zu der vom Linguistik-Zirkel organisierten Internationalen Phonologischen Konferenz in Prag einen Vortrag bei und ist hier Mitglied einer Initiative zur Gründung der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft (LAPS) geworden. Sein Konferenzbeitrag erschien in dem entsprechenden Band 4 der Travaux du Cercle Unguistique de Prague, in denen Becker dann fünf Jahre später als einer der „wissenschaftlichen Freunde des Zirkels" (Trnka 1937: 196) noch einen weiteren Text veröffentlichte (Becker 1936). Auch an der Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag von Vilem Mathesius beteiligte sich Becker — auf ausdrückliche Einladung aus Prag - mit einem Artikel (Becker 1932). Erhaltene Archivmaterialien lassen erkennen, dass es bis zum Ausbruch des Krieges offenbar keine weitere persönliche Begegnung zwischen Becker und Prager Linguisten gegeben hat.6 Becker stand aber in den dreißiger Jahren in einem zwar nicht allzu häufigen, aber doch regelmäßigen Briefwechsel mit verschiedenen Vertretern des Prager
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Murko. Das geht aus einer ganzen Reihe von Briefen Beckers im Nachlass Murkos hervor, bei dem Becker im Mai/Anfang Juni 1925 eine Woche zu Gast war (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi: dort Brief vom 7.6.1925). Bereits in einem Brief vom 18.1.1926 berichtet Becker Murko von einem Kontakt mit Mathesius und Trnka: „Durch Dr. Trnka hat er [Mathesius] mich in der liebenswürdigsten Weise auffordern lassen, ihm einen Auszug meines Vortrags zu schicken [...]" (a.a.O.). Es ist nicht klar, welchen „Vortrag" Becker hier meint, in seinem Brief ist einesteils von seiner Studie über das Epos (s.u.), andererseits erstmalig von seinem Habilitationsprojekt die Rede (s.u.). Festzuhalten bleibt vorerst, dass Mathesius schon Anfang 1926 Interesse an der wissenschaftlichen Arbeit Beckers geäußert hatte. Vortrag von Frantisek Oberpfalcer über Charles Ballys La langage et la vie. Becker in einer autobiographischen Notiz von Mitte 1976, vgl. den dokumentarischen Anhang zu diesem Abschnitt. Während des Zweiten Weltkrieges, in dem er sich nach eigener Auskunft ein Jahr als Sanitätssoldat in Prag aufhielt, „erschien einmal Becker unerwartet in Uniform der deutschen Wehrmacht" bei Trnka (briefliche Information von Prof. Jiri Nosek). Weitere Begegnungen scheint es unter diesen Umständen nicht gegeben zu haben.
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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Zirkels, der sich bis in die Kriegsjahre fortsetzte. 7 Wie aus diesen Materialien außerdem hervorgeht, hat Becker nicht nur die Publikationen der Prager Schule recht kontinuierlich verfolgt, 8 sondern er hat auch seine eigenen, in Deutschland veröffentlichten Bücher gleich nach Erscheinen nach Prag geschickt bzw. dort angekündigt. 9 Im Jahr 1937 versuchte Becker sogar, ein eigenes Buchmanuskript in der Schriftenreihe der Travaux du Cercle Unguistique de Prague zu veröffentlichen. 10 Obwohl dieser Versuch im Prager Zirkel letztlich keine Zustimmung fand, blieb auch in der Folge die Beziehung zwischen Becker und den Prager Sprachwissenschafdern keineswegs einseitig ausgerichtet. So war es gerade Becker, der als der erste deutsche Wissenschafder nach dem Kriege eine Einladung zu einem Vortrag in Prag erhielt. Von diesem Pragbesuch Beckers erhoffte man sich im Linguistik-Zirkel nicht nur „unsere alten freundschaftlichen Beziehungen zu erneuern", sondern überhaupt „die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Nationen dieses mitteleuropäischen Raumes" zu befördern.11 In der Tat reiste Becker in den fünfziger Jahren mindestens zweimal in die CSSR und traf sich dort persönlich mit Angehörigen des unterdessen paralysierten Linguistik-Zirkels. 12 In den siebziger und beginnen7
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Wenn Becker sich auch einmal für die „Seltenheit meiner Briefe und Mitarbeit" (Brief vom 8.4.1938) entschuldigt, finden sich im Archiv der Akademie der Wissenschaften in Prag immerhin noch insgesamt sieben Briefe Beckers aus den dreißiger Jahren, die überdies als Bruchstücke einer umfangreicheren Korrespondenz zu erkennen sind (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Als Adressaten dieser durchweg ohne namentliche Anrede eingeleiteten Briefe lassen sich recht klar einesteils Bohumil Trnka und andernteils Vilem Mathesius identifizieren. Drei Briefe aus der Zeit zwischen 1932 und 1941 von Mathesius bzw. Jakobson finden sich im Universitätsarchiv Jena (Univ.Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274). Becker bekam aus Prag nachweislich den vierten und fünften Band der Travaux, sowie die Mathesius-Festschrift Charisteria (1932) und den tschechischen Sammelband Spisovna cestina a javykova kultura (1932), vgl. den im dokumentarischen Anhang abgedruckten Brief Jakobsons vom 20.11.32. Den sechsten Band der Travaux, in dem er mit einem Beitrag vertreten war, wird man ihm höchstwahrscheinlich ebenfalls geschickt haben. Ob er der Subskriptionseinladung für den siebten und achten Band gefolgt ist, ist nicht belegt (vgl. Abschnitt 3.2). Belegt für Becker (1933) und (1941a), vgl. die im dokumentarischen Anhang abgedruckten Briefe Jakobsons und Mathesius'. Vgl. unten 4.1.4. Im gleichen Jahr schickte Becker einen tschechisch konzipierten „kleinen Beitrag für Slovo a Slovesnost" nach Prag, der dort ebenfalls nicht gedruckt wurde, vgl. Brief Beckers vom 7.5.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Vgl. die zwei erhaltenen Briefe Beckers vom 1.11.1950 und vom 22.10.1951. Die angeführten Zitate stammen aus einem tschechischen Antwortschreiben Trnkas vom 7.11.1951 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Das Treffen ist zunächst wegen der Reisebeschränkungen für Becker, später dann wegen der Antistrukturalismuskampagne in der CSSR verschoben worden, vgl. die angeführten Briefe. Im Jahr 1954 nahm Becker an der Neuphilologenkonferenz in Liblice teil und suchte einige Jahre später Trnka an der Karlsuniversität Prag auf. Ich danke Prof. Jiri Nosek, der als Zeitzeuge bei beiden Begegnungen zugegen war, für seine Auskunft.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
den achtziger Jahren stand Becker (wieder?) mit Pavel Trost, Bohumil Trnka und Milan Rompord in Briefkontakt. 13 Noch zu seinem achtzigsten Geburtstag, zu dem Becker ihm offenbar gratuliert hatte, beschwört Trnka die alte Verbundenheit: Dovolte, abych pri teto prüezitosti rekl, ze jiz za naseho prvniho setkäni jsem Väs poznal jako rauze ldeälniho zamefeni, ktery si razi cestu k vedeckym a ethickym problemüm svym samostatnym tvürcim postupem. Zde ν Praze nejste zapominän a Vase jmeno se casto uvadi ν diskusich nasi sekce Kr Μ F pro funkcni jazykopyt, jejichz starsi clenove, j. Skalicka, Trost a jini jsou Vasimi prateli. 14 Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit zu sagen, dass ich Sie bereits seit unserer ersten Begegnung als einen Mann mit idealer Ausrichtung kenne, die sich durch Ihre eigene selbständige und kreative Methode zu wissenschaftlichen und ethischen Problemen Bahn bricht. Hier in Prag sind Sie nicht vergessen und Ihr Name wird in den Diskussionen unserer Sektion des Krüh modemich filologü [Kreis moderner Philologen] für funktionale Sprachforschung oft erwähnt, deren ältere Mitglieder wie Skalicka, Trost und andere Ihre Freunde sind.
Becker seinerseits legt in einer knappen Selbstdarstellung noch im Jahre 1948 Wert auf die Feststellung, dass er „seit seiner Begründung 1926 Mitglied des Prager Sprachkundekreises" (Becker 1948a: 168 und 1948b: 4) war. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte er Mathesius — neben Sievers, Streitberg und Jolles — in die Reihe der „großen Meister" gestellt, denen er „vor allen anderen" (Becker 1941b: 76) seine sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse verdanke. Obwohl der Prager Linguistik-Zirkel in der CSSR durch die gerade eröffnete Anti-Strukturalismuskampagne bereits unter wissenschaftspolitischen Druck geraten war, hob Becker auch 1952 hervor, „die besten Anregungen" aus dem „Prager Sprachkundekreis" erhalten zu haben, und hielt sich seine „wohl von keinem anderen geteilte[...] reiche[...] Kenntnis" der sprachwissenschaftlichen Ansätze der Prager Schule zugute, die er hier allerdings zeitgemäß als „Ansätze zu einer wahrhaft marxistischen Sprachwissenschaft" (Becker 1952: 74) etikettierte. Im Jahr 1956 widmet Becker dann einen Artikel „Zur dreißigjährigen Erinnerung an den Prazsky linguisticky krouzek den getreuesten Freunden Bohumil Trnka und Pavel Trost" (Becker 1956: 727). Ähnlich verweist noch der inzwischen Dreiundsechzigjährige in einer Polemik ge-
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Im Nachlass Beckers im Universitätsarchiv Jena sind allein 12 Schreiben von den bzw. an die drei genannten Personen aus den Jahren 1974 bis 1982 erhalten. Dort finden sich außerdem Briefe von anderen tschechischen Kollegen wie Hugo Siebenschein und Otto Duchäcek und an einen nicht identifizierten Hermann Kölln, der in Prag lebte. Handschriftlicher Brief Trnkas an Becker vom 25.7.1975 (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: 354-355).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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gen den ,,einseitige[n] westliche[n] Strukturalismus" (Becker 1965: 163) darauf, dass er selber „die Geburtsstunde der strukturalen Sprachbetrachtung tätig miterlebt habe", und reiht sich umstandslos in den „Prager Kreis" (ebd.: 164) ein, dessen Partei er hier gegen Hjelmslev, Chomsky und andere ergreift. Fünfzig Jahre nach der Gründung des Prager Zirkels beschreibt Becker sein enges „Verhältnis zum Prager Sprachkundekreis" in einem autobiographischen Text, der im dokumentarischen Anhang zu diesem Abschnitt wiedergegeben wird. Auf die Anregungen aus Prag führt Becker hier zurück, dass er „aus einem Philologen und Nachbarschaftsvergleicher ein ,strukturaler Funktionalist' - nein, ein funktionaler Strukturalist'" (vgl. dokumentarischer Anhang) geworden sei. Schließlich unterstreicht Becker in seiner, soweit ich sehe, letzten Publikation drei Jahre vor seinem Tode noch einmal, wie viel er „den großen Anregungen des Prager Linguistischen Zirkels" (Becker 1981: 11) zu verdanken habe. Es ist ihm sichtlich daran gelegen, dass dieser Text, den er als sein „wissenschaftliches Testament" 15 betrachtet, gerade in Prag veröffentlicht und damit an den Anfang seiner sprachwissenschaftlichen Laufbahn zurück gebunden wird. Heute ist Becker, knapp zwanzig Jahre nach seinem Tode, entweder ganz vergessen, oder aber die Erinnerung an ihn läuft mehr und mehr in dem Bild eines wissenschaftlichen Sonderlings zusammen, der sich Zeit seines Lebens mit der an Zahlenmystik grenzenden idee fixe einer fünffachen Gliederung aller Sprachphänomene herumgetragen habe.16 Einige wenige Daten zu Leben und Werk Beckers seien daher ins Gedächtnis gerufen: Henrik Becker wurde 1902 in Budapest geboren, wo sein Vater, der deutsche Romanist Philipp August Becker bis 1905 an der Universität lehrte. Nach zwölfjähriger Lehrtätigkeit in Wien wurde der Vater 1917 an die Universität Leipzig berufen. Hier studierte denn auch Henrik Becker unter anderem noch bei Eduard Sievers — und promovierte 1923 mit einer Arbeit über „die Gedichte aus dem Sagenkreise der Nibelungen und Dietrichs von Bern in Urteil und Wertung ihrer Zeitgenossen". Es folgten Jahre der Tätigkeit als Lektor in Budapest und als Lehrer an verschiedenen höheren Schulen in Leipzig. Während der Nazizeit arbeitete Henrik Becker als, wie er sagt, „freier Schriftsteller" (Becker 1948a: 168, 1948b: 4) und Ubersetzer aus dem Französischen und war nach dem Krieg Lektor 15 16
Vgl. Beckers „Mein Verhältnis zum Prager Sprachkundekreis" im dokumentarischen Anhang zu diesem Kapitel. Bei meiner Suche nach Spuren Henrik Beckers in Prag konnte ich mich Anfang der neunziger Jahre mit Kurt Krolop, Emil Skala, Jaromir Povejsil und den leider unterdessen verstorbenen Jifi Nosek und Oldrich Leska beraten. Auch Peter Suchsland verdanke ich Hinweise.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
an der Pädagogischen Hochschule in Leipzig. 1951 bekam er einen Ruf an die Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, wo er zunächst gemeinsam mit Joachim Müller das germanistische Institut leitete, um dann ab 1956 Direktor des dort neu gegründeten „Instituts für Sprachpflege und Wortforschung" zu werden, dem er bis zu seiner Emeritierung vorstand. Im Februar 1984 starb Henrik Becker in Jena. 17 Henrik Becker war ein außerordentlich produktiver Autor. Da es also unmöglich ist, seinem Werk auf begrenztem Raum in allen Einzelheiten gerecht zu werden, möchte ich im Folgenden nur dessen Umriss und zentrale Achse nachzeichnen, um mich sodann vor allem auf die frühen Arbeiten Beckers zu konzentrieren. Hier soll zunächst auf die zeitgenössische deutsche Rezeption eingegangen (4.1.2) und schließlich an zwei geeigneten Punkten die Nähe zu den Ansätzen des Prager Strukturalismus im Detail ausgemessen werden (4.1.3 und 4.1.4). In der Zeit der „classical period of the Prague School" (Vachek 1966: 11) bis 1939 veröffentlichte Becker neben den oben erwähnten Aufsätzen vor allem sein sprachwissenschaftliches Erstlingswerk Das deutsche Neuwert. Wortbildungslehre (1933) und eine längere Studie zur Geschichte des Epos, auf die ich im Abschnitt 4.1.3 noch näher eingehen werde. 1941 gab Becker den ersten Band seiner auf fünf Bände angelegten Deutschen Sprachkunde bei Reclam in Leipzig heraus. Diese Sprachlehre erschien schon 1943 in einer zweiten Auflage und wurde 1944 vom zweiten Band der Sprachkunde, der Sprachgeschichte gefolgt. Dieses Buch, zumal in Gestalt der mir vorliegenden Exemplare, offenbart, wie sehr sich Becker in jenen Jahren vom „Geist einer neuen Zeit" (Becker 1944: 69) hat ergreifen lassen. 1944 - „zu so guter Stunde"! (ebd.: 18) — geschrieben, unterlegt Becker den vielfältigen historischen Wandlungen der deutschen Sprache, denen er hier „über wunderbare Gipfel und durch dunkle Täler" folgt, zwei Axiome: 1. die Einheit des Deutschen bei aller historischen und regionalen Differenzierung: Ein gedanken- und kunstbedingter deutscher Sprachgeist bindet die Sprache der deutschen Gegenwart an die Walters von der Vogelweide, das Reuterplatt ans Schwyzerdütsch, (ebd.: 9)
und 2. eine Entwicklungsteleologie, die auf „die reinste Ausprägung dieses deutschen Sprachgeistes" gerichtet ist und der nur noch der letzte Schritt, „die Durchdringung des gesamten Volkes" (ebd.: 10), zu ihrer Vollendung fehle. Die ideologische Ladung dieser beiden Axiome wird bei Becker — wie naheliegend - mit der politischen Realität des Nationalsozialismus kurzgeschlossen. So wird das Dritte Reich als endlich auch politische und 17
Weitere Einzelheiten zu Leben und Werk Beckers in meinem Beitrag für das Internationale Germanistenlexikon, Ehlers (2003).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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territoriale Verwirklichung der längst vorgegebenen Spracheinheit, als „die große Erfüllung des deutschen Einheitswillens durch Adolf Hider" (ebd.: 12) gefeiert und in die völkische Bewegung die Hoffnung gesetzt, die sprachgeschichtlich höchste Stufe des „Volksdeutschen" (ebd.: 69ff.) zu erreichen. Schon 1939, pünktlich zum Kriegsbeginn, hatte Becker eine Auswahl von Schriften Friedrichs des II. veröffentlicht, in der dieser „gerade der Gegenwart" (Becker Hrsg. 1939a: Klappentext) „als Mann der eisernen Pflichterfüllung und der unbedingten Hingabe ans Vaterland" anempfohlen sowie „unter die Führer des völkischen Deutschlands gereiht" (ebd.: 336) wird. In Ergänzung dazu stellt Becker im selben Jahr „besonders für die, die im Kampfe stehen" (Becker Hrsg. 1939b: 3), das moralisch-literarisch aufrüstende Tornisterbändchen Trut^büchlein der Deutschen zusammen, das, wo es heute überhaupt noch in Bibliotheken zu finden ist, ganz zu Recht als „NS-Literatur" 18 klassifiziert wird. Diese Zeitbegeisterung schlägt denn auch schon vor dem Erscheinen der Sprachgeschichte immer wieder einmal in Beckers wissenschaftliche Texte durch. An sich harmlose Vorschläge zum „Fachwörterabbau in der Sprachlehre" — nicht etwa zum Fremdwörterabbau — beispielsweise werden unvermittelt in eine blutige Leitmetaphorik von „Säubern und Ausmerzen" (Becker 1941c: 329f.) getaucht oder aber in einem Text zu Humboldt das Jahr 1942 en passant mit dem Satz kommentiert, dass „heute [...] die menschlichen Kräfte, die sich in unserem Volke auch soeben glückhaft gesteigert haben, zu ihrer vollen Entfaltung kommen wollen" (Becker 1942: 68). Zur Bewertung derartiger, im Zeitmaßstab freilich noch moderater Bekundungen ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass Becker wegen seiner früheren SPD-Mitgliedschaft die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer verweigert und ihm so eine Existenz als freier Schriftsteller, Ubersetzer und wissenschaftlicher Publizist sehr erschwert wurde. 19 Nach dem Krieg zeigte sich Becker bemüht, seine Annäherungen an den Nationalsozialismus ungeschehen zu machen. Im Fall der Sprachgeschichte griffen Autor und Verlag dabei zu dem geradezu kindischen Mittel, 18
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Das mir über Fernleihe zugestellte Exemplar der Stadtbücherei Ludwigsburg war entsprechend auf dem Titelblatt bestempelt. Das schmale Reclamheftchen bringt „aus dem reichen Schatz von Aussprüchen von Männern, die wir als die höchsten Verkörperungen deutschen Wesens anerkennen", zwischen Zitaten von Goethe, Hegel und Nietzsche oder Bismarck, Hindenburg und Moltke vor allem und immer wieder die „schlagenden Sprüche[...]" Adolf Hitlers. Erklärtes Ziel ist es, den „Geist echten Trutzes", „das Bekenntnis zu unserem Land" und die Einreihung „in den großen deutschen Aufbruch" zu befördern, Becker (Hrsg. 1939b: Vorwort). Vgl. die recht umfangreiche Korrespondenz Beckers mit der Reichsschrifttumskammer aus der Zeit zwischen 1938 und 1941 im Bundesarchiv (ehemaliges Berlin Document Center). Ich danke Gerd Simon für den Hinweis auf diese wertvollen Dokumente.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
alle Sätze und Absätze, in denen buchstäblich vom Dritten Reich und seinem Führer die Rede ist, mit Papierstreifen bzw. neu formulierten und gesetzten Passagen zu überkleben. 20 Auf ein ebensolches Einvernehmen von Verlag und Autor begründet sich wahrscheinlich auch der Umstand, dass in dem 1954 erschienenen Zehnjahresband des Deutschen Bücherverzeichnisses mit dem Berichtszeitraum 1941 bis 1950 (Becker ist inzwischen Professor in Jena) die Sprachgeschichte gar nicht erst aufgenommen wird, und dieses Buch also auf direktem Wege bibliographisch nicht mehr zu ermitteln ist 2 ' Mit diesem misslichen zweiten Band bricht Henrik Becker sein breit angelegtes Vorhaben einer Deutschen Sprachkunde in der geplanten Form zunächst ab.22 Deutlich liegen aber noch mehrere der nach dem Kriege veröffentlichten Bücher Beckers auf der früher vorgezeichneten Linie. Hier ist vor allem Der Sprachbund von 1948 zu nennen, aber auch eine Reihe von Veröffentlichungen zur Stilistik, überwiegend ganz praktisch orientierte Rede-, Schreib- oder Gesprächsschulen, bewegen sich letztlich noch im Rahmen des ursprünglichen Projekts. Neben der Grammatik und ihrer didaktischen Vermittlung ist denn auch die Stilistik der deutliche Schwerpunkt von Beckers sprachwissenschaftlichen Arbeiten nach dem Krieg. Bemerkenswerterweise widmet er aber Zeit seines Lebens sein wissenschaftliches Interesse immer auch der Literatur, besonders der älteren deutschen Literatur, legt Neueditionen von Texten und kleinere wie größere literaturgeschichtliche Studien vor. Die wichtigsten sind hier wohl das zweibändige Werk Warnlieder, in dem „die sogenannte Heldensage" „als Warnruf derer, die mit Sorge die Entwicklung der Klassengesellschaft und ihre Widersprüche sahen" (Becker 1953: 4), interpretiert wird, und die kompakte literaturhistorische Darstellung Bausteine %ur deutschen Uteraturgeschichte. Ältere deutsche Uteratur aus dem Jahr 1957. Zusätzlich zu den insgesamt rund fünfundzwanzig selbständigen Publikationen, die Becker verfasste bzw. herausgab, wären noch seine Maupassant- und seine beiden Saint-Exupery-Übersetzungen aus den vierziger Jahren zu erwähnen. Eine Reihe wichtiger Artikel veröffentlichte Becker in der Wissenschaftlichen Zeit-
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Siehe die Exemplare von Becker (1944) in der Bibliothek des Germanistischen Instituts, Freie Universität Berlin sowie der Amerika-Gedenkbibliothek, Berlin, ebd.: Seiten 12, 69,73,119, 266. Auch in Prag scheint Beckers Sprachgeschichte gar nicht bekannt gewesen zu sein. Angehörige des Prager Zirkels wie Oldrich Leska und Jiri Nosek, die Henrik Becker noch gekannt haben, konnten sich jedenfalls nicht an dieses Buch erinnern. Vgl. Becker (1956), wo nach einer Klage über die ausbleibende oder aber undankbare Rezeption der ersten beiden Bände der Sprachkunde beschieden wird: „Die Sprachdeutung und die Sprecherkunde, die ich 1945 (unter welchen Umständen!) vollendet habe, möchte ich nach zehnjährigem Liegen unter besagten Verhältnissen nun nicht mehr veröffentlichen" (ebd.: 727).
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schrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Zahl seiner meist kurzen Notizen und kritischen Glossen zum Gegenwartsdeutsch, die vor allem in der Zeitschrift Sprachpflege erschienen, beziffert Becker selbst auf „über 50"23. Dieses umfangreiche wissenschaftliche (Euvre wird trotz seiner erstaunlichen Vielseitigkeit im Wesentlichen durch eine einzige übergreifende Klammer zusammengehalten. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass alle sprachwissenschaftlichen Arbeiten Beckers und zumindest auch ein Teil seines literaturwissenschaftlichen Werks ihren Impuls aus dem einen großen Projekt der Sprachkunde erhalten. Spätestens 1936 legt Becker seinen ehrgeizigen Plan für ein „Sprachgebäude, das in sinnvoller Rundung jede Einzelheit jeder Sprache aufnehmen kann, ein allgültiges System für jede Sprache und für jede Sprachvergleichung" (Becker 1936: 13) der Öffentlichkeit vor. Er unterstreicht dabei, dass dieser Systementwurf Frucht „langer Arbeit" sei, die schon in seiner ersten Buchveröffentlichung, also Becker (1933), ein „Teilergebnis" (ebd.) erbracht habe. An anderer Stelle wird der Beginn der Vorarbeiten zu diesem System sogar schon auf das Jahr 1923 zurückdatiert (Becker 1941b: 76). An der Ausgestaltung dieses „Sprachgebäudes", für das er mehrfach leicht umgruppierte, vor allem aber ausdifferenzierte und erweiterte Entwürfe vorlegt, arbeitet Henrik Becker auch über die folgenden Jahrzehnte kontinuierlich weiter. So legt noch der fast achtzigjährige Becker für seinen „Plan zum natürlichen Sprachsystem" (Becker 1981: Titel) noch einmal eine revidierte Fassung vor und projektiert zugleich ein detailliertes Redaktionsprogramm für seine Verwirklichung in einem vielbändigen „Weltbuch von der Sprache" (ebd.: 19). Dass Becker dieses Projekt, das er ein ganzes akademisches Leben lang verfolgte, zum ersten Mal in den Travaux du Cercle Unguistique de Prague vorstellte, ist kein Zufall. 24 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist „die Unwirksamkeit, ja Schädlichkeit der herkömmlichen Sprachlehre" (Becker 1965: 163). Nach Becker gilt es, „den veralteten lateinischgriechischen Formenvordruck Laut-Wort-Satz, mit dem sich niemals eine befriedigende Sprachbeschreibung erreichen läßt, zu ersetzen" (Becker 1941b: 79), denn diese „Formensprachkunde" sei erstens nur „nach äußerlichen Merkmalen willkürlich geordnet" und bilde zweitens für die Vielfalt sprachlicher Erscheinungen einen „zu engen Rahmen". 25 Die geforderte Sprachbeschreibung neuen Stils müsse dementsprechend „einen
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Kürschners deutscher Gelehrten Kalender von 1966. Dem entspricht, dass Becker fast sechzig Jahre später einen letzten programmatischen Aufriss dieses Plans in den Acta Universitatis Carolinae veröffentlicht und damit bewusst an seinen Prager Kontext zurückbindet, Becker (1981). Becker (1936: 12). In der Zeit des Nationalsozialismus wird über die traditionelle Grammatik zusätzlich als von einer „undeutschen Formsprachlehre" gesprochen, Becker (1941c: 75).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Zusammenhalt im Ganzen haben" und „jede Einzelheit jeder Sprache aufnehmen" können, sie dürfe sich der Sprache „nicht von außen" (Becker 1936: 13) nähern, sondern habe sich die zentrale Frage zu stellen, „was geschieht, wenn wir sprechen, schreiben oder sonstwie die Sprache gebrauchen" (ebd.: 14). „Die funktionelle", oder wie Becker verdeutscht, „Gebrauchssprachlehre" wird denn auch als eine der „wichtigsten Vorarbeiten" (ebd.: 13) zu dieser Neubegründung der Sprachbeschreibung benannt. Es ist klar, dass Beckers positive Referenz hier den sprachwissenschaftlichen Ansätzen der Prager Schule gilt, die ihr Funktionsmodell der Sprache in der Mitte der dreißiger Jahren mit dem Organonmodell Karl Bühlers verschränkt hatte: Der derzeitige Stand der Erkenntnis eines natürlichen Aufbaus der Sprache, der nicht von der unseligen Formscheidung Laut-Wort-Satz ausgeht, ist im sogenannten Werkzeugbild (Organonmodell) festgehalten, bei dem die Sprache als etwas für sich zwischen Sprechern und der Vorstellungswelt vorgeführt wird.26 Aber das so erarbeitete Sprachmodell mit seinen drei grundlegenden Kategorien „die Sprache - die Sprecher - die Vorstellungswelt" ist für Becker immer noch „handgreiflich ungenügend" (Becker 1941b: 78-79). Zwei weitere Größen seien zu ergänzen, solle die Frage, „was geschieht, wenn wir sprechen", vollständig beantwortet werden: Wenn wir sprechen, geschieht fünferlei: Wir planen (beabsichtigen) eine Mitteilung oder Gesprächsäußerung, suchen Ausdruck für das, was gerade dran ist, fügen die dabei auftauchenden Wörter mit weiteren passenden nach den Gesetzen unserer Sprache, verkörpern diese Gefüge in Laut, Schrift oder Gedanken, erreichen und fördern eine Wirkung auf den Hörer oder Leser zu ganzheitlichem Verstehen.27 „Planung, Ausdruck, Fügung, Körper (bes. Laut), Wirkung" (Becker 1972: 755) sind für Becker fünf heteronome Sprachvorgänge, „die jeder sein Wesen und Eigenwert für sich haben, die aber zusammenwirken" und so die „Ganzheit" (Becker 1936: 14) der Sprache bilden. Becker benennt diese Eckpfeiler des „natürlichen Sprachgebäudes" zunächst geringfügig anders und ordnet sie anfangs noch nicht als Phasen der Sprachproduktion, sondern logisch als „Stufenleiter von Form zu Sinn" an: „Wortfügung Sprachkörper - Sprachwirkung - Ordnung - Ausdruck". 28 Diese fünfgliedrige Systematik wird nun immer wieder als „das natürliche Sprachgebäude", als ein „Naturgebäude" gar wie „die periodische Tafel der chemi-
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Becker (1941c: 78). Schon 1936 verweist Becker auf das Organonmodell Karl Bühlers, vgl. Becker (1936: 18). Becker (1965: 165). Vgl. ders. (1941b: 79). Becker (1936: 19). Er beruft sich bei dieser Anordnung auf K.F. Becker, Georg von der Gabelentz und Nikolaus Finck.
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sehen Grundstoffe" 29 vorgestellt. Es lasse sich nämlich „seinen Aufbau vom Gegenstand selbst diktieren" und umfasse trotz „überzeugender Einfachheit" (Becker 1936: 23) das gesamte Sprachgeschehen in all seinen Aspekten: Denn außer dem eigentlichen Mitteilungsvorgang sind wirklich nur Raum [vgl. „Verkörperung"], Zeit [vgl. „Ordnung"], die Gefühlswelt der Sprecher und Verstehet und schließlich das Werkzeug selbst, die Sprache, an dem Geschehen beteiligt. (Becker 1936: 18)
Diese „natürliche" Gliederung der Sprachvorgänge bestimmt folgerichtig nicht nur die Kapiteleinteilung von Beckers Sprachlehre, sondern sie liegt auch der Architektonik der geplanten Deutschen Sprachkunde mit ihren fünf Bänden Sprachlehre, Sprachgeschichte, Sprachvergleich, Sprecherkunde und Sprachdeutung zugrunde, die zugleich die Architektonik der neu entworfenen Sprachwissenschaft mit ihren Disziplinen vorzeichnet. 30
4.1.2 Die Sprachlehre in der deutschen Rezeption Offensichtlich fand Becker mit seinem umfassenden Systementwurf, an den er schon 1936 „letzte Hand" gelegt hat, Zeit seines Lebens wenig Anklang. Das deutet selbst der Nachruf auf Becker an, wenn dort — freilich mit der textsortengemäßen Behutsamkeit — formuliert wird, Becker habe „nicht mit allen Arbeiten" „bei Fachkollegen und Lesern gleiche Resonanz gefunden" (Liebsch 1984: 84). Becker selbst ist da deutlicher, schon 1956 beklagt er, dass es „die Sprachforschergilde" „an Sachverständigenkritik [...] fast ganz fehlen" (Becker 1956: 727) lasse, mahnt zwei Jahre darauf noch einmal „die ausgebliebenen ernsthaften Kritiken auf meine Arbeiten" (Becker 1957/58: 117) an, um einige Jahre später in schärferem Ton
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Becker (1941b: 78). An anderer Stelle vergleicht Becker sein „Sprachgebäude" mit dem ,,natürliche[n] System der Tiere und Pflanzen" (ders. 1952: 75). Noch in Becker (1981) spricht er von einem „natürlichen Sprachsystem". Vgl. den Aufriss der Sprachwissenschaft in Becker (1965). Hier wird der früher zum Teil auffällig unintegrierte Bereich des Lexikalischen als eine eigene „zweite Grundwissenschaft: Wortkunde" hinzugefügt und die fünf Bücher/Disziplinen der Sprachkunde um weitere fünf erweitert. Der so entworfene Gesamtplan lässt vor allem in seiner Binnendifferenzierung erkennen, dass sich das ursprünglich durch die fünf Sprachvorgänge begründete Gliederungsprinzip beim späten Becker partiell zu verselbständigen begonnen hat. Vgl. auch das zu einer „gewaltige[n] Bücherei" anschwellende Editionsprojekt „Weltbuch der Sprache" in Becker (1981). Die letzten drei der „Hundert Thesen zur Sprachwissenschaft" zeigen, dass Becker mit dem Gedanken gespielt hat, sein Prinzip der fünffachen Gliederung nicht nur „auf die Sprachkunde allein", sondern „auch anderwärts anzuwenden" und gar zu einer Art Weltformel der Erkenntnis auszuweiten, Becker (1952: 97-98).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
zu „fordern", dass das natürliche Sprachsystem „endlich beachtet wird" (Becker 1965: 171): Ich begreife die Fachgenossen nicht, daß sie ihn [den gefundenen neuen Rahmen der Sprachwissenschaft] nicht einmal ernsthaft diskutieren, ja, das längst Vorgelegte wie in weiter Feme suchen. Das natürliche System unserer Wissenschaft, das ihr wie alle [sie] anderen Wissenschaften erst die exakte Grundlage gibt, es liegt vor! (ebd.: 164) Ein Blick in kritische Reaktionen auf Beckers Arbeiten — hier stellvertretend in einige Rezensionen seiner Sprachlehre — offenbart zumindest einige der Gründe, die seine deutschen Zeit- und Fachgenossen bewogen haben mögen, sich von dem Programmentwurf für eine neu begründete Sprachwissenschaft abzuwenden. Ein erstes, damals wie heute wirksames Rezeptionshindernis verdankt sich Beckers beharrlichem Versuch, „die heiß begehrte volksnahe Wissenschaft" dadurch zu erreichen, dass er die Diktion seiner eigenen wissenschaftlichen Texte „der Gemeinsprache kräftig annäher[t]" (Becker 1941b: 76). Seine in diesem Sinne lebenslang betriebene „Verdeutschung" von Fremdwörtern etwa führt in der Sprachlehre zu einer „Massenumtaufung" 31 , die ohne „das eingelegte Buchzeichen-Wörterbuch" (Becker 1941a: 6) kaum zu bewältigen ist. Schwerer wiegend noch: Beckers „Entscheidung zu einer rein deutschen und fachwortarmen Sprache" (Becker 1941b: 76), die sich beispielsweise auch gegenüber „dem ,phonologischen Jargon'" (Becker 1936: 13) allergisch zeigt, isoliert seine Texte aus ihrem (internationalen) wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang. Beckers gewollte „Volks Verständlichkeit" (Becker 1967: 651) gerät aber auch jenseits der terminologischen Problematik zum Rezeptionshemmnis, wenn in vielen seiner Texte „sehr bewußt Ton und Haltung einer Erzählung gewählt wird" (Becker 1957: VIII). Diesen — wiederum stark selbstisolierenden — Aspekt von Beckers Wissenschaftsstil kommentiert Walther Preusler in seiner vernichtenden Kritik in schroffer Kürze so: Erklärt wird nie etwas: höchstens in einer Regel mit Ausnahmen festgestellt. Dafür darf sich der Leser an blumenreicher Ausdrucksweise erfreuen [...]. (Preusler 1942: 81) Aber die Kritiken stoßen sich nicht nur an den Oberflächenwirkungen von Beckers kontraproduktiver Verständlichkeitsprogrammatik, sondern berühren auch Punkte, die mit den Fundamenten des „natürlichen Sprachgebäudes" in Verbindung stehen. Schon die Schwierigkeiten von 31
Schmidt-Voigt (1942: 79). Auch Fritz Sandmanns knappe Rezension stößt sich vor allem an Beckers „zum Teil glücklich gewählten, aber doch sehr eigenwilligen Fachwörter^]": „Die allzu zahlreichen Begriffe [seien] nicht immer ausreichend geklärt", insgesamt werde „das Spiel mit den neuen Fachwörtern so weit getrieben, daß man sich nur schwer durchflndet" (Sandmann 1943: 133-134).
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Beckers Terminologie haben zum Teil einen tieferen Grund. Während Walther Preuslers Rezension der Sprachlehre „des Verfassers Bezeichnungen" (ebd.: 80) geradezu genüsslich in langer Reihe herbeizitiert — „darunter so schöne wie Vorzukunft der Vollendungsrichtung" (ebd.: 81) — um sie zu blamieren, findet eine weitere Rezension aus dem Jahre 1942 letztlich eine Rechtfertigung für Beckers „gewaltiges Heer neuer Bezeichnungen": Die „Neuheit der Fachwörter" werde nämlich „nötig, um die Sprachmittel ,nur' nach der Funktion und arteigen zu benennen" (Schmidt-Voigt 1942: 79). Becker selbst hat seinen Versuch, die Sprachwissenschaft „von Formbeschreibung zu Funktionsbeschreibung um[zu]stellen" (Becker 1972: 766), immer wieder mit der zum Teil radikal zugespitzten Forderung verbunden, „die alte Begriffsbildung über Bord" (Becker 1965: 167) zu werfen und eine „gründliche Neuformung der Fachwörter der Sprachwissenschaft" (Becker 1972: 755) in Angriff zu nehmen. Zustimmung findet Beckers Sprachlehre in diesem Punkt übrigens auch in der späteren Besprechung von Johannes Erben, der in ähnlicher Opposition zur traditionellen Grammatikschreibung fordert, „durch die Zwischenschicht der klassischen Kategorien zu den Sachverhalten selbst durchzustoßen und eine gegenstandgemäße Terminologie zu entwickeln" (Erben 1955: 146)32. Erbens Besprechung zeigt aber zugleich, wie sehr sich Becker mit seiner Reduktion des Satzbegriffes auf „eine geschlossene lautliche Redewelle" 33 und seiner Konzeption der Syntax als rein formale „Fügungslehre" 34 von zeitgleichen bzw. späteren Versuchen, die Prinzipien der Grammatik grundlegend neu zu bestimmen, entfernt. 35 Traf Beckers Sprachlehre mit ihrer „Neuheit der Sicht" zum Teil jedenfalls auf grundsätzliche Zustimmung, so fand sie für „den Umfang ihres Blickfeldes" 36 , offensichtlich kein Verständnis. 32
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Auch Polenz (1968: 127) macht geltend, dass die Ansätze einer „arteigenen Sprachlehre" unter anderem bei Henrik Becker „trotz ihrer deutschtümelnden Terminologie methodologisch nicht mit dem Sprachpurismus auf eine Stufe gestellt" werden dürften. Für Polenz haben diese arteigenen Grammatiken vielmehr „in ihrer Weise einer strukturellen deutschen Grammatik vorgearbeitet" (ebd.). Becker (1941c: 242). Konsequent „kann sich diese Sprachkunde rühmen, erstmalig den Satz dahinzusetzen, wohin er gehört: in die Laudehre." (ders. 1941a: 82) Becker (1941b: 78). Für Becker fasst die „Wortfügung" „die zu Unrecht oft geschiedene Formenlehre (Morphologie) und Syntax in sich" (Becker 1936: 16). Dieses Verhältnis zu neuen Grammatikansätzen kommt sehr schön auch in Gerhard Helbigs Geschichte der neueren Sprachmssenschaft zum Ausdruck, die „Die neue Sprachlehre H. Beckers" zwar grundsätzlich dem Kapitel „Die funktionale Grammatik" subsumiert, dort aber erst in einem appendixartigem Unterkapitel „Andere Wege in der Sprachwissenschaft der DDR" verhandelt. Helbigs durchweg positive Darstellung stützt sich dabei vor allem auf spätere Texte Beckers, vgl. Heibig (1973: 196-197). Schmidt-Voigt (1942: 77). Auch Sandmann hat für „die Aufnahme von abgelegenen Gebieten, die man sonst nicht zur Sprachlehre rechnet", offenbar kein Verständnis:
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus Man sieht schon aus diesen Überschriften, daß der Verfasser alles, was sonst in Stilkunde, Verslehre, Redekunst, Formen der dichterischen Gestaltung usw. behandelt wird, in seine Sprachlehre hineinnimmt; S. 1 4 0 wird das Flaggenalphabet behandelt, S. 234 ff. sämtliche Schlußfiguren der Logik, S. 195 die Geheimschriften; das sind nur ein paar ganz krasse Fälle. Die eigentliche Sprachlehre kommt in dem dicken Buch daneben ziemlich kurz weg [...]. (Preusler 1942: 80)
Selbst die prinzipiell sehr wohlwollende Rezension Schmidt-Voigts empfiehlt dem Verfasser, seiner Sprachlehre „eine entlastete, gestraffte Kurzausgabe" (Schmidt-Voigt 1942: 79) an die Seite zu stellen, ja, sie schließt sogar mit der Überlegung, „ob man sich bei einem solchen Neuwurf nicht nur auf das Baugefüge im engeren Sinne, also auf den Satz beschränk[en]" (ebd.: 80) sollte. Aber gerade die kritisierte Einbeziehung neuer Themenbereiche „weit über das hinaus, was die Sprachlehre bisher bot", die den Rezensenten „durch ihre Belastung drückend, ja gefährlich" (ebd.: 79) erschien, hält Becker seinem Ansatz selbst zugute: Was in der Lehre vom Deutschunterricht, in der Redekunst und in der dichterischen Formenlehre bislang ziemlich ungeordnet umhergeisterte, konnte ich heimführen und der Sprachbeschreibung eingliedern. (Becker 1941b: 77)
Es ist ja wie bereits erwähnt gerade der Ehrgeiz der Beckerschen Sprachlehre, „jede Einzelheit jeder Sprache aufnehmen" und ihr „einen festen Platz" zuweisen zu können. Becker legt sein Sprachgebäude also schon in der ersten Planung so aus, dass es „in seinem Rahmen mehr als den doppelten Stoff wie die herkömmliche Sprachlehre" (Becker 1936: 22) fasst. So ist auch die monierte Einbeziehung der „Stilkunde" (Preusler 1942: 80) in die Sprachlehre für Becker selbst gerade Programm, „ein selbstverständlicher Schritt", da Becker bei der „Planung einer neuen Sprachbeschreibung" „den sprechenden und aufnehmenden Menschen" (Becker 1941b: 77) mit berücksichtigt und ihn in die Fundamente seines Sprachgebäudes einrückt. Beckers Entwurf des Sprachgebäudes, das „aus der Gebrauchssprachkunde hervorgeht" (Becker 1936: 22), stellt sich in bewusste Nähe zu Ansätzen der Prager Linguistik, wenn er von Anfang an die Wirkungen von „Redeart, Stimmung, Gruppenzugehörigkeit und Persönlichkeit des Sprechers [...] auf die Sprache" und die „Gewohnheiten" der „Sprachgemeinschaft" (ebd.: 21) reflektiert. Allerdings wird in Beckers Arbeiten ebenfalls schon sehr früh eine normative Zielsetzung deutlich, die vor allem nach 1945 vielfach bestimmend in den Vordergrund seiner Becker „erweitert den Inhalt, ohne davon eine erschöpfende Darstellung zu geben" (Sandmann (1943: 134). Selbst die insgesamt positive Besprechung von Schulze (1942) geht davon aus, dass der gewöhnliche Leser „ob der Fülle des Stoffes erschrickt" und räumt ein: „Nicht überall gewinnt es der Verfasser über sich, alles beiseite zu lassen, was wohl eher in eine geistreiche Studie als in eine Sprachlehre gehörte" (ebd.: 112).
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Veröffentlichungen tritt. Während der Prager Strukturalismus gerade auch im Zusammenhang mit seinem schon 1929 aus formulierten Programm der Sprachpflege 37 stets von der Plurifunktionalität des Sprachgebrauchs ausgeht, verabsolutiert Becker ein bestimmtes ästhetisches Ideal zur Stilnorm. Während die Prager Funktionalstilistik auf den je funktionsgerechten Einsatz sprachlicher Mittel Akzent setzt, bedeutet für Becker Stil letztlich immer „schöner Stil" (ebd.: 17): Wir dürfen eine Rede schon stilvoll nennen, wenn in ihr Wortfügung und Laut so reif entwickelt und voll erfüllt sind, daß sie an Urerlebnisse wie Glätte, Wellentakt, Stufung und Paarung rühren. (Becker 1941a: 150)
So verfällt Becker mit seiner eigenen volkstümelnden Wissenschaftsprosa genau dem von Bohuslav Havranek früh kritisierten Fehler, „eine sogenannte ,natürliche' Ausdrucksweise für andere funktionale Sprachen und Stile zu empfehlen" (Havranek 1976 [1932]: 124). Diese auch bei Becker praktizierte und propagierte Verabsolutierung einer singulären Stilnorm, die nach Havranek „auf einer romantischen Idealisierung des natürlich .unverdorbenen' Volkes beruht" (ebd.), ist anschaulicher Beleg dafür, dass sich Beckers Stiltheorie zusätzlich aus Quellen speist, die von der Prager Diskussion um die Sprachfunktionen weit entfernt liegen. Auch gegenüber dem Vorwurf, dass in die Sprachlehre „Verslehre und Dichtungslehre einbezogen" (Schmidt-Voigt 1942: 79) wird, kann sich Becker, der Zeit seines Lebens im sowohl sprach- wie literaturwissenschaftlichen Bereich arbeitet, auf eine ähnlich umfassende Forschungstätigkeit des Prager Zirkels berufen. Er selbst jedenfalls stellt diese Gemeinsamkeit her, wenn er sich 1950 bei den „liebe[n] Freunde[n] in Prag" für eine mehrjährige ausschließliche Konzentration auf literaturwissenschaftliche Themen mit den Worten entschuldigt': Aber der Rückkehr zur Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne widerstreben noch andere Notwendigkeiten. Derzeit stellt die Literaturwissenschaft dringende Aufgaben. Aber wir glauben doch wohl alle an die Einheit aller Sprachkunde, sodaß ich mir unseren gemeinsamen Bestrebungen nicht entfremdet vorkomme' 3 8
Dass Beckers Ausgriffe in traditionell literaturwissenschaftliche Bereiche von einer Theorie der poetischen Sprache Prager Zuschnitts allerdings weit entfernt sind, zeigt sich schon daran, dass er sie in der Sprachlehre an systematisch völlig disparaten Orten ansiedelt. So ist etwa von „Vers und Strophe" im Kapitel „Wirkung" die Rede, wo sie beispielsweise den „Schmuckformen" gleichgestellt werden, während die Erzählformen und 37 38
Vgl. insbesondere die neunte der Prager Thesen von 1929 („Theses" 1929: 27-29). Einen Uberblick über die Prager Ansätze zur Funktionalstilistik und Sprachpflege bietet die Textsammlung Grundlagen der Sprachkultur, Scharnhorst/Ising (Hrsg.) (1976). BriefBeckers vom 1.11.1950 (AAVCR/ PLK/ Kart 2/ i.e. 18).
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auch das Schauspiel in dem Abschnitt verhandelt werden, der sich dem Sprachvorgang der „Ordnung" widmet. Dieses Kapitel „Ordnung", in welchem ein Rezensent wie Preusler deutlich nur überflüssige Abschweifungen in Gebiete wie „Redekunst, Formen der dichterischen Gestaltung" (Preusler 1942: 80) zu sehen vermag, birgt meines Erachtens einen der eigenständigsten Ansätze der Sprachlehre Beckers. Es befasst sich, wie schon fünf Jahre zuvor im Grundriss des Sprachgebäudes vorgezeichnet, mit „Formen des Planes" („Abläufe, Reihungen und Schichtungen"), mit „Formen für Anfang, Schluß und Übergänge" sowie „Grundformen wie Erzählung, Beschreibung, Gespräch, Beweis", den „'einfachen Formen' (Jolles)" und den „'zusammengesetzten Formen' wie Roman, Novelle, Bühnenstück" (Becker 1936: 22). All diese Redeformen sind für die Sprachlehre „mindestens ebenso wichtige Sprachformen [...] wie die Formenwechsel und die Wortgefüge" (Becker 1941a: 205). Wie die „kleinen Wortgefüge" wirken solche „Großformen der Rede" beim „Ausziehen des Gedankenraumes in den Redefaden" (Becker 1936: 18) als „Fügungskraft ersten Ranges" (Becker 1941a: 75). Sie werden damit, wie Becker wohl zu Recht betont, „zum ersten Male der Sprachlehre eingegliedert" (Becker 1941a: 205), in einer Weise als grammatische integriert, für die es in der deutschen wie in der tschechischen Sprachwissenschaft kaum Vorbilder geben dürfte. Mit seiner Behandlung der Redeformen, wie auch mit der rein funktionalen Definition der Wortart „Fürwort", die schon die spätere Kategorie der „Proform" vorbildet, indem sie wie diese „auf die Möglichkeit der Wortvertretung als eines Baugrundsatzes der Rede" 39 verweist, greift Becker in seiner Sprachlehre erst viel späteren Entwicklungen der Linguistik vor. Als (versprengter) Vorläufer der Textlinguistik wäre Becker noch wiederzuentdecken. 40 Auch Beckers Erörterungen solch spezieller Themen wie „das Flaggenalphabet" (Preusler 1942: 80) oder „das Morse Α Β C" (Schmidt-Voigt 1942: 79), die den zeitgenössischen Rezensenten als „ganz krasse Fälle" (Preusler 1942: 80) ungehöriger Abschweifung aufstoßen, verdanken sich keineswegs allein seinem ausuferndem Darstellungsstil, sondern sind in der Gesamtanlage des Sprachgebäudes durchaus am rechten Platz. Becker löst sich mit seiner Konzeption eines umfassenden Sprachvorganges „Verkörperung" aus der traditionellen Bindung der Grammatik an den Laut und versucht ganz konsequent einen Uberblick über alle „Körper" 39 40
Becker (1941c: 243). Vgl. noch die Systematik der Wortarten in ders. (1972), in der „Fürwort und Rufwort" „quer zu den anderen" Wortarten stehen, ebd.: 757. Hier bringt sich Beckers reduktionistische Satzauffassung gegenüber der Satzfixiertheit der traditionellen Grammatik gewissermaßen befreiend zur Geltung. Wenn der Satz „nur lautlich-atemtechnisch eine Redezelle bildet", liegt nahe, dass „die Schallmauer der Satzgrenze gesprengt" (Becker 1965:166) wird.
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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zu geben, die für die deutsche Sprache eine Rolle spielen. Heute würde eine Einbeziehung von „Schreiben und Drucken" oder eben von „Sonderschriften" 41 in den Rahmen sprachwissen-schaftlicher Untersuchungen — zumal unter den Leitbegriffen des Signifikanten oder sekundärer Zeichensysteme oder im Zusammenhang neuerer Orthographieforschung — wohl kaum noch auf Ablehnung stoßen. Insgesamt wäre heute, nach über fünfzigjähriger (Weiterentwicklung von Semiotik, Textlinguistik und linguistischer Pragmatik, die Sprachlehre Beckers sicherlich kaum noch schlankweg als „phrasenreicher Unsinn, der von aller Wissenschaft, der Philologie wie der Sprachwissenschaft, gänzlich fern ist" (Preusler 1942: 82), abzutun. So fiel denn auch das Urteil von Johannes Erben schon weit milder aus, der aus einem zeitlichen Abstand von fast fünfzehn Jahren Beckers Ansatz „zu einem neuen Aufbau der Gesamtgrammatik, zu einem allumfassenden Bild der deutschen Sprache" nur noch für „allzu verfrüht" (Erben 1955: 525,164) hält.
4.1.3 Das Sterben einer Literaturgattung Nach diesem Uberblick über sein Gesamtwerk und dessen inneren Zusammenhang möchte ich im Folgenden überprüfen, inwieweit Beckers Wahlverwandtschaft mit den wissenschaftlichen Ansätzen der Prager Schule im Detail seiner Texte tatsächlich Gestalt annimmt. Um dabei der Breite des Arbeitsfeldes sowohl des Prager Zirkels als auch Henrik Beckers gerecht zu werden, seien je ein geeigneter Text aus dem Bereich der Literaturwissenschaft und dem Bereich der Sprachwissenschaft zur exemplarischen Untersuchung herausgegriffen. Bis in die fünfziger Jahre war Beckers umfangreichste literaturwissenschaftliche Publikation seine 1930 in Paul und braunes Beiträgen erschienene Studie über „das Epos in der deutschen Renaissance". „Dieser aufsatz ist", wie es in einer Anmerkung heißt, zwar „in einigen punkten nur eine verbreiternde und vertiefende ausfuhrung" eines Abschnittes aus seiner Dissertation von 1923, Becker macht aber geltend, dass die „meisten ergebnisse und ein großer teil des materials [...] neu" (Becker 1930: 201-202, Anm.l) seien. Von erhaltenen Archivalien Beckers berichtet erstmals ein Brief vom Januar 1926 detaillierter von der gegenwärtigen Arbeit an seiner „Studie über das Epos der deutschen Frührenaissance" — in demselben Brief wird erstmalig ein Kontakt mit Mathesius und Trnka erwähnt. 42 Da Becker angibt, das Manuskript erst im Juni 1929 abge41 42
Unterkapitel des Kapitels über „Die Körper" in der Sprachlehre Beckers. Brief Beckers an Matija Murko vom 18.1.1926 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
schlossen zu haben, könnte die Arbeit an diesem Text sehr wohl schon unter dem Eindruck literaturwissenschaftlicher Diskussionen im Umkreis des Linguistik-Zirkels gestanden haben. 43 Als Jurij Tynjanov, einer der wichtigsten Vertreter der Russischen Formalen Schule der Literaturwissenschaft, im Herbst 1928 Prag besuchte und dort unter anderem einen Vortrag im Linguistik-Zirkel hielt, schrieb er an seinen Freund Viktor Sklovskij nach Russland: In L e i p z i g lernt der begabte Linguist D o z e n t B e c k e r extra Russisch, u m die F o r m a l i s t e n i m Original lesen zu k ö n n e n . (Schklowski / T y n j a n o w 1987 [1928]: 4 0 2 ) 4 4
Dieses kurze Briefzitat belegt nicht nur, dass Becker am Ende der zwanziger Jahre in Prag eine „gut bekannte" 45 Gestalt gewesen ist, über die man auch ausländischen Gästen des Linguistik-Zirkels berichtete. Beckers Wunsch, die russischen Formalisten im Original zu lesen, kann darüber hinaus als deutliches Indiz dafür gelten, dass er insbesondere auch die poetologischen Ansätze der Prager Schule mit großem Interesse verfolgt haben dürfte. Gerade die frühen Prager Arbeiten zur dichterischen Sprache waren ja derart stark von der Rezeption des russischen Formalismus geprägt, dass man sie „anfangs als eine Fortsetzung der russischen formalen Schule ansehen" (Havränek 1936a: 319) konnte. Tatsächlich schlägt schon der Untertitel von Beckers Studie — „Das sterben einer literaturgattung" — eine Thematik an, die zu den bevorzugten literaturhistorischen Untersuchungsgegenständen der russischen Formalisten gehörte. Wie die Formalisten macht auch Jan Mukarovsky in seinem 1929 publizierten Grundsatzartikel „Über die gegenwärtige Poetik" die große historische Veränderlichkeit literarischer Gattungen geltend und ar43
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Den beiden Hauptprotagonisten dieser Diskussionen, Roman Jakobson und Jan Mukarovsky, war Becker spätestens Ende 1926 (Jakobson) bzw. Anfang 1927 (Mukarovsky) bei Sitzungen des Linguistik-Zirkels begegnet. Mindestens mit Jakobson stand er in so enger Beziehung, dass er ihn Anfang 1928 auch privat in Prag aufsuchte (Brief Beckers an Murko vom 8.5.1928, LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). Da Becker Tschechisch beherrschte, waren ihm die frühen Veröffentlichungen Mukarovskys zugänglich. Tynjanov berichtet in seinem Brief weidäufig und mit sichtlicher Genugtuung von der intensiven Rezeption literaturwissenschaftlicher Arbeiten des russischen Formalismus in Prag: „Prof. Mukarovsky zitiert von allen europäischen Autoren nur Schklowski, Jakobson und Tynjanow, dafür auf jeder Seite [...]. So bist Du also in Prag so etwas wie der große Reb Loew, der den Golem erschuf (a.a.O.). Becker begann in der Tat nach seinem Vortrag im Prager Zirkel Russisch zu lernen (Brief Beckers an Murko vom 9.11.1926, LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). Trnka (1942b: 215) bezeichnet Becker als „dobre näm znämy nemecky pracovnik" [uns gut bekannten deutschen Fachmann], auch außerhalb des Linguistik-Zirkels ist Becker „gut bekannt", Vladimir Smilauer stellt ihn als „u näs dobre znämy ζ dob sveho prazskeho pobytu" [bei uns seit der Zeit seines Prager Aufenthaltes gut bekannt] vor (Smilauer 1941: 297).
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gumentiert gegen einen überzeitlichen Begriff der „Gattung als allgemeingültige Kategorie" (Mukarovsky 1977 [1929]: 98). Die Gattungsveränderungen könnten im Laufe der Literaturgeschichte demnach so weit gehen, „daß Merkmale der Gattung, die bisher als wesentlich empfanden wurden, verschwinden und Merkmale erhalten bleiben, die bisher nebensächlich waren." 46 Eine Erklärung für seine zentrale Frage, „warum [...] das epos um 1500 aus der deutschen literatur [...] verschwunden" (Becker 1930: 201) ist, sucht Becker aus der detaillierten Analyse von Bearbeitungen und Nachschöpfungen zu gewinnen, die das mittelalterliche Epos in den späteren Jahrhunderten immer wieder erfahren hat. Da für Becker „jede Veränderung, die ein bearbeiter vornimmt, [...] eine kritik an seiner vorläge" enthält, bietet gerade die Bearbeitung den methodischen Ansatzpunkt, „auch schon von Zeiten, in denen es keine literarische kritik gab, eine literaturgeschichte im geiste der betreffenden zeit zu schreiben" (ebd.: 202, Anm.). Mit dieser dezidiert gewählten „methode" bewegt sich Becker in großer Nähe zum russischen Formalismus, für den die Formen literarischer Bearbeitung, insbesondere der Parodie von Werken und Gattungen, zum Modellfall literaturhistorischer Prozesse geworden waren. Ganz ähnlich mündet Mukarovskys umfangreiche Arbeit über Karel Hynek Mächas „Maj", deren Teilergebnisse er 1928 in zwei Vorträgen im Prager Zirkel vorstellte, in einen Vergleich der ,,motivische[n] Struktur von ,Maj' mit der Struktur desselben Elements in zwei späteren, mit ,Maj' verwandten Werken" (Mukarovsky 1986 [1928]: 159). Auch für Mukarovsky kann gerade die Analyse intertextueller Bezüge in der Literatur das „allgemeine[...] Schema der literarischen Entwicklungen" aufdecken (Mukarovsky 1977 [1929]: 94). An Formalismus wie Strukturalismus könnte schließlich auch Beckers starke Textorientiertheit selbst erinnern, die sich aus dieser „methode" seiner Gattungsgeschichte ergibt und die er vor seiner deutschen Leserschaft bezeichnenderweise rechtfertigen zu müssen glaubt: Das alles läßt sich hier nicht nur erfühlen, sondern mit textstellen belegen, weswegen die folgenden ausfuhrungen auch größtenteils aus citaten bestehen; aus der textlichen Überlieferung allein kann und darf man ein solches bild erschließen. (Becker 1930: 205)
Welches Bild also ergeben Beckers eingehenden Textanalysen für das ,Sterben' des Epos? Zum einen führen schon die tief greifenden sprachgeschichtlichen Umwälzungen und die großen Probleme der Textüberliefe46
Mukarovsky (1977: 97-98). Eine derartige dynamische Gattungsauffassung ist einige Jahre zuvor vor allem in den Texten Jurij N. Tynjanovs ausformuliert und auch etwa in seiner detaillierten Gattungsgeschichte der Ode von 1927 literarhistorisch umgesetzt worden, vgl. Tynjanov (1972).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
rung dazu, dass die mittelalterlichen Vorlagen in ihren frühneuhochdeutschen Bearbeitungen „mitunter bis zur Unkenntlichkeit verderbt" (ebd.: 207) erscheinen. Sodann zeichnen sich nach Becker auf den verschiedenen stilistischen Ebenen der epischen Texte des 15. Jahrhunderts zwei neue, übergreifende Stilzüge ab, die als Neigung zur Verkürzung und Annäherung an das Lied beschrieben werden (vgl. ebd.: 220-221). In einem dritten Abschnitt weist Becker auf wichtige Veränderungen im Bereich der „epischen Stoffe" hin, wobei insbesondere die neuartige Auffassung der Heldenfigur und die mit ihr verbundene Verschiebung in der „gestaltung der handlung" (ebd.: 260) in den Blick kommt. Bei all diesen Veränderungen werden nach Becker aber nur wenige Stilelemente des früheren Epos ganz fallen gelassen, die meisten tauchen vielmehr auch in den späteren Bearbeitungen wieder auf: Aber sie sind so umgestaltet, so umstilisiert, daß mit ihnen beim besten willen kein epischer stil mehr zu machen war. (ebd.: 250)
Betrachtet man diese Bearbeitungen als „versuch einer nachahmung und neubelebung" (ebd.: 219) des mittelalterlichen Epos, bleibt für Becker nur zu konstatieren, dass dieser „versuch der rettung klärlich gescheitert" (ebd.: 228) ist und „mit einem vollständigen mißerfolg" endete. Die epischen Bemühungen der Renaissance geraten im Gegenteil zu einer „Zerstörung der mhd. Schönheiten" (ebd.: 240). Aber neben diesem in seiner Studie insgesamt vorherrschenden Bild des Verfalls eröffnet Becker auch eine andere Interpretationsperspektive, indem er auf die „gewaltigen neuerungen" des 15. Jahrhunderts hinweist: „Auch das 15. jh. hat sein Stilgefühl" (ebd.: 230). So sind denn die Umgestaltungen des mittelalterlichen Gattungsvorbildes durchaus nicht nur als Symptome „heilloser Verwilderung und stillosigkeit" (ebd.: 230) zu lesen: Es spricht aus diesem allen ein deutliches sprachästhetisches empfinden, welches aber dem des hochmittelalters geradezu entgegengesetzt ist, indem es beschränkt, während das mhd. üppig wuchert, (ebd.: 235)
Dieser stilistische Gegensatz wird auch an anderen Stellen bei Becker herausgearbeitet: Es wechselt also die monumentale große linie mit dem bewegten kleinstück, (ebd.: 232)
Die hier skizzierte literaturgeschichtliche Konfiguration scheint geradezu wie ausgewählt, um das formalistische und frühstrukturalistische Modell der literarischen Evolution zu bestätigen. Und gleichwohl sieht Becker in der beschriebenen „Umstilisierung", die doch eine „kritik", ja eine „Umwertung aller werte" (ebd.: 206) ihrer Gattungsvorlage realisiert, nicht die „gewaltsame Unterbrechung der Tradition" (Mukarovsky 1977: 93), die
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„jähen Entwicklungsgegensätze" (ebd.: 95) und das Bestreben, „eine neue, ästhetisch wirksame d.h. unverbrauchte Form zu schaffen" (ebd.: 95), die für Mukarovsky etwa den „Mäj "-Adaptionen Häleks und Vrchlickys zugrunde liegen. Ein gänzlich blindes Argumentationsmotiv bleibt bei Becker daher auch eine Passage, die auf den schon im frühen Formalismus geprägten Begriff der Automatisierung wie zugeschnitten scheint: Die alten epen ermüdeten durch ihre breite, niemand wollte sie mehr anhören. Da strich man sie denn zusammen, und zwar meist so, daß man sie ohne Unterbrechung in einem male vortragen konnte. (Becker 1930: 220) 47
Nicht die formalistische „Konzeption von Kampf und Widerspruch in der Literatur" 48 , nicht eine immanente Entwicklungsdialektik liegt dem literarischen Formenwandel bei Becker zugrunde, sondern die Umstilisierung des Epos verdankt sich außerliterarischen — geistesgeschichtlichen — Bedingungen: dem gewandelten „sprach-ästhetischen empfinden der zeit" (Becker 1930: 246) beziehungsweise der „geistesart der deutschen renaissance" (ebd.: 259). Das Sterben des Epos begründet sich für Becker daher allein (und letztlich tautologisch) durch mangelnde „innere fähigkeit": Es fehlte [...] sowohl das tiefere Verständnis für das vorliegende epos, als auch die fähigkeit zum schöpferischen epischen stil, und schließlich die stoffliche erzeugungskraft, ja sogar das Verständnis für den Stoff, (ebd.: 205)
An dieser denkbar formalismusfernen Sicht der Gattungsgeschichte des Epos hält Becker auch später noch fest, wie sein kurzer Exkurs zum Epos in seiner Sprachgeschichte zeigt (Becker 1944: 254ff.). Dieser Exkurs zum Epos hat dort die Funktion, zu veranschaulichen, dass die ,,tiefe[n] Brüche" in der Literaturgeschichte „den Wandlungen des Formensinns entstammen", und mithin überhaupt „die deutsche Dichtung ein getreuer Ausdruck deutschen Geistes in seinem Wesen und Wandel" (Becker 1944: 253) sei. Das Herzstück der formalistischen und strukturalistischen Literaturhistorie, die Annahme „immanenter Gesetze in der Geschichte der Literatur" 49 , hat weder vor 1930 noch später Eingang in Henrik Beckers Texte gefunden.
47
48 49
Unausgenutzt bleibt damit an dieser Stelle natürlich auch die Möglichkeit, eine veränderte „Redefunktion" der Literatur im Alltag zu reflektieren, wie dies Tynjanovs Gattungsgeschichte der oratorischen Ode zwei Jahre zuvor unternahm (literarischer Salon versus großer Vortragssaal), Tynjanov (1972). Tomasevskij (1928: 15). Ganz zu Recht hebt dieser Prager Bericht Tomasevskijs die Bedeutung dieser Konzeption für das formalistische Modell der literarischen Evolution hervor. Vgl. etwa das 1928 in Prag gemeinsam verfasste Thesenpapier von Tynjanov und Jakobson über „Probleme der Literatur- und Sprachforschung", Tynjanov/Jakobson (1972: 391).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
4.1.4 Der Sprachbund „Der europäische Sprachgeist" war das Thema des Vortrages, den Becker 1926 auf der Gründungssitzung des Prager Linguistik-Zirkels hielt.50 Dieses Vortragsthema hat mit den späteren Forschungsinteressen der Prager Schule mehr zu tun, als der Titel zunächst zu versprechen scheint. In der Tat lässt sich Beckers Thema mit Josef Vachek als „something like a foretaste of the linguistic interests to be pursued by the Prague group" (Vachek 1966: 8) verstehen. Becker greift hier einem Fragenkomplex vor, der in der späteren Arbeit der Prager Schule unter dem Terminus Sprachbund (,jazykovij sojuz' bzw. ,union regionale') zwar nicht gerade im Zentrum stand, auf den aber die Mitglieder des Linguistik-Zirkels sowohl in der klassischen Periode des Prager Strukturalismus als auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder zurückkamen, und der hier also gleichsam beständig in der sprachwissenschaftlichen Diskussion blieb51. Auch Becker war an dieser Problematik zeitlebens interessiert und räumte ihr auch in seinen späteren ,Plänen zum Sprachgebäude' stets einen systematischen Platz ein. 1948 veröffentlichte er zwei eng aufeinander bezogene Bücher zu diesem Themenkreis: Der Sprachbund und Zwei Sprachanschlüsse (Becker 1948a und b). Die lange Entstehungsgeschichte dieser Bücher ist über viele Jahre hinweg die zentrale sprachwissenschaftliche Kontaktfläche zwischen Becker und dem Prager Zirkel gewesen, und ich möchte sie daher an dieser Stelle etwas detaillierter nachzeichnen. Beckers Der Sprachbund ist überdies trotz seiner kaum 170 Seiten der bei weitem ausführlichste und zudem der einzige monographische Beitrag zur allgemeinen Frage der Sprachbünde aus dem Umkreis der Prager Schule und lohnt daher eine genauere Betrachtung. Nach einem ersten Pragbesuch im Jahr 1925 hielt sich Becker 1926 für etwa drei Monate zu Studienzwecken in der Stadt auf und „forschte schon damals zu seiner wissenschaftlichen Parallele zwischen der Herausbildung des modernen Schrifttschechisch und des Schriftungarischen"
50 51
Vgl. Trnkas kurzes Resümee des Vortrags in Trnka (1928: 182-183). So reservieren die Informationsbulletins der vom Prager Zirkel begründeten Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft in ihrer Literaturübersicht jeweils auch einen Abschnitt der „phonological researchwork in language ,unions' (Sprachbünde)", Information Bulletin No. 2 (1936: 11) und schon Bulletin d'injormation Nr. 1 (1932: 63). Einen Rückblick auf die Entwicklung der Sprachbund-Konzeption gibt Roman Jakobson im Kapitel VIII von Jakobson/Pomorska (1982). Eine kurze Geschichte des Sprachbundbegriffs und eine kritische Diskussion seiner Anwendbarkeit für die deutsch-tschechischen Sprachbeziehungen bringt Nekula (1996: 67 ff.) und Nekula (2003 a).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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(Mathesius 1936a: 138). Beckers Interesse ging aber schon zu dieser Zeit über den Zusammenhang dieser beiden Sprachen weit hinaus: [...] byl zrovna ν dobe sve tehdejsi nävstevy ν Praze zcela zaujat pozorovänim toho, jak se evropske jazyky vlivem spolecne kultury sblizuji, jak se ,evropeisuji' [sie], (Mathesius 1936a: 138) gerade in der Zeit seines damaligen Pragbesuches widmete er sich mit größtem Eifer der Untersuchung, wie sich die europäischen Sprachen unter dem Einfluss einer gemeinsamen Kultur einander annähern, wie sie sich ,europäisieren'.
In einem Brief von 1932 weist Becker darauf hin, dass „ich vor 10 Jahren meine europäischen Studien begann" 52 . Das Vorhaben konkretisierte sich aber wohl erst im Zusammenhang mit seinen ersten Pragkontakten, die in die Endphase seiner Lektorentätigkeit in Budapest fielen: Ich habe grosse Lust mich an ein Thema zu machen, das mir schon ehe ich nach Prag kam in weiter Ferne vorschwebte: eine parallele Darstellung der Jungmannschen Sprachbewegung mit der ungarischen Sprachneuerung sowie allenfalls anderer gleichzeitigen Erscheinungen. Namentlich diese beiden gehören eng zusammen [...]. Im selben Jahrzehnt beginnen sie, gehen beide von einem gewissen Gegensatz gegen das Deutschtum aus und führen beide ungefähr um die gleiche Zeit zum Erfolge, d.h. durchbilden die Sprache so, dass sie in der Literatur ihre volle Schmiegsamkeit erreicht. Den Hauptreiz bildet dabei die Verschiedenheit der Beteiligten, der Sprachen usw. jedenfalls kann man es sich überlegen. 53
Beckers Forschungsvorhaben und sein Wunsch, mit tschechischen Linguisten darüber in Diskussion zu treten, fanden sehr früh Interesse und Unterstützung durch Vilem Mathesius 54 , und es kam zu der folgenreichen Einladung am 6. Oktober 1926, zur Gründungs Versammlung des Linguistik-Zirkels. Erhaltene Archivalien lassen in Umrissen erkennen, dass Becker dieses Vorhaben in den darauf folgenden Jahren sehr beharrlich verfolgte, soweit ihm seine Tätigkeit in Schule und Volkshochschule Zeit dafür Heß. Anfang 1929 ging seine „Arbeit über die Ausbildung des Tschechischen und des Ungarischen zu Hochkultursprachen 1770-1840 [...] der Vollendung entgegen" 55 , die er dann noch im selben Jahr in Leipzig als Habilitationsschrift einreichen wollte. Nachdem sich schon im Vor52
Brief Beckers vom 10.1.1932 an einen der Herausgeber (wahrscheinlich B. Trnka) der Mathesius-Festschrift Charisteria (1932) (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). 53 Brief Beckers an Murko vom 18.1.1926: S. 1-2 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). 54 Noch vor dem Januar 1926 hatte er Becker „durch Dr. Trnka [...] auffordern lassen, ihm einen Auszug meines Vortrags zu schicken", wobei nicht klar ist, um welchen Vortrag es hier ging, Brief Beckers an Murko vom 18.1.1926: S. 1-2 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). 55 Brief Beckers an Murko vom 9.5.1929: S. 2 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
feld Schwierigkeiten mit dem Betreuer der Habilitation, dem Indogermanisten Heinrich Junker (vgl. 3.4) abgezeichnet hatten, wurde ihm die Habilitation an der Universität Leipzig verweigert. 56 Nach diesem bitteren Rückschlag waren es vor allem die vielfältigen Pragkontakte und hier insbesondere der Austausch mit Mathesius, die Becker zu einer Fortsetzung seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit motivierten: Meine Pläne hatte ich nämlich nach meinem äußeren Mißerfolg zurückschrauben wollen. Jetzt habe ich sie wieder vergrößert - nicht zuletzt unter dem Einfluß des Professor Mathesius. Allerdings werden Sie [Matija Murko] auf meine nächsten Arbeiten recht lange warten müssen. [...] Immerhin erscheint mein Vortrag vom Kongreß [Phonologische Arbeitstagung, Becker (1931)] und nächstens muß mein Buch auch herauskommen, das ich letztes Jahr Gesemann übergab. 57
Becker versuchte also, seine in Deutschland abgewiesene Habilitationsschrift in der Tschechoslowakischen Republik zu veröffentlichen. Neben dem Slawisten Gerhard Gesemann (vgl. 5.5) wurde dieser Versuch auch vom Prager Linguistik-Zirkel tatkräftig unterstützt 58 — letztlich ohne Erfolg. Aber Beckers in Prag begonnene „europäische Studien" mündeten nicht nur in die „interessante, aber leider bislang ungedruckte Studie über 56
Schon im Frühjahr 1929 bahnt sich an, „dass meine Habilitation nicht leicht wird." (Brief Beckers an Murko vom 9.5.1929, LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). Becker sieht zum einen methodologische, zum anderen „persönliche oder gar politische Gründe" (a.a.O.) für die Unstimmigkeiten. Nach 1945 stellt Becker vor allem politische Motive für seine Zurückweisung heraus: „Prof. Heinrich Junker von der Universität Leipzig hatte mich 1926 aufgefordert, mich bei ihm für vergleichende Sprachkunde zu habilitieren. Damals war er noch Freimaurer und zeigte fortschrittliche Züge. Zu seiner nun folgenden Schwenkung gehörte auch, daß er fortschrittlichen Nachwuchs vernichtete. Bei mir geschah dies so, daß er mich zur Einreichung meiner ihm wohlbekannten Arbeit [...] aufforderte, nur um sie selber abzulehnen. Aus zahlreichen Randbemerkungen von seiner Hand ging die politische Begründung hervor." (Undatierte „Anlage zum Fragebogen Becker, zu Punkt E5" aus der Personalakte Beckers, auf der Rückseite eines undatierten Lebenslaufes, Univ.-Archiv Jena/ Bestand D/ Nr. 38). 57 Brief Beckers an Murko vom 7.3.1931: S. 1 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). Anfang 1930 zeigt sich Becker nach einem Pragbesuch „wirklich beglückt [..]" über „so vielseitiges freundliches Interesse", das seiner Arbeit dort entgegengebracht wurde: „Andererseits sehe ich auch einen Beweis darin, dass an der Arbeit etwas ist. Das gibt mir den nötigen Mut, den ich hier [Leipzig] oft nicht finden könnte, wenn ich ihn nicht in mir hätte", Brief Beckers an Murko vom 15.1.1930 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). 58 Jakobson schreibt 20.11.1932 an Becker, er „habe gesorgt, Ihre Arbeit soll endlich erscheinen" und das Manuskript bei einer ungarischen wissenschaftlichen Gesellschaft in Bratislava eingereicht (Brief im dokumentarischen Anhang). Ein Jahr später berichtet ein Sitzungsprotokoll des geschäftsführenden Ausschusses des LinguistikZirkels von einer erneuten Intervention, dieses Mal von Mukarovsky, beim Vorsitzenden derselben Gesellschaft, die „die Arbeit Dr. Beckers herausgeben solle" (Sitzungsprotokoll vom 4.11.1933, Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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die Übereinstimmungen in der Entwicklung des neueren Schrifttschechisch und des neueren Schriftungarischen" (Mathesius 1935: 134), von der Mathesius noch 1935 sprach.59 Becker weitete den Untersuchungshorizont — untermauert durch gezielte Studienreisen ins Ausland — auch auf andere europäische Sprachen aus und entwickelte den Grundgedanken seines früheren Vortrags über den „europäischen Sprachgeist" fort. So schreibt er im November 1930 an Bohumil Trnka: Neben der Schularbeit komme ich jetzt wieder etwas zu eigenem. [...] Im Sommer habe ich meine Studie übers Finnische abgeschlossen. Gegenwärtig ist das Holländische in Arbeit und ein allgemeiner Europaaufsatz, eine bedeutend vertiefte Ausarbeitung von dem Vortrag, den ich 1926 im Krouzek in Prag hielt. 60
Da Becker „neben den vergleichenden Studien" 61 zwischenzeitlich an seinem Das deutsche Neuwert schrieb, zog sich die Arbeit an diesem Projekt noch bis in die zweite Hälfte der dreißiger Jahre hin. Wieder war es Mathesius, der Becker „ungemein viel Mut" 62 zusprach, diese Untersuchung zum Abschluss zu bringen. Überdies hatte Mathesius eine Veröffentlichung der Studie in Prag, und zwar „in der Reihe der Travaux" 63 in Aussicht gestellt. Becker schreibt im Frühjahr 1937: Ich arbeite, so schnell es neben der Brotarbeit geht, an der Vollendung des Manuskriptes und hoffe bestimmt, es Ende dieses Monats oder Anfang Mai absenden zu können. Und das Weitere lege ich in dankbarem Vertrauen in Ihre Hände. 64
Becker brachte seine Dankbarkeit gegenüber Mathesius auch durch die Bitte zum Ausdruck, „Ihnen mein Buch ,Spracheuropa' widmen" (a.a.O.) zu dürfen. Beide Seiten gingen wohl bis zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass das Manuskript in die Travaux du Cercle Unguistique de Prague aufgenommen werden könnte, und dort demnach als siebter Band die Reihe fortsetzen würde. Aber als Becker wie angekündigt Anfang Mai „mein Kind Spracheuropa, dem ich jetzt nicht Vater sein kann" 65 an den Prager Zirkel schickte, sah man sich dort in den Erwartungen enttäuscht: „Becke-
59 60 61 62 63 64 65
Auch außerhalb des Linguistik-Zirkels hat Beckers Text einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Jedenfalls wird es noch 1941 von Vladimir Smilauer erwähnt, wieder mit dem Bedauern, dass es noch ungedruckt geblieben sei, Smilauer (1941: 297). Brief Beckers vom 3.11.1930: S. 2 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Brief Beckers vom 10.1.1932: S. 2 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Handschrifd. Brief Beckers vom 30.3.1937 an Mathesius (nicht namentlich genannt) (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18), vgl. dokumentarischer Anhang. Brief Beckers vom 8.4.1938 an Mathesius (nicht namentlich genannt) (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Handschrifd. Brief Beckers vom 30.3.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18), abgedruckt im dokumentarischen Anhang. Handschrift!. Brief Beckers vom 7.5.1937 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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rova präce se nehodi do Travaux. Celou präci ma posoudit Trost"66 [Beckers Arbeit passt nicht in die Travaux. Trost soll die ganze Arbeit beurteilen], befand man auf der nächsten Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses. Pavel Trost bestätigte in seinem Gutachten dann nach der Sommerpause, Beckers Studie sei „für den Druck ungeeignet"67. Mathesius begründete die Absage einer Veröffentlichung als Band der Travaux sowohl stilistisch als auch inhaltlich: E s [das M a n u s k r i p t ] ist d a z u all zu sehr feuilletonistisch [ge]halten u n d das a n g e f ü h r t e Sprachmaterial ist [n]icht i m m e r zuverlässlich [...]. D i e G r u n d i d e e ist [s]ehr interessant u n d n a c h einer sorgfaltigen u n d [mi]t H i l f e v o n verlässlichen Fachleuten d u r c h g e f ü h r t e n Revision w i r d das W e r k ein nützliches u n d [be] lehrendes B u c h für kultivierte L a i e n abgeben, das sicher einen V e r l e g e r f i n d e n dürfte. 6 8
Becker räumt in seiner Antwort auf diesen Bescheid einsichtsvoll ein, sein Buch sei „für einen vom Schicksal weggewehten Leserkreis" (das deutsche Publikum der späten dreißiger Jahre!) geschrieben und überlegt nun, „den Gegenstand doch in dem mir unangemessenen rein akademischen Stil zu behandeln"69. Wenn die in diesem Brief geäußerte Bitte Beckers erfüllt werden konnte, ist das Manuskript 1938 an den Verfasser zurückgegangen, nachdem der darin enthaltene „Aufsatz über das Tschechische" noch einmal von Jan Mukarovsky durchgesehen worden war. Zehn Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, erschienen in der Humboldt-Bücherei bei Gerhardt Mindt in Leipzig und Berlin zwei Bücher, die unschwer als Neufassungen der beiden glücklosen Manuskripte zu erkennen sind, in denen sich Henrik Beckers „europäische Studien" in der Zwischenkriegszeit niedergeschlagen hatten. Beckers Der Sprachbund, der laut Vorwort schon „1931 - 1933 ausgearbeitet [wurde] und später liegenbleiben [musste]" (Becker 1948a: 5), verweist unter anderem mit der Kapitelüberschrift „Spracheuropa" wortwörtlich auf sein Forschungsvorhaben, das 1926 erstmals dem Prager Zirkel vorgestellt worden war und dessen Ergebnisse später als siebter Band der Travaux erscheinen sollten. Der zweite, speziellere Teil der Doppelpublikation, Beckers Zwei Sprachanschlüsse, beschreibt den „Vorgang des Anschlusses einer Einzelsprache an den Sprachbund" am Beispiel des Tschechischen und des Ungarischen, 66 67 68
69
Sitzungsprotokoll vom 30.5.1937 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Sitzungsprotokoll vom 1.10.1937 (Protokollheft AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 7). Brief von Mathesius an Becker vom 4.4.1938 (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: S. 222), dieser Brief ist vollständig wiedergegeben im dokumentarischen Anhang. Der lange zeitliche Abstand zwischen Trosts Gutachten und der brieflichen Absage an Becker könnte vielleicht dadurch zu erklären sein, dass man zunächst tatsächlich „vergebens" nach einem anderen Verleger gesucht hat, wie Mathesius im selben Brief schreibt. Brief Beckers vom 8.4.1938 (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18).
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und nimmt damit die Thematik seiner zurückgewiesenen Habilitationsschrift wieder auf, die der Prager Zirkel ebenfalls über Jahre mit Rat und Tat gefördert hatte. Soll Der Sprachbund „in großen Zügen die Grundsätze der Forschung" (Becker 1948b: 6) skizzieren und „schon ein im einzelnen noch unsicheres großes Bild des neuen Geländes entwerfen", so will Beckers zweite Publikation zur Sprachbundproblematik „an einer möglichst nicht zu steinigen Stelle den Pflug einsetzen" und zu einem „wissenschaftlich sauberen Einzelbild vordringen" (ebd.). Hier soll aber schon aus Raumgründen vor allem Beckers „Lehre vom Sprachbund" im Allgemeinen interessieren und die vorwiegend historische Darstellung konkreter Sprachanschlüsse zurückstehen. Das erste Kapitel von Der Sprachbund grenzt zunächst einmal die Spezifik des Sprachbundzusammenhanges von anderen „Sprachengruppen" ab, um sich dann der Entstehung und Binnendifferenzierung von Sprachbünden zu widmen und schließlich einen — auch kartographischen — Überblick über „die Sprachbünde der Welt" (Becker 1948a: 41) zu geben, wobei insbesondere die vier „Sprachbünde der Hochkultur" (ebd.: 47), der europäische, der „islamische" (ebd.: 46), der indische und der chinesische Sprachbund eingehender behandelt werden. Das „Spracheuropa" betitelte zweite Kapitel thematisiert die Gemeinsamkeiten und die historische Rolle einzelner Sprachen im europäischen Sprachbund und wagt zum Schluss einen Blick auf die zukünftige Entwicklung dieses Sprachbundes. Das letzte Kapitel akzentuiert die sprachgeschichtliche Bedeutung der Sprachbundproblematik und versucht, die Folgen eines Anschlusses an einen Sprachbund für die Entwicklung einzelner Sprachen zu bestimmen. Schon bei seiner ersten Prägung durch Nikolai Trubetzkoy auf dem Haager Linguistenkongress wird der Begriff des „Sprachbundes" unter dem gemeinsamen Oberbegriff der „Sprachgruppe" dem Begriff der „Sprachfamilie" entgegengesetzt (Trubetzkoy 1930: 18).70 Auch in der späteren Entwicklung der Sprachbundkonzeption wird dieser Begriff im Prager Strukturalismus stets gegen Sprachverwandtschaft „im genealogischen Sinne" abgesetzt und bleibt für die „typologische Verwandtschaft, die unleugbar zwischen einigen genealogisch miteinander nichtzusammenhängenden Sprachen besteht" (Trubetzkoy 1935: 33) reserviert. Ein immer wieder angeführtes und untersuchtes „typisches Beispiel für die Annäherung genetisch unverwandter Sprachen" (Havranek 1966: 85) sind etwa „die miteinander ursprünglich nicht verwandten, aber geographisch benachbarten Balkansprachen, die einen wirklichen Sprachbund bilden" (Havranek o. J. [1933]: 28). Als ein Phänomen, das sich der ge-
70
Zu den politischen Hintergründen des Sprachbundkonzepts in der Bewegung der „Eurasier" vgl. Nekula (2003a).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
nealogischen Erklärung per definitionem ent2ieht, hatte die Sprachbundproblematik für den Prager Strukturalismus immer auch eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Das Überwiegen des Interesses an genetischen Problemen in der Sprachwissenschaft drängte die Fragen nach gemeinsamen Erscheinungen zurück, die in der Struktur benachbarter Sprachen vorkommen und nicht durch gemeinsamen Ursprung bedingt sind. Die Sprachwissenschaft muß aber neben den Sprachfamilien auch die Sprachbünde berücksichtigen. (Jakobson 1931a: 234) 71
Das Interesse für den Sprachbund steht für die Prager Schule im Kontext ihres methodologischen Paradigmenwechsels vom Diachronismus der his torisch-vergleichenden und junggrammatischen Sprachwissenschaft hin zu einem synchronisch fundierten typologischen Strukturvergleich, wie er beispielsweise im Programm der „linguistic characterology" bei Mathesius eine frühe Ausformulierung erfährt. Bei Henrik Becker ist der Sprachbundbegriff nicht nur ebenfalls durchgängig dem Begriff der Sprachfamilie entgegengesetzt, sondern er wird auch hier als eine wissenschaftsgeschichtlich „neuzeitliche" (Becker 1948a: 115) Thematik begriffen und mit einer ,,innere[n] Umstellung" in der Sprachwissenschaft in Verbindung gebracht, „die geistesgeschichtlich tief begründet ist" (ebd.: 12-13). Schärfer noch als in den Texten der Prager Schule wird die ,Entdeckung' der Sprachbundproblematik als eine geradezu „umstürzlerische Tat" angesehen, „die von der verwandtschaftlichen Sprachvergleichung bitterböse aufgenommen wurde" (ebd.: 24). Und ausdrücklicher noch als in der Prager Sprachwissenschaft wird die Sprachbundproblematik der genealogischen Sprachverwandtschaft nicht nur als notwendige Ergänzung an die Seite gestellt, sondern die „Sprachfamilie" durch den „Sprachbund" an vielen Stellen regelrecht überboten. Gerade das Beispiel des Balkanbundes offenbart für Becker, daß der Sprachbund wichtiger ist als die Sprachsippe, mit anderen Worten: Über Wesen und Fragen einer Sprache entscheidet nicht deren Abstammung, sondern ihre Stellung unter den Sprachen der Welt. Gemeinsame Stellung und kräftiger Austausch überwinden verschiedene Abstammung. (Becker 1948a: 24)
Mit dieser Ersetzung der „Abstammung" durch die „Stellung" im Gesamtzusammenhang bewegt sich Becker in einer geradezu typisch strukturalistischen Argumentationsfigur. Becker gibt dieser Figur aber eine spezifische und originelle Wendung, indem er sich bemüht, als positive Gegen-
71
Ausführlicher thematisiert Jakobson die sprachwissenschaftsgeschichtliche Dimension der Sprachbundproblematik z.B. in seinem Kopenhagener Vortrag von 1936, vgl. Jakobson (1938b).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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konzeptionen zum Abstammungsprinzip die Begriffe „Entlehnung" und „Nachahmung" aufzubauen. Wir verwahren uns gegen die Verunglimpfung der Entlehnung. Sie ist eine große Kraft, wohl die größte im Sprachleben, (ebd.: 41)
Becker überhöht die beiden „Hauptbegriffe" seiner Sprachbundkonzeption in seinem Buch zu einem Pathos des sprachlichen und kulturellen Austausche, das schließlich in eine — stark eurozentristische — Utopie sprachlicher Einheit mündet: Wir beobachten eine steigende Einheitsbewegung in der Welt, die geradezu zu einem Weltsprachbund führen möchte" (ebd.: 135), „wo die Welt sprachlich wieder geeinigt ist, wie sie es vielleicht am Anfang der Sprachgeschichte einmal war. (ebd.: 56)
Die Überbietung des Abstammungsprinzips durch die Sprachbundtheorie zieht bei Becker auch „neue ,Grundsätze der Sprachgeschichte'" (ebd.: 167) nach sich: Wenn „der Eintritt einer Sprache in den Bund" „das Wesen und die Stellung der betreffenden Sprache mehr bestimmt als alles andere" (ebd.: 134), will sagen: mehr bestimmt als das sprachliche „Erbe", dann kann die „Weltgeschichte der Sprache" „nur geschrieben werden [...], wenn man neben, ja sogar vor die Sprachfamilie den Sprachbund setzt" (ebd.: 167). Wenn Beckers „Lehre vom Sprachbund" auch von einer Begriffskonstellation ausgeht, die eindeutig durch die Prager Schule inspiriert ist, so müssen seine beiden Sprachbund-Bücher gerade vom Stand der Prager Diskussion aus gelesen dennoch sehr enttäuschen. Statt sich um einen zehn Jahre zuvor schon von Mathesius angemahnten „rein akademischen Stil" 72 zu bemühen, schlägt Becker bei der Neufassung seiner beiden Manuskripte 1948 doch wieder seinen volkstümelnden Plauderton an, wenn er „die buntschillernden Wunder des Sprachbundes im ganzen" abschildert oder „das große Epos des Sprachanschlusses" (Becker 1948b: 6) erzählerisch ausbreitet. Auch hier handelt es sich nicht nur um lästige Oberflächenerscheinungen der Texte Beckers, sondern seine Begriffe und Unterscheidungen selbst sind in Mitleidenschaft gezogen, sie bleiben durchweg unscharf, die Argumentations fuhrung häufig inkonsistent. Anders als der Prager Strukturalismus, der für die Sprachbundhypothese eher in kleinen Schritten einzelne sprachliche Indizien zusammenstellt und damit gleichsam einer frühen Mahnung Trubetzkoys folgt, „vorläufig von jeder Deutung abzu-
72
Vgl. die weiter oben und im dokumentarischen Anhang zitierte Kritik von Mathesius an Beckers Manuskript Spracheuropa und Beckers Ankündigung, nächstens doch „den mir unangemessnen rein akademischen Stil" vorzuziehen, s.o.
308
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
sehen, bis das gesamte Material gesammelt ist" (Trubetzkoy 1931b: 234), gibt sich Becker methodologisch ausgesprochen unbekümmert: Man muß mutig in Neuland eindringen. Die Wege finden sich schon, [...]. (Becker 1948a: 9) So bleibt denn schon Beckers grundlegende Definition des Sprachbundes selbst auffallend verschwommen, die in all ihren Umformulierungen im Verlauf des Buches „mit dem Wörtchen ungefähr" (ebd.: 61) doppelt durchsetzt ist: Unter einem Sprachbund verstehen wir eine Gruppe von Sprachen, die durch gemeinsame Schicksale und durch wechselseitige Beeinflussung einander so stark angenähert wurden, daß man in jeder von ihnen ungefähr das gleiche auf ungefähr die gleiche Art sagen kann. (Becker 1948a: 5) Diese Definition soll hier Ausgangspunkt einiger kritischer Ausblicke auf Beckers Lehre vom Sprachbund sein. Beckers Sprachbunddefinition impliziert zum einen eine krasse ,Defizithypothese', die nicht nur in vielen bedenkenlos ressentimentgespeisten Werturteilen (wie etwa dem vom „geistig erwachenden, aber doch weit zurückgebliebenen Lappenvolke" (ebd.: 22)) explizit wird, sondern in der Unterscheidung von Hochkultur-, Mittelkultur- und Tiefkultursprachen auch systematische Bedeutung bekommt: Eben wegen ihrer unterschiedlichen Ausdrucksvermögen bilden nach Becker „meist nur Sprachen der gleichen Schicht Bünde untereinander" (ebd.: 43). Da außerdem nur die Zusammenschlüsse von „Hochkultursprachen" „über örtliche Räume auf ganze Weltteile" (ebd.: 42) hinausgreifen, werden letztlich sie zum Inbegriff des Sprachbundes überhaupt, und folgerichtig behandelt Beckers Schrift nur die vier „Sprachbünde der Hochkultur" der Gegenwart eingehender. Nach diesen Vorgaben kann es kaum überraschen, wenn Becker noch innerhalb der verbleibenden vier Sprachbünde differenziert und als „das großartigste Zusammenarbeiten von Sprachen [...], das die Welt kennt", just der europäische Sprachbund auserkoren wird: Denn ohne Zweifel ist der menschliche Geist in Europa am rasdosesten vorgedrungen, und Spracheuropa als Träger dieses Strebens [...] der reichste unter allen Sprachbünden, (ebd.: 65) Im Zentrum von Beckers Sprachbunddefinition — „ungefähr das gleiche auf ungefähr die gleiche Art sagen" — steht die Kategorie des Ausdrucks. „Tertium comparationis" eines Sprachvergleichs, der weder rein verwandtschaftliche Ähnlichkeiten noch nur allgemeine typologische Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen erfassen soll, muss für Becker der Sprachvorgang des Ausdrucks sein: „So steht im Mittelpunkt des Sprachbundes der Ausdruck' (ebd.: 10). Dieser Begriff wird bei Becker „in dem denkbar weitesten Sinne gebraucht [...] für alles und jedes, wodurch der Mensch sich kundtut" (ebd.). Ganz dem Verständnis der fünf „Sprach-
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
309
Vorgänge" des Beckerschen „Sprachgebäudes" entsprechend ist der „Ausdruck" also jedenfalls nicht grundsätzlich an eine bestimmte Sprachschicht gebunden, sondern kann sich vom „Stil" und von ,,sprachkünstlerische[n] Mittelfn]" über die Art, „Sätze [zu] fügen und wenden", „bis in die Laut und Formenlehre" (ebd.: 10-11) auswirken. Obwohl also grundsätzlich betont wird, dass die Ubereinstimmungen des Ausdrucks im Sprachbund unter Umständen „bis in die innigsten Winkel der einzelnen Sprachen dringen" (ebd.: 11) können, lässt Becker doch keinen Zweifel, dass es für ihn hauptsächlich die „vom Sinn stark abhängigen Schichten der Sprache" (ebd.: 92) sind, die einen Sprachbundzusammenhang knüpfen. Wenn es sich für Becker bei der Sprachbundtheorie vor allem „um die geistigeren Teile der Sprache handelt, die hier einer wissenschaftlichen Deutung eröffnet werden" (ebd.: 167), so nähert er sich der Sprachbundproblematik aus einer Richtung, die der der Prager Sprachbundforschung geradezu entgegengesetzt ist. Ausgangspunkt der „Erörterung des Problems der Sprachbünde" ist für den klassischen Prager Strukturalismus eindeutig „der phonologische Gesichtspunkt" (Jakobson 1931a: 234), und erst von der Basis der „phonologischen Geographie" aus und nur vereinzelt werden auch Beobachtungen anderer sprachlicher Ebenen herangezogen. Henrik Becker dagegen geht in seinem Sprachbundbuch in erster Linie von der Seite des sprachlichen Inhalts aus. Seine detailliertesten Beobachtungen gelten daher auch den lexikalischen Phänomenen, während seine Ausführungen beispielsweise über „entlehnte iMutgebäude, endehnte Lautwandel, endehnte Beugungen, endehnte Wortfolgen"' (Becker 1948a: 39) kaum mehr als Andeutungen bleiben.73 Allerdings führt die Unschärfe und Überdehnung der Begriffe in Beckers Sprachbundbuch überhaupt dazu, dass über weite Passagen hinweg von konkreten Sprachphänomenen allenfalls noch ahnungsweise oder aber gar nicht mehr die Rede ist. Als exemplarisch hierfür kann etwa Beckers Versuch gelten, die „Gemeinsamkeit zu schildern", die den „Sprachen der Donauländer" zugrunde liegt. Diese Gemeinsamkeit hat nach Becker ihren Ursprung vor allem darin, dass es „eine Wiener, Prager, 73
Überhaupt nur zum „innereurasischen Sprachbund" gibt Becker etwas detailliertere Hinweise zu phonologischen Entsprechungen („Erweichung", „Selbstlauteinklänge" und Existenz des "hintere[n] i", um aber sogleich zu betonen, dass das „natürlich nicht die Kerntatsachen des Sprachbundes" (Becker 1948a: 51) seien. Beckers einziger Befund zur phonologischen Charakteristik des europäischen Sprachbunds bleibt seine Behauptung, dass hier „nur ein Mindestmaß an Lauten geregelt" (ebd.: 73) sei. In einem waghalsigen Gedankenschritt wird die Tatsache, dass „der größte Teil der Sprechmelodie, die Wahl der Lautfarbe und vieles andere, was anderswo der Sprachgebrauch regelt, in der europäischen Sprache zu freier Verfügung" steht, dann als spezifisch gemeineuropäische „Fähigkeit zur Freimachung (Dephonologisierung) von Lautmitteln für künsderische Zwecke" (ebd.: 92) interpretiert.
310
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
deutsche, tschechische, ungarische, kroatische Renaissance" gegeben habe. Das Ergebnis dieses ,,gemeinsame[n] Geschickes]" beschreibt Becker wie folgt: Es gibt eine besondere Stimmung, eine Fülle von Geist, mehr als in Sprachen, wo nur Romantik und Realismus wirkten: lebendige Sachlichkeit, Weltaufgeschlossenheit und Geistigkeit sind ihre Geschenke. Und darauf kommt nun noch die ganze seitherige Entwicklung: Romantik, Realismus, Symbolismus und ihre kleineren Begleiter, die große technische Entwicklung - das auf dem Hintergrund des menschlich großen 18. Jahrhunderts gibt schon einen eigenen Klang! (ebd.: 26)
Entsprechend stehen dort, wo Becker die sprachgeschichtlichen Prozesse des Anschlusses an einen Sprachbund zu beschreiben sich vornimmt, häufig die „Sprachhelden" (ebd.: 119ff.), Persönlichkeit und Wirken bedeutender „Dichter und Denker" (ebd.: 153) im Vordergrund der Darstellung.74 Beckers vollständiges Desinteresse für die konkrete Geographie des Sprachkontakts, für „Zwischenlandschaften" und „Grenzstreifen" (ebd.: 15), unterstreicht, dass auch die Räumlichkeit des Sprachbundes sich für ihn bloß auf ganz allgemeine „Zusammenhänge des Yjilturlebens, ja des Geisteslebens, kurz der Gesellschaft' (ebd.: 10) beläuft. Was Becker in seiner Schrift Oer Sprachbund so wortreich umkreist, wäre allenfalls als .Kulturbund' zu bezeichnen, wobei sich für Becker selbst die Begriffe Sprache und Kultur allerdings ganz weitgehend überlappen. So hatte er schon 1936 den Begriff der „Sprachbünde" auf „kulturliche Beziehungen" (Becker 1936: 15) abgestellt und spricht auch 1948 nicht nur davon, dass „die Sprachbünde im Kulturaustausch entstehen und bestehen" (Becker 1948a: 41), sondern bestimmt seine „Lehre vom Sprachbund" explizit als „kulturlichen Sprachvergleich" (1948b: 5-6).75 74
75
Das wird in krasser Form in Beckers „zeichnerischen Darstellungen" des „Gesamtverlaufs" der Sprachentwicklung des Französischen, Deutschen und Englischen deutlich, bei denen die „Gipfel" und „Krisen" der Entwicklung jeweils durch irgendwelche Geschichtsereignisse, Kunstepochen oder vor allem eben durch Namen von „Dichtern und Denkern" markiert werden, vgl. ebd.: 136-138. Diese kulturkundliche Lesart des Sprachbundbegriffs wird schon in Leo Spitzers Bericht vom Haager Linguistenkongress vorbereitet, der Trubetzkoys Unterscheidung zwischen „Sprachbund" und „Sprachfamilie" sogleich mit den Termini „kulturelle und genealogische Verwandtschaft" zur Deckung bringt, Spitzer (1928: 441). Reinhard Sternemann und Karl Gutschmidt weisen in ihrer sehr wohlwollenden Interpretation von Beckers Sprachbundtheorie darauf hin, dass es ihm vor allem um die Herausbildung und Wechselwirkung von Schriftsprachen gehe und damit ein ganz neuer Aspekt in die Diskussion um den Sprachbund eingebracht werde: „Trotz mancher Unscharfen in der Beweisführung Beckers [...] verdient sein Herangehen an das Problem der Sprachbünde große Aufmerksamkeit. Anders als seine Vorgänger und auch die meisten späteren Forscher engt es die Sprachbundproblematik nicht auf das mundartliche Material ein und beschränkt sie nicht auf die Ebene des Sprachsystems, sondern berücksichtigt auch die Verwendung von Sprache in der Kommunikation"
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
311
Beckers zitierte Sprachbunddefinition formuliert außerdem schon einen Erklärungsansatz für die Entstehung von Sprachbünden: Sie führt die sprachliche Annäherung auf „wechselseitige Beeinflussung" der Sprachen unter der Rahmenbedingung eines „gemeinsamen Schicksals im gleichen Kulturraum" (Becker 1948a: 5) zurück. Im nachfolgenden Text schränkt Becker aber die „Gegenseitigkeit" allein auf den Bereich kulturellen Austausche ein, während er gerade für die sprachlichen Beziehungen „eine ganz unglaubliche Einseitigkeit" (ebd.: 18) postuliert. Aus dieser prinzipiellen „Einseitigkeit der sprachlichen Einflüsse" (ebd.: 19) ergibt sich konsequenterweise eine stark hierarchische Binnendifferenzierung des Sprachbundes. „Im Mittelpunkt der Sprachbünde" stehen als ihre „gestaltende Kraft" (ebd.: 20) die „Meistersprachen". Pendant der „Meistersprache" ist natürlich „die Schülersprache, die sich von ihr beeinflussen läßt" (ebd.: 21). Diese Rangfolge von Meister- und Schülersprache, die für Becker immer auch einen Sprung in der „Kulturstufe" (ebd.: 22) markiert, wird allerdings insofern historisch relativiert, als sich jede Schülersprache, „die sich dem Sprachbund voll angeschlossen" hat, „stets auf die Stufe der Meistersprache erhebt" (ebd.): Nach der Lehrzeit [...] ist der erstweilige Schüler ein gleichberechtigter Genosse. (ebd.: 21-22) Beckers Der Sprachbund greift also bei der Erklärung sprachlicher Gemeinsamkeiten nicht verwandter Sprachen auf Begründungen zurück, die Trubetzkoy schon 1930 auf der Prager Internationalen Arbeitstagung für Phonologie ausdrücklich verworfen hat: Dabei war man in der Erklärung dieser Tatsachen voreilig und hat zu diesem Zweck die Substrattheorie oder die Annahme des Einflusses einer führenden' Sprache verwendet. Solche Deutungen sind wertlos, solange sie nur einzelne Fälle erklären. (Trubetzkoy 1931b: 233-234)70
76
(Sternemann/Gutschmidt 1989: 304). In Anlehnung an Becker erweitern Sternemann/Gutschmidt die Kriterien für das Bestehen eines Sprachbundes über „systematische Ähnlichkeiten in Grammatik und Wortschatz" auf die „weitgehend übereinstimmende Weise" der Verwendung dieser Mittel „bei der Texterzeugung" (ebd.: 305). Eine Fokussierung des Sprachbundbegriffs auf ein mehreren Sprachen zugrundeliegendes gemeinsames „Modell der Textgestaltung" (ebd.) kann sich wohl zu Recht auf Becker berufen, wird dort aber nur sehr rudimentär entwickelt. Auch für Sternemann/Gutschmidt ist aber unstrittig, dass der Sprachbundbegriff bei Becker gegenüber „der strukturell-linguistischen Begründung der Theorie des Sprachbundes durch Trubetzkoy [...] eine andere Ausdeutung und Entwicklung" erfahrt, die sich allenfalls in eine Ergänzungsbeziehung zum strukturtypologischen Ansatz der Prager Schule setzen lässt. Becker behandelt „die sogenannte Substratfrage" 1948 „mit Vorsicht", weil sie „getränkt [sei] mit Rassenwahn" (Becker 1948a: 39), und blendet sie aus seiner Lehre vom Sprachbund weitgehend aus. Grundsätzlich räumt er aber ein, dass es „zweifei-
312
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Anders als Trubetzkoy, der empfiehlt „vorläufig von jeder Deutung abzusehen" (ebd.), bringt Bohuslav Havranek ein Jahr später im Rahmen einer ganz ähnlichen Argumentation gegen die Annahme von Substratwirkungen oder einseitiger Beeinflussung einen teleologischen Erklärungsansatz ins Spiel: Doch halte ich es - natürlich nicht ich allein, sondern wenigstens der Prager Linguistische Zirkel - für eine wichtigere Aufgabe, das gemeinsame Ergebnis zu enthüllen als den Ausgangspunkt, oder wenigstens für eine ebenso wichtige Aufgabe; denn man musz doch die konvertierende Entwicklung in Betracht ziehen, deren Verlauf teleologisch erklärt werden soll. (Havranek o.J. [1933]: 28)
Havranek verweist an dieser Stelle auch auf Jakobsons Begriff der „gleichstrebigen Sprachen" (ebd.: Anm. 3), ein Stichwort, auf das die Prager Diskussion der Sprachbundproblematik immer wieder zurückkommt. Beckers Ausfuhrungen zum Sprachbund verharren demgegenüber zum einen in diachronischen Deutungsmustern, wo es der Prager Schule vor allem auf den synchronen Strukturvergleich ankommt. Zum anderen hält Becker mit seinem Begriff des sprachlichen Einflusses an einer Konzeption einsinniger, mechanischer Kausalität fest, wo der Prager Strukturalismus gerade die Systemimmanenz von Entwicklungen akzentuiert, denen nur ein teleologischer Gesichtspunkt gerecht werden kann. Wo Becker „Entlehnung" oder „Nachahmung" unter dem Einfluss einer politisch oder kulturell übermächtigen „Meistersprache" konstatiert, betont die Prager Sprachbundtheorie gerade die Eigengesetzlichkeit der „Schülersprache": La langue n'accepte des elements de structure etrangers que quand ils correspondent ä ses tendences de developpement. (Jakobson 1938b: 54)
Gerade auch im Zusammenhang der Sprachbundtheorie macht sich geltend, dass „die immanente Entwicklung" „für die Prager Schule [...] ein unbestrittenes Grundprinzip" „war und ist" (Havranek 1966: 82). Im Zusammenhang mit diesem letztlich schon formalistischen „Grundprinzip" gelangt der Prager Strukturalismus auch für die Problematik zwischensprachlicher „Einflüsse" zu einer neuen Sichtweise, die Beckers überkommener Perspektivik einer Meister-Schüler-Hierarchie verschlossen bleibt: Der Einfluß einer fremden Sprache ist keineswegs nur eine äußere, sondern gleichzeitig eine innere Angelegenheit der Sprachentwicklung. Es kommt darauf an, was die Sprache ihrer Struktur und ihren Sprachbedingungen nach benötigt; und das, was sie nun auswählt, wird zum Bestandteil ihrer immanenten Entwicklung oder mit anderen Worten: die aufnehmende Sprache ist los" Fälle gebe, „in denen man solche Kreuzungen von Sprachen und Völkern annehmen mag" (ebd.: 40).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
313
aktiv und die gebende eigentlich passiv, nicht umgekehrt. (Havränek 1966: 92)
Wenn das 1937 nach Prag geschickte Buchmanuskript „Spracheneuropa" annähernde Ähnlichkeiten gehabt hat mit seiner späteren Umarbeitung in die Monographie Der Sprachbund, kann wohl nicht verwundern, dass der Prager Linguistik-Zirkel sich weigerte, es „in der Reihe der Travaux" zu veröffentlichen. Auch Becker scheint sich des großen Abstandes zur Prager Diskussion der Sprachbundproblematik unterdessen bewusst geworden zu sein. So sieht er 1948 von der früher geplanten Widmung für Vilem Mathesius ab und widmet sein Sprachbundbuch jetzt bezeichnenderweise den Schöpfern „der Sprachgeschichte und Sprachvergleichung" „von Bopp und Rask und Grimm bis zu den Lebenden" (Becker 1948a: 5). Becker geht sogar noch weiter und tilgt den Namen Mathesius' nun auch aus der Reihe der „Meister, deren zukunftsweisende mündliche Anregungen ich empfangen durfte" (ebd.). Hatte er 1941 in seiner Sprachlehre noch „vor allen anderen" den „große[n] Meister[n]" „Sievers, Streitberg, Jolles und Mathesius" für die „hauptsächlich im zwanglosen Gespräch" vermittelte „heimliche Erleuchtung" (Becker 1941a: 76) gedankt, so nennt Becker 1948 in seinem Sprachbund nur noch „drei Meister": „Eduard Sievers, Wilhelm Streitberg und Gustav Wiegand" (Becker 1948a: 5). Trotz ihres bisweilen „umstürzlerischen" Tonfalls bewegt sich Beckers „Lehre vom Sprachbund" doch weit gehend auf den Wegen der vorstrukturalistischen Tradition: Mir ist es ein freudiges Bewußtsein, zwar in Neuland einzudringen, aber in gewachsenem Weiterbauen der großen wissenschaftlichen Sprachkunde des letzten Jahrhunderts, (ebd.)
4.1.5 Als Sprachwissenschaftler ein halber Tscheche Henrik Becker sah sich schon früh in einem Gegensatz zur deutschen Sprachwissenschaft stehen. Bereits 1928 beurteilte er seine Berufschancen an der Leipziger Universität daher pessimistisch: Ich kann hier keine Assistentenstelle finden und habe auch keine Aussichten bei der Sparpolitik, die jetzt herrscht und bei der leider noch herrschenden Richtung in der Sprachwissenschaft, die von der lebenden Sprache, meinem einzigen Gegenstand, noch recht fern steht. 77
77
Brief Beckers an Murko, Leipzig, den 9.11.1928 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi).
314
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Beckers Betonung der „lebenden Sprache" akzentuiert hier wohl weniger eine Neuorientierung auf die sprachliche Gegenwart gegenüber der durchgängig historischen älteren Sprachwissenschaft. Die „lebende Sprache" dürfte vielmehr eine Opposition zum ,toten' Regelwerk grammatischer Formen eröffnen, denen eine Untersuchung der Sprache in lebendigen' Funktionszusammenhängen entgegengestellt werden soll. Wenn Becker wenig später die Schwierigkeiten mit seiner Habilitation zum Teil auch auf den „Hass der alten Schule gegen die neue" 78 zurückfuhrt, so prägt er bereits hier seine Selbststilisierung als radikaler — und damit im eigenen Lande verkannter — Neuerer der Sprachwissenschaft, die seine späteren Veröffentlichungen und autobiographischen Notizen durchzieht. 79 Unter diesen Voraussetzungen suchte und fand Becker wissenschaftliche Bestätigung frühzeitig außerhalb des einheimischen Kontextes — insbesondere bei der Prager Schule. Tatsächlich wurde Becker von Prager Linguisten ja nicht nur beraten und unterstützt, sondern durch Einladungen zu Vorträgen und zur Mitarbeit in den Sammelpublikationen öffentlich sichtbar in die eigenen Arbeitszusammenhänge des LinguistikZirkels eingebunden. Auch Beckers erste selbständige Veröffentlichung, Das deutsche Neuwort, wurde 1933 von Mathesius positiv rezensiert, da sie mit „dem funktionalen Standpunkt" der Prager Schule übereinstimme und bei der Transformation der traditionellen Wortbildungslehre in eine zukünftige Wissenschaft der sprachlichen Benennung „neue Wege weist" (Mathesius 1935: 134). Auch Jakobson hielt Beckers Buch für viel versprechend: E s ist [ei]ne recht interessante u n d aktuelle Arbeit. Ich w a r t e mit U n g e d u l d [aufj die übrigen Teile Ihrer F u n k t i o n s g r a m m a t i k . 8 0 78 79
80
Brief Beckers an Murko vom 9.5.1929: Rückseite (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi). Vgl. die im Abschnitt 4.1.1 angeführten Zitate Beckers zu seiner ausbleibenden Anerkennung oder beispielsweise Becker (1966: 52): „Als Neuerer im Bereich der Wissenschaft erlebe ich oft, daß manche Vorschläge unbekannt ,verschmoren'". Pavel Trost bestätigt noch 1982 dieses Selbstbild Beckers, wenn er die Organisation „einer Ihrer Sprachtheorie gewidmeten Konferenz in Jena" mit dem Zusatz „(trotz nemo propheta in patria!!)" begrüßt (Briefkarte Trosts an Becker vom 8.2.1982, Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: S. 358). Autobiographische Texte Beckers greifen mit Bitterkeit immer wieder das Metaphernthema von der „Mauer" des Schweigens auf, die sein wissenschaftliches Werk umgab, vgl. etwa Dokumente unter: Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 269. Brief Jakobsons an Becker, vom 20.11.1932 (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: S. 133), vgl. dokumentarischer Anhang. Die Tatsache, dass auch Theodor Frings Beckers Nemvort als „ein gescheites Büchlein" bewertete, das „reiche Möglichkeiten zur Belebung des Deutschunterrichts" (Frings 1933a: 283) biete, zeigt, dass Becker seine Oppositionsstellung zur deutschen Sprachwissenschaft stark überzeichnet. Seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten konnten am Beginn der dreißiger Jahre in der sehr heterogenen deutschen Sprachwissenschaft durchaus in Teilen Anerkennung finden.
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
315
Spätestens die Zurückweisung von Beckers Spracheuropa-Wi&nuskrvpt im Jahr 1937 macht aber deutlich, dass im Prager Zirkel über den Abstand zu Beckers wissenschaftlicher Arbeit inzwischen große Klarheit herrschte. Becker beklagt, er habe fortan „nur freundschaftliche, nicht fachliche Teilnahme an meinen Arbeiten" 81 gefunden. Als im Jahr 1941 mit Beckers Sprachlehre der erste Teil seiner lang erwarteten „Funktionsgrammatik" erscheint, reagierte der Prager Zirkel mit einer Rezension, die schon mit ihrem Titel — „Novotärskä nemecka mluvnice" [Eine neuerungssüchtige deutsche Grammatik] — auf strikte fachliche Abgrenzung Wert legte (Trnka 1942b). Dabei ist Bohumil Trnkas Kritik zu Beckers Sprachlehre aber keineswegs ein durchgängiger Verriss, sie beleuchtet vielmehr in einer Reihe von Schlaglichtern auf das Buch sehr deutlich die Reichweite und Grenzen der methodologischen und sprachtheoretischen Übereinstimmungen. Die Sprachlehre sei nicht nur bei der Lösung von Detailfragen „in mancher Hinsicht sehr scharfsinnig" (ebd.: 215), Trnka streicht auch grundsätzliche Gemeinsamkeiten mit der Sprachwissenschaft der Prager Schule heraus: Kniha se tedy hläsi k funkcnimu pojeti jazyka, a hläsi take k celostnimu hledisku. (ebd.) Das Buch bekennt sich also zu einer funktionalen Sprachauffassung, und es bekennt sich auch zu einem ganzheitlichen Standpunkt.
Auch im Bereich der Verslehre sind nach Trnka „einige grundlegende Punkte gemäß der fortschrittlichen Forschung richtig erläutert, die bei uns am besten bekannt ist" (ebd.: 216). Andererseits beziehen sich auch Trnkas zum Teil massiven Einwände nicht nur auf einzelne Passagen wie etwa Beckers Ausführungen zum Artikel im Deutschen, sondern sie zielen auf die Gesamtanlage des Buches und die ihm zugrundeliegende Sprachkonzeption: Novotäfstvi je prQis lehkomyslne i ν plänu i ν provedeni Beckerovy knihy. (ebd.: 215) Die Neuerungssucht ist zu leichtsinnig sowohl im Plan als auch in der Durchführung von Beckers Buch.
Bemerkenswerterweise bezieht Trnka seinen Vorwurf der ,Neuerungssucht' dabei nicht auf die starke Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Grammatik bei Becker. Anders als die meisten deutschen Rezensenten der Zeit nimmt Trnka keinen erkennbaren Anstoß daran, dass hier Phänomene wie Graphie oder Verslehre als grammatische verhandelt werden (vgl. 4.1.2). Er begrenzt aber die Reichweite der zunächst herausgestrichenen methodologischen und sprachtheoretischen Gemeinsamkeiten mit 81
Autobiographisches Typoskript Beckers „Mein Verhältnis zum Prager Sprachkundekreis", etwa Mitte 1976 (Univ.-Archiv J e n a / V / X / Nr. 269), vgl. Anhang.
316
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Beckers Sprachlehre gerade an dem Punkt, an dem sich für die Prager Schule die „funktional-strukturale Sprachforschung" wissenschaftlich allererst bewährte: Uznävä fonemata (a fonologicke varianty - „Sinnlaute und ihre Vertreter"), avsak bez fonologickych protikladü; jen vnejsi prijeti celostniho hlediska nestaci na ükoly fonologickeho rozboru. (ebd.: 215) Es [Beckers Buch] erkennt Phoneme (und phonologische Varianten „Sinnlaute und ihre Vertreter") an, allerdings ohne phonologische Gegensätze. Für die Aufgaben der phonologischen Analyse genügt es aber nicht, nur äußerlich einen ganzheitlichen Standpunkt einzunehmen.
Auch bei Beckers Behandlung der sprachlichen Laute zeigt sich eine Eigentümlichkeit, die sich schon bei seiner Konzeption einer Uterarischen Gattungsgeschichte wie auch seinem Begriff des Einflusses im Sprachkontakt herausgestellt hatte: In seinem „Sprachgebäude" fehlt ein methodologisch gesicherter Platz für systemimmanente Beziehungen auf den jeweiligen sprachlichen und literarischen Ebenen. In das Zentrum seiner Sprachtheorie setzt Becker die aktiven Vorgänge des Sprechens zwischen den Polen „Sprecher" und „Versteher", er entwirft eine Art Linguistik der parole, die zwar überindividuelle Normen, aber keine eigengesetzliche langue kennt. 82 In impliziter Polemik gegen Humboldts bekannte Uberbietung von „Ergon" durch „Energeia" (Humboldt 1988: 418) streicht Trnka den blinden Fleck in Beckers Sprachkonzeption heraus: Jazyk neni take samy dej, nybrz je predevsim danä vec. Je nutno trvat na rozliseni mezi jazykem a jazykovym dejem, a mezi jazykem a jazykovym stylem. (ebd.: 215) Die Sprache ist nicht nur Handlung, sondern vor allem eine gegebene Sache. Es ist notwendig auf der Unterscheidung zwischen Sprache und sprachlichem Vorgang zu bestehen, und auf der zwischen Sprache und sprachlichem Stil.
Im Kontext der deutschen Sprachwissenschaft bewegt sich Becker, den es früh „in die Geistesgeschichte" 83 zog, eigenwillig zwischen Neohumboldtianismus und dem Idealismus der Vossler-Schule. Aus der Perspektive des funktionalen Strukturalismus bleibt sein ,energetischer' bzw. stilistischer Funktionalismus defizient. Auch aus der Sicht der Prager Schule musste Becker daher spätestens, seitdem er begann seine frühen Programmentwürfe sprachwissenschaftlich umzusetzen, nur noch als „ein halber Tscheche" erscheinen. 82
83
Offenkundig wird diese methodologische Leerstelle beispielsweise in Becker (1936), wo Becker für jeden der fünf Sprachvorgänge die Frage nach dem jeweiligen Inventar von üblichen Formen und sprachlichen Mitteln stellt, diese untereinander aber in keinerlei Beziehung setzt. Dreiseitiger Brief Beckers an Murko vom 18.1.1926: S. 1 (LAPNP/ M. Murko/ Mappe: Becker Murkovi).
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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317
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BERICHTENDE UND KRITISCHE ZEITSCHRIFT FOR DAS SEISTIGE LEBEN DER SLAVISCHEN VOLKER Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft fOr clavistische Forschung in Prag herausgegeben von F. Spin« und G. Gesemann
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
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Dokument 11: Brief Roman Jakobsons an Henrik Becker, 20.11.1932 84 ' 85 ' 86 ' 87 (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: S. 133) 84
85 86 87
„Ihre Arbeit": Es geht um Beckers in Leipzig abgelehnte Habilitationsschrift „Die Ausbildung des Tschechischen und Ungarischen zu Hochkultursprachen (17701840)", eine Version davon in Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 116). „Das Neuwort": Becker (1933), der Band ist bereits im Herbst 1932 ausgeliefert worden. Becker hat ihn offensichtlich sogleich an Jakobson geschickt. „Charisteria und Jazykovä kultura": Vgl. Charisteria (1932) und Spisovnä Cestina (1932). Die „konspektartige Abhandlung ... über den serbokroatischen ... epischen Versbau": Es handelt sich um Jakobsons Vortrag auf dem erwähnten ersten Internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften in Amsterdam, Jakobson (1933a), vgl. auch 5.5.
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
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320
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
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Dokument 12: Brief Henrik Beckers an Vilem Mathesius, 30.3.1937 (AAVCR/ P L K / Kart. 2 / i.e. 18)
.
321
4.1 D a s deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
PROF. VILfiM 19
Jf
MATHESIUS M a i s e l o v a
PRAHAV. (PRAGUE) CZECHOSLOVAKIA
Prag, den 4 . * . p r i l 1938
L i e b e r Herr K o l l e g e , t u t mir sehr l e i d Ihnen m i t t e i l e n zu müssen,dass es nach der einmütigen Ueberzeugung u n s e r e s Komitds n i c h t möglich i s t , I h r neues Werk i n der Keihe u n s e r e r S c h r i f t e n zu v e r ö f f e n t l i c h e n . 2 s i s t dazu a l l zu s e h r f e u i l l e t o n i s t i s c h g e h a l t e n und das a n g e f ü h r t e ä p r a c h r a a t e r i a l i s t n i c h t imaer z u v e r l i i s s l i c h . ^ch s e l b s t habe mich davon i n dem das T s c h e c h i s c h e behandelnden K a p i t e l ü b e r z e u g t , andere von uns h^ben wieder andere Kapit e l i n d i e s e r H i n s i c h t g & p r ü f t . ^ i e Grundidee i s t s e h r i n t e r e s s a n t und nach e i n e r s o r g f ä l t i g e n und mit H u f e von v e r l ä s s l i c h e n F a c h l e u t e n durchgeführt e n E e v i s i o n wird das k e r k e i n n ü t z l i c h e s und b e l e h r e n d e s ^uch f ü r k u l t i v i e r t e L a i e n abgeben, das s i c h e r einen v e r l e g e r f i n d e n d ü r f t e , -^ine s o l c h e H e v i s i o n können w i r a l l e r d i n g s h i e r n i c h t u n t e r n e h men und auch einen V e r l e g e r l a b e n wir vergebens g e s u c n t . Die H a n d s c h r i f t i s t j e t z t b e i K . J . i n J 'vnn d e p o n i e r t und wenn S i e d i e s e l b e zurück haben w o l l e n , werde i c h mir s i e zuschicken l a s s e n und dann w e i t e r nach -^ej^zig b e f ö r d e r n K
it
den b e s t e n Grüssen
Yb 1
Herrn
·•·•.- ,.„...' ^ k-' i
Dr. Henrik Becker Leipzig.
D o k u m e n t 13: B r i e f von Vilem Mathesius an Henrik Becker, 4 . 4 . 1 9 3 8 8 8 (Univ.-Archiv J e n a / V / X / Nr. 274: S. 222)
88
Bei dem „neuen W e r k " , von dem die Rede ist, geht es um Beckers Manuskript „Spracheuropa", das später in Becker (1948a) einging.
322
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
PROF.VILfiM MATHESIUS 19
In K ö l l n 2 0 .
Dull 1941.
J f f
M a i s e l o v a
PRAHA V. (PRAGUE)
L i e b e r Herr Ihr B r i e f
Kollegel
h a t mir a u f r i c h t i g e Freude gemseht.
Von dem
E r s c h e i n e n I h r e r Sprachkunde habe i c h schon gev-ust, denn Κfte h r i c h t d a v o n i s t sehr,
dass
gelang.
Ihr
in unseren ί
V. F e r s c h i e n e n .
mich
j ä h r l a n g e s Bemuehen s o a n s e i n g l u e c k I i c h e s
I c h d a n k e I h n e n f u e r d i e f r e u n d l i c h e Erv/aehnung
Κ ahnen s i n v Z u s s a n n e n h a n g der allgemeine
eine
Es f r e u t
Setz, der
allerdings
gilt
d a s s d e r G r a d d e s E i n f l u s s e s n i c h t te n u r
demjenigen abhaengt, von d e n j e n i g e n ,
I h r em Werk. Auch h i e r
Ende
meines
von d e n d ^ r E i n f l u s s Ihn
ausgeht,
sondern
von
auch
enpfaengt.
Unsere Gruppe haei^-t t r o t z a l l e n a u s s e r o r d e n t l i c h e n C h a r a k t e r d e r Z e i t h a r t n a e c k i g an i h r e r A r b e i t . U n s e r e Z e i t s c h r i f t ,,Slovo
a Slovesnost' , ,
ist
soeben ueber die K a e l f t e
b e n t e n J a h r g a n g e s g e l a n g t und i n d e n . T r s v f r u x s o l l altkirchenslsvische
Granatik von Fr o f .
A u s s e r d e n v/erden e i n i g e k l e i n e r e
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Trübe t z k o y
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erscheinen.
Publikationen geplant.
Ich habe
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gemacht,
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im F r u e h j a h r u n t e r . d e n T i t t e l
erscheinen
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Im H e r b s t d e s n e e c h s t e n J e h r e s
beabsich_
t i g t e r s i c h i n K o l i n a l s K i n d e r a r t z t n i e d e r z u l a s s e n . Ob w i r i n K o l i n auch ueber den Winter b l e i b e n , oder in Oktober nach Prag
4.1 Das deutsche Gründungsmitglied Henrik Becker
323
surueckkehren, hsen c t von vielen Piktoren eb und Isesst Elch noch nicht vorBuEsaCen. In jeder. P 5 11 erreicht r.ich jecer Brief der en nie Ine prE-cer Airecse geschickt w l r f i . Dies- lautet nach der Versende? runG der Strassennanens v/ie f o l l n t « PraG V. Ulice P i l i ] a de Konte 19. Die kojiner Ad.eresse 1st: Kölln V. Ilorckeho u l . 10K. Kit den besten Grnessen:
V h
νώ
Herrn Dr. Henril·: Becker, Leii^tzik.
Dokument 14: Brief von Vilem Mathesius an Henrik Becker, 20.7.1941 89,90,! (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 274: S. 223) 89 90 91
„CMF": Casopispro modernifilologii, vgl. die Rezension von Smilauer (1941). „Cestina α obecnyjaykopyt": Das Buch konnte erst nach dem Krieg als Mathesius (1947) erscheinen. „Rec a sloh" [Rede und Stil]: Der Text erschien dann doch nicht monographisch als „Buechlein", sondern als knapp einhundertseitiger Beitrag zu Cteni ο Joyce a poesii (1942:13-102)
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
324
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Dokument 15: Autobiographisches Typoskript Henrik Beckers, nach einem Begleitbrief zu datieren auf Mitte 197692'93'94 (Univ.-Archiv Jena/ V/ X/ Nr. 269: S. 9) 92 „Das deutsche Neuwort": Becker (1933), das Buch wurde schon im Herbst 1932 ausgeliefert. 93 „Zwei Sprachanschlüsse", „Büchlein über den Sprachbund": Becker (1948a) und (1948b). 94 „Mein wissenschaftliches Testament": Hier dürfte es sich um Becker (1981) handeln. Die Veröffentlichung des Manuskripts, das Becker schon 1976 nach Prag geschickt hatte, verzögerte sich um mehrere Jahre.
4.2 „Daß ich an der Förderung aller phonologischen Probleme lebhaften Anteil nehme": Leo Weisgerbers unwahrscheinliche Beziehung zur Prager Schule der Linguistik1 Den ersten Anstoß, einer möglichen Beziehung zwischen Weisgerber und dem Prager Linguistik-Zirkel nachzugehen, gab mir eine kleine Briefkarte, die ich im Prager Archiv der Akademie der Wissenschaften vorgefunden habe. Ich möchte diese Karte daher auch in vollständigem Wordaut an den Anfang meiner Überlegungen stellen: Rostock, den 3.10.1930 Wächterstr. 26 Sehr verehrter Herr Kollege, Ihre liebenswürdige Einladung zu der bevorstehenden phonologischen Konferenz in Prag verpflichtet mich zu lebhaftem Dank. Es ist eine Freude zu sehen, mit welcher Folgerichtigkeit Sie eine als wichtig und notwendig erkannte Aufgabe der Lösung zuführen; dass ich an der Förderung aller phonologischen Probleme lebhaften Anteil nehme, brauche ich nicht besonders zu betonen. Deshalb wäre mir auch die Teilnahme an den Arbeiten der Konferenz sehr wertvoll, wenn ich auch furchten muss, dass ich kaum etwas Positives dazu beitragen kann; jedoch kann ich im Augenblick keine bindende Zusicherung geben, da eine Reihe von heute noch unsicheren Faktoren die Möglichkeit meines Kommens beeinflussen könnten. Als Tagungszeit dürften im allgemeinen für die Verhältnisse der deutschen Universitäten die ersten Januartage geeigneter sein als 16. - 18. Dezember. In vorzüglicher Hochachtung Leo Weisgerber 2
Vor dem Hintergrund der üblichen Darstellungen zur Geschichte des Strukturalismus in Deutschland müssen Inhalt, ja selbst die Existenz dieser kleinen Karte überraschen. Verwundern dürfte zum einen wohl, wieso die Prager Linguisten bei ihrer Einladung zur „Reunion phonologique internationale" in Prag unter den deutschen Sprachwissenschafüern ausgerechnet auf Leo Weisgerber verfallen sind. Weisgerber wäre ja, wenn er denn gekommen wäre, der einzige bereits bekanntere und akademisch etablierte Wissenschafder aus dem deutschsprachigen Ausland gewesen, 1 2
Dieser Abschnitt ist eine überarbeitete Version von Ehlers (1997a). AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18. Vgl. die Reproduktion der Briefkarte im dokumentarischen Anhang zu diesem Kapitel.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
327
der neben Karl Bühler an dieser Konferenz teilgenommen hätte.3 Verwundern dürfte umgekehrt entsprechend, dass Leo Weisgerber, der seinerzeit schon in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen die Grundzüge einer auszubauenden Sprachinhaltsforschung umrissen hatte, seine „lebhafte Anteilnahme" hier ausgerechnet „der Förderung aller phonologischen Probleme" versichert. Folgte man der landläufigen Annahme, „daß der Strukturalismus, von einigen Ausnahmen abgesehen, in Deutschland mit einigen Jahrzehnten Verspätung Fuß gefaßt hat" (Weinrich 1971: 182), dann müsste eine jede „lebhafte Anteilnahme" an der frühen Entwicklung der Prager Phonologie von deutscher Seite überhaupt als seltene Ausnahmeerscheinung gewertet werden. Dass nun just Leo Weisgerber einen solchen Ausnahmefall darstellen sollte, erscheint gewissermaßen doppelt unwahrscheinlich, wird doch gerade „die übermächtige Stellung der sogenannten , Sprachinhaltsforschung'" (Stammerjohann 1969: 160) innerhalb der deutschen Sprachwissenschaft häufig mit dafür verantwortlich gemacht, dass dort strukturaüstische Ansätze jahrzehntelang nicht heimisch werden konnten (vgl. 1.2). Weisgerber, dessen sprach theoretischer Ansatz „um die Mitte des Jahrhunderts für ein gutes Jahrzehnt im Mittelpunkt der Sprachforschung im deutschsprachigen Gebiet stand" (Weisgerber 1973: 19), sah sich am Ende der sechziger Jahre mit dem Vorwurf konfrontiert, „den Anschluß an die internationale Forschung versäumt" und den „erheblichen Nachholbedarf der deutschen Sprachwissenschaft „vor allem in der strukturellen Linguistik'" (ebd.: 32)4 maßgeblich mitverschuldet zu haben. In der polemischen Verhärtung der Positionen kam es in der Folge zu einer regelrechten „Frontenstellung zwischen dem, was Weisgerber unter Sprachwissenschaft' verstand" (Gipper 1984: 25) und dem, wie er sich selbst ausdrückte, „militanten Strukturalismus linguistischer Prägung" 5 — inzwischen vorwiegend amerikanischer Provenienz. Hierbei war vor allem die methodologisch paradigmatische Rolle, die die Phonologie für die internationalen Schulen des Strukturalismus spielte, der Grund dafür, dass 3
4 5
Dass Weisgerber neben Jost Trier gar „the only representative of germanistische "Linguistikb" gewesen sei, „who enjoyed some international reputation between the two wars" (Hüllen 1999: 228), scheint mir aus der Nachkriegsperspektive heraus überzeichnet. Wie auch immer kamen aus dem deutschsprachigen Ausland neben Bühler nur Henrik Becker und Eugen Seidel, die damals erst am Anfang ihrer akademischen Laufbahn standen (vgl. 4.1 und 5.4). Von den Prager deutschen Wissenschafdern nahmen wenigstens zeitweise Friedrich Slotty, Gustav Becking, Edmund Schneeweis und Ernst Schwarz an der Konferenz teil, vgl. 5.4. Weisgerber zitiert hier aus dem Jahresbericht 1969 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dessen kritischen Befund er deutlich auch auf sich selbst bezieht. Weisgerber (1975: 21). Aus der Position der Selbstverteidigung gibt Weisgerber (1973) eine detaillierte Darstellung des ,Frontenverlaufs' „Linguistik contra Sprachwissenschaft".
328
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
die von Leo Weisgerber begründete inhaltbe2ogene Sprachforschung weithin „als das blanke Gegenteil von Strukturalismus betrachtet" (Glinz 1965: 11) worden ist. Das „angebliche Übersehen des phonologischen Strukturalismus" in der deutschen Sprachinhaltsforschung ist für Weisgerber selbst „in Wirklichkeit eine Reserve gegenüber einer überzüchteten Phonologie um anderer, wichtigerer Aufgaben willen" (Weisgeber 1970: 168). Diese methodologische und thematische „Reserve" gegenüber der Phonologie macht Weisgerber aber nicht nur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geltend, sondern projiziert sie auch auf die Anfangszeit ihrer Entwicklung in den dreißiger Jahren zurück. Eine methodologische Vorbildfunktion der Phonologie, wie sie etwa Karl Bühler sehr früh unterstreicht 6 , weist der späte Leo Weisgerber für die Entwicklung der Sprachinhaltsforschung ausdrücklich zurück: Die phonologische ,Welle' setzte sich erst am Ende der zwanziger Jahre durch, und ihr Herausgreifen über die Phoneme war keineswegs so naheliegend oder gar sachgemäß, wie es heute oft dargestellt wird. Von mir selbst kann ich sagen, daß etwas, was immerhin als Parallele dienen kann, noch lange nicht beispielhaft zu sein braucht. Was bereits bei der Morphonologie mißlang, wäre methodisch für den Wortschatz erst recht bedenklich gewesen. (Weisgerber 1975: 17) Da Leo Weisgerber mit seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit nicht nur am Anfang der dreißiger Jahre, sondern auch später tatsächlich „kaum etwas Positives" zur Phonologie beitrug, vielmehr die Phonologie in seinem umfangreichen CEvre überhaupt nur äußerst selten einmal Erwähnung findet, könnte man nach all den bisherigen Ausführungen geneigt sein, seine anfangs zitierten Bekundungen der wissenschaftlichen Anteilnahme für bloß höfliche Begleitfloskeln einer Absage auf eine Einladung zu halten, die aufgrund irgendwelcher Missverständnisse an den falschen Adressaten geraten war. Und doch gibt es eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass es nicht Zufälle und Missverständnisse waren, die Weisgerbers kleinen Brief unter die archivierten Dokumente des Prager Linguistik-Zirkels gemischt haben. Ich möchte im Folgenden einmal die mir bislang zugänglichen Belege zusammentragen, die dafür sprechen, dass Weisgerber tatsächlich an der Entwicklung der Phonologie „lebhaften Anteil" genommen hat, und eine Art vorläufige Chronologie dieser so ,unwahrscheinlichen' Beziehung zwischen ihm und dem Prager Zirkel skizzieren. 6
Vgl. etwa Bühlers Referat auf dem 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie von 1931, an dem auch Weisgerber aktiv teilgenommen hat. Dort heißt es unter anderem: „An ihnen [den Phonemen] kann der Sprachtheoretiker eine Reihe von grundlegenden Eigenschaften exemplarisch ablesen, allgemeine Bestimmungen treffen, die ebenso für die übrigen Klassen von Sprachgebilden gültig sind" (Bühler 1932: 111).
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
329
Die Kontakte zwischen Weisgerber und Angehörigen des LinguistikZirkels gehen ganz offensichtlich auf persönliche Begegnungen am Rande des ersten Internationalen Linguistenkongresses 1928 in Den Haag zurück. Sie wurden also schon in dem Moment geknüpft, als Vertreter des Prager Zirkels sich überhaupt zum ersten Mal in übergreifenden Gruppenzusammenhängen der internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentierten. In Den Haag bestand für Weisgerber die Möglichkeit, mit Roman Jakobson, Sergej Karcevskij, Vilem Mathesius, Bohumil Trnka und Nikolai Trubetzkoy zusammenzutreffen. „Mündlicher Austausch während des Haager Linguistenkongresses" mit diesem Personenkreis ergab nach Weisgerber „vielfach überraschende Gemeinsamkeiten", die sich ausdrücklich gerade auch auf die dort vorgestellten Prager „Ansätze zur Erforschung der Lautfunktion und ihrer Änderungen" (Weisgerber 1930a: 30) bezogen. Die Überraschung scheint hier beidseitig gewesen zu sein. Die Mitglieder des Prager Zirkels hatten nämlich zunächst befürchtet, in Den Haag „mit ihren Abweichungen vom traditionellen Dogma isoliert [zu] bleiben und vielleicht heftig bekämpft" zu werden: Im Verlauf dieses Ersten Linguistenkongresses zeigte es sich jedoch, sowohl in den offiziellen und noch mehr in den privaten Diskussionen, daß es unter den jüngeren Forschern aus verschiedenen Ländern Anhänger ähnlicher Sichtweisen und Wege gab. Forscher, die allein und auf eigenes Risiko Pionierarbeit leisteten, entdeckten zu ihrer großen Überraschung, daß sie Kämpfer für eine gemeinsame Sache waren. 7
Es hat den Anschein, dass die Prager Linguisten auf diesem Kongress auch in Leo Weisgerber einen „Kämpfer für eine gemeinsame Sache" entdeckten. Ein Fußnotenverweis auf „Koll. Weisgerber (Rostock)" in Mathesius' Programmschrift „Ziele und Aufgaben der vergleichenden Phonologie" 8 von 1929 belegt jedenfalls, dass Weisgerber in der Folge auch bezüglich phonologischer Detailfragen mit dem Prager Zirkel in Austausch blieb. Ob Weisgerber im Zusammenhang mit seinem sprachwissenschaftlichen Seminar zum Polabischen, das er im Sommersemester 1929 an der Universität Rostock abhielt, bereits mit Trubetzkoy in Verbindung stand, dessen Polabische Studien wenig später im Druck erschienen, ist vorerst nicht belegbar, mit Sicherheit kann aber bei dem starken slawistischen Akzent
7 8
Jakobson (1963: 440). Vgl. Mathesius (1929a: 434). Mathesius (1929a: 437). Die Fußnote lautet: „Es fragt sich allerdings, wie mich Koll. Weisgerber (Rostock) aufmerksam macht, ob das ts in beiden Sprachen [Deutsch und Englisch] in gleicher Weise als Phonem betrachtet werden kann. Eine nähere Untersuchung seiner Rolle in den betreffenden Systemen wird hier gewiß Klarheit schaffen."
330
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
seiner Rostocker Lehrtätigkeit 9 vor allem in den Jahren 1928 bis 1931 eine gute Vertrautheit mit dem aktuellen Diskussionsstand innerhalb der Slawistik vorausgesetzt werden, der ja nicht zuletzt durch die Prager Linguisten und ähnlich ausgerichtete russische und polnische Sprachwissenschaftler geprägt war. Im Jahr 1930 gibt Weisgerber im Rahmen seines Textes „Zur Erforschung des Sprachwandels" auf drei Seiten einen sehr positiven und vergleichsweise detaillierten Überblick über Grundprinzipien, bisherige Forschungsgebiete und Veröffentlichungen der Prager Phonologie. Weisgerber resümiert hier abschließend: Man wird diese Forschungsrichtung mit Aufmerksamkeit verfolgen müssen. (Weisgerber 1930a: 32) Dieser Text ist eine der frühesten Gesamtdarstellungen des phonologischen Ansatzes durch einen deutschen Sprachwissenschafder, und ein ehrgeiziger Artikel zur internationalen Resonanz der „Prager phonologischen Forschung" aus der Prager Presse stellt ihn denn auch an die Seite von Elise Richters wirkungsmächtigem Rückblick auf „Die Entwicklung der Phonologie" aus demselben Jahr: Beide Texte, die einzigen, die hier aus dem deutschsprachigen Raum verzeichnet sind, „begründen die Wichtigkeit der neuen linguistischen Disziplin, deren Grundlagen in den ,Travaux' aufgebaut worden sind."10 Aus dem Jahr 1930 stammt außerdem die eingangs zitierte Briefkarte Weisgerbers, aus der hervorgeht, dass der Linguistik-Zirkel ihn zur „Internationalen Phonologischen Arbeitstagung" im Dezember des Jahres nach Prag eingeladen hatte. In seiner Eröffnungsrede zu dieser Tagung nennt Mathesius Weisgerber in der Reihe ausländischer Sprachwissenschaftler, die „ont aussi manifeste leurs sympathies pour notre cause en nous adressant leurs bons souhaits pour le succes de la reunion" (Mathesius 1931a: 291). Eine weitere, auch organisatorische Verbindung zwischen Weisgerber und dem Prager Zirkel ergab sich durch das beidseitige Engagement für die Klärung der sprachwissenschaftlichen Terminologie. Auf einen Antrag der zuletzt von Weisgerber geleiteten Arbeitsgruppe für ein deutsches terminologisches Wörterbuch nominierte der zweite Internationale Linguistenkongress 1931 „einen Ausschuß für Fragen der Terminologie" 11 . In
9
10 11
In der Zeit vom Sommersemester 1928 bis zum Wintersemester 1930/31 leitete Weisgerber in jedem Semester mindestens eine im engeren Sinne slawistische Lehrveranstaltung, zwei weitere folgten im Sommersemester 1937 und Wintersemester 1937/38, vgl. die entsprechenden Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock, Univ.-Archiv Rostock. „Die Prager phonologische Forschung", Prager Presse vom 8. Juli 1931, S. 5. Vgl. Antrag 10 und 11 in Debrunner (1933c: 62-67, hier 66), sowie die entsprechende Beschlussfassung in Actes du deuxieme Congres international de Ungutstes, Geneve 25-29 aoüt
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
331
diese „vom Genfer Kongreß eingesetzte Kommission für Terminologie" (Weisgerber 1933: 13) wurde neben Weisgerber, Albert Debrunner und Jules Marouzeau auch Trubetzkoy gewählt, der wenig später durch Roman Jakobson ersetzt wurde. Die Kommissionsmitglieder sind am 29. September 1932 zu einem ersten ganztägigen Arbeitsgespräch in Frankfurt (Main) zusammengekommen. 12 Die in diesem Zusammenhang 1933 von Weisgerber und Alfred Schmitt veröffentlichte Probe eines Wörterbuchs der sprachwissenschaftlichen Terminologie fand denn auch neben einem oder mehreren Sonderdrucken Weisgerbers Eingang in die private Bibliothek Trubetzkoys. 13 Umgekehrt erhielt Weisgerber aus Prag noch 1931 den gerade erschienenen vierten Band der Travaux du Cercle Unguistique de Prague, in dem neben den Kongressakten der Prager phonologischen Arbeitstagung auch das „Projet de terminologie phonologique standardisee" abgedruckt ist.14 Eine unmittelbare organisatorische Einbindung Weisgerbers in den Aufbau internationaler phonologischer Forschungszusammenhänge erfolgte dann im Jahre 1932. Schon auf dem ersten Linguistenkongress 1928 in Den Haag war „in Privatgesprächen unter einigen Kongreßmitgliedern" projektiert worden, „eine internationale Gesellschaft für die vergleichende Erforschung der phonologischen Systeme der Welt" 15 zu gründen. Erst auf dem ersten Kongress der Phonetischen Wissenschaften 1932 in Amsterdam setzte man diese Prager Initiative in der förmlichen Gründung der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Phonologie" tatsächlich um. Weisgerber wurde in der Gründungsveranstaltung am 7. Juli als einziger deutscher Sprachwissenschafder in das international besetzte, zehnköpfige Komitee der Arbeitsgemeinschaft gewählt, „deren Aufgabe eben die Er-
12
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14 15
1931. Paris 1933: 244-245. Einen ersten Bericht über die Arbeit dieser Kommission gibt Schrijnen (1935: 19-21). Vgl. Schrijnen (1935: 20). Frankfurt wurde als Tagungsort gewählt, weil „pour des membres si disperses Francfort semblait presenter les plus grands avantages geographiques" (ebd.). Der genaue Zeitpunkt dieses Treffens, über den Josef Schrijnens Bericht keine Angaben macht, geht aus den im Nachlass Weisgerbers erhaltenen Briefen Schrijnens hervor. Ich danke Prof. Bernhard Weisgerber, der mir freundlicherweise eine ganze Reihe wertvoller Dokumente aus dem Nachlass seines Vaters zugänglich machte. Der umfangreiche Nachlass Leo Weisgerbers ist unterdessen dem Brüder-Grimm-Museum in Kassel übergeben worden, wo er aber bis zur Inventarisierung noch nicht öffentlich zugänglich ist. Vgl. das achtzehnseitige „Bücherverzeichnis der Bibliothek von Prof. N. Trubetzkoy" in AAVCR/ PLK/ Kart. 4/ i.e. 25. Zahl und Titel der Sonderdrucke sind in dieser Liste nicht aufgeführt. Vgl. die handschriftliche, auf den 21.10.1931 datierte und mit der Anweisung „Jednote, aby zaslala" überschriebene Adressenliste, AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23, vgl. Abschnitt 3.2. Trubetzkoy (1929: 66). Weisgerber wird hier zwar noch nicht namentlich als Unterstützer dieses Gedankens genannt, dürfte aber im ,,mündüche[n] Austausch" mit den Phonologen während des Kongresses über das Projekt erfahren haben.
332
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
leichterung der phonologischen Arbeit durch gegenseitige Informationen u n d B e r a t u n g " (Trubetzkoy o. J.: 57) sein sollte. Drei T a g e nach dieser Z u s a m m e n k u n f t informierte Trubetzkoy Weisgerber über die Beschlüsse, die „die erste V e r s a m m l u n g der i n t e r n a t i o n a l e n Phonologischen Arbeitsg e m e i n s c h a f t ' " in seiner Abwesenheit getroffen hatte: Diese Versammlung beschloss das Organisationskomite der Arbeitsgemeinschaft (das bisher aus V. Mathesius, R. Jakobson und mir bestand) durch die Wahl neuer Mitglieder zu erweitern. Als Mitglied dieses, nunmehr nicht bloss Organisations-, sondern auch Leitungskomitees wurden auch Sie, verehrter Herr Kollege, gewählt, - ausserdem noch die Herren Vendryes, van Ginneken, Devoto, Sommerfeit, Jones und Ed. Sapire [sie], sowie die früheren Mitglieder (Mathesius, Jakobson, Trubetzkoy). Dem Komitee wurde der Auftrag gegeben, bis zur nächsten Versammlung der Arbeitsgemeinschaft die Satzungen dieser Organisation auszuarbeiten, ferner einen Fragebogen für die Beschreibung der phonologischen Systeme der Welt fertigzustellen und die regelmässige Erscheinung eines kurzen informatorisch-bibliographischen Berichtes (Bulletin) über phonologische Fragen sicherzustellen. 16 T r u b e t z k o y erläutert dann „die Struktur des Leitungskomitees" u n d geht i m weiteren auf finanzielle u n d organisatorische Fragen ein. Sein Brief schließt mit den Worten: Das lebhafte Interesse, das Sie, verehrter Herr Kollege, für die Phonologie gezeigt haben lässt uns hoffen, dass Sie die Wahl zum Mitgliede des Leitungskomitees der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft annehmen und an unserer gemeinsamen Arbeit aktiv teilnehmen werden. Weisgerbers A n t w o r t auf dieses Schreiben ist positiv, w e n n er auch — w i e schon in seiner anfangs zitierten Briefkarte v o n 1930 — die Möglichkeit einer aktiven Mitarbeit stark einschränkt oder zumindest auf die Z u k u n f t verweist. D e r E n t w u r f seines Antwortschreibens, das er mit Bleistift auf der letzten Seite v o n Trubetzkoys Brief konzipierte, hat folgenden W o r t laut: Antw. 7.8. Dank - gerne bereit mitzuarbeiten - in nächster Zeit aber kaum aktiv ... , so sehr mich die Wahl ehrt u. so gerne ich bereit bin nach Kräften mitzuarbeiten, so möchte ich doch bitten, dass die Herren, die mich durch ihre Wahl auszeichneten, sich dadurch nicht länger gebunden fühlen, wenn sich unter den dt. Sprachforschern ein Fachvertreter findet, der sich im Augenblick stärker aktiv an den speziellen Arbeiten der Phonologie beteiligen kann. 16
Dreiseitiger handschrifdicher Brief Trubetzkoys vom 10.7.1932, mit einem handschriftlichen Entwurf des Antwortschreibens von Leo Weisgerber. Für die freundliche Übersendung einer Kopie dieses wertvollen Dokuments danke ich Prof. Bernhard Weisgerber. Orthographie und Zeichensetzung in den hier wiedergegebenen Passagen folgen dem Original, Korrekturen und Ergänzungen in der Vorlage wurden übernommen. Eine Reproduktion dieses Schreibens findet sich im dokumentarischen Anhang zu diesem Kapitel.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
333
Auch in seiner Lehrtätigkeit fand Weisgerbers „lebhaftes Interesse" an der Entwicklung der Phonologie einen Niederschlag. Im Vorlesungsverzeichnis der Universität Rostock für das Sommersemester 1932 kündigte Weisgerber unter anderem ein offensichtlich zweiteiliges „sprachwissenschaftliches Seminar" mit den auch in dieser Zusammenstellung sehr bemerkenswerten Teilthemen an: a.)
W . v o n H u m b o l d t s Untersuchungen über die Sprache
b.)
Besprechung neuerer Arbeiten über Lautlehre und Lautwandel (Phonologie) 1 7
Offensichtlich hat Weisgerber die Phonologie in einem engen Zusammenhang mit der Sprachkonzeption Wilhelm von Humboldts gesehen. Aus Dokumenten des Prager Archivs der Akademie geht außerdem hervor, dass Weisgerber ebenfalls im Jahr 1932 die gerade erschienene Mathesius-Festschrift zugesandt bekommen hat und später wegen der Bezahlung angemahnt worden ist.18 In einem Schreiben vom Frühjahr 1932 rechtfertigt der Prager Linguistik-Zirkel seine Auffassung der Phonologie gegenüber der Redaktion des Lexikons Ottüv slovnik naucny unter anderem mit dem Verweis auf „hervorragende Sprachwissenschaftler im Ausland", die in ihren Arbeiten und Berichten eben diese Auffassung zugrundegelegt hätten. In einer Reihe mit Antoine Meillet, Joseph Vendryes, Albert W. de Groot, Charles Bally und anderen wird hier auch Weisgerber als Gewährsmann benannt. 19 Im Jahr 1933 bekam Weisgerber ein Heft mit den Beiträgen von Zirkel-Mitgliedern zur Amsterdamer Phonetik-Konferenz gleich nach Erscheinen zugesandt. 20 In einem Brief Havräneks an vermutlich Trnka vom April 1933 findet sich Weisgerbers Name in einer kurzen Liste von Perso17 18
19 20
Vgl. das entsprechende Vorlesungsverzeichnis der Universität Rostock, Univ.-Archiv Rostock. Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenario ab disäpulis et tirculi linguistic! pragensis sodalibtis oblata. Prag 1932. Vgl. die handschriftlich annotierte, fünfseitige Adressenliste „Adresy k rozesiläni Charisterii", Weisgerbers Name findet sich hier unter 36 „Adresy zahranicni" [Ausländischen Adressen] mit einem handschriftlichen Mahnungsvermerk (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4) sowie auf einer zweiseitigen handschriftlichen Liste „Upominky za Charisteria" [Mahnungen für Charisteria] (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 23). Durchschlag eines zweiseitigen undatierten Schreibens an die Redaktion des Lexikons mit maschinenschriftlichem Briefkopf des Prazsky Linguisticky Krouzek (AAVCR/ PLK/ Kart. 3/ i.e. 19). Conferences des membres du Cercle linguistique de Prague au Congres des sciences phonetiques (Amsterdam 1932). 1933. Uber die Entwicklung der Phonologie hat sich Weisgerber auch mit Hilfe der Kongressakten der ersten vier internationalen Linguistenkongresse (1928, 1931, 1933, 1936) informieren können, die nach Auskunft Prof. Bernhard Weisgerbers mit den dazugehörigen Propositions im Nachlass seines Vaters erhalten sind.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
nen, denen das gerade ausgelieferte Heft mit besonderer Priorität zugeschickt werden sollte, „weil einige von ihnen es schon angefordert haben" 21 . In einem weiteren Schreiben ebenfalls zur Versendung der Amsterdamer Vorträge wird Weisgerber von Trnka unter die „pratele Krouzku", die „Freunde des Zirkels" gezählt. 22 Für die folgenden Jahre finden sich in den mir zugänglichen Dokumenten und Texten kaum noch Belege für Kontakte zwischen Weisgerber und dem Prager Linguistik-Zirkel. Zwei Adressenlisten, die seinen Namen aufführen und die sich auf die Zeit nach 1932 bzw. 1932 bis 1935 datieren lassen, geben immerhin einen Hinweis, dass Weisgerber auch in diesen Jahren noch potentieller Ansprechpartner für die Prager Linguisten blieb. 23 Die beiden seit 1935 akribisch geführten Hefte mit Nachweisen über eingegangene und abgeschickte Korrespondenz 24 verzeichnen dann aber keinerlei Kontakte zwischen Weisgerber und dem Sekretariat des Linguistik-Zirkels, besagen jedoch natürlich nichts über den persönlichen BriefVerkehr anderer Angehöriger des Prager Zirkels. Ein gewichtiger Beleg dafür, dass die Verbindung nach Prag auch nach 1933 keinesfalls abgerissen ist, steht dann wieder in unmittelbarem Zusammenhang mit der Phonologie. Am Rande des vierten Internationalen Linguistenkongresses in Kopenhagen beschloss die inzwischen stark angewachsene „Internationale Phonologische Arbeitsgemeinschaft" 1936 eine organisatorische Aufgliederung in „separate national groups, holding normally a joint general meeting along with the International Congress of Linguists" 25 . Weisgerber, der auf dem Kopenhagener Linguistenkongress eines der Hauptreferate hielt, wird in derselben Sitzung „for the period 1936-9", also für die Zeit bis zum nächsten Linguistenkongress, wiederum in das „Executive Committee" (Twadell 1936: 311) der Arbeitsgemeinschaft gewählt. Er ist wieder der einzige deutsche Sprachwissenschaftler in dem nun auf zwölf Personen erweiterten Leitungsausschuss und dürfte dementsprechend als der Verantwortliche für den Aufbau einer deutschen 21 22
23
24 25
Brief Havräneks an einen nicht namentlich genannten Adressaten (vermutlich Trnka), datiert mit „V Brne 27.4.1933" (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 18). Brief Trnkas, Prag, den 28. 4. 1933, an einen nicht namentlich genannten „Mily pane doktore" (vielleicht Josef Vachek). In diesem Brief wird Havräneks Bitte zur Versendung des Heftes weitergeleitet. Unter den achtzehn genannten „Freunden des Zirkels" werden aus Deutschland neben Weisgerber nur Max Vasmer, Karl Bühler und Alfred Schmitt aufgeführt (AAVCR/ PLK/ Kart. 2/ i.e. 19). Vgl. den einseitigen, handschriftlich ergänzten „Adresär", der frühestens im Jahre 1932 zusammengestellt worden ist (AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 4) und die auf drei Blättern engzeilig geschriebene alphabetische Liste mit 131 in- und ausländischen Adressen, die auf die Zeit zwischen 1932 und 1935 zu datieren ist (a.a.O.). AAVCR/ PLK/ Kart. 1/ i.e. 1 und 2: zwei schwarze Hefte „Odeslane dopisy. Vymena publikaci. 1935-41" und „Dosle dopisy 1935-53". Sitzungsbericht William F. Twadells (1936: 311).
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
335
Sektion der phonologischen Arbeitsgemeinschaft vorgesehen gewesen sein. Auch wenn es in Deutschland — wie in einigen anderen beteiligten Ländern - bis 1938 offensichtlich nicht zum Aufbau einer arbeitsfähigen Ländergruppe gekommen ist,26 muss für die Person Weisgerbers doch ausdrücklich festgehalten werden, dass er jedenfalls noch im Jahr 1936 eine langfristige und aktive Mitarbeit in der „Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft" angestrebt hat und von den anderen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft mit entsprechenden Funktionen betraut worden ist. Auch wenn die hier skizzierte Chronologie der Beziehung zwischen Weisgerber und Angehörigen der Prager Schule äußerst fragmentarisch bleiben musste, dürfte doch erkennbar geworden sein, dass die anfangs zitierte, kleine Briefkarte von 1930 keineswegs ein isoliertes und versprengtes Einzelexemplar darstellt, sondern Bruchstück einer langjährigen Verbindung ist. Gerade auch die jahrelange Mitwirkung Weisgerbers in der Phonologischen Arbeitsgemeinschaft ist ohne eine halbwegs regelmäßige Korrespondenz zwischen ihm und der organisatorischen Kerngruppe der Vereinigung - Trubetzkoy, Mathesius und Jakobson 27 — nicht vorstellbar. Schon auf der Basis der hier zusammengestellten lückenhaften Belege lässt sich also Stempels eher vorsichtig formulierte Feststellung, Weisgerber habe „gegenüber der neuen Disziplin der Phonologie eine gewisse Aufgeschlossenheit" (Stempel 1978: 21) gezeigt, bestätigen und — mit Weisgerbers eigenen Worten — noch bekräftigen: Weisgerber hat die Entwicklung dieser neuen Disziplin von ihren ersten Anfängen an bis mindestens in die Mitte der dreißiger Jahre offensichtlich „mit Aufmerksamkeit verfolg[t]". Er hat sich darüber hinaus, was ungleich erstaunlicher ist, unmittelbar in das organisatorische Zentrum der Phonologie eingereiht, von welchem aus die neue Forschungsrichtung international ausgedehnt und koordiniert werden sollte,28 und als langjähriges Mitglied des Komitees der phonologischen Arbeitsgemeinschaft auch organisatorisch „an der Förderung aller phonologischen Probleme" mitgewirkt. An den konkreten Ergebnissen oder gar einer eigenen Anwendung des phonologischen Ansatzes bei der Analyse der Lautstruktur einzelner 26 27
28
Vgl. den Bericht Andre Martinets in den Akten des dritten Internationalen PhonetikKongresses, Martinet (1939: 511). Diese drei zeichnen bis 1938 regelmäßig als Sekretäre bzw. als Schatzmeister der Organisation. Erst nach dem Tod Trubetzkoys übernahm Martinet die Funktion eines Sekretärs. Trubetzkoy (o. J.) erklärt „die Frage der Organisierung der phonologischen Arbeit zu einer Lebensfrage der Phonologie" (ebd.: 57), eben diese Frage sollte mit der Gründung der Internationalen Phonologischen Arbeitsgemeinschaft positiv entschieden werden, vgl. 2.3.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Sprachen hatte Weisgerber selbst gleichwohl kaum Interesse, die „Untersuchung des Lautlichen" ist für seine Sprachinhaltsforschung ausdrücklich allenfalls Ausgangspunkt, nicht Endziel' (Weisgerber 1930b: 253). Nur seine unveröffentlichte Habilitationsschrift, Sprache als gesellschaftliche Urkenntnisform,29 widmet sich mit einem 24-seitigen Eingangskapitel und einzelnen Passagen zum Lautsystem eingehender auch „der physischen Seite der Sprache" 30 . Die Darstellung der Lautebene ist hier sehr eng an Eduard Sievers, Otto Jesperson und auch an de Saussure orientiert, dessen Sprachtheorie die Argumentation dieser Schrift ohnehin in ganz erstaunlichem Ausmaß prägt und trägt (s.u.). In der Anlehnung an diese drei Gewährsmänner, die auch von der Prager Schule zu den unmittelbaren Vordenkern der Phonologie gerechnet wurden, kommt Weisgerber zu einer Darstellung, die bereits sehr große Nähe zu späteren Prager Formulierungen aufweist: Vom sprachlichen Standpunkt aus ist das Lautproblem nicht formal zu fassen, sondern funktionell: die wirkliche Rolle der Laute kann man nur erkennen aus einer Betrachtung des Lautsystems. (Weisgerber 1925: 23)
Für das Verhältnis der Laute innerhalb dieses Systems werden dann schon — mit Jesperson — „Gegensätzlichkeit" (ebd.) und „die ,negative Bestimmtheit' Saussures" zugrundegelegt und die Analyse der jeweiligen „Struktur eines Lautsystems" (ebd.: 126) gefordert. Kaum eine der sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die Weisgerber in den zwanziger und dreißiger Jahren veröffentlicht hat, geht dann aber noch mehr als nur andeutungsweise auf lautliche Fragestellungen ein.31 Die Tatsache, dass Weisgerber jahrelang an der Entwicklung und Durchsetzung der Phonologie Anteil genommen hat, ohne dass er deren konkrete Arbeitsergebnisse im Rahmen des eigenen Ansatzes verwerten konnte, deutet darauf hin, dass die „überraschende Gemeinsamkeit der Anschauungen", die er bei der ersten Begegnung mit den Prager Linguisten entdeckte, weit über ähnliche Auffassungen sprachlicher Lauterscheinungen hinausreichte und sich vor allem auch auf allgemein methodologische und sprachtheoretische Ubereinstimmungen mit der Prager Schule erstreckte. Da sich in den zeitgenössischen Texten Weisgerbers aber wie gesagt kaum explizite Verweise auf die Prager Schule finden, müssen diese Übereinstimmungen zumeist aus den Texten selbst erschlossen werden 29 30
31
Ich danke Peter Schmitter, der mir seine private Photokopie dieser Handschrift zu Verfügung gestellt hat. Weisgerber (1925: 10-34, und z.B. 125-126). Für seine Ausführungen zur „physischen Seite" der Sprache erhebt Weisgerber ausdrücklich keinen Originalitätsanspruch, sondern bringt hier „nur der Vollständigkeit halber" die „durchweg altbekannten Tatsachen" (ebd.: 10). Eine Ausnahme stellt hier Weisgerber (1930a) mit dem schon erwähnten Referat der phonologischen Ansätze dar.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
337
und würden jeweils eingehendere Untersuchung erfordern, als hier möglich ist. Ich möchte an dieser Stelle nur in einigen Stichpunkten umreißen, in welchen Bereichen die offensichtlich wechselseitig wahrgenommenen Affinitäten gelegen haben mögen. Eine scheinbar äußerliche, aber für die Aufbruchstimmung gerade in den ersten Jahren des Kontaktes sicher wesentliche Gemeinsamkeit dürfte wohl das beiderseitige Streben nach grundlegender Erneuerung der Sprachwissenschaft gewesen sein, das in der überkommenen junggrammatischen Sprachwissenschaft ein gemeinsames ,Feindbild' ausmachte. In der Konfrontation der „Alten" und der „Jungen" 32 , zu welcher die „fruchtbare Krise der deutschen [Sprachwissenschaft" (Jakobson 1929: 151) in den zwanziger Jahren geführt hatte, ordnet sich auch Weisgerber, wenngleich mit moderateren Formulierungen als die Prager Linguisten, nachdrücklich der Seite der „Jungen" zu, indem er sein Projekt einer Sprachinhaltsforschung immer wieder gegen die junggrammatische Sprachwissenschaft abhebt, „die trotz ihrer großen Ergebnisse ihrem Gegenstand nicht gerecht wird." 33 Atomismus, Individualismus, Psychologismus und übertriebener Historismus waren die zentralen Schlagworte, auf die der Prager Zirkel seine Kritik an der junggrammatischen Schule häufig polemisch zuspitzte - in all diesen Kritikpunkten konnte der frühe Weisgerber den Prager Strukturaüsten nachdrücklich zustimmen. Aber auch bei den positiven Bezugspunkten in der Geschichte und zeitgenössischen Gegenwart der Sprachwissenschaft, die Weisgerber zur Stützung des eigenen Anliegens namhaft machte, gab es enge Berührungen mit der Prager Linguistik. So konnte Weisgerber, der in zunehmendem Maße Wert darauf legte, „seine sprachwissenschaftliche Arbeit als Erfüllung des humboldtschen Sprachdenkens" 34 darzustellen, in diesem zentralen Punkt ausdrückliche Bestätigung bei den Vertretern des Prager Linguistik-Zirkels, insbesondere bei Vilem Mathesius, finden. Auch Mathesius knüpft die angestrebte Erneuerung der Linguistik an eine Wiederbelebung der Tradition Humboldts, dessen „analytical-comparative school of linguistic research" schon im 19. Jahrhundert durch die in der Junggrammatik kulminierende „genetical-comparative school" verdrängt worden sei und erst in den neueren Strömungen der Gegenwart allmählich 32
33
34
Vgl. den symptomatischen Titel von Behaghel (1926), der als angegriffener ,Alter' „den jüngeren Herren" ihre „maßlose Übertreibung" und „ihre leichtfertige Behandlung der Tatsachen" vorhält (a.a.O.: 388 und 389). Weisgerber (1929: 3). Eine detailliertere Darstellung der „Gegensätze" zwischen „Neuromantikern" und „Positivisten" gibt beispielsweise Weisgerber (1930b: 252 253). Ivo (1994: 195). Ivo bringt hier eine umfassende Kritik der (Selbst)stilisierung Weisgerbers zum „Humboldt redivivus". Auch Hüllen (1999: 220) bezweifelt eine wirklich tief gehende Beschäftigung Weisgerbers mit Humboldt.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
wieder zu ihrer verdienten Geltung komme.35 In seiner Eröffnungsrede zur Prager Phonologiekonferenz 1930 geht Mathesius sogar soweit, für die „linguistique fonctionelle et structurale, et specialement la phonologie" eine regelrechte „Renaissance" der humboldtschen Sprachwissenschaft einzufordern, die allerdings bezeichnenderweise zu einer organischen Synthese mit der „rigeur methodique" 36 der boppschen historisch-vergleichenden Tradition finden solle. Eine weitere Übereinstimmung lag in der kritischen Adaption der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures sowohl bei den Prager Linguisten als auch bei Weisgerber, für den jedenfalls noch im Jahre 1932 „wenige Namen [...] in der Sprachwissenschaft der Nachkriegszeit eine so große Rolle [spielten] wie der des 1913 verstorbenen Genfer Sprachforschers F. de Saussure."37 Anders als seine veröffentlichten Texte, die vergleichsweise spät und selten auf den Cours de linguistique generale verweisen, dokumentiert Weisgerbers bis heute unveröffentlichte Habilitationsschrift die überragende Bedeutung de Saussures für die Entwicklung seines sprachwissenschaftlichen Ansatzes. Die Grundzüge der Sprachinhaltsforschung werden in dieser Handschrift in intensiver und kritischer Auseinandersetzung mit dem Cours de Saussures entworfen.38 Die wichtigsten Anknüpfungspunkte, auf die zum Teil auch der späte Weisgerber noch explizit verweist, sind etwa folgende: Weisgerber sieht seine Sprachinhaltsforschung selbst als Teil der „Strömungen der beschreibenden Sprachforschung", die „in Korrespondenz zu den weltweiten Wirkungen de Saussures" (Weisgerber 1973: 19) auch in Deutschland entstanden seien. Wie „die soziologische Sprachbetrachtung namentlich in Paris und G e n f (Weisgerber 1931: 593) hebt auch Weisgerber „den sozialen Grundcharakter alles Sprachlichen hervor[...]" (Weisgerber 1932: 195). Seine Habilitationsschrift stützt den 35 36
37
38
Vgl. schon Mathesius (1926). Mathesius (1931a: 292), unmittelbar darauf schließt Mathesius seine Rede nach einem bemerkenswerten Code-switching ins Deutsche mit den pathetischen Worten: „Das ist der Geist, in dem unsere Konferenz nach meiner Ansicht arbeiten soll und arbeiten will; und in diesem Geiste erkläre ich die Phonologische Konferenz für eröffnet" (ebd.: 292-293), vgl. den Vortrag vom zweiten Linguistenkongress, Mathesius (1931b). Für ähnliche Rekurse auf Humboldt ließen sich auch bei anderen Autoren des Prager Zirkels leicht Belege anführen; die Humboldt-Rezeption der Prager Schule wäre dringend einmal systematisch zu untersuchen. Weisgerber (1931/32: 248). Zur Saussure-Rezeption bei Weisgerber und Trier vgl. schon Stempel (1978: 15-23) oder Thilo (1989: 160-171). Eine knappe Übersicht über die Literatur zu diesem Verhältnis bringt Scheerer (1980: 39-43). Uber viele Seiten hinweg werden hier immer wieder einzelne Passagen des Cours zitierend oder paraphrasierend aufgegriffen und mit kritischer Kommentierung dem eigenen Argumentationsgang eingefügt, vgl. dazu detailliert Ehlers (2000c). Als Dokument einer äußerst intensiven und detaillierten Saussure-Rezeption wirft Weisgerbers Habilitationsschrift ein neues Schlaglicht auf die Bedeutung de Saussures für die deutsche Sprachwissenschaft der zwanziger Jahre, vgl. 1.3.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
339
Alfred Vierkandt entlehnten soziologischen Begriff des „sozialen Objektivgebildes" sprachwissenschaftlich durch Verweise auf de Saussure (Weisgerber 1925: 122-123). Für die der inhaltbezogenen Grammatik integrierten Wortfeldtheorie war nach späteren Aussagen Weisgerbers „am wirksamsten [...] der Anstoß, der sich aus dem Systemgedanken ergab" (Weisgerber 1961: 42). Und noch in den 70er Jahren wird „der seit Saussure in der Luft liegende Gedanke der wechselseitigen Abhängigkeit" (Weisgerber 1975: 17) als immerhin möglicher Einfluss auf die Entwicklung der Wortfeldtheorie angeführt. Die Habilitationsschrift belegt, dass die Wortfeldtheorie bei Weisgerber tatsächlich auf der Basis des saussureschen Zeichen- und Wertbegriffs 39 zunächst als eine Wort.ijj/^th eorie entfaltet worden ist. Überhaupt orientieren sich Habilitationsschrift wie frühe Veröffentlichungen Weisgerbers immer wieder im Rahmen der sprachtheoretischen Begrifflichkeit beispielsweise von Synchronic und Diachronie oder der Unterscheidung von langage, langue und parole (z.B. Weisgerber 1931/32: 249). Der gemeinsame Bezug auf diese und andere Grundbegriffe der Sprachtheorie de Saussures dürfte ein wichtiges Bindeglied zwischen Weisgerbers Sprachinhaltsforschung und der Prager Phonologie gewesen sein. Demgemäß wird die Phonologie von Weisgerber sehr früh als erste konsequente, wenn auch begrenzte (und daher wohl ergänzungsbedürftige) Umsetzung der saussureschen Theoreme angesehen: Es war ein Grundgedanke F. de Saussures, daß jedes Sprachmittel in seiner Funktion und seinem Wert nur aus dem System, dem es angehört, verstanden werden kann; diesen Grundgedanken führt für ein Teilgebiet der Sprache, nämlich die Laute, die neu aufgekommene Forschungsrichtung der Phonologie durch. (Weisgerber 1931: 598) In die „Reihe der in jüngster Zeit aufgekommenen Forschungsrichtungen", die sich zu de Saussure „bekennen", stellt Weisgerber denn auch unmittelbar neben „die Phonologie, die in kurzer Zeit eine vielseitige und erfolgreiche Tätigkeit geleistet hat", Jost Triers „Betrachtung des Wortschatzes nach Wortfeldern" (Weisgerber 1931/32: 248). Der späte Weisgerber weist aber, wie Trier selbst, entschieden den Gedanken zurück, die Phonologie habe der Wortfeldtheorie zum unmittelbaren Vorbild gedient, und legt Wert darauf, deren Parallelität als Ergebnis unabhängiger Entwicklungen gleichen Ursprungs zur gleichen Zeit verstanden zu wissen:
39
Vgl. besonders die intensive Auseinandersetzung mit de Saussures Argumentationen zu Wort und Zeichen in Weisgerber (1925: 41-60), die Weisgerber hier versucht, mit dem Begriff der „Wortkomplikation" bei Wilhelm Wundt zu vermitteln. In veröffentlichten Texten ist dieser Saussure-Bezug am deutlichsten in Weisgerber (1929: 34 und 57-58). Zur Zeichenkonzeption bei Weisgerber und de Saussure vgl. Schmitter (1983).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Während die ersten Auswirkungen [von Saussures Systemgedanken] sich in der Betrachtung der Laute durchsetzten (Phonologie), wurden seine entsprechenden Hinweise auf den Wortschatz für die Erforschung des Wortinhalts wichtig. (Weisgerber 1961: 42)
In ihrer gemeinsamen Herkunft aus den Lehren de Saussures findet die inhaltbezogene Wortfeldtheorie hier in der Phonologie „das gestaltbezogene Gegenstück" 40 . Diese Affinität zwischen Phonologie und Wortfeldtheorie, die Weisgerber als „ein methodisches Verfahren der inhaltsbezogenen Grammatik" (Weisgerber 1961: 43) integriert hatte, sind von Zeit- und Weggenossen der frühen Sprachinhaltsforschung wie Fritz Stroh ebenfalls gesehen worden: Der neue Sprachbegriff ist ganzheitlich bestimmt, und die auf ihm beruhende Bedeutungslehre ist der vom phonologischen Standpunkt aus betrachteten Laudehre, die im Gegensatz zu der atomistischen Einstellung immer auf die sinnvolle Umgliederung des phonologischen Gefuges gerichtet ist, methodologisch verwandt. (Stroh 1934: 240)
Auch für Stroh verdankt sich diese ,Verwandtschaft' vor allem dem Einfluss de Saussures, denn für den neuen Sprachbegriff, der sich hier wie dort artikuliere, sind für Stroh „besonders die Anschauungen F. de Saussures [...] von der Sprache als Zeichensystem fruchtbar geworden" (ebd.: 231). Noch die rassistisch motivierte Kritik der Wortfeldtheorie bei Edgar Glässer erkennt sehr klar, dass sich der Feldgedanke und „die neuzeitliche Phonologie" im Prinzip der gegenseitigen Delimitation berühren (Glässer 1939: 90). Aber die Gemeinsamkeiten, die der junge Weisgerber mit den Anschauungen der Prager Schule entdecken konnte, reichten zum Teil auch deutlich über das gemeinsame Fundament hinaus, das die Sprachtheorie de Saussures bot. Sie berührten vielmehr gerade auch solche Grundsätze, mit denen die Prager Linguistik über die Vorgaben des Cours de linguistique generale hinausging. Hier wäre zum einen an das Gewicht zu erinnern, das dem Begriff der Funktion bzw. der „Leistung" 41 im Frühwerk Weisgerbers zukam. Schon zwei Jahre vor der ersten Begegnung mit Vertretern des Prager Zirkels 40
41
Weisgerber (1975: 20). Und nur die Kontroversen um den Feldbegriff, so scheint noch der späte Weisgerber zu glauben, haben dieser „auf die inhaltliche Sprachseite gerichteten Strömung" „die Stoßkraft" genommen, mit welcher die Phonologie seinerzeit ihren „international erstaunlichen Auftrieb gewann" (ebd.: 20-21). Auch wenn Weisgerber rückblickend sehr richtig „vermute[t], daß zwischen dem Denken in Funktionen und dem Denken in Leistungen noch mehr steckt als nur ein Unterschied zwischen fremdem und einheimischem Wort" (Weisgerber 1961: 36), sind beide Begriffe in seinem Frühwerk noch weitgehend deckungsgleich, wenn er dort auch zumeist das „einheimische Wort" bevorzugt.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
341
hatte Weisgerber „der Sprache, als einem Kulturgut, [...] eine überpersönliche, funktionale Realität" (Weisgerber 1926: 242) zuerkannt. Und in einem Rückblick auf „den Entwicklungsgang der deutschen Sprachwissenschaft der Nachkriegszeit" lässt er 1934 „die ganze innere Umwandlung unserer Arbeit in den letzten 15 Jahren" in deutlicher Entgegensetzung zur junggrammatischen Sprachwissenschaft auf die „Frage nach derheistung der sprachlichen Gebilde" zulaufen: Wir hatten vor uns die umfassenden und achtunggebietenden Ergebnisse beschreibender, vergleichender, geschichtlicher Sprachforschung, so wie sie in Wörterbüchern und Grammatiken verschiedenster Art niedergelegt sind, und wir fragten uns: Wozu ist denn dieser ganze Reichtum an lautsprachlichen Mitteln da, was haben diese Bezeichnungen, diese grammatischen Gebilde zu leisten? (Weisgerber 1934a: 289)
Auch wenn Weisgerbers Antwort auf diese Frage schon damals erheblich von der der Prager Schule abwich, ist ihm die Gemeinsamkeit der neuen sprachwissenschaftlichen Fragestellung doch derart bedeutsam erschienen, dass er Wert darauf legte, dass „auch mancherlei ähnliche Gedanken bei deutschen Autoren" „hineingehören in die gesamte Hinwendung zur funktionalen Sprachforschung" 42 , welche die Prager Schule gerade an den „lautsprachlichen Mitteln" exemplarisch durchsetzte. Eine auffallende grammatiktheoretische Gemeinsamkeit, zu der die funktionalen bzw. leistungsbezogenen Ansätze bei Weisgerber und dem Prager Zirkel finden, ist auch von ferner stehenden Zeitgenossen sogleich vermerkt worden. Otto Behaghel schreibt in seiner kritischen Rezension zum ersten Band der Travaux im Jahr 1930: Mit Vergnügen lese ich in den „Theses" den Satz l'existence autonome du mot est chose tout-ä-fait evidente, eine Lehre, die neuerdings Weisgerber in seiner Schrift über Muttersprache und Geistesbildung eindruckvoll begründet hat, gegenüber der Behauptung, dass der Satz das ursprünglich Bestehende, das Wort nur eine Abstraktion sei. 43
Dieser Hinweis deckt eine weit gehende Parallele vor allem zu frühen Arbeiten von Vilem Mathesius auf, der auch die hier zitierte These 2b) der bekannten Prager Thesen von 1929 verfasst hat.44 Durchaus vergleichbar mit Weisgerber und in ähnlicher Abgrenzung zur Junggrammatik begründet sich bei Mathesius die Argumentation für „l'existence autonome du 42
43 44
Weisgerber (1930a: 31). Auch für Mathesius ist die Entwicklung der Phonologie nur „ein lehrreiches Beispiel" für „das Durchdringen des funktionellen Standpunktes" und die „Umkehr" in der Sprachwissenschaft, während zugleich „an verschiedenen und weit auseinanderliegenden Orten verwandte Gedanken unabhängig auftauchen" (Mathesius 1929: 432). Behaghel (1930: 328). Behaghel bezieht sich hier auf Weisgerber (1929: 12ff.), vgl. in expliziter Abgrenzung zur Satzauffassung Karl Brugmanns ebd.: 152. Vgl. Rudy (1990: 11).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
mot" in einer Akzentsetzung auf die sprachlichen Voraussetzungen, die dem konkret geäußerten Satz voraufgehen. Hier sieht Mathesius zwei grundlegende sprachliche Aktivitäten, die zugleich die Dimensionen der Grammatik vorgeben: I am fully persuaded that a complete system of functional grammar can be built upon the analysis of the two fundamental linguistic activities, the semantic activity of giving names and the syntactic activity of putting the names into mutual relations. (Mathesius 1926: 199)
Beide Aktivitäten finden in der Grammatik einer einzelnen Sprache ihren Niederschlag als „ihr besonderes Benennungssystem" und in untereinander zusammenhängenden „syntagmatischen Formen" 45 . Bei Weisgerber hat die „innere Form" von Sprachen ebenfalls nur zwei „Grundelemente": „die begriffliche ,Aufteilung' der Welt" und die Dimension der „syntaktischen Fügung" 46 , die auch bei ihm den Aufbau der Sprachforschung vorgeben: Es gibt zwei Arten von Sprachmitteln: Wörter und syntaktische Mittel, und demgemäß kann es nur zwei Hauptgebiete der Sprachforschung geben: Wortlehre und Syntax; in diese gliedern sich die einzelnen Unterdisziplinen ein. (Weisgerber 1930b: 253)
Bemerkenswert ist, dass auch Mathesius den beiden Achsen seiner funktionalen Grammatik deutlich dynamischen Charakter zuspricht und damit gerade im Falle der „Benennungstätigkeit" mitunter zu Formulierungen kommt, die stark an die „energetische" Sprachauffassung Weisgerbers anklingen: Par l'acrivifc denominatrice, le langage decompose la realite, qu'elle soit externe ou interne, reelle ou abstraite, en elements linguistiquement saisissables. 47
Eine noch weiter reichende Übereinstimmung in der Wortkonzeption zwischen den Prager Thesen und Weisgerbers Muttersprache und Geistesbildung aber entging Behaghel, der den „Grundgedanke [n] der Prager Herren", die Sprache als System von Ausdrucksmitteln aufzufassen, allenfalls „in der eingeschränkten Anwendung auf die Lautebene" (Behaghel 1930: 327) akzeptieren wollte. Hier wie dort wird nämlich „das Prinzip der gegenseitigen Abgrenzung" in einem bei de Saussure noch ungekannten Ausmaß auf das Verhältnis der Wörter im Wortschatz insgesamt ausge45 46 47
Vgl. „Theses" (1929: 12,13), deutsch nach Scharnhorst/Ising (Hrsg. 1976: 49, 50). Im Original gesperrt. Weisgerber (1926: 250-251), im Original gesperrt. Weisgerber beruft sich bei dieser Zweiteilung auf Humboldt, der auch bei Mathesius im Hintergrund stehen dürfte. „Theses" (1929: 12). Derartige Aussagen finden sich in Texten der Prager Schule freilich nicht an zentraler Stelle. Schon die passagenweise mit der These 2b) identische Formulierung in Mathesius (1971 [1929]: 12) spart den zitierten Satz aus.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
343
dehnt und dieser übereinstimmend als „ein komplexes System von Wörtern [begriffen], die alle auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden sind und zueinander in Gegensatz stehen"48. Genau wie bei Weisgerber sieht auch die von Trubetzkoy formulierte achte Prager These „die Bedeutung eines Wortes [...] durch dessen Beziehung zu den anderen Wörtern desselben Lexikons bestimmt" und zieht daraus die methodologische Konsequenz, dass man „den Platz eines Wortes in einem lexikalischen System nur bestimmen [kann], nachdem man die Struktur des genannten Systems untersucht hat." 49 Während Weisgerber „Wortsysteme" wie die Farbennamen oder die Verwandtschaftsbezeichnungen immer wieder anführt, um den sozialen bzw. sprachlichen Charakter auch der Wort-Inhalte sowie deren Erkenntnisfunktion beispielhaft zu belegen, projektiert Trubetzkoy hier für die Slawistik ein internationales lexikographisches Arbeitsprogramm im Sinne eines umfassenden synchronen Strukturvergleichs. 50 Unabhängig davon, ob man die frappierenden Ubereinstimmungen im Grundsätzlichen aus den beiderseits zugrundeliegenden Vorgaben de Saussures oder gar durch direkte einseitige Beeinflussung erklären wird, bleibt festzuhalten, dass die achte der Prager Thesen von 1929 im unmittelbaren Kontext der Herausbildung der deutschen Wortfeldforschung steht. Die Prager Phonologie im Besonderen erweckte das Interesse Weisgerbers offensichtlich vor allem durch das an sie geknüpfte Modell des Sprachwandels. Gerade an der Evolution phonologischer Systeme hatten Mitglieder des Zirkels ja ihre Konzeption der sprachlichen Diachronie auf dem Haager Linguistenkongress veranschaulicht und kritisch nicht nur gegen die Junggrammatiker, sondern auch gegen de Saussure abgesetzt. 51 Die beiden einzigen detaillierteren Darstellungen der Phonologie, die mir im Frühwerk Weisgerbers begegnet sind, finden denn auch gerade im
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Entsprechend sieht Weisgerber den Wortschatz als „Wortsystem, bestehend aus Namen und Begriffen" (Weisgerber (1928): 53 und mit explizitem Bezug auf de Saussure 57ff.). Auch Behaghels wenig später erschienene euphorische Besprechung von Muttersprache und Geistesbildung geht auf diesen Punkt nicht ein und spricht bezeichnenderweise nur von der „Summe der Wörter", vgl. Behaghel (1931a: 79). „Theses" (1929: 26-27), hier deutsch nach Scharnhorst/Ising (Hrsg. 1976: 64-65). Vgl. entsprechend in Weisgerber (1929: 64-65): „Ein Wort erhält in der Sprache seine Bestimmtheit durch das System, dem es angehört, und so muß auch die Definition das ganze System berücksichtigen." Dieses Projekt wird in der klassischen Prager Linguistik nicht weiter verfolgt, die konkreten Wortfeldanalysen deutscher Sprachwissenschaftler sind dagegen in den dreißiger Jahren ganz überwiegend diachronisch orientiert. Vgl. die berühmte „Proposition 22" von Jakobson, Karcevskij und Trubetzkoy in den Akten des ersten Internationalen Linguistenkongresses 0akobson/Karcevskij/Trubetzkoy 1930).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
Kontext von Erörterungen zur sprachlichen Diachronie ihren Platz. 52 In überraschenden Anklängen an entsprechende Prager Formulierungen polemisiert Weisgerber hier gegen „mechanische und individualpsychologische Anschauungen" 53 und betont, „für die Sprachwissenschaft [könne] als Sprachwandel nur gelten eine Veränderung, die sich in einer Sprache, dem Kulturbesitz einer Sprachgemeinschaft vollzogen hat" (Weisgerber 1930a: 38). Sowohl „die Ausbreitung einer Neuerung", als „auch die Entstehung einer sprachlichen Neuerung" könne „demgemäß nur bei soziologischer Betrachtungsweise erklärt werden" (Weisgerber 1931: 597). Gegen die bisherige Sprachforschung, die nach Weisgerber „noch zu stark mit der Annahme zufälligen Geschehens" arbeite, sieht Weisgerber „im Sprachwandel große Zusammenhänge, Entwicklungsrichtungen" wirken und formuliert ähnlich wie die Prager Linguistik ein Modell relativ autonomer, immanenter Entwicklungsgesetze für die Sprache: Das besagt also, daß aus dem Bau einer Sprache, aus der Struktur dieses Kulturgutes selbst heraus Kräfte wirksam werden, die die Sprachentwicklung beeinflussen, entweder indem sie selbst sprachliche Neuerungen hervorrufen, oder indem sie die Auswahl unter den Anstößen von außen bestimmen. Ihr A^orhandensein, zum mindesten als eine Quelle sprachlicher Neuerungen ist unbestreitbar. (Weisgerber 1931: 598) Als Beleg und Bestätigung dieses Modells, das sich im Übrigen sehr stark auf Vierkandts Theorie des Kulturwandels stützt (Vierkandt 1908), dienen Weisgerber hier die Prager Ansätze der historischen Phonologie. Weisgerber selbst bricht am Anfang der dreißiger Jahre die Erörterung zum Sprachwandel ab und überlässt es Jost Trier, die Parallele zwischen Feldgliederungswandel und historischer Phonologie weiter zu verfolgen (vgl. 4.3). Noch nach 1933 nutzt Weisgerber aber einen Hinweis auf den „Versuch der Phonologie, die organische Bedingtheit der verschiedenen Lautveränderungen vom Ganzen des Lautsystems aus zu fassen" (Weisgerber 1934b: 176), als vorsichtigen Einwand gegen die These von der Rassebedingtheit des Lautwandels. Auf die Frage, ob „die Ideologie der deutschen Rechten, nazistisch oder vornazistisch, in den dreißiger Jahren Stellung gegen den Prager Linguistenkreis" bezogen habe, antwortet Roman Jakobson 1966: Ja. Wir wurden von nazistischen Linguisten wie Leo Weisgerber angegriffen. (Faye 1966: 45)
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Weisgerbers zentrale These von der Sprache als gesellschaftlicher Erkenntnisform war in der Habilitationsschrift noch „als Einleitung zu einer Theorie des Sprachwandels" entwickelt worden und löste sich erst später weitgehend aus der Einbettung in dieses diachronische Leitinteresse. Vgl. den Titel von Weisgerber (1925). Weisgerber (1931: 597). In ders. (1930a) argumentiert Weisgerber insbesondere gegen die „individualistische Betrachtung des Sprachwandels" bei Hermann Paul.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
345
Für einen solchen Angriff gibt es in den mir bekannten Texten Weisgerbers aus den dreißiger Jahren keinen Beleg. Immerhin mag Jakobsons Aussage als deutliches Zeichen tief empfundener Differenzen gelesen werden und kann vielleicht auch einen groben zeitlichen Anhaltspunkt dafür geben, wann das Bewusstsein der Differenzen das von Gemeinsamkeiten endgültig überwogen haben mag. Jakobsons Aussage zeigt auch, dass in die Trennung der ehemaligen „Kämpfer für eine gemeinsame Sache" nicht zuletzt politische Umstände hineinspielten. Schon bei der gemeinsamen Arbeit in der vom zweiten Linguistenkongress eingesetzten Terminologiekommission scheint man sich der grundsätzlichen Unterschiede in den Sprachauffassungen bewusst geworden zu sein. Weisgerber berichtet 1933, dass in dieser Kommission „die Ansichten darüber, was zur Fesdegung und internationalen Angleichung der Terminologie nötig ist, noch weit auseinandergehen", und er selbst äußert Zweifel, „ob es überhaupt möglich ist, auf der Grundlage unseres bisherigen Wissens über die Terminologie eine internationale Angleichung des Gebrauchs der Fachausdrücke für einzelne Teilgebiete zu erreichen" (Weisgerber 1933: 13). Es ist zu vermuten, dass die Meinungsverschiedenheiten sich hier weniger an Fragen der praktischen Umsetzung entzündeten, als sich vielmehr darin begründeten, dass Wesen und Rolle der wissenschaftlichen Terminologie innerhalb der Kommission überhaupt unter ganz verschiedenen sprachtheoretischen Voraussetzungen gesehen worden sind. Gerade die Frage wissenschaftlicher Begriffsbildung ist denn auch der Punkt, an dem drei Jahre später ein Vertreter des Prager Zirkels entschieden mit der Sprachauffassung Weisgerbers bricht. Im Anschluss an Weisgerbers Hauptreferat zur „Sprache und Begriffsbildung" auf dem Kopenhagener Linguistenkongress widerspricht Jan Mukarovsky in einem Diskussionsbeitrag Weisgerbers These, auch die wissenschaftlichen Formen der Begriffsbildung seien „an die einzelnen Sprachgemeinschaften gebunden [..]" und durch das „Gesetz der Sprachgemeinschaft" strikt einzelsprachlich fundiert (Weisgerber 1938: 39): II me semble que M.Weisgerber simplifie l'etat reel des choses en identifiant la pensee avec langue. La pensee, surtout sous sa forme plus pure, comme pensee scientifique, surpasse toute langue singuliere, il va de soi qu'elle n'est pas situee hors du temps, mais l'histoire de la pensee humaine ne fait partie de l'histoire d'aucune langue singuliere.54 Nach einem tschechischen Kongressbericht Jakobsons hat Mukarovsky seinen Diskussionsbeitrag in der polemischen Frage gipfeln lassen, „wozu 54
Mukarovsky stützt seinen Einwand im Weiteren mit einem Verweis auf den phänomenologischen Begriff des „intentionalen Objekts", Actes duQuatrieme Congres international de Ungutstes tenu ä Copenhague du 27 aoüt au 1er septembre 1936. Copenhague 1938: 40.
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
denn internationale Kongresse dienen sollten, wenn es den einzelnen Sprachgemeinschaften nicht vergönnt ist, gleiche Begriffe zu finden und sich so zu verständigen" (Jakobson 1936: 167).55 Diese rhetorische Spitze sei vom anwesenden Kongresspublikum „mit spontanem Applaus" bedacht worden (ebd.). Der Einwand, den Mukarovsky hier gewissermaßen stellvertretend für die Prager Schule vorbringt, 56 zielt über die Probleme wissenschaftlicher Begrifflichkeit hinaus in das Zentrum der Sprachtheorie Weisgerbers. Zum einen wird hier deutlich, dass die Auffassungen über die „funktionale Realität" der Sprache trotz verbaler Nähen zwischen Weisgerber und dem Linguistik-Zirkel erheblich auseinandergehen. Für die Prager Schule bleibt die Sprache, gerade auch dort, wo ihre Eigengesetzlichkeit betont wird, in den Rahmen einer Mittel-Zweck-Relation eingelassen und wird begriffen als „sjsteme de mojens d'expression appropries ä un bufi („Theses" 1929: 7): Mit anderen Worten, die Sprache ist ein Instrument, und ihr Wert entspricht — wie bei jedem Instrument — dem Grad, in dem sie sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben bewährt. Eine kultivierte Literatursprache ist ein feines, nie versagendes Instrument, das all den zahlreichen Funktionen gerecht wird, die es zu erfüllen hat. (Mathesius 1976 [1932]: 86)
Anders als dieses von Mathesius hier metaphorisch noch weiter entfaltete, rein ,instrumentelle' Verständnis der Sprache gipfelt bei Weisgerber der Verweis auf die „eigenständige Leistung der Muttersprache" letztlich darin, sie über den Status des ,bloßen Mittels' überhaupt zu erheben: Wo sich die Muttersprache scheinbar dem Belieben des Menschen überläßt, richtet sie in Wirklichkeit eine Machtstellung auf; wo sie scheinbar als bloßes Mittel eingesetzt wird, sichert sie tatsächlich aufs nachhaltigste die ihr obliegenden Leistungen. (Weisgerber 1939: 78)
Die eine zentrale Leistung der Sprache, „das geprägte Weltbild der Sprachgemeinschaft zu tragen", ist hier allen konkreten Verwendungszwecken vorgeordnet und gerät gegenüber diesen, wie auch gegenüber den einzelnen Sprechern, zu einer Art Zweck ihrer selbst:
55
56
„Nac tedy mezinärodni sjezdy, kdyz jednodivym jazykovym kollektivum neni dopräno najiti stejne pojmy a tedy dorozumeti se." Mit Daalder (1999: 191) ist der bei Jakobson (1936) nicht namentlich genannte „Philosoph", der die Frage stellte, eindeutig als Mukarovsky zu identifizieren. Bei Daalder werden die in Kopenhagen aufeinandertreffenden ideologischen Positionen deutscher Kongressteilnehmer und der Vertreter des Strukturalismus im Detail herausgearbeitet (ebd: 182 ff.). So hatten beispielsweise Bogatyrev/Jakobson (1929: 909) vor der „Gefahr" gewarnt, „die einer jeden geradlinigen Schlussfolgerung von einer sozialen Aeußerung zur Mentalität, z.B. von den Sprachform [sie] zu denen des Denkens [...] eigen ist". Sie berufen sich hier auch auf Anton Marty.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
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Um sie [diese Leistung] zu sichern, stellt sie sich in den Dienst der Menschen, richtiger: macht sie sich die Menschen dienstbar, um durch sie hindurch ihren Daseinszweck zu verwirklichen. Es wäre sicher richtiger, von einer Großmacht Muttersprache zu reden, von deren Vorhandensein und Auswirkungen das menschliche Leben entscheidend mitgestaltet wird, (ebd.)
Der Abstand zwischen der Metaphorisierung als „(Musikinstrument" und als „Großmacht" kann verbildlichen, wie weit die Vorstellungen über die „funktionale Realität" der Sprache bei Weisgerber und dem Prager Zirkel letztlich auseinander gingen. In unmittelbarem Zusammenhang damit divergierten auch die Auffassungen über das Verhältnis des Sprechers zu seiner Sprache. Der sprachtheoretisch begründete Anti-Subjektivismus der Prager Schule wird bei Weisgerber zu einer Ent-Mächtigung des sprechenden Subjekts gewendet, die häufig in drastischer Herrschaftsmetaphorik entwickelt ist. An die Stelle des individuellen Benutzers konventionell vorgegebener, zweckmäßiger Sprachmittel tritt bei Weisgerber „mehr der Ausfuhrende": Er ist nicht das selbstherrliche Individuum, sondern das durch die Sprache mitgeformte Glied einer Gemeinschaft, in der er durch sein sprachliches Tun teilhat an der Verwirklichung der Leistungen, die der Sprache im Volksganzen obliegen. (Weisgerber 1941: 5)
Der sprachwissenschaftliche Anti-Individualismus und das Pathos der Sprachgemeinschaft sind augenfällige Beispiele für die „Begriffspolitik und Wissenschaftsrhetorik bei Leo Weisgerber" 57 , die fachliche Argumentationsfiguren immer auf eine zusätzliche Resonanz im außerfachlichen politischen Diskurs doppelt adressieren. Dabei datiert Weisgerbers argumentative Zurücksetzung des „selbstherrlichen Individuums" hinter den „durch zahlreiche Bindungen mit anderen zusammengeschlossene[n] Sprachgefährtefn]" (Weisgerber 1964 [1932]: 392), den „schicksalsverbundene[n] Sprachgeführten" (Weisgerber 1934a: 298) schon in die Zeit vor 1933 zurück. Sie ist also keineswegs erst durch den Nationalsozialismus induziert, sondern eine sprachwissenschaftliche Argumentationsfigur, die antiliberalen Strömungen schon der Weimarer Republik korrespondierte und im Laufe der dreißiger Jahre z.B. in ihrer metaphorischen Auskleidung nur noch zugespitzt wird. Dass die gemeinsame Annahme einer überindividuellen, „funktionalen Realität" der Sprache bei Weisgerber und in der Prager Schule zu gegenläufigen Konsequenzen gebracht werden, sei noch an einem anderen Bei57
So der Titel von Knobloch (2000), in dem Weisgerbers Verfahren der doppelten Adressierung über die Jahrzehnte seiner sprachwissenschaftlichen Tätigkeit verfolgt wird. Weisgerbers Verhalten und Veröffentlichungen sind in der Vergangenheit wegen ihrer Verbindungen zum Nationalsozialismus Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen gewesen, in Hutton (1999) findet sich ein zusammenfassender Rückblick auf diese Diskussionen.
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spiel gezeigt. Für Weisgerber folgt aus der „Teilhabe an der Muttersprache notwendig die Pflicht [...], für die Erhaltung und Förderung dieses Gutes nach Kräften zu wirken" (Weisgerber 1934a: 298). Für einen vor allem auf die Sρrachgemeinschafi orientierten Ansatz zielen sprachpflegerische Bestrebungen ganz folgerichtig darauf, „die Gemeinsamkeit und Allverständlichkeit der Sprache zu wahren gegenüber allen Strömungen, die auf eine Spaltung, eine innere Schichtung hinarbeiten" (Weisgerber 1934b: 196). Während Weisgerber konsequent „Sprachpflege als Weg %ur inneren Einigung' (ebd.) fordert, vertritt die Prager Schule ein in Teilen gegenläufiges sprachpflegerisches Programm der funktionalen Differenzierung: Unsere Sprache sollte höchsten Forderungen des kulturellen Lebens gerecht werden; deshalb müssen wir von ihr vor allem Reichtum und Plastizität verlangen, die für verschiedenste Bedürfnisse, besonders auch Ausdrucksbedürfnisse, genug Spielraum bietet. (Mathesius 1971 [1929]: 17)
Auch die Forderungen nach „Stabilität" und „Originalität" 58 der Literatursprache beruhen für den Linguistik-Zirkel nicht auf absoluten Werten, sondern begründen sich als spezifische Bedingungen für die Realisierung verschiedener kommunikativer „Bedürfnisse". Wer vor allem „auf die innere Geschlossenheit der Sprache und damit der Sprachgemeinschaft hinzielt", findet als nächst liegenden sprachpflegerischen „Ansatzpunkt [...] in erster Linie das unverständliche, fremde Sprachgut" (Weisgerber 1934b: 196-197). Im „Streben nach Sprachreinigung" sieht Weisgerber einen Beleg für das gesunde Wirken der „Kräfte der Sprachgemeinschaft" (ebd.). Dagegen profilierte sich die Prager Schule vor der einheimischen Öffentlichkeit gerade mit einer Polemik gegen den Purismus tschechischer Sprachpfleger, der seinen antigermanischen Impuls aus dem deutschtschechischen Nationalitätenkonflikt bezog. Wir werden skeptisch sein zu [sie] verschiedenen Vorschlägen, angeblich entbehrliche und somit auch ausmerzbare Wörter zu ersetzen, weil eine solche Säuberung manchmal eine Verarmung der Sprache um feine Bedeutungsnuancen bietet. (Mathesius 1971 [1929]: 17 ) 59
58
59
Vgl. ebd. und später in manifestartiger Form in den kollektiven Thesen über „Allgemeine Grundsätze der Sprachkultur", mit denen der Prager Zirkel 1932 in die Purismus-Debatte eingriff (Scharnhorst/Ising Hrsg. 1976: 74-85). Das starke Engagement des Linguistik-Zirkels für Fragen der Sprachkultur ist von der westlichen Historiographie des Prager Strukturalismus kaum beachtet worden, vgl. 2.2. Vgl. schon Jakobson (1988a [1925]: 202) mit direktem Bezug auf Germanismen im tschechischen Wortschatz: „Die tschechische Sprache ist bereits so stark, daß sie durch Germanismen nicht bedroht wird. Und soweit diese im Tschechischen zum Erfassen feiner Bedeutungsunterschiede dienen, können sie sogar willkommen sein. Wir wissen, wie eine Sprache in stilistischer Hinsicht durch das sie durchdringende Fremdelement bereichert werden kann."
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
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Der nüchterne Funktionalismus, mit dem die Prager Schule Fragen der tschechoslowakischen Sprachkultur und Sprachplanung verhandelte, war wie Weisgerbers Pathos der Sprachgemeinschaft nicht allein sprachtheoretisch begründet, sondern stand auch hier in engem Wechselverhältnis zum aktuellen politischen Kontext, in dem er sehr publikumswirksam vorgetragen wurde: The creation of Czechoslovakia coincided with the completion of the modernisation process on the Czech territory (though not necessarily of Slovakia). This brought forth a new way of looking at linguistic variation which contrasted with the nationalistic attitudes of the beginning of the century. The new generation of Czechs was driven by thought of modem efficiency rather than ethnic purity, and the Prague Linguistic Circle, which was a powerful opinion maker, attacked in the early 1930s the remaining linguistic purism and virtually destroyed it. (Nekvapil/Neustupny 1998:118)
Vollzogen Weisgerber und die Prager Schule eine gegen die junggrammatische Sprachforschung abgesetzte, grundsätzlich ähnlich gerichtete „Hinwendung zur funktionalen Sprachforschung" (Weisgerber 1930a: 31), so war man sich von Beginn an uneinig darüber, welches denn die Funktion bzw. die Funktionen der Sprache im Einzelnen seien. Für Weisgerber stand spätestens mit seiner Habilitationsschrift und also lange vor der ersten Begegnung mit Vertretern des Linguistik-Zirkels fest, dass die Sprache vor allem „als gesellschaftliche Erkenntnis form" 60 aufzufassen sei. Ein solcher Gedanke musste der im Wesentlichen kommunikativen Sprachkonzeption der Prager Schule, auch wenn sie stets eine Mehrzahl sprachlicher Funktionen in Rechnung stellte, fremd bleiben. Selbst der Problemkreis der „inneren Rede" („le langage interne"), auf den doch die Prager Thesen von 1929 noch ansprachen, 61 blieb dem Kommunikationsmodell des klassischen Prager Strukturalismus ein weitgehend blinder Fleck. Dieser Umstand ist von Mitgliedern der Prager Schule im kritischen Rückblick auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg später selbst moniert worden: Stress laid on the functional aspect of language implied also attention to the relations between language and thinking, but this relation was not satisfactorily respected. This was due, among other things, to the negative attidude towards the so-called linguistic psychologism. (Havränek u.a. 1964 [1958]: 464)
Weisgerber seinerseits zeigte sich mit wachsendem Nachdruck bemüht, seine besondere Gewichtsetzung auf die Erkenntnisfunktion der Sprache deutlich abzugrenzen von „jener unzureichenden, äußerlichen Auffassung von der Sprache als bloßem Verständigungsmittel, der die Sprachwissenschaft selbst lange Zeit hindurch Vorschub geleistet hat" (Weisgerber 60 61
Vgl. Titel von Weisgerber (1925). These 3a) 1 in „Theses" (1929: 14).
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4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
1934b: 111). Räumte Weisgerber 1926 noch ein, „als Verständigungsmittel zu dienen" sei „die neben der begrifflichen Gestaltung der Umwelt wichtigste Funktion der Sprache" (Weisgerber 1926: 249), so ging er in den dreißiger Jahren dazu über, den eigenen Ansatz geradezu als Uberbietung kommunikativer Modelle der Sprache zu profilieren: Mit der Bestimmung der Sprache als Erkenntnisform soll gesagt sein, daß sie nicht als äußerliches Mittel dient, um etwas auszudrücken, mitzuteilen, sich zu verständigen, sondern, daß sie auch die erkenntnismäßigen Voraussetzungen schafft für das, was ausgedrückt, mitgeteilt wird, die Grundlage, auf der überhaupt die Verständigung zwischen Menschen in dieser Form möglich ist. (Weisgerber 1931: 599)
Hatte Weisgerber in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre noch — mit freilich eindeutiger Akzentsetzung - grundsätzlich mehrere Funktionen der Sprache in Rechnung gestellt und war damit dem ρolyfunktionalen Modell 62 der Prager Schule nahe gewesen, so verengt sich sein Funktionalismus im Laufe der dreißiger Jahre immer weiter auf die eine, fundamentale Erkenntnisfunktion der Sprache. Im selben Zeitraum hatte die Prager Schule gegenläufig die anfangs zugrunde gelegten Sprachfunktionen immer feiner untergliedert und aufgefächert, so in der Entwicklung der Funktionalstilistik etwa eines Bohuslav Havränek oder den Untersuchungen zur mündlichen und geschriebenen Sprache bei Josef Vachek. 63 Am bekanntesten ist diese schrittweise Erweiterung des Funktionenmodells der Sprache wohl im Werk Roman Jakobsons geworden, der den anfangs dichotomischen Funktionalismus der russischen Formalen Schule mit dem dreigliedrigen Organonmodell Karl Bühlers amalgamierte, um schließlich sein allseits bekanntes Kommunikationsmodell auszuformulieren, das von sechs Sprachfunktionen ausgeht (vgl. Nekula/Ehlers 1996). Weisgerbers Überbietung aller kommunikativen Funktionen durch die Erkenntnisfunktion wird nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen Schülern zur schroffen Entgegensetzung zugespitzt und direkt gegen Karl Bühlers Organonmodell der Sprache gewendet, an dem sich der Funktionalismus der Prager Schule lange orientiert hatte. So heißt es in der programmatischen „Widmung", die „Freunde, Kollegen, Schüler" der Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Leo Weisgerbers im Jahr 1959 voranstellen: Sprache — Schlüssel zur Welt und nicht bloßes Mittel der Verständigung, Muttersprache - Prozeß des Wortens der Welt durch eine Sprachgemeinschaft und nicht nur Mittel der Rede mit Appell-, Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, 62 63
Steiner (1976: 361) zählt den Polyfunktionalismus mit Recht zur „Conceptual basis of Prague structuralism". Diese Entwicklung wird sehr schön dokumentiert in der von Scharnhorst/Ising (1976) herausgegebenen Textsammlung Grundlagen der Sprachkultur.
4.2 Leo Weisgerbers Beziehungen zur Prager Schule
351
das sind die Grundgedanken, denen er durch seine Arbeiten zum Durchbruch verholfen hat. 4
Hier ist das Verhältnis zwischen Weisgerber und dem Prager LinguistikZirkel, das wegen der unterschiedlichen sprachphilosophischen Orientierungen, den auseinanderstrebenden wissenschaftlichen Leitinteressen und dem Bezug auf unterschiedliche politische Diskurse sicherlich nie ein unproblematisches war, das aber aufgrund einer „überraschenden Gemeinsamkeit der Anschauungen" gleichwohl zumindest über längere Zeit als eine Konstellation gegenseitiger Ergänzung gedacht worden ist, endgültig als „Frontenverlauf' definiert und durchschnitten.
64
Sprache Schlüssel ψΓ Welt. Widmung. Stempel (1990) kommentiert diesen programmatischen Vorspruch zur Festschrift für Weisgerber wie folgt: „Man kann es [...] nur beklagenswert finden, daß die Vertreter der Sprachinhaltsforschung auch noch nach 1945, als Bühler in der Emigration praktisch gescheitert war, glaubten, sich gegen ihn behaupten zu müssen." (ebd.: 164)
4 Fallstudien zur Wirkung des Prager Strukturalismus
352
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Die Mitglieder dieses Kreises, „der ebenso übernational ist wie der erwähnte linguistische" (Gesemann 1930a: 7), kommen bezeichnenderweise größtenteils aus dem Prager Linguistik-Zirkel (Bogatyrev, Tschizewskij, Jakobson, Savickij) und von der deutschen Slawistik (Gesemann, Schneeweis). Schon wenige Monate nach diesem „Zusammenschluß modern gerichteter junger Ethnologen" (ebd.) „wurde im April 1930 der ,Südslavische Zirkel' gegründet und in der Hauptversammlung Ende Juni 1930 konstituiert" (Slavische Rundschau 3 1931: 63). 34 Obwohl dieser Zirkel als „ein wissenschaftlicher akademischer Verein" (ebd.) geführt wird, ist auch hier „nicht hohe Mitgliederzahl" erstrebt, sondern wird vor allem auf „Bereitwilligkeit zu eifrigster Mitarbeit" Wert gelegt. Die Tätigkeit dieses universitätsnahen Zirkels, in dem wohl erstmalig Gesemanns Idee einer wissenschaftlichen Lehrwerkstatt erprobt worden sein dürfte, wird wie folgt beschrieben: Während des Semesters werden wöchentliche Arbeitsabende abgehalten, die die Mitglieder zu Lektüre, Interpretation, Diskussion und Referaten vereinigen. [...] Diskussionen über aktuelle und Tagesfragen beschließen in der Regel den Arbeitsabend. Für weitere Kreise berechnet sind die öffentlichen Vortragsabende des Südslavischen Zirkels, die in Form von Vortragsreihen etwa zwei- bis dreimal im Semester veranstaltet werden. [...] Der junge Verein geht übrigens auch an die Errichtung einer wissenschaftlichen und schöngeistigen Bücherei. An den Beginn der Vereinsarbeit konnte eine längere Studienreise durch Südslavien gestellt werden, (ebd.: 63-64)
Die am 5. Dezember des Jahres 1930 gegründete Deutsche Gesellschaft ist ihrerseits Dachorganisation für fünf weitere Arbeitsgemeinschaften unterschiedlicher Zielsetzung und Struktur. Zwei ihrer Abteilungen haben eher den Charakter von Redaktionsgruppen und übernehmen im Sinne von Schmid/Trautmanns Forderung nach slawischer Kulturvermittiung die Redaktion der Slavischen Rundschau bzw. planen die alljährliche Herausgabe von länderbezogenen „Forschungsberichten der slavischen Wissen-
33 34
Identisch auch in Slavische Kundschau 2 (1930: 71). „Südslavischer Zirkel der Slavisten an der Deutschen Universität in Prag", anonym.
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
475
schaft". „Tätige Forschung" (Anonym 1931: 5) betreiben dagegen die zwei eng verflochtenen Arbeitskollektive, in die die vormalige „epische Arbeitsgemeinschaft" jetzt aus differenziert wird. Die „folkloristische Arbeitsgemeinschaft" untersucht das slawische volkstümliche Epos im engsten Zusammenhang mit den noch lebenden oder ausgestorbenen europäischen und außereuropäischen Volksepen. Sie betont dabei besonders die rezitativ formale, musikalisch-rhythmische Seite der Epik und stellt zu diesem Zwecke ein Archiv von epischen Schallaufnahmen zusammen, deren technische Aufnahme und theoretische Verarbeitung eine der wichtigsten Aufgaben der Arbeitsgemeinschaft ist. (Prager Presse, 7.12.1930: 7)
Die „rhythmisch-phonologische" Arbeitsgemeinschaft verwendet ebenfalls die damals noch sehr aufwendige Aufzeichnungstechnik, „um systematisch Material für das Studium der individuellen Sprachrhythmik slavischer Dichter unter Heranziehung von Dichtern der Nachbarvölker zu sammeln und zu verarbeiten" (ebd.). Die frühe Begegnung von deutscher Schallanalyse und Prager Phonologie bei dieser interdisziplinären Auswertung von Sprachaufzeichnungen wäre sicher eine eigene historiographische Studie wert. Die fünfte Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Deutschen Gesellschaft hatte „mehr forschungsfördernde als forschende Aufgaben" (Anonym 1931: 5), ging es hier doch darum, den Forschungsgegenstand der „Germanoslavica" innerhalb der Slawistik und der Germanistik zu etablieren und ihm mit der gleichnamigen Fachzeitschrift ein eigenes Publikationsforum einzurichten. Mindestens in einem Fall scheint das institutionelle Modell des Zirkels auch von der Slawistik in Deutschland adaptiert worden zu sein. Leopold Silberstein, der spätestens seit dem März 1930 mit Jakobson persönlich bekannt war, 35 berichtet in der Slavischen Rundschau von der Gründung der „Berliner Slavistischen Arbeitsgemeinschaft". Die im Mai 1932 gegründete Vereinigung umfasste drei „Arbeitszirkel" (Silberstein 1932: 412) und motivierte ihre besondere Organisationsform in ganz ähnlicher Weise wie die Deutsche Gesellschaft: Die immer drückender empfundenen spezialistischen Fesseln wenigstens an einigen Stunden der Woche aufzulockern, die bedrohte Elastizität der meist naturnotwendig an einseitige Arbeit gebundenen geistigen Organismen wiederherzustellen, die Blickschärfe für allgemeine Bedeutung, Standort, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten der Spezialgebiete zu erhalten, ist eine der allerwichtigsten Aufgaben und Daseinsrechtfertigungen der Arbeitsgemeinschaft. (ebd.)
35
In einem Brief an Jakobson vom 20. Juli 1930 erwähnt Silberstein eine „flüchtige" Begegnung mit Jakobson „im März" in Prag. Aus dem Zusammenhang ist nicht ersichtlich, ob es sich dabei um ein erstes Treffen handelte. (LAPNP/ Slavische Rundschau/ Red. Korespondence 1937-38)
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5 Deutsche Rezeption in der Tschechoslowakischen Republik
In einem Brief an Jakobson schildert Silberstein recht detailliert Struktur und Programm der neuen Organisation und betont dabei, dass verschiedene ihrer Mitglieder „auch schriftstellerisch bereits bemerkenswert hervorgetreten" 36 seien. Auch in der Über-Nationalität berührte sich die Berliner Gruppe mit der Prager Deutschen Gesellschaft und dem Prager Linguistik-Zirkel, denn ihre Arbeitszirkel vereinten deutsche und russische Mitarbeiter. Da mehrere Vorstandsmitglieder der Berliner Arbeitsgemeinschaft — wie Klaus Mehnert, Wolfgang Leppmann und Silberstein selbst — nach 1933 Opfer politischer bzw. antisemitischer Verfolgung wurden (vgl. Camphausen 1990: 36ff.), verblieb der neu gegründeten Vereinigung nicht viel Zeit für produktive Zusammenarbeit. Silberstein wechselte in seinem tschechoslowakischen Exil wenig später gewissermaßen in die Vorbildinstitution und wurde reguläres Mitglied des Prager Linguistik-Zirkels (vgl. 5.4). Ob es über die Berliner Slavistische Arbeitsgemeinschaft hinaus weitere Forschungsgruppen innerhalb der reichsdeutschen Wissenschaften gegeben hat, die sich organisatorisch an der Deutschen Gesellschaft oder dem Prager Zirkel orientierten, wäre noch zu prüfen. Es ist freilich nicht damit zu rechnen, dass das institutionelle Modell des Zirkels in den Jahren um 1930 hier derart günstige kulturpolitische Rahmenbedingungen vorfand wie in der Tschechoslowakischen Republik. In der Tschechoslowakei fügten sich all die genannten Arbeitsgemeinschaften und Zirkel als bewusst geschaffene Orte übernationaler Zusammenarbeit passgenau in den politischen Kontext der späten zwanziger Jahre, in dem sich mit der Installierung der ersten gemischtnationalen Regierung 1926 der deutsch-tschechische Nationalitätenkonflikt deutlich zu entspannen begann. Sie waren die ersten Begegnungsstätten für die zuvor in nahezu vollständiger Apartheid existierenden deutschen und tschechischen Wissenschaftsmilieus des Landes (vgl. 5.2), und die hier gepflegte „glückliche Kollaboration" (Spina) über die Grenzen der Nationalitäten hinweg war nicht nur aus fachimmanenten Gründen geboten, sondern verkörperte zugleich ein aktuelles politisches Programm. Die Kooperation von Deutschen und Tschechen in Redaktionen und Arbeitsgemeinschaften verwirklichte in ,abgezirkelten' Bereichen der Wissenschaft symbolhaft eine aktive Zusammenarbeit der verschiedenen Nationalitäten, die in der innenpolitischen Wirklichkeit des Staates noch weitgehend Desiderat war. So wurde den Zirkelgründungen an der deutschen Slawistik in Prag „von slavischer amtlicher und privat-kollegialer Seite Sympathie entgegengebracht" (Anonym 1931: 7), die sich nicht zuletzt in staatlicher Subventionierung niederschlug. Fachkollegen aus Deutschland bemerkten mit un36
Zweiseitiger Brief Silbersteins an Jakobson vom 6. Mai 1932 (LAPNP/ Slavische Rundschau/ Red. Korespondence 1937-38). Vollständig reproduziert im dokumentarischen Anhang.
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
477
verkennbarem Neid, dass Gesemann für seine organisatorischen Projekte „sehr reichliche Geldmittel zur Verfugung gehabt" habe. 37 Diese günstigen Voraussetzungen änderten sich allerdings schon nach wenigen Jahren einschneidend, als das Land die Folgen der Weltwirtschaftskrise und deren politische Nachwirkungen zu spüren bekam. Schon im Jahr 1931 gerieten die beiden Zeitschriften, die von der Deutschen Gesellschaft herausgegeben bzw. mitherausgegeben wurden, wegen der drastischen Kürzung staatlicher Förderung in eine „materielle Krise" 38 . Sowohl die Slavische Rundschau als auch die Germanoslavica hatten in den Folgejahren beständig gegen die Gefahr des finanziellen Ruins anzukämpfen. Die Herausgabe neuer Publikationen war unter den gegebenen finanziellen Bedingungen auf lange Sicht nicht mehr möglich. Von den „Forschungsberichten der slavischen Wissenschaft", die eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Deutschen Gesellschaft „alljährlich in einem Bande" herausgeben sollte, konnte nicht einmal der geplante erste Titel, „Fortschritte der russischen Wissenschaft" (Anonym 1931: 5), erscheinen. Auch die epische Arbeitsgemeinschaft wurde durch den „Kulturabbau, der seit einiger Zeit das wissenschaftliche Leben schwer schädigt," (Gesemann 1933b: 145) an der Realisierung ihrer Publikationsprojekte gehindert. Noch für das Jahr 1931 hatte die Arbeitsgemeinschaft gehofft, „ihren großen ersten Band zur Erforschung des serbokroatischen Volksepos vorlegen" (Anonym 1931: 4) zu können. Auf dem Ersten Internationalen Phonetik-Kongress 1932 in Amsterdam berichteten Becking und Jakobson jeweils Details aus ihrer Arbeit zur südslawischen Volksepik und verlasen ein entsprechendes Manuskript Gesemanns. Die drei Vorträge wurden als Teilstudien aus dem folgenden Gemeinschaftsprojekt vorgestellt: Bisher liegt eine Reihe von Studien vor über die Lieder des montenegrinischen Guslaren Vucic, die in Berlin auf Schallplatten aufgenommen wurden. Es sind gesonderte Abhandlungen von G. Gesemann über Inhalt und mimische Gestaltung, von Fr. Saran über die metrische Vortragstechnik, von R. Jakobson
über den Versbau, von G. Ra^iäc über die Sprache und von
G. Becking über den musikalischen Bau der Lieder. Sie sollen demnächst im Druck erscheinen. (Gesemann 1933a: 44)
Dabei wird auch hier noch an dem Plan festgehalten, diese Arbeiten zu einer „kollektiven Monographie" (Jakobson 1933: 50) zusammenzufassen. Wäre dieser kollektive Band verwirklicht worden, hätte man ihn durchaus zu den Veröffentlichungen der Prager Schule rechnen können, denn die
37 38
Vgl. das böswillige Gutachten des Leipziger Dozentenbundführers über Gesemann vom 2.6.37: S. 7 (BArch./ NS 15/ 237/ Bl.: 120-135: hier Bl. 125). Schreiben Gesemanns an Mägr vom 10.3.1931 (LAPNP/ Migr/ Gesemann). Zur Entwicklung der Slavischen Rundschau und der Germanoslavica in den dreißiger Jahren vgl. Ehlers (1997c), (2000c) und (2002).
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5 Deutsche Rezeption in der Tschechoslowakischen Republik
Mehrzahl seiner Autoren waren zum damaligen Zeitpunkt reguläre Mitglieder im Linguistik-Zirkel. Ein Jahr später klagte Gesemann jedoch verbittert, dass „man uns nicht die Mittel gibt, unsere Arbeiten drucken zu können, die schon seit langer Zeit druckfertig auf dem Schreibtisch liegen und verstauben" (Gesemann 1933b: 155). Schließlich musste er seinen Plan, die genannten Arbeiten der epischen Arbeitsgemeinschaft „im Rahmen einer größeren Publikation" zu veröffentlichen, „wegen finanzieller Schwierigkeiten" (Saran 1934: Vorwort) endgültig aufgeben. Die Beiträge des einstigen Kollektivs erschienen verstreut als zusammenhanglose Einzeltexte. Sarans Abhandlung beispielsweise wurde 1934 monographisch in Deutschland publiziert, und niemand, der das Büchlein heute in die Hand nimmt, würde auf den Gedanken kommen, es in einen, und sei es entfernten Kontext mit der Prager Schule der Linguistik zu stellen.39 Die Präsentationen der Vorträge von Gesemann, Jakobson und Becking in einer Sektion des Amsterdamer Phonetik-Kongresses sind somit der einzige öffentliche Auftritt von Angehörigen der epischen Arbeitsgemeinschaft geblieben, mit dem diese sich vor einem internationalen Forum demonstrativ als Forschergruppe darstellen konnten. 40 Aber nicht nur mit finanziellen Problemen haben die Prager deutschen Zirkel seit 1931/32 zu kämpfen, auch die politischen Entwicklungen im Lande ließen die „glückliche Kollaboration" von Deutschen und Tschechen im Kontaktfeld zwischen dem Slavischen Seminar und dem Prager Linguistik-Zirkel auf lange Sicht nicht unberührt. Unter der Auswirkung der Wirtschaftskrise und unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Wahlerfolge im benachbarten Deutschland nahmen die Spannungen im deutsch-tschechischen Verhältnis innerhalb der Republik rasch wieder an Schärfe zu, und es ist kaum verwunderlich, dass diese Spannungen bald auch in die Arbeitszusammenhänge der Deutschen Gesellschaft für slavistische Forschung hineinreichten. In zerstörerischer Konsequenz waren die politischen Entwicklungen letztlich für das Scheitern der deutsch-tschechischen Zeitschrift Germanoslavica verantwortlich. Die auch finanziell angeschlagene Germanoslavica brachte Mitte 1938 noch eine letzte Doppelnummer allein unter tschechischer Redaktion heraus, dann musste 39
40
Vgl. Saran (1934). Max Vasmers „Vorwort des Herausgebers" hält es 1934 wohl für nicht opportun, die Namen Jakobsons und Ruzicics anzuführen und verweist jedenfalls ausschließlich auf Becking und Gesemann. Jakobson wird nur in einer Literaturangabe in einer Fußnote (ebd.: 63) genannt. Aus einem erhaltenen Schreiben des Dekans der philosophischen Fakultät der Deutschen Universität geht hervor, dass Becking plante, auch am zweiten internationalen Kongress der phonetischen Wissenschaften 1935 in London teilzunehmen. Auch diese Gelegenheit für Becking, im Kontext der Prager Schule aufzutreten, konnte wegen der fehlenden „budgetären Mittel" des Schulministeriums nicht realisiert werden (AUK/ FFNU/ Personalakte Becking).
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
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die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen, deren Tätigkeit ehemals „als ein Symbol der Ubernationalität und der kollektiven Arbeit im Arbeitsstoff wie in der Gemeinschaft der Arbeiter selber" (Gesemann 1930a: 7) gegolten hatte. Das Verhältnis zwischen Gesemann und Jakobson, das ehedem auf wechselseitiger wissenschaftlicher Anregung und „alter Freundschaft" 41 beruht hatte, dürfte spätestens im Herbst 1936 in einen Antagonismus umgeschlagen sein, denn Jakobson betrieb aus politischen Motiven die Ablösung Gesemanns als Herausgeber der Slavischen Rundschau (vgl. Ehlers 1997: 184f.). Auch in den „freundschaftlichen Gesprächen" und der „beschwingten kollektiven Stimmung" (Anonym 1931: 2, 3) innerhalb der epischen Arbeitsgruppe müssen folglich politische Dissonanzen zu spüren gewesen sein, die allmählich die Grundlagen für eine produktive wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit zersetzten. Auf die zeitgleich verlaufende deutsch-tschechische Entzweiung bzw. die politische Polarisierung der deutschen Teilnehmer im Prager Zirkel habe ich im Abschnitt 5.4 hingewiesen. Am Ende der dreißiger Jahre war die Basis für eine Zusammenarbeit von Deutschen und Tschechen/Slawen durch die politischen Entwicklungen so weit unterminiert, dass mit dem Tod der letzten wissenschaftlichen Integrationsfigur an der Prager deutschen Slawistik, Franz Spina, im Herbst 1938 alle noch überkommenen institutionellen Zusammenhänge am Slavischen Seminar auseinanderbrachen. Ein tschechisches Komitee, das die herrenlos gewordene Slavische Rundschau aufzufangen plante, konstatiert im Januar 1939: Ponevadz zanikla „Deutsche Gesellschaft für slavistische Forschung pfi slovanskem seminäri nemecke university, pozbyl casopis „Slavische Rundschau" sveho vydavatele; take dosavadni redakce casopu zanikla. 42 Da die „Deutsche Gesellschaft für Slavistische Forschung" am Slavischen Seminar der Deutschen Universität zusammengebrochen ist, verlor die Zeitschrift „Slavische Rundschau" ihren Herausgeber; auch die bisherige Redaktion der Zeitschrift löste sich auf.
Während die Slavische Rundschau noch weitere zwei Jahre unter der Herausgeberschaft des tschechischen Slovansky listav erscheinen konnte, wurde
41
42
Diese hebt beispielsweise Gesemanns Ansichtskarte von seiner Jugoslawienexkursion im Sommer 1931 an Jakobson noch hervor (LAPNP/ Slavische Rundschau/ Red. Korespondence 1937-38). Bei der „Nennung [...] jener, die meinem Vater in Geist und Arbeit verbunden waren," spart Wolfgang Gesemann den Namen Jakobsons aus, führt dann allerdings nicht mit derselben Konsequenz Franz Spina gleichwohl mit auf (Gesemann, W. 1979: 114-115). Vierseitiges „Protokol ο schuzi komitetu pro vydäväni casopisu ,Slavische Rundschau'" vom 27.1.1939 (LAPNP/ Mdgr/ Slavische Rundschau).
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5 Deutsche Rezeption in der Tschechoslowakischen Republik
die Deutsche Gesellschaft am 26. September 1939 aus dem Vereinsregister in Prag gestrichen. 43 Doch die Rahmenbedingungen für die paralysierten deutschen Projekte kollektiver Forschung änderten sich schlagartig, als die Wissenschaftslandschaft der Stadt Prag unmittelbar in den Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus eingegliedert wurde. Gesemann sah in den neuen Machtverhältnissen sogleich eine Chance, an seine früheren Reformpläne anzuknüpfen. Den Einmarsch der deutschen Wehrmacht begrüßte er daher mit einem „Memorandum" über die „Wissenschaftliche und kulturpolitische Aufgabe der Deutschen Universität Prag", das er noch im März 1939 dem NS-Dozentenbund vorgelegt haben will. 44 Durch ihre neue geopolitische Lage gewinne die vormalige „Landesuniversität für die Deutschen des Sudeten- und Karpathenraumes" nun ihren wichtigsten Forschungsfokus im europäischen Südosten, heißt es dort. Wie zehn Jahre zuvor verschreibt Gesemann der Deutschen Universität auch jetzt eine radikale Reformierung des Lehr- und Forschungsbetriebs, die unverkennbar Züge seiner früheren Programmatik einer interdisziplinär entgrenzten, kollektiv organisierten Slawistik wieder aufgreift: Schon das Problem, um das es hier geht, der Südosten als politsches und kulturelles Problem sowohl in seinen eigenen Bezügen unter sich wie in seinen Bezügen zu Deutschland, ist ein komplexes Problem, das von einer Disziplin aus gar nicht gelöst werden kann [...]. Hier hat die deutsche Universität die Aufgabe, sich aus dem alten und veralteten Typus von Universitäten, der auf ein einzelgängerisches Arbeiten abgestellt war, zu einem grundsätzlich neuen heben[sie]- und Arbeitstypus emporzuentwickeln, der den nationalsozialistischen Idealen nahezukommen trachtet. Das kann dadurch geschehen, dass sich die Universität Gemeinschaftsaufgaben stellt und die Methoden der Gemeinsschaftsarbeit zur planmässigen Anwendung bringt. Das gilt nicht nur für die Geisteswissenschaften sondern auch für die Naturwissenschaften und die Medizin. (Memorandum: 4-5, vgl. Anm. 43)
43
Anordnung des „Beauftragten für Organisationen" des Reichsprotektors an die „Polizeidirektion (als Vereinsbehörde) in Prag" vom 26.9.1939 und die entsprechende
Bestätigung an den %emskj lirad vom 21.12.1939 (SUA/ Policejni reditelstvi/ 350/
44
sign. SK IX 734). Als Begründung für die Löschung wird die „Verordnung über die Neuordnung und Abwicklung von Organisationen im Protektorat Böhmen und Mähren vom 13. Juni 1939 (Verordnungsblatt des Reichsprotektors [...] Nr. 6 vom 7. Juli 1939)" angeführt. Das siebenseitige Typoskript ist von Gesemann handschriftlich in etwas widersprüchlicher Weise datiert worden. Eine erste Version der unterzeichneten Randbemerkung am Kopf des Textes lautet: „Ein Memorandum im Herbst 1938 auf Wunsch eingeliefert Gesemann". Dieser Wortlaut wird später korrigiert in: „Ein Memorandum im März 1939 auf Wunsch eingeliefert für den Doz. Bund Gesemann". Diese Datierung ist glaubwürdiger, denn im Text selbst ist bereits vom „Protektorat[...] Böhmen und Mähren" die Rede (AUK/ FFNU/ Slovansky seminar).
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
481
Bereits zehn Jahre zuvor hatte er seine Erfahrungen mit der Zusammenarbeit in wissenschaftlichen Zirkeln als emphatische Gemeinschaftserlebnisse geschildert. Wer in dieser Gemeinschaft [der epischen Arbeitsgemeinschaft] mitgearbeitet hat, kennt den Nutzen der gegenseitigen Erleuchtung, kennt die tiefe innere Freude, die die Erlösung vom Bann der vereinsamten Individualität spendet. (Gesemann 1929b: 626-627)
Der antiindividualistische Impuls der Zirkelbildung konnte mühelos mit dem nationalsozialistischen Forschungsparadigma gleichgeschaltet werden, das in Deutschland seine umfangreichste Verwirklichung wohl im disziplinenübergreifenden „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften", dem so genannten „Gemeinschaftswerk", fand: Es hat [...] den Anschein, als ob sich das Gemeinschaftswerk im Lauf der Kriegsjahre verselbständigte und zum neuen ,Forschungsparadigma' wurde. Forschung sollte im und nach dem Krieg überhaupt nur noch gemeinschaftlich' betrieben werden, was zu Lasten der Einzelforschung gegangen wäre. Denn laut Joseph Goebbels lag doch der Sinn der ,nationalsozialistischen Revolution', die sich nicht nur auf das Politische, sondern auch auf das Weltanschauliche, Kulturelle und Wirtschaftliche erstrecke, von Anfang an in der Beseitigung der Anbetung der Einzelpersonen und ihrer Ersetzung durch einen Gemeinschaftssinn, ,der wieder das ganze Volk umfaßt und das Interesse der Einzelperson wieder dem Gesamtinteresse der Nation ein- und unterordnet.' 45
Boten sich die nationalsozialistischen Programme einer „Umstellung von der Analyse zur Synthese" und die entsprechend bevorzugte Organisationsform, das „wissenschaftliche Arbeitskollektiv", zum Teil bis in die Wortwahl 46 zu einer Gleichschaltung an, musste die kulturkundliche Slawistik Gesemanns bei dieser Gleichschaltung ihre ehemaligen kulturpolitischen Wirkungsabsichten allerdings entschieden umorientieren: Statt einer germanisch-slawischen Vermittlung verpflichtet Gesemanns Memorandum die Prager deutsche Forschung nun der „Kontrolle der geistigen und kulturpolitischen Bewegungen der Ostvölker" und damit „unmittelbar der deutschen Politik im Südostraume". 47 Auch für übernationale Kooperation ist in der wissenschaftlichen Kollektivarbeit unter diesen neuen Zielsetzungen verständlicherweise kaum noch Raum. 45 46
47
Hausmann (1998: 24). Hausmann untersucht an anderer Stelle die Konvergenz des politischen Gemeinschaftsbegriffs des Nationalsozialismus mit zeitgleichen Konzeptionen der Gemeinschaftsforschung, Hausmann (2001a: 62 ff.). Die Zitate bringen Formulierungen aus einer Rede auf der Sitzung der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen vom 24.10.1939. Nach diesen Ausführungen „entspricht die wissenschaftliche Kollektivarbeit der nationalsozialistischen Einschränkung des Individuums zugunsten der Gemeinschaft" (zitiert nach Hausmann 1998: 295, Anm. 36). Gesemann, „Memorandum" S. 2 (AUK/ FFNU/ Slovansky seminar)
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5 Deutsche Rezeption in der Tschechoslowakischen Republik
Da Gesemann im Herbst 1939 nach Belgrad übersiedelte, um dort die Leitung des Deutschen wissenschaftlichen Instituts zu übernehmen, 48 konnte er den vom Nationalsozialismus erhofften Innovations- und Finanzierungsschub für die Deutsche Universität vorerst nicht aus nächster Nähe beeinflussen. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1941 knüpfte er mit der Rückendeckung des damaligen Rektors der Prager Universität, Wilhelm Saure, jedoch sogleich an die Forderungen seines Memorandums an und bereitete die Einrichtung eines „Instituts für die Kunde Ost- und Südosteuropas" 49 vor. Dieses Institut sollte als eine Art interdisziplinäre Superstruktur insgesamt 22 (!) der bestehenden Seminare und Abteilungen der Deutschen Universität zu gemeinsamer Forschungsarbeit organisatorisch zusammenfassen. Doch Gesemanns ehrgeiziges Projekt scheiterte — zunächst am Widerstand der für die Gemeinschaftsarbeit vereinnahmten Kollegen. Sodann wurden er und Saure bald aus ihrer zentralen Position in der Wissenschaftspolitik der Stadt verdrängt. Während Gesemanns „Institut für die Kunde Ost- und Südosteuropas" kaum über die Planungsphase hinauskam, wurde ein besser protegiertes Konkurrenzunternehmen, die universitätsnahe „Reinhard-Heydrich-Stiftung, Reichsstiftung für wissenschaftliche Forschung in Prag" gegründet, die sich ebenfalls der Erforschung des Südostens widmen wollte. 50 Ganz dem nationalsozialistischen Forschungsideal entsprechend sollte die wissenschaftliche Arbeit auch dort gemeinschaftlich organisiert sein. Die Eröffnungsrede von Staatsminister Karl Hermann Frank an die Mitarbeiter der Stiftung offenbart allerdings ein Verständnis von Gemeinschaftsarbeit, das dem über den Linguistik-Zirkel auf die Prager deutsche Slawistik überkommenen Modell des wissenschaftlichen Kollektivs fremd war: Es kommt stets auf die Erforschung des Menschen, insbesondere des in diesem Raum lebenden Menschen slawischer Zunge an. Das Erkennen und die Lösung der wichtigsten Themen auf diesem Gebiete ist, meine Heren [sie], Ihre Aufgabe. Sie werden von Zeit zu Zeit Hinweise erhalten, vor allem von Seiten des Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums. Seien Sie aber darüber klar, daß nur eine echte Gemeinschaftsarbeit hier Erfolge gewährleistet. [...] Die Zeit der Kämpfe akademischer Kliquen [sie] ist auch hier vorbei: die deutsche Wissenschaft wird ihre führende Rolle im Südosten nur dann behaupten und ausbauen können, wenn sie alle Kräfte sinnvoll einsetzt und sowohl Extratouren Einzelner als auch mechanische Konzentrationen und einseitige Monopolansprüche vermeidet. Von dem Prager Einsatz erwarte ich Folgendes: 1. Einsicht in die notwendige Disziplin [...]. (zit. nach Fremund 1964: 25) 48 49 50
Zu Tätigkeit und Entwicklung dieses Institutes vgl. Hausmann (2001b: 167ff.). Vgl. zu diesen Plänen und ihrem Scheitern Ehlers (2001). Zur Reinhard-Heydrich-Stiftung vgl. die umfassende Darstellung bei Wiedemann (2000).
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
483
Die nationalsozialistische Forschungsgemeinschaft ist hier straff nach dem Führerprinzip strukturiert, eher eine hierarchisch gestufte Gemeinschaft von Weisungsempfängern als der freiwillige und gleichberechtigte Zusammenschluss von Wissenschaftlern auf der Basis geteilter methodischer Prinzipien und thematischer Interessen.51 Auch in diesem Punkte hätte die Übernahme des Zirkel-Modells in den nationalsozialistischen Kontext deutlicher Anpassung bedurft. Ich hebe die wichtigsten Ergebnisse der hier vorgestellten Wirkungsgeschichte abschließend noch einmal hervor: - Für das zeitgenössische deutsche Wissenschaftsmilieu konnte die Arbeit der Prager Schule der Linguistik nicht nur mit ihren methodischen Prinzipien und sprachtheoretischen Grundlagen, sondern auch mit der spezifischen Organisationsform der wissenschaftlichen Arbeit selbst attraktiv werden. Im weiteren Umkreis der Prager deutschen Slawistik wurde das institutionelle Modell des Wissenschaftszirkels gleich mehrfach und mit ausdrücklichem Verweis auf das organisatorische Vorbild übernommen. Zwischen den verschiedenen Zirkeln im Kontaktfeld der deutschen und der tschechischen bzw. slawischen Wissenschaft der Stadt gab es häufig auch personelle Überschneidungen. - Die Wirkung dieses institutionellen Modells war naheliegenderweise weniger über die Rezeption von Texten als vielmehr über die persönlichen Kontakte und die Zusammenarbeit von deutschen Wissenschaftlern und Vertretern des Prager Zirkels zu vermitteln. Diese Wirkungsmöglichkeiten waren daher in besonderem Maße an die spezifischen Rezeptionsbedingungen der multinationalen Stadt Prag gebunden. - Der .Import' des organisatorischen Modells des Wissenschaftszirkels in den deutschen Kontext entsprach dabei einer aktuellen fachgeschichtlichen ,Bedürfnislage'. Hintergrund war der als krisenhaft und aporetisch empfundene Übergang der deutschen Slawistik von der positivistischen Philologie zur synthetischen Kulturkunde. Dieser Wandel im Fachverständnis wurde zwar in Prag mit besonderer Bewusstheit und Konsequenz vollzogen, prägte aber durchaus auch andere deutschsprachige Wissenschaftsstandorte. Das Beispiel der Berliner Slavistischen Arbeitsgemeinschaft zeigt, dass auch an anderen deutschsprachigen Standorten die fachgeschichtliche Situation für eine Modellübernahme prinzipiell offen war. - Allerdings wurde die Wirkung des organisatorischen Modells des Zirkels durch die innenpolitischen Rahmenbedingungen in der Tschechoslowakischen Republik besonders begünstigt. In den Jahren um 1930 korres51
Gerade das Führerprinzip wird von Autoren im Nationalsozialismus gelegentlich als unterscheidendes Merkmal der „Gemeinschaft" gegenüber dem „Kollektiv" angesehen, vgl. Hausmann (2001a: 63).
484
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pondierte die kulturkundliche Slawistik der Deutschen Universität inhaltlich und forschungspraktisch dem politischen Programm der aktiven Zusammenarbeit der Nationalitäten im Staat, die seit der Einsetzung einer ersten ,gemischtnationalen' Regierung im Jahr 1926 auch unter der Bevölkerung relativ große Zustimmung fand. - Entsprechend zerfielen die Prager deutschen Projekte übernationaler Zusammenarbeit in Wissenschaftskollektiven, als im Laufe der dreißiger Jahre die finanzielle Förderung drastisch beschränkt wurde und sich der innenpolitische Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen wieder zuspitzte. Spätestens im Jahr 1936 dürften die nationalen und politischen Antagonismen die ehemals symbolträchtige „Kollaboration" der Nationalitäten in den Arbeits zirkeln im Umfeld der deutschen Slawistik unterhöhlt gehabt haben. - Die ideologischen Entwicklungen im Nationalsozialismus begünstigten auch in Deutschland Formen der wissenschaftlichen Kollektivarbeit, so dass die Arbeitsweise des Prager Zirkels nach der deutschen Okkupation Prags prinzipiell gleichschaltbar schien. Allerdings hätte das organisatorische Modell des Zirkels bei dieser Gleichschaltung in funktionaler (deutsche Dominanz) und struktureller Hinsicht (Ausschaltung der Internationalität, Führerprinzip) den neuen politischen Gegebenheiten adaptiert werden müssen. - Dass der Versuch einer solchen nationalsozialistischen Adaption letztlich scheiterte, lag nicht am mangelnden Willen, sondern eher am mangelnden wissenschaftspolitischen Durchsetzungsvermögen der Protagonisten einer solchen Modellübernahme in den neuen politischen Kontext.
5.5 Der Prager Zirkel als Modell für die deutsche Slawistik
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• S: t a t η . ; • der Deutschen G e s e l l s c h a f t f ü r S l a v i s t l s c h e Forschung, i n Prag, I . HAMS-OTD SITZ. I . Die G e s e l l s c h a f t ' i s t -ein eingetragener Verein und f ü h r t Hamen "Deutsche G e s e l l s c h a f t f ü r s l a Ä s t i s c h e Forschung in Prag und hat ihren S i t z ' i n ' P r a g i " I I . ZWECK. • . . · . . . 3 . Die Gesellschaft- s e t z t sich· die •Organisierung und Ausführung solcher s l a v i s t i s c h e r F o r s c h u n g s a u f g a b e n ; ' Z i e l e , die in fruchtbarer Weise nur k ο 1 1 e.k t i τ , d.h.· ;T9n::'einer Arheitsgemeinachaft gleich g e r i c h i e t e r Forscher' aus verschiedenen.Diaziplinen behandelt »erden können.[Öle G e s e l l s c h a f t b i e t e t . a l s o einer Anzahl von Gelehrten die M ö g l i c h t e l t , ! durch gemeinsame '.Zielsetzung der Aufgaben und unter Anwendung' f r ö a h t b a r e r ..Methoden, 'iro' TreiV-'sie mit r e i n i n d i v i d u e l l e r A r neitaTeiae' nicht zuhandhabeniind,''gerade jene Tragen der S l a v i s t i k • einer Lösung 'zuz^ühren','-welchei'To'n:weii'tereiii als nur slavistischem I n t e r e s s e sind und geeignet s i a ä i ' .in wechselseitiger Durchdringung der Einzeldiszinliiien die Bedeutsamkeit s l a v j s t i s c h e r Forschungen f ü r die" gesamie" G e i s t e s r i s s e n s ö ^ a f t ' 4 a r z u t u n r \ I I I . ΜΙΤΤΪ1 ZUR ERSSIGHOTG DIESES yHSOXES.' '•-''• 3. Um diese Ziele..zu.'errelchen,*' ; 'eoliIiessen sich die Mitglieder der Gerr S e i l s c h a f t zu' aktiven Arbeitsgemeinschaften im Rahmen der Gesells c h a f t zusammen,räoch so j • dass'-;die'".verschiedenen Arbeitsgemeinschaften in engster FuSlung mit einaader a r b e i t e n ? } . 4. Als "solche Arb'eitsgemeinsohaitea'isimL, fünf Abteilungen vorgesehen, und zwar; Α die π>ϊ·ιΓιη Abteilung, Β die'rhythmisch-phonblogische Abteilung, 0 die Abteilung Germanoslavica, D die Redaitions^htei-^jmg der Slavischen Rundschau, S -Zorrohi2Äabai'ichte.'d.ei elaviachsn Wissenschaft . .-· · i^yeaif?.?.^ 5. Die Abteilung A. untersucht das s l a v i s c h e VoTkaepoa im engst en Zusammenhang mit den" noch lebenden oder ausgestorbenen europäischen und aussereuropäischen Yolksepen t -Sie betont dabei besonders die r e z i t a t i v « , m u s i k a l i s c h - r h y t h m i s c h e S e i t e der Ipik und s t e l l t zu diesem Zwecke' ein Archiv von epischen Schallaufnahmen. zusammen, deren a e t a t a » .technische Aufnahme und theoretische Verarbeitung eine der wichtigsten Aufgaben -der a g i « • « » • 'Arbeitsgemeinschaft i s t . 5, D-»e rhythmisch-ohonologische'Abteilung steht im engsten Zusammenhang mit der'Abteilung AS.' Sie benutzt die von der Gesellschaft v e r wendeten Aufnahme- und Wiedergabeapparate, um' systematisch Material f ü r das Studium der I n d i v i d u e l l e n Sprachrhythmik s l a v i s c h e r aed ~.. •••i^ griaThsT' Dichter] zu sammeln und zu v e r a r b e i t e n . 7 . Die~Abteilung Germanoslavica p f l e g t das vergleichende Studium germanischer und s l a v i s c h e r L i t e r a t u r - und Sulturbeziehungen und gibt gemeinsam mit dem Slavischen I n s t i t u t in Prag die V i e r t e l ] a h r s schr1ft Germanoslavica heraus, a l s deren Herausgeber e i i i Ä 4 g i ^ - i des Slavischen I n s t i t u t s und ein Mitglied der Deutscaen Ges e l l s c h a f t f ü r s l a v i s t i s c h e Forschung fungieren ur.d in dessen Re- , daktionsauaschuss M i t g l i e d e r f i i e i d e r Vereinigungen ver.-re.en sind. Die Art der gemeinsamen Arbeit mit dem Slavischen I n s t i t u t an d i e ser Z e i t s c h r i f t u n t e r l i e g t besonderer Abmachung der Gesellschaft mit dem Slavischen I n s t i t u t > . ,, 'S. Die Redaktionsabteilung der Slaviscnen Run^scnau f ü h r t die A d - , , ministrations- und Redaktionsgeschäfte der-
S l a v i s c h e n . Rundschau
die mit ihrem III.Jahrgang von am 1 . Januar,}93!JL ab d a s - p a ^ i e t - , , ^ j a o h a Organ' der G e s e l l s c h a f t ' b i l d e t . -Die Slavische Rundschau • s e t z t sich eine a k t u e l l e und o b j a k t i v e Berichterstattung über das moderne g e i s t i g e Leben der s l a v i s c h e n Völker zum Z i e l e .
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3. S
· ^ i J r ^ ^ f f f i ' ' - r ° r s c h u n g s b e r i c h t e der slavischen tfissenacha^ u v e r i o l g t d i e F o r t s c a x i i t e d e r G e i s t e s d i s z i o l i n e n i n d»r W i s s e n s c h a f t der s l a v i s c h e n Völker und g i b t a l l j ä h r l i c h i a ^ande e i n e a ü e c e r b l i c k über d i e F o r t s c h r i t t e d i e s e r W i a s e a s c ^ t voa deaea d i e j e n i g e n an e r s t e r S t e l l e s t e h e n , welche e i a e - a l S - e - " ' s e i n e n Landeskunde der s l a v i s c h e n Völkerräume d i e n e n . Sie"he=-l5-ii· i h r e A r b e i t mit d e r P u b l i k a t i o n ^ ' F o r t s c h r i t t e der r i s s i g e n 5?-" ' r ™ ^ k ü n f t i g e r M i t t e l und A ^ t k r f c l e l o H l e a d i e s e P u b l i k a t i o n e n auch auf d i e F o r t s c h r i t t e der W i s s e n s c h a f t - J . i l a n d e r e n s l a v i s c h e a Ländern ausgedehnt werden nisse..scna_ „ IV. DAS V3HM03GZIT DES GSS2LL3CHA7T. 10
d r ® G e s e l l s c h a f t , das f ü r d i e Deckung der durch die T ä t i g k e i t der G e s e l l s c h a f t e n t s t e h e n d e n r o s t e n v e ? w e ^ e t ^ ? r d ^ r d G e s c h a f f t a / durch Subventionen von ö f f e n t l i c h e r und c r e a t e = o/ durch d i e E r t r ä g e d e r P u b l i k a t i o n e r . ' V. MITGLIEDER. REQET3 USD PFLIOHTSS ΠΕΗ SGTGLI2D3P 11. Die M i t g l i e d e r der G e s e l l s c h a f t ' b e s t e h e n - a u s o r d e n t l i c h e n und k o r respondierenden Mitarbeitern. 131 O r d e n t l i c h e M i t a r b e i t e r s i n d d i e j e n i g e n P e r s o n e n , welche d i e Grüaduag d e r G e s e l l s c h a f t v o l l z o g e n haben oder von d i e s e n zu o r d e a t U caen M i . a r o e i t e r n e r n a n n t » e r d e n . Zu o r d e n t l i c h e n M i t a r b e i t e - n deG e s e l l s c h a f t können nun s o l c h e l i T l T j ^ , e r n a n n t werden, welche S f dem G e o i e t e der ä e o h a i ^ v a i i s c S r o ^ ä p S b i i k wohnhaft siii und s 4 h " a k t i v an den A r b e i t e n der, G e s e l l s c h a f t b e t e i l i g e n . 13. Zu. k o r r e s p o n d i e r e n d e n M i t a r b e i t e r n werden s o l c h e a u s s e r - a ^ b des Oecno s l o v a i i s c a e n S t a a t e s wohnhafte" ernannt, die sit