Affektenlehre und amor Dei intellectualis: Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der Gegenwart 9783787322862, 9783787322794

Wichtige Aspekte der Spinoza-Rezeption sind lange Zeit im Hintergrund geblieben. Spinoza galt seit dem öffentlich gemach

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German Pages 356 Year 2012

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Affektenlehre und amor Dei intellectualis: Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der Gegenwart
 9783787322862, 9783787322794

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Violetta L. Waibel (Hg.) Spinoza – Affektenlehre und amor Dei intellectualis

Affektenlehre und amor Dei intellectualis Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der Gegenwart

Herausgegeben von

VIOLETTA L. WAIBEL unter Mitarbeit von

MAX BRINNICH und PETER GAITSCH

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2279-4 ISBN E-Book: 978-3-7873-2286-2 Gedruckt mit Förderung der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

Umschlagabbildung: Spinoza-Denkmal, Den Haag (Quelle: wikipedia)

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2012. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

Zitierweise und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad Paul Liessmann Geleitwort: Der tote Hund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Violetta L. Waibel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad Cramer Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1 Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im Deutschen Idealismus und in der Romantik Ursula Renz Zum Verhältnis von Fühlen und Erkennen bei Spinoza . . . . . . . . . . . . . . .

49

Jane Kneller Novalis’ nüchterne Rezeption der spinozistischen ›Gott-Trunkenheit‹

62

Jure Zovko Hegels Würdigung von Spinozas Affektenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Teil 1I Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im 19. und 20. Jahrhundert Patrizia Giampieri-Deutsch Der »Philosoph der Psychoanalyse«? Zu den Verwandtschaften zwischen Spinoza und Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Helma Riefenthaler Spinoza und Sartre über Existenz, Willensfreiheit, Affekte . . . . . . . . . . . .

121

Ulrike Kadi Affekt und Körper: Zu Jacques Lacans Spinoza-Lektüre . . . . . . . . . . . . . .

146

6

Inhalt

Arno Böhler Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze. Wissen wir, was das Medium »Körper« kann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Teil III Spinozas dritte Erkenntnisart: Von der Liebe zu Gott zur intellektuellen Anschauung Wolfgang Bartuschat Zur Rolle der dritten Erkenntnisart in Spinozas Konzeption der Ethica

189

Violetta L. Waibel Philosophieren als Weg des Denkens. Anmerkungen zu Spinoza und Fichte mit einem Exkurs zu Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200

Andreas Arndt »Enthüllung der Substanz«. Hegels Begriff und Spinozas dritte Erkenntnisart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Ulrich Barth Was heißt ›Anschauung des Universiums‹? Beobachtungen zum Verhältnis von Schleiermacher und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Teil IV Spinoza und die Debatten um den Spinozismus Karl Ameriks »ob die bloß scheinbare Person möglich ist«. Spinoza, Kant, Jacobi, Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

Thomas Kisser Auf der Suche nach dem Anfang des Endlichen. Schellings Auseinandersetzung mit Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

Bärbel Frischmann und Elizabeth Millán Zu Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit Spinoza und dem Spinozismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Reiner Wiehl Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zitierweise und Siglen

Die Quellennachweise zu Spinoza stehen generell in Klammern innerhalb des Fließtextes. Sofern nicht anders angegeben, wird nach der zweisprachigen Meiner-Werkausgabe (Sämtliche Werke, Bd. 1–7. Hamburg 1991 f.) und unter Verwendung folgender Siglen zitiert: E Ep. KV

Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Ethica ordine geometrico demonstrata) Briefwechsel (Epistolae) Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (Korte Verhandeling van God, de Mensch en des Zelfs Welstand)

Die Quellennachweise setzen sich aus der jeweiligen Sigle und einer Seitenangabe zusammen. Bei Quellennachweisen zu Spinozas Ethik wird dieser Angabe noch der Verweis auf den Textabschnitt der Ethik vorangestellt, in dem die zitierte Stelle gefunden werden kann. Dieser Verweis ist nach folgendem Schema aufgebaut: Die erstgenannte arabische Ziffer gibt den jeweiligen Teil der Ethik an. Nachstehend werden ein Kürzel für die Satzart des Quelltextes und gegebenenfalls die Satznummer angeführt. Die Kürzel für die Quellennachweise nach den Gliederungselementen der Ethik lauten: a affd affgend app c cap d dem e lemm p post praef s

axioma affectuum definitiones affectuum generalis definitio appendix corollarium caput definitio demonstratio explicatio lemma propositio postulatum praefatio scholium

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Zitierweise und Siglen

3p40c2, E 295 verweist etwa auf den zweiten Folgesatz des vierzigsten Lehrsatzes im Dritten Teil der Ethik, der auf der Seite 295 zu finden ist. An dieses eben dargelegte Zitationsschema wurden auch diejenigen Stellenangaben der Ethik angeglichen, die sich innerhalb zitierter Literatur befinden.

Konrad Paul Liessmann

Geleitwort Der tote Hund

Beginnen wir das Nachdenken über Baruch Spinoza einmal mit einer auf den ersten Blick wenig spinozistischen Begebenheit. Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital, von Karl Marx am 24. Januar des Jahres 1873 verfasst, nimmt der Autor dieser »Kritik der politischen Ökonomie« Stellung zu jenen Meinungen und Kritiken, die ihm nach Erscheinen des ersten Bandes des Kapitals zugekommen waren – wobei ja eine besondere Pointe darin besteht, dass etliche Rezensionen, die zum Kapital erschienen sind, angeblich von Marx und Engels selber stammten, weil sowohl seine Gegner als auch seine Freunde sich außerstande sahen, dieses Buch zu lesen. Marx und Engels waren so freundlich und verfassten für sozialdemokratische Zeitungen sehr positive Besprechungen, für bürgerliche hingegen eher negative. Im Nachwort geht Marx allerdings auf einige nichtfiktive Reaktionen ein, unter anderem versucht er, seine Methode der Analyse des Phänomens der bürgerlichen Gesellschaft noch einmal klarzustellen: Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. / Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber gerade als ich den ersten Band des Kapital ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel so zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit einen Spinoza behandelt hat, nämlich als ›toten Hund‹. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und ich kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.1 1

Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leni-

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Konrad Paul Liessmann

Nein, kein Wort nun über Dialektik bei Marx und Hegel. Kein Wort über das sattsam bekannte »Umstülpen«, kein Wort davon, dass hier jemand vom Kopf auf die Füße gestellt werden soll. Eine textkritische Lektüre von Marx sieht sich durch etwas ganz anderes elektrisiert: nämlich durch Marxens Bemerkung, dass Hegel zu seiner Zeit so behandelt werde, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeiten Spinoza behandelt habe, nämlich als »toten Hund« – und durch die Anführungszeichen, zwischen die Marx den toten Hund setzte. Es handelt sich also anscheinend um ein Zitat. Wer also wurde zitiert? Naheliegend, zuerst bei jenem Philosophen nachzuschlagen, den Marx wohl am besten gekannt hat, nämlich bei Hegel. Und in der Tat: In Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, und zwar im Abschnitt über jene »neueste deutsche Philosophie«, die heute eine alte, eine sehr alte deutsche Philosophie ist. Dies sieht man nicht zuletzt daran, dass Hegel in dieser Vorlesung auch auf einen Denker einging, der mittlerweile nahezu vergessen ist: Friedrich Heinrich Jacobi. Jacobi war einer der Philosophen des Sturm und Drang gewesen, Realist und Denker des Gefühls, Kritiker von Kant, befreundet mit Mendelssohn, mit Lessing, mit Goethe, daneben Autor einer Reihe von Romanen, und nicht zuletzt war es Jacobi gewesen, der den Begriff Nihilismus geprägt und in die Philosophie eingeführt hatte. Zu Lebzeiten berühmt geworden war er allerdings durch ein Buch, nämlich die Briefe an Mendelssohn über die Lehre des Spinoza. Hegel ging in seiner Vorlesung auf diese Schrift ein und sagte: In dem Briefwechsel [zwischen Jacobi und Mendelssohn] kommt sogleich vor, wie Spinoza vergessen worden ist. Mendelssohn zeigte Ignoranz selbst über das äußerlich Historische der Spinozistischen Philosophie, vielmehr noch über das Innere. Daß Jacobi Lessing für einen Spinozisten ausgab und die Franzosen heraushob, dieser Ernst kam den Herren wie ein Donnerschlag vom blauen Himmel herunter. Sie – selbstgefällig, fertig, obenauf – waren ganz verwundert, daß er auch etwas wissen wolle, und von solchem ›toten Hund‹ wie Spinoza.2 Da ist er also, der tote Hund. Das Problem ist nur: Auch Hegel setzt den toten Hund unter Anführungszeichen. Nachdem anzunehmen ist, dass Marx den toten Hund von Hegel kannte, handelt es sich offenkundig um das Zitat eines Zitats. Die Spurensuche geht also weiter. Vorerst aber vielleicht noch einige Bemerkungen zu diesem Briefwechsel zwischen Jacobi und Mendelssohn über nismus beim ZK der SED. 43 Bde. und Ergänzungsband, Bd. 23: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 3 Bde., Bd. 1, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Berlin (Ost) 1962, 27. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hg. von Eva Moldenauer und Karl M. Michel, 20 Bde., Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt am Main 1971, 316f.

Geleitwort

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Spinoza und Lessing: Zunächst steht er in Zusammenhang mit dem sogenannten Pantheismusstreit der deutschen Aufklärer. Jacobi war sehr begierig, die Bekanntschaft von Gotthold Ephraim Lessing zu machen. Jacobi sandte also Lessing seinen Roman Woldemar, Lessing antwortete mit dem Stück, das er damals gerade fertiggestellt hatte: Nathan der Weise. Es kam tatsächlich zur Begegnung zwischen diesen beiden Schriftstellern, und im Laufe derselben kam man auch auf Spinoza zu sprechen. Offenbar galt in der Szene der Aufklärer Spinoza als Pantheist – aber Pantheisten schienen höchst anfällig für den Atheismus. Es dürfte Jacobi tatsächlich erregt haben, dass Lessing in diesem Gespräch anscheinend eine spinozistische Position vertrat; er schrieb auch sofort an Mendelssohn, ob er denn wisse, dass Lessing Spinozist, also Pantheist, also womöglich gar Atheist sei. Darauf entspann sich ein erbitterter Briefwechsel. Es steht also zu vermuten, dass diese Formel vom toten Hund irgendwo in dieser Auseinandersetzung zwischen Jacobi, Lessing und Mendelssohn zu suchen sein wird. In der Tat: In seinem ersten langen Brief an Mendelssohn schildert Jacobi diese Begegnung und dieses Gespräch mit Lessing, ihren Diskurs über Spinoza. Jacobi rapportiert diese Auseinandersetzung in der literarischen Form eines Dialoges zwischen ›Lessing‹ und ›Ich‹. Er selbst, Jacobi, stellt die These auf, dass es eigentlich so etwas wie einen Parallelismus gäbe in der Auffassung der Einheit von Gedanke und Substanz bei Spinoza und bei Leibniz. In dem Moment, in dem Jacobi Leibniz in die Nähe Spinozas rückt, springt Lessing auf und ruft: »Ich lasse Ihnen keine Ruhe, Sie müssen mit diesem Parallelismus [zwischen Leibniz und Spinoza] an den Tag [...] reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem todten Hunde«3 – und damit haben wir die Stelle gefunden, wo der ›todte Hund‹ begraben liegt. Lessing also sagte dies zu Jacobi, dieser veröffentlicht es in seinen Briefen an Mendelssohn, daher kennt Hegel den toten Hund, und bei Hegel findet wahrscheinlich Marx diese Formel und wendet sie auf Hegel an – um sich heute selbst als toter Hund wiederzufinden. Und Spinoza – noch immer ein toter Hund? Er muss – anscheinend – immer wieder aufs Neue entdeckt werden. Nur wenige Jahre, nachdem Marx Hegel und Spinoza parallelisierte, entdeckt ein ganz anderer eine ganz andere Form der Verwandtschaft zwischen sich und Spinoza. Am 30. Juli 1881 schreibt Friedrich Nietzsche eine Postkarte aus Sils-Maria an Franz Overbeck: Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der

3 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Breslau 1785, 27.

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Konrad Paul Liessmann

meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit.4 Die Pointe: Nietzsche hatte nicht Spinoza, sondern das Buch von Kuno Fischer über Spinoza gelesen. Also auch hier: Rezeption aus zweiter Hand. Vom Pantheismusverdacht zur geborgten Zweisamkeit mit Friedrich Nietzsche: Damit ist ein Bogen der Spinoza-Rezeption gespannt, den der vorliegende Tagungsband in unterschiedlichen Facetten und wohl auch mit unterschiedlichen Zielrichtungen ausführen wird und damit entscheidende Einsichten in die Philosophie Spinozas und ihre Rezeption liefern kann.

4 Friedrich Nietzsche am 30. Juli 1881 an Franz Overbeck, in ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 3, Bd. 1: Friedrich Nietzsche: Briefe: Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin/New York 1981, 111.

Violetta L. Waibel

Einleitung

Der vorliegende Band geht aus der gleichnamigen Tagung hervor, die vom 4. bis 6. Februar 2010 am Institut für Philosophie der Universität Wien stattfand. Ziel der Tagung war es, dem Desiderat nachzugehen, Spinozas Triebund Affektenlehre und ihre Rezeption in der ersten Blütezeit der Spinoza-Rezeption, also in der Zeit Kants und des Deutschen Idealismus, dann auch in der Romantik und in der Moderne einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Die Rezeption von Spinoza im Deutschen Idealismus – das ist gewiss kein überraschendes Thema. Man sieht sich an den Pantheismusstreit erinnert, ausgelöst durch Friedrich Heinrich Jacobis öffentliche Bekanntgabe von Lessings Begeisterung für Spinoza in der Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, zuerst 1785 und dann in erheblich erweiterter Fassung 1789 erschienen. Die wichtigsten Inhalte des Gesprächs mit Lessing gibt Jacobi in seiner Schrift dialogisch wieder. Lessing soll Jacobi vor seinem Tod anvertraut haben: »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan! Ich weiß nichts anders. Dahin geht auch dies Gedicht [Prometheus, Goethe, Spinoza-Briefe, 19–21, V.L.W.]; und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr.« Jacobi habe entgegnet: »Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden. Leßing [hierauf, V.L.W]. Wenn ich mich nach jemanden nennen soll, so weiß ich keinen andern.«1 Lessings Bekenntnis zum angeblichen Hen kai Pan des Spinoza machte Furore. So schreibt Schelling gegen Ende seines Theologiestudiums in Tübingen an den in Bern als Hauslehrer tätigen Hegel am 4. Februar 1795: [O]b ich glaube, wir reichen mit dem moralischen Beweis nicht zu einem persönlichen Wesen? Ich gestehe, die Frage hat mich überrascht; ich hätte sie von einem Vertrauten Lessings nicht erwartet […]. Meine Antwort ist: wir reichen weiter noch als zum persönlichen Wesen. Ich bin indessen Spinozist geworden! Staune nicht. Du wirst bald hören, wie? Spinoza war die Welt (das Objekt schlechthin im Gegensatz gegen das Subjekt) – Alles, mir

1 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Neue vermehrte Ausgabe. Breslau 1789 (zuerst: 1785), 22. Die altgriechische Schreibweise wurde in lateinischer Umschrift wiedergegeben.

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Violetta L. Waibel

ist es das Ich. Der eigentliche Unterschied der kritischen und der dogmatischen Philosophie scheint mir darin zu liegen, daß jene vom absoluten (noch durch kein Objekt bedingten) Ich, diese vom absoluten Objekt oder Nicht-Ich ausgeht. Die letztere in ihrer höchsten Konsequenz führt auf Spinozas System, die erstere aufs Kantische. Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich’s nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich oder im Nicht-Ich. Ist diese Frage entschieden, so ist Alles entschieden.2 Die große Frage für die Idealisten, nicht nur für Schelling, auch für Fichte, später für Hegel, war, entgegen Jacobis Absicht, aber doch wesentlich angeregt durch ihn, ob die Philosophie das Absolute als Sein, mithin als Substanz, oder als Ich bestimmen müsse. Diesen klassisch zu nennenden Fragen der Rezeption Spinozas sollte in dieser Tagung nicht nachgegangen werden.3 Die Rezeption der Affektenlehre ist es, die mit dieser Tagung in den Blick gerückt ist. Freilich ist das eine für die Idealismus-Forschung untypische, ja überraschende Fragestellung, die das Denken des Idealismus quer zum Mainstream liest. Eine Fragestellung ist es, die aus der Moderne kommt, angeregt durch Denker wie dem Neurologen Antonio Damasio, der den SpinozaEffekt entdeckte und zum Titel einer seiner Schriften machte. In seiner diesem Buch vorausgehenden Schrift Descartes’ Irrtum stellt Damasio kritisch die einseitige Entwicklung des rationalen Menschen ins Licht, getragen von dem Bedürfnis, die abendländische Denktradition über diese Einseitigkeit aufzuklären und eine Korrektur in Gang zu setzen. In Spinoza findet er einen Denker, dessen Triebund Affektenlehre für eine Theorie vom ganzen und nicht bloß einseitig rationalen Menschen weit früher Beachtung verdient hätte.4 Man mag Damasios philo2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling am 4. Februar 1795 an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in: Manfred Frank; Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, 125–128, 126 f. 3 Vgl. dazu, neben einer Reihe von Einzelstudien zur Spinoza-Rezeption bei den nachkantischen Philosophen, die hier nicht aufgeführt werden, Manfred Walther (Hg.): Spinoza und der deutsche Idealismus. Würzburg 1992; Detlev Pätzold: Spinoza – Aufklärung – Idealismus. Frankfurt am Main 1995 (= Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Bd. 29); Peter Rohs: »Der Pantheismus bei Spinoza und im Deutschen Idealismus«, in: Barbara Merker; Georg Mohr; Michael Quante (Hg.): Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, 102–121; Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 2002. 4 Antonio Damasio: Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York 1994 (dt. Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 1995); ferner ders.: The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness. New York 1999 (dt. Ich fühle, also bin ich. Die Entschüsselung des Bewusstseins. München 2002) und neuerdings derselbe: Looking for Spinoza: Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. Orlando 2003 (dt. Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München 2003).

Einleitung

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sophische Ambitionen kritisch in Schranken verweisen.5 Gleichwohl, dem prinzipiellen Votum Damasios, sich auf den emotionalen und rationalen Menschen in seiner Ganzheitlichkeit zu besinnen, war ein wichtiger Impuls für die Tagung, die in diesem Band dokumentiert wird, verbunden mit dem Wunsch, damit eine Forschungslücke zu schließen. Das 19. Jahrhundert hat in den so unterschiedlichen Willenstheorien von Schopenhauer und Nietzsche, das 20. Jahrhundert in den Triebtheorien von Freud und Lacan, ferner in Deleuze, in Sartres existenzieller Psychoanalyse ein Denken gefunden, das dem affektiven und dem rationalen Menschen Beachtung schenkt. Schließlich wird auch dem Menschen als einem bewusstseienden und denkenden Wesen, dessen wichtiges Wahrnehmungsinstrument der Körper ist, in der philosophischen Betrachtung ein angemessener Raum gegeben. Nietzsche will gar in Spinoza einen Geistesverwandten und Vorläufer sehen: Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit.6 Spinoza habe die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt gemacht, das ist gewiss eine der spitzen Überpointierungen Nietzsches und doch auch nicht ganz unzutreffend. Denn wahr ist, die Einsicht in das Veränderbare und das Unveränderliche, die Einsicht in die natürliche Ordnung der Dinge und in die Verdrehungen, in denen sich fehlgeleitete menschliche Projektionen und Begierden verlieren, verspricht, schenkt man Spinoza ein Stück weit Glauben, den Weg zur Ruhe der Seele und zur Glückseligkeit. So lässt sich sagen: Das vorherrschende Interesse der Aufklärung war die Fokussierung auf die Rationalität des Denkens. Das ausgehende 20. Jahrhun5 Vgl. Birgit Sandkaulen: »Selbst und Selbsterhaltung. Spinoza im Blick der Neurowissenschaft«, in: Studia Spinozana 15 (1999). Rotterdam 2006, 231–244. 6 Friedrich Nietzsche am 30. Juli 1881 an Franz Overbeck, in: ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 3, Bd. 1: Briefe von Friedrich Nietzsche: Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin/New York 1981, 111.

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Violetta L. Waibel

dert entdeckte im Gegenzug zu dieser Entwicklung die Intelligenz und Rationalität der Gefühle zuerst in der Psychologie, bald eroberte das Thema ganz zu Recht auch die Aufmerksamkeit der Philosophie. Damasio hat den Fokus auf Descartes und Spinoza, zwei Vertreter der Aufklärung, gerichtet, die entgegen den Konventionen ihrer Zeit die Affekte des Menschen zu seiner Natur und nicht zu seiner Unnatur zählten. Spinoza hat bereits in seiner Zeit erkannt, dass Affekt und Vernunft nur im Miteinander erfolgreich funktionieren und so den Königsweg alles vernünftigen Daseins, die dritte Erkenntnisart des amor Dei intellectualis, eröffnen. Sittliche und ästhetische Konzepte wie die der intellektuellen Anschauung, des Geistes, der sittlichen Substanz, der Wahrheit, die das Ganze ist, sind in einem gewissen Sinne Spinozas amor Dei intellectualis geschuldet. Der Tagungsband nimmt Damasios Sicht auf den Spinoza-Effekt zum Anlass, um mit dieser Perspektive die Spinoza-Rezeption in Idealismus und Romantik, im 19. und 20. Jahrhundert neu zu befragen und mit der Gegenwartsdebatte um Spinozas Lehre des Verhältnisses von Affektivität und Rationalität zu konfrontieren. Untersucht wird, in wie fern Spinozas Trieb- und Affektenlehre sowie die dritte Erkenntnisart als Affekt der Liebe zu Gott (amor Dei intellectualis) und als methodologische Vorgabe in die Theorien von Fichte, Hölderlin, Schelling, Hegel, Hardenberg, Schlegel, Schleiermacher, Nietzsche, Sartre systematisch Eingang gefunden haben. Die in der Forschung bekannte These, dass Spinozas dritte Erkenntnisart, der amor Dei intellectualis, die intellektuelle Liebe zu Gott, Vorbildcharakter für die idealistischen Theorieentwürfe der ›intellectualen Anschauung‹ gehabt haben dürfte, wird in der Flut von Untersuchungen zur intellektuellen Anschauung eher selten näher betrachtet und wartet in manchen Hinsichten noch auf eine systematische, gründliche Untersuchung.7 7 Vgl. Xavier Tilliette, Artikel »Intellektuelle Anschauung«, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Encyklopädie Philosophie. In drei Bänden,Hamburg 2010, Bd. 2 (I–P), 1118– 1120. Der Zusammenhang von intellektueller Anschauung und amor Dei intellectualis bei Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin und anderen findet sich untersucht in Wolfgang Janke: »Amor Dei intellectualis. Vernunft und Gottesliebe in Gipfelsätzen neuzeitlicher Systembildungen (Spinoza, Hegel, Schelling – Fichte)«, in: ders.: Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard. Fichte-Studien-Supplementa, 4, Amsterdam 1994, 97–118; Wolfgang Janke: »Amor Dei Intellectualis (SpinozaJacobi – Fichte – F. Schlegel – Schelling). Vom Aufstieg des Geistes zur Gottesliebe«, in: Edith Düsing und Hans-Dieter Klein (Hg.): Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, Würzburg 2009, 291–310; Horst Folkers: »Spinozarezeption bei Jacobi und ihre Nachfolge beim frühen Schelling und beim Jenenser Hegel«, in: Philosophisches Jahrbuch 105 (1998), 381–397; Siegbert Peetz: »Vor-aussetzungen und Status der Intellektuellen Anschauung in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Christian Danz, Claus Dierksmeier und Christian

Einleitung

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Auch für die Rezeption der Trieb- und Affektenlehre gibt es unter den Nachkantianern bemerkenswerte Belege. So schreibt Hölderlin in einem seiner Frankfurter Aphorismen von 1797, der insgesamt sehr deutlich auf Spinoza Bezug nimmt, dass ohne Verstand und ohne durch und durch organisiertes Gefühl in der Poesie kein Leben sei: »Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben.«8 Ein anderes Beispiel findet sich bei Friedrich von Hardenberg/Novalis. Er trägt sich am 16. April 1791 in Friedrich Immanuel Niethammers Stammbuch mit der Abschrift einer Passage aus der Vorrede zu Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn in der Fassung von 1789 ein. Die Passage lautet: Freude ist jeder Genuß des Daseyns; so wie alles, was das Daseyn anficht, Schmerz und Traurigkeit zuwege bringt. Ihre Quelle ist die Quelle des Lebens und aller Thätigkeit. Bezieht aber ihr Affekt sich nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich: Seele des Thiers. Ist sein Gegenstand das Unvergängliche und Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst, und seine Beute Unsterblichkeit.9 Friedrich Heinrich Jacobis Abhandlung »Ueber die Freyheit des Menschen«, die er in die Vorrede seiner Briefe über die Lehre des Spinoza von 1789 einrückt, ist von großem Interesse für die Rezeption und Verbreitung der Trieblehre Seysen (Hg.): System als Wirklichkeit: 200 Jahre Schellings »System des transzendentalen Idealismus«, Würzburg 2001, 23–40; Thomas Kisser: »Absolutheit und Relativität der Kunst. Über einige Aspekte in der Entwicklung von Schellings ›System des transcendentalen Idealismus‹ zum Identitätssystem und die Rolle des Spinozismus«, in: Martin Bollacher, Thomas Kisser und Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästhetik, Würzburg 2010, 215–246; Stefan Büttner: »Immanenz und Selbstbezug der künstlerischen Form. Skizze zum Verhältnis von Hölderlin und Spinoza«, in: Martin Bollacher, Thomas Kisser und Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästhetik, Würzburg 2010, 203–214. 8 Friedrich Hölderlin: »Frankfurter Aphorismen«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp, 3 Bde., Bd. 2. München 1992, 57–61, vierter Aphorismus, 59. 9 Jacobi: Spinoza-Briefe 1789, XLVII f.; vgl. auch Friedrich von Hardenberg: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn; Richard Samuel, zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, 4 Bde. und ein Begleitband, Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Stuttgart/Berlin/Köln 1975, 85 mit 761 f.; Hardenberg hat bei der Abschrift dieses Absatzes für Friedrich Immanuel Niethammer eine kleine Syntaxänderung vorgenommen. In Hardenbergs Text steht »Bezieht sich aber ihr Affekt nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich – Seele des Thiers«.

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Violetta L. Waibel

Spinozas. Sie besteht aus zwei Abteilungen: »Der Mensch hat keine Freyheit«, I–XXIII und »Der Mensch hat Freyheit«, XXIV–LII. Rein äußerlich gesehen

folgt Jacobi hier der Thematik, die Kant unter dem Titel der Antinomie der Freiheit abhandelt. Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass Jacobi das Pro und Kontra um die Freiheit ganz eigenständig entwickelt, aber dabei doch auch deutlich Rekurs auf Spinozas Affektenlehre nimmt. Diese für das Thema dieses Bandes zentrale Abhandlung soll im Folgenden kurz skizziert werden.

Eine Skizze von Jacobis Freiheitsabhandlung Das Thema der Ersten Abteilung der Freiheitsabhandlung lautet: »Der Mensch hat keine Freyheit«, I–XXIII. Jacobi gibt in diesem Teil der Abhandlung in Anlehnung an Spinoza und in Abgrenzung zu ihm eigene Argumente und Gründe dafür an, weshalb der Mensch in einigen Hinsichten nicht frei ist. Das auf Empfindungen beruhende Verhalten der Naturwesen, so auch das des Menschen, ist wesentlich getragen vom Mechanismus der Begierde und Abscheu. Die allen bestimmten Trieben zugrunde liegende allgemeine Begierde ist Jacobi zufolge ein Trieb a priori zu nennen. Schlechterdings a priori ist der Selbsterhaltungstrieb aller Lebewesen. Dieser bezieht sich bei vernünftigen Wesen auf ein persönliches Dasein, das über Begriffe und über einen Willen verfügt. Jacobi erkennt den wesentlichen Trieb des Menschen zum Handeln in der Begierde. Ist aber wahr, dass die Begierde und mit ihr der Selbsterhaltungstrieb das hauptsächliche Antriebsmoment des menschlichen Daseins sind, dann ist auch wahr, dass der Mensch in seinem Handeln gerade nicht frei ist. So gilt der Satz, der Mensch hat keine Freiheit. Wird nach dem moralischen Wert dieser so motivierten Handlungen gefragt, zeigt sich, dass die Begierde manchmal im Einklang mit dem steht, was vernünftige Gesetze des Lebendigen fordern würden oder andernfalls diesen widerspricht. Jedenfalls stehen die Triebe der Natur und der Vernunft nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zueinander. Folgt der Mensch mit seiner Begierde und seinen Trieben den vernünftigen Gesetzen, die der Natur eingeschrieben sind, sind seine Handlungen gut; andernfalls sind sie wider die vernünftigen Gesetze und daher schlecht. In moralisch unbestimmter Weise zu handeln heißt, wesentlich der Selbsterhaltung der Person zu dienen. Es heißt aber auch, wesentlich den mechanischen Gesetzen der Begierden, der Triebe, der Selbsterhaltung zu folgen. Der Mechanismus und seine implizite Vernünftigkeit sind freilich dem bloßen Zufall überlassen. Wenn Jacobi hier von der Vernunft spricht, so ist das ein auf die Natur hörendes Denken, das ein Vernehmen der inneren Stimme bezeichnet. In der Beilage VII der Briefe Ueber

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die Lehre des Spinoza fragt er, in welcher Weise dem Menschen Vernunft zukomme: »hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?«10 1799 schreibt Jacobi in seinem Sendschreiben an Fichte explizit: »Von Vernunft ist die Wurzel, Vernehmen. – Reine Vernunft ist ein Vernehmen, das nur sich selbst vernimmt. Oder: die reine Vernunft vernimmt nur sich.«11 Wille und Begriff folgen nach diesem Verständnis dem Mechanismus der Naturordnung. Die Geltung der apodiktischen Grundsätze und Prinzipien der moralisch vernünftigen Ordnung geht mit der Naturordnung einher, von Freiheit im eigentlichen Sinne kann hier keine Rede sein. Jacobi geht gleichwohl davon aus, dass es eine Liebe der Person zu sich und anderen gibt, die ein Gefühl für das Richtige aufspürt und artikuliert. In diesem Zustand entwickelt sich auch ein rudimentäres Rechtsgefühl. Die Liebe der Person kann freilich in Widerstreit mit der Liebe des Individuums stehen, das seine Selbsterhaltung will und wollen muss.12 Das Personsein und die mit ihr verknüpfte Selbstbehauptung folgen manchmal der bloßen Begierde und unterwerfen das ihnen Widerstehende. Das aber kann zur Folge haben, dass die Person mit ihren egoistischen Wünschen in Konflikt gerät mit anderen Personen, mit denen soziale Bindungen bestehen und deren Wertschätzung wichtig ist. Den anderen aber unter seine egoistischen Begierden zu zwingen hieße, mit ihm in Zwietracht zu geraten. Die Person muss sich nun entscheiden, ob sie entweder das Ansinnen der anderen geschätzten Personen berücksichtigt und die eigenen Interessen zurückstellt oder bloß den eigenen Interessen folgt. Der Konflikt treibt in Jacobis naturalistischer Konzeption zu Konsequenzen, die eine Entscheidung für oder wider die Freiheit nach sich ziehen. Die Zweite Abteilung von Jacobis Abhandlung behandelt nun die gegenteilige Behauptung, nämlich die: »Der Mensch hat Freiheyt« (XXIV–LII). Dasein von Personen ist für Jacobi Mitdasein, also Dasein mit anderen. Ein schlechterdings unabhängiges Dasein ist nicht vorstellbar, aber ebenso auch ein schlechterdings abhängiges, bloß passives Dasein. So ist auch ein bloß mechanisches Dasein nicht denkbar, das heißt, reine Selbsttätigkeit muss allem 10

Jacobi: Spinoza-Briefe 1789, 422. Friedrich Heinrich Jacobi im März 1799 an Johann Gottlieb Fichte (Sendschreiben), in: ders.: Werke Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher; Walter Jaeschke. Bd. 2,1: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Unter Mitarbeit von Catia Gortzki hg. von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske. Hamburg 2004, 191–225, 201. – Vgl. auch Jacobi: Spinoza-Briefe 1789, 251 ff. 12 Rousseau unterscheidet zwischen amour de soi, einer gesunden Selbstliebe, und amour propre, einem selbstischen Egoismus. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l´éducation, in: ders.: Œuvres complètes (= Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 4. Paris 1969, 493. 11

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Handeln zugrunde liegen. Diese reine Selbsttätigkeit darf man Freiheit nennen. Nur der Mensch ist mit einem genügend hohen Grad an lebendigem Bewusstsein ausgestattet, das erlaubt, dieses in seinen Handlungen als Selbsttätigkeit einzusetzen und fruchtbar zu machen. Freiheit besteht somit weder in der unabhängigen Grundlosigkeit von Entscheidungen noch in der Vernünftigkeit der Begierden, sondern in der Unabhängigkeit des Willens von der Begierde. Wille ist der Grad des Bewusstseins als Vernunft. Wenn nun nicht bloß nach Maßgabe des Stärkeren entschieden wird, sondern nach dem gefragt wird, was rechtens ist, tritt die Person aus dem Mechanismus aller bloßen Vermittlung heraus und betritt den Möglichkeitsraum eines Unvermittelten. Es ist dies der Raum der Ehre, der Achtung vor dem Anderen, der Freiheit, der freien Willensentscheidung und überhaupt eines Unbedingten oder des Gottes. Ehre und ebenso das negative Pendant, das Gefühl der Schande, der Selbstverachtung, sind, so Jacobi, unabdingliche Zeichen, die von Freiheit zeugen. Jacobi bezieht sich hierbei klar auf Spinoza. Ein reines Vernunftwesen kann weder lügen noch betrügen. Der freie Wille meldet sein Recht an, indem er sich von den Begierden, oder besser von den konfligierenden Begierden, frei macht, um den Raum der Handlungsmöglichkeiten zu erkunden und eine geeignete Entscheidung zu treffen. Im Geist der Freiheit ist Jacobi zufolge eine höhere Intelligenz, mithin der Geist Gottes anwesend, den er mit dem Gefühl der reinen Liebe verbindet. Sokrates habe diesen Geist der reinen Liebe gelebt. Dieses Gefühl, dieser Trieb der reinen Liebe lasse sich aus keinem Syllogismus, aus keinem Mechanismus herauskonstruieren. Jacobi schreibt in Abschnitt XLIX: »Die Richtung auf das Endliche ist der sinnliche Trieb oder das Prinzip der Begierde; die Richtung auf das Ewige ist der intellectuelle Trieb, das Prinzip reiner Liebe.«13 Sowohl Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen als auch Hölderlin in seinem Versuch, Schillers ästhetisches Erziehungskonzept zu überbieten, werden diese doppelte Triebstruktur zur Grundlage ihrer eigenen Konzepte machen, freilich unter systematisch etwas anderen Vorzeichen. Schiller sieht im Menschen einen Stoff- und einen Formtrieb angelegt, der im Spieltrieb zu einer harmonischen Vermittlung gebracht werden soll. Wiederholt stellt Hölderlin dem Trieb nach Sinnlichkeit oder dem Naturzustand des Menschen den Trieb nach dem Absoluten oder den Zustand, den der Mensch durch Vernunft erlangt, gegenüber. 14

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Jacobi: Spinoza-Briefe 1789, XLVI. Schiller führt im 11. seiner Briefe die beiden getrennten Regionen des Intelligiblen und des Empirischen im Menschen ein und spricht vom nächsten Brief an von Stoffund Formtrieb. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (zuerst 1795 in drei Lieferungen in den Horen erschienen), in: 14

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Fichte entwirft bereits in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 eine allgemeine praktische Theorie vom Handeln des Menschen auf der Grundlage von Streben, Trieb und Gefühl. Das Streben ist ihm eine Kausalität, die keine ist. Die Kausalität, die keine ist, erweist sich als causa finalis, als Finalursache also, die alles vernünftige Handeln des Subjekts leitet. Die Triebtheorie jacobischer und spinozanischer Provenienz führt zu Fichtes Theorie der Intentionalität, einem Theorieteil, den man bei Kant vergeblich sucht. Das Ziel des absoluten Ich Fichtes besteht in der Aufgabe, Identität mit sich herzustellen, das heißt, die Idee des absoluten Ich ist reine Vernunft, mit dem das endliche Ich identisch werden soll. In seinem System der Sittenlehre von 1798 entwickelt Fichte eine komplexe Theorie von Trieben, in denen der Naturtrieb mit seinen Affekten und seiner Körperbezogenheit ebenso verortet wird wie der reine Trieb vernünftigen Handelns. In Hegels Phänomenologie des Geistes erhält die Begierde eine bemerkenswerte Rolle im Kapitel zum Selbstbewusstsein, ferner in der Herr-und-KnechtThematik und ruft Spinozas Theorem der Begierde in Erinnerung, wie näherhin zu zeigen wäre. Die Aufzählung der Spiegelungen der Trieblehre Spinozas und Jacobis in den Schriften der Leser der nachkantischen und der späteren Zeiten könnte noch lange fortgesetzt werden, um auf das Thema einzustimmen. Die Beiträge in diesem Band geben ausführlichere Auskunft.

ders.: Schillers Werke (im Folgenden zitiert als NA mit Bandangabe in arabischen Ziffern). Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, herausgegeben im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel, Bde. 20/21: Philosophische Schriften. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Register zu den Philosophischen Schriften Schillers in den Bänden 20/21, Sonderabdruck aus Bd. 21, 2. Auflage. Weimar 1987 [1962/19631], NA 20, 309– 412; NA 21, 232–277. Hier: NA 20, 341 ff. Hölderlin stellt die beiden Regionen menschlichen Daseins mehrfach dar, etwa in seinem Fragment von 1794, »Es giebt einen Naturzustand …« (= »Über das Gesez der Freiheit«). Überdies geht diese Struktur in Prosaentwurf und Metrische Fassung des »Hyperion« ein, schließlich ist auch das »Fragment philosophischer Briefe« (= »Über Religion« 1797) von diesem Ansatz bestimmt. Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp, 3 Bde. München 1993. Hier: »Es giebt einen Naturzustand …«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, 46–47, 46 f. und ders.: »Fragment philosophischer Briefe«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, 51–57, 51 ff.; vgl. ferner in den frühen Fragmenten des »Hyperion« ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, 513 ff. und 518 ff.

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Die Beiträge in diesem Band »Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza« überschreibt Konrad Cramer seine Eröffnungsrede für die Tagung.15 Auch Schleiermachers bekanntes hymnisches Lob auf Spinoza in den Reden über die Religion von 1799 verdankt sich derjenigen Spinoza-Lektüre, die durch Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn unter der Formel Hen kai Pan geführt wurde. Cramer zeigt, dass Schleiermachers Rede von der »Anschauung des Universums« ein Ausdruck für authentisches religiöses Bewusstsein darstellt, das nicht Wissen von Gott ist und sein will. Diese »Anschauung des Universums« lasse sich in einer Richtung, nämlich durch die Formel »panta en to heni« mit Spinozas Lehre zur Deckung bringen, da die Substanz Spinozas causa immanens aller Einzeldinge ist und daher mit Spinoza zu Recht gesagt werden kann, dass alles in Gott ist. In dieser Hinsicht konstatiert Schleiermacher zu Recht, dass Spinozas Metaphysik voller Religion sei. In umgekehrter Richtung aber gelte für Spinozas Substanz die Formel »hen en tois pasi« nicht. Gott ist Spinoza zufolge gerade nicht in allen Dingen, wie Cramer ausführt. Goethe, so Cramer weiter, habe hier den besseren Weg gewiesen, da er die Einzeldinge als Ausdruck der göttlichen Natur begriffen habe. Diese Auffassung ist mit Spinoza vertretbar. Schleiermacher suchte mit Spinoza nach einer Auffassung von Religion, die sich nicht aus dem Wissen, aus dem Theo-Logos, versteht, sondern Anschauung des Universums ist. Dies aber, so Cramer, sei nur in Teilen mit Spinozas eigener Lehre vereinbar, wie die Analyse der Theoreme zeige. Goethe habe tiefer gesehen und erweise sich als der bessere Spinozist. Die erste Abteilung der Beiträge steht unter dem Titel »Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im Deutschen Idealismus und in der Romantik«. Die erste Untersuchung eröffnet das Thema bei Spinoza, die beiden anderen Beiträge wenden sich Novalis und Hegel zu. Ursula Renz setzt sich zum Ziel, »Zum Verhältnis von Fühlen und Erkennen bei Spinoza« klärend beizutragen. Sie hebt mit der überraschenden These an, dass weder auf ontologischer Ebene noch hinsichtlich des repräsentationalen Gehaltes ein Unterschied zwischen Fühlen und Erkennen in Spinozas Ethik auszumachen sei, da sich beides gleichermaßen in Ideen artikuliere. Eine Ana15 Konrad Cramer wollte seinen Eröffnungsvortrag im Stil der Rede belassen und bat darum, von der üblichen redaktionellen Vereinheitlichung abzusehen. Mit dem Thema hat sich Konrad Cramer ausführlicher befasst in seinem Beitrag »›Anschauung des Universums‹. Schleiermacher und Spinoza«, in: Ulrich Barth; Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre Reden über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft. Halle 14.–17. März 1999. Berlin/New York 2000, 118– 141.

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lyse des psychologischen Ursprungs von Denken und Fühlen führt überdies zur These, dass alle emotionalen und kognitiven Ideen und mentalen Zustände der drei Erkenntnisgattungen letztlich auf der gemeinsamen Quelle von imaginationes beruhen, und sich darin unterscheiden, dass sie diese in unterschiedlichen Prozessen von wachsender Komplexität verarbeiten. Ein weiterer Überlegungsgang wendet sich dem Gefühlsaspekt von psychischen Ereignissen und dem Gebrauch des Verbs sentire bei Spinoza zu. Renz sieht sich darin bestätigt, dass das zuvor untersuchte imaginari die Entstehung von Kognitionen und Emotionen erklärt, die gemäß dem bekannten Parallelismus in Spinozas System als differente Momente eines identischen Prozesses zu identifizieren sind. Anders als Wolfgang Bartuschat versteht Renz Spinozas amor Dei intellectualis als intuitive Erkenntnis, die die Perfektionierung des Lebens als epistemische Aufgabe im Fünften Teil der Ethik vollenden solle. Für Renz ist fraglich, ob der hier ins Spiel gebrachte Gott und die offenkundig religiöse Erfahrung des amor Dei nicht doch insgeheim personale, dem System insgesamt widersprechende Struktur hat. Jane Kneller untersucht in ihrem Beitrag »Novalis’ nüchterne Rezeption der spinozistischen ›Gott-Trunkenheit‹« Novalis’ Auseinandersetzung mit Spinoza. Sie argumentiert gegen gängige Thesen in der englischsprachigen Forschungsliteratur, wonach sich Novalis aus einer anfänglichen Begeisterung für den durch die Pantheismusdebatten vermittelten Spinoza in einer Wendung zurück zum Christentum befreit habe. In Knellers Lesart vertritt Novalis einen humanistischen Gottesbegriff, der mit Spinozas Identität von Gott und Natur nicht nur verträglich ist, sondern von ihm auch gefühlsmäßig berührt, wenn nicht durchdrungen ist, wie sie mit mehreren Dokumenten zeigt. Kneller betont überdies, dass Novalis gerade auch dann an Spinozas naturalistischer Lehre festhält, wenn er Spinozas Gott an die eigene »Philosophie des täglichen Lebens« zurückbindet, die konkrete Sichtbarkeit auch für die Vermittlung von Gott fordert. Gott als kantische regulative Idee zu betrachten lehnt Kneller nach ihrem Verständnis von Novalis ab, denn Gott oder das Absolute müsse ein wirklicher Gegenstand für Gefühl und Glaube sein. Daran halte Novalis noch nach seiner Wendung zum Christentum fest. Selbst Spinozas »wollüstige[s] Wissen« von Gott verknüpfe mit dessen Vorstellung Gefühle wie Freude und Liebe, an denen es festzuhalten gelte. Jure Zovko beschäftigt sich in seinem Beitrag mit »Hegels Würdigung von Spinozas Affektenlehre«. In einem ersten Überlegungsgang arbeitet Zovko in Spinozas Affektenlehre diejenige Dynamik heraus, die durch die Affekte der Trauer eine lebensmindernde Wirkung hat und durch Affekte der Freude das Leben steigert. Er zeichnet den Weg nach, den Spinoza vorgibt, um ein möglichst optimiertes Leben zu führen, getragen von Freude und anderen positiven Gefühlen und angeführt durch die klaren Einsichten der Vernunft. Im

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Weiteren zeigt Zovko, dass Hegel zuerst durch seine Mitarbeit an der Spinoza-Edition des Jenaer Kollegen und Mentors Heinrich E.G. Paulus und ferner durch die ihm bekannte Schrift des Mediziners und Physiologen Peter Müller Über die phantastischen Gesichtserscheinungen von 1826 nicht bloß mit der seit den Tübinger Studientagen bekannten Substanzenlehre Spinozas vertraut war, sondern nun auch Spinozas Affektenlehre zu schätzen wusste. Dies schlage sich, so Zovko, in der Enzyklopädie von 1827 ebenso nieder wie in den Vorlesungen zur Kunst und Ästhetik. Eine weitere Gruppe von Beiträgen ist dem Thema »Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im 19. und 20. Jahrhundert« gewidmet und unternimmt eine Spurensuche bei Freud, Sartre, Lacan und Deleuze. Der Beitrag von Patrizia Giampieri-Deutsch »Der ›Philosoph der Psychoanalyse‹? Zu den Verwandtschaften zwischen Spinoza und Freud« zieht Bilanz zu dieser schon in der Vergangenheit öfter gestellten Frage der systematischen Verwandtschaft zwischen diesen beiden Denkern. Zum einen geht GiampieriDeutsch den wenigen expliziten Spuren nach, die in Freuds Werken und Briefen direkt auf Spinoza verweisen. Es zeigt sich, Freud selbst sieht diese innere Verwandtschaft, lehnt aber eine direkte Stellungnahme zu Spinoza wie zu anderen Philosophen ab, da sein Forschungsanliegen grundsätzlich anderer Natur ist. In einem systematischen Teil des Beitrags werden Nähe und Differenz der Lehren von Trieb und Affekt sowie des psycho-physischen Parallelismus herausgearbeitet. In einer breit angelegten Diskussion der Debatten zu Freud und Spinoza von ihren Anfängen bis heute zeigt Giampieri-Deutsch, dass beide Denker darin übereinkommen, dass sie weder einen reduktionistischen Leib-Seele-Parallelismus in einer einfachen, geschlossen kausalmechanischen Welt vertreten noch die Annahme einer dualen Substanzenwelt von Leib und Seele verteidigen. Dass Spinozas Naturbegriff göttliche Implikationen beinhaltet (deus seu natura), dies aber mit Freuds Atheismus nicht vereinbar ist, ist verständlich. Beide Denkwege sind lange, anstrengende psychotherapeutische Kuren, doch die von Spinoza ist nur starken intellektuellen Individuen möglich, Freud hingegen therapiert die Neurosen und verwandelt die Spleens der Kranken in normales Leiden. So etwa lässt sich das Fazit zusammenfassen, zu dem Giampieri-Deutsch am Ende ihrer Untersuchung diagnostizierend und konstatierend gelangt. Helma Riefenthaler geht in ihrem Beitrag »Spinoza und Sartre über Existenz, Willensfreiheit, Affekte« den Linien nach, mit denen sich Sartre gegen die Rationalisten abgrenzt und sich eher negierend als affirmierend auf Spinoza direkt bezieht. Riefenthaler betont zunächst den wesentlichen Unterschied des sich auf ein Allgemeinmenschliches beziehenden Rationalismus Spinozas gegenüber Sartres phänomenologischer Ontologie, die mit Emphase das individuelle Einzelne des Menschen in seiner Kontingenz in den Fokus rückt. Diese

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Gegenüberstellung ist treffend, obwohl Spinoza den Menschen weit mehr als Individuum in seiner je besonderen emotionalen Struktur im Blick hat als dessen Kollegen unter den Rationalisten. Spinoza, so Riefenthaler, sei für Sartre immer wieder ein beachteter und ernst zu nehmender Philosoph, wenngleich die Lektüre seiner Hauptschrift eher mit Distanz Eingang in Sartres Denken gefunden habe. Der Parallelismus von res extensa und res cogitans ist systematisch erheblich unterschieden von Sartres Seinsweisen des An-sich und des Für-sich. Im Hinblick auf die Frage nach der menschlichen Freiheit sind die Positionen der beiden Autoren diametral entgegengesetzt und doch auch im Ergebnis nicht unähnlich. Spinoza leugnet bekanntlich die freie Willensentscheidung. Weil aber der Verstand zugleich Wille ist, führt der Weg der dritten Erkenntnisart Spinozas zu einer Freiheit durch Erkenntnis. Einzig das Denken ist Spinoza zufolge fähig, die Verstrickungen der lebenshemmenden Emotionen wie Trauer, Hass, Neid zu durchschauen und mit dieser Erkenntnis eine Freude zu gewinnen, die die lebenszerstörenden Affekte schwächt. Diese Freiheit, die sich aus der Einsicht in das von Natur aus Notwendige gewinnt, ist für Sartre nicht akzeptabel. Der Mensch ist zugleich seine Freiheit, egal ob er ein Leben in Unaufrichtigkeit führt oder zu einer Ethik der Authentizität findet. In beiden Theorien nehmen die Affekte einen bedeutenden Stellenwert ein. Doch während Spinoza empfiehlt, die Affekte zu studieren und um langfristigerer Ziele willen die näherstehenden Begierden aufzugeben, sieht Sartres Theorie vor, die Klebrigkeit und das Verharren in unmittelbaren Affekten aufzubrechen, um zu einem authentischen Leben zu finden. Sartre bejaht auch darin die absolute Kontingenz, die Freiheit ist, Spinoza hingegen verschreibt sich mit dem amor Dei intellectualis einer Freiheit, die Notwendigkeit ist, und die mit der Natur, die Gott ist, zusammenfällt. Ulrike Kadi unterstreicht in ihrem Beitrag »Affekt und Körper: Zu Jaques Lacans Spinoza-Lektüre«, dass Lacans Bezug zu Spinoza – mit 14 las er erstmals Spinoza – immer eine produktive Verarbeitung und Vereinnahmung war, nie eine philologisch genaue, textnahe Rezeption wurde. Der strikten Spiegelung von res extensa und res cogitans, von Körper- und Affektbewusstsein in Spinozas Denken stellt Lacan eine Konzeption der Distanz und Entfremdung von Körper und Affekt entgegen. Die motorische Unbeholfenheit des Kindes, die in Traumbildern als Erfahrung der Fragmentierung erscheint, wird, so Kadi, im ersten Spiegelstadium, also im Erschauen des Körpers durch das Kind, als Ganzheitlichkeit des Körpers idealisiert. In dieser Idealisierung lässt sich ein Pendant zu Spinozas Parallelismus entdecken. Für das Denken von Gilles Deleuze spielt Spinoza in besonderer Weise eine herausragende Rolle. Dies sucht Arno Böhler in seinem Beitrag »Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze. Wissen wir, was das Medium Körper kann?« nachzuzeichnen. Böhler betont, dass für Deleuze der Gedanke der Immanenz,

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der mit Spinozas Konzeption der Substanz verbunden ist, von großer Bedeutung ist, da mit ihm jegliche jenseitige, transzendente Orientierung in einer weltabgewandten Religiosität oder einer deontologisch begründeten Moral abgeschnitten ist. Die Immanenz der Substanz versinnbildlicht überdies eine Selbstbezüglichkeit der Ordnung der Natur, die sich für den Menschen im Hören auf die Natur, auf seine Natur, die wesentlich sein Körper ist, ausdrückt. Mit der scientia intuitiva, der dritten Erkenntnisart, die intuitives Wissen ist, drückt sich das BeiSichSein der Natur im Menschen aus. Die Ethik Spinozas führt Denken und Handeln zusammen, in der das Erlangen der höchsten Lebenspotenz zugleich die Realisierung eines ethisch angemessenen Lebens bedeutet. Der Ausdruck, den Deleuze auf verschiedenen Ebenen des Denkens Spinozas erkennt, ist Ausdruck in einem emphatischen Sinn von der Eigentlichkeit des Daseins in der Immanenz. Böhler weist überdies darauf hin, dass Deleuze hinter der Oberfläche der geometrischen Methode des Denkens Spinozas eine Emotionalität freigelegt hat, die nicht nur zentrales Thema im Dritten, Vierten und Fünften Teil der Ethik ist, sondern auch rhetorisch realisiert ist, um sich mit aller Eindringlichkeit an den Leser zu richten. Eine weitere Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich ausdrücklich mit der Rezeption, sowie der Neukonzeption von »Spinozas dritter Erkenntnisart: Von der Liebe zu Gott zur intellektuellen Anschauung«. Der erste Beitrag stellt Spinozas eigene Theorie der dritten Erkenntnisart, der scientia intuitiva, vor, während die übrigen Beiträge die mehr oder weniger deutlichen Spuren herausarbeiten, die von dieser Erkenntnisart bei Fichte, Hegel und Schleiermacher zu sichern sind. Die Untersuchung von Wolfgang Bartuschat ist ein wichtiger und erhellender Beitrag »Zur Rolle der dritten Erkenntnisart in Spinozas Konzeption der Ethica«. Bartuschat betont, dass die scientia intuitiva mitnichten eine Erkenntnisart sei, die die Bindung an den irdischen Körper und den Geist hinter sich lasse. Vielmehr beruht sie ohne Einschränkung auf der ersten, sinnlich wahrnehmenden und der zweiten, rationalen Erkenntnisart. Die Auszeichnung der dritten Erkenntnisart liegt nicht darin, die Partialität der Erkenntnis zu überwinden, um zu einer Erkenntnis universeller Zusammenhänge zu gelangen, sondern das Einzelne als verursacht von Gott zu erkennen, wobei Gott als Ursache streng zu unterscheiden ist vom innerweltlichen Verursachungsprinzip. Das Erkennen der scientia intuitiva ist Bartuschat zufolge keine intuitive Erkenntnis, wie es der Name nahe legt, sondern eine aktive Freude, die von Gott her und nicht im Ausgang vom Menschen zu denken ist, und in jeder adäquaten Idee präsent ist. Mit der scientia intuitiva wird die ratio nicht nur aktiv, in ihr erfüllt sich Erkenntnis. Violetta L. Waibel nimmt mit ihrem Beitrag »Philosophieren als Weg des Denkens. Anmerkungen zu Spinoza und Fichte mit einem Exkurs zu Hölder-

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lin« die Diskussion um Spinozas dritte Erkenntnisart noch einmal auf. Die Untersuchung macht auf den Unterschied aufmerksam, den Spinoza im Fünften Teil der Ethik zwischen der endlichen Liebe zu Gott als einer Vorstufe der dritten Erkenntnisart, und der intellektuellen Liebe zu Gott, sub specie aeternitatis, als eigentlicher dritter Erkenntnisart, herausstellt. Ziel der Untersuchung ist es, vor diesem Hintergrund die Rezeption und Umdeutung von Spinozas amor Dei intellectualis im Deutschen Idealismus genauer fassen zu können. In einem Exkurs zu Hölderlin wird in Umrissen gezeigt, dass dessen Konzeption einer ›intellectualen Anschauung‹ eine ästhetisch konnotierte Fortschreibung von Spinozas dritter Erkenntnisart darstellt, für die das intuitive Moment des Theorems eine weit größere Bedeutung hat, als für Spinoza. Im Weiteren weist Waibel darauf hin, dass Fichtes frühe Wissenschaftslehren explizit mit dem Theorem der intellektuellen Anschauung arbeiteten, während die späteren Wissenschaftslehren sich dem intellektuellen Moment des Sehens zuwenden und damit das Theorem der intellektuellen Anschauung ablösen. Die Untersuchung zeichnet das Sehen des Sehens am Leitfaden der fünf Schemata in der Wissenschaftslehre von 1811 nach, die Fichte für die Einsicht in das Absolute vorgesehen und in unterschiedlicher Differenziertheit entfaltet hat. Fichte streicht damit, so Waibel, in systematischer Nähe zu Spinoza das intellektuelle Moment des Wissens des Absoluten heraus, wenn gleich er, anders als Spinoza (und Hegel), ein Moment des Uneinholbaren im Sehen des Sehens denkt und akzeptiert. Das bringt den Fichte der späteren Wissenschaftslehren in eine bemerkenswerte Nähe zu den Romantikern. Hegels Substanzbegriff ist bekanntlich auf Spinozas Begriff der Substanz zurückzuführen ohne freilich mit ihm zur Deckung zu kommen. Andreas Arndt stellt in seinem Beitrag »›Enthüllung der Substanz‹. Hegels Begriff und Spinozas dritte Erkenntnisart« zunächst den wesentlichen Unterschied der beiden Substanzbegriffe heraus, den Hegel bereits selbst moniert. Während Spinozas Substanz einem starren Verstandesdenken zugehöre, gewinne sich die Enthüllung der Substanz bei Hegel durch einen Prozess des Werdens, der nicht bloß äußerlich freilegt, was bereits in der Substanz befasst ist. Es ist ein Werden, das die Substanz zu sich selbst und somit zur Subjektivität führt, und zwar im Werden durch die Arbeit des Begriffs. In dieser Nachzeichnung von Hegels eigenem Anspruch bleibt für Arndt offen, ob dieser Anspruch systematisch auch eingelöst ist. Wohl aber könne gesagt werden, dass dies Werden des Begriffs, der zugleich Substanz und Subjektivität ist und in der absoluten Idee der Begriffslogik gipfelt, in der theoretisches und praktisches Verhalten von Natur und Geist zur Deckung gelangen, der Intention nach der Methode entspricht, die Spinoza mit dem amor Dei intellectualis im Blick hatte, in dem die wahre Erkenntnis von Gott mit der Wahrheit im Handeln zusammengeführt wird. Ulrich Barth erinnert sich mit seinem Beitrag »Von Spinozas dritter Erkenntnisart zu Schleiermachers Anschauung des Universums« daran, dass sich

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Schleiermacher mit frühen Spinoza-Studien, die er nicht in den Druck gab, und mit der ersten Fassung seiner zuerst anonym erschienenen Reden über Religion von 1799 sehr viel ausdrücklicher und hymnischer auf Spinoza bezog als in den späteren Fassungen der Reden von 1806, 1821 und 1831. Dies machte sich die Kirche in der Weise zunutze, dass nur die letzte Fassung ihres bedeutenden Kirchenvaters Schleiermacher zum Wiederabdruck kam, damit dieser nicht mit dem für sie auch im 19. Jahrhundert noch unwillkommenen Spinoza in Zusammenhang gebracht werden sollte. Barth sucht Schleiermachers Wurzeln im Denken Spinozas freizulegen, die in dessen Spinoza-Manuskripten ihren ersten Anfang genommen haben und sich in den Reden von 1799 zu einem religiösen Gefühl und der Anschauung des Universums fortbestimmen. Der Rationalist Spinoza wurde von Schleiermacher und anderen offenkundig als Realist in höherem Sinne verstanden, der für eine romantische, am Konkreten orientierte Religionsphilosophie ein substanzielles Theorieangebot liefern konnte. Schleiermacher ist bemüht, die Konzepte Kants und Spinozas in einem Begriff von religiöser Anschauung zusammenzudenken, demzufolge die Darstellung des Unendlichen im Endlichen und die Deutung des Endlichen als ursprünglich Unendlichem einander korrelieren, begleitet von einem religiösen Erregungszustand. Religion offenbart sich als Deutungskultur, in der alle endlichen, weltlichen Begebenheiten in einem unendlichen, unbedingten Sinn stiftenden Horizont erschaut werden. An dieser Verschränkung von Gottesgedanke und Weltidee halte Schleiermacher, so Barth, trotz aller Wandlungen fest. Eine letzte Gruppe von Beiträgen sichtet das Themenfeld »Spinoza und die Debatten um den Spinozismus« bei Kant, Jacobi, Schleiermacher, Schelling, Friedrich Schlegel und schließlich bei Nietzsche. Karl Ameriks fragt in seinem Beitrag zur Debatte um den Spinozismus mit Schleiermacher, »›ob die bloß scheinbare Person möglich ist‹. Spinoza, Kant, Jacobi, Schleiermacher«. Ameriks nimmt Schleiermachers unveröffentlichte Spinoza-Aufzeichnungen, in denen er, wie vor ihm Jacobi, eine systematische Nähe des Personen-Begriffs von Spinoza und Kant zu erkennen glaubt, zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Zunächst lässt Ameriks einige Argumente von Kant, Jacobi, Schleiermacher und anderen auf die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des Selbst im Hinblick auf den Substanzenmonismus von Spinoza Revue passieren. Sodann untersucht Ameriks die Tragfähigkeit von Kants Abgrenzungen gegen den Spinozismus in einigen seiner Schriften. Dabei zeigt sich, dass Spinoza und Kant der Substanz, die hier Gott, dort Ich ist, das Haben von Gedanken in anderer Weise zuschreiben und dass daher offenkundig ein bloßer Wortstreit geführt wurde. Zuletzt untersucht Ameriks Schleiermachers Rezeption von Kants Paralogismen. Der erste Paralogismus thematisiert bekanntlich die Möglichkeit der Substanzialität des Ichs, der

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dritte, für Schleiermacher zentrale, die personale Identität im Fluss der Zeit. Dieser Studie Schleiermachers zufolge, der das Titelzitat dieses Beitrags entnommen ist, ist personale Identität in einem objektiven Sinn nicht möglich, auch wenn Subjekte sich weithin als psychologische Identität erleben. Schleiermacher lehne es ab, mit Kant von einer Vielzahl von Substanzen auszugehen und deren Autonomie anzuerkennen. Auch der spätere Schleiermacher bleibe darin Spinoza verpflichtet, dass er die Abhängigkeit der Subjekte in einer letztbegründenden Substanz aufhebe. Dies aber mache gleichwohl einen extramundanen Gott nicht denknotwendig. Thomas Kisser wendet sich in seinem Beitrag der Problemstellung »Auf der Suche nach dem Anfang des Endlichen. Schellings Auseinandersetzung mit Spinoza« nach 1800 zu. Im System des transzendentalen Idealismus gelinge Schelling nur eine symbolische Darstellung der Einheit von Denken und Handeln in der intellektuellen Anschauung durch das Kunstwerk. In späterer, neuerlicher Zuwendung zu Spinozas Ontologie der Substanz erkennt und übernimmt Schelling, so Kisser, die Konstruktion der qualitativen Einheit der Attribute sowie der quantitativen Vielheit der Modi. Überdies sieht er, dass Spinozas Ethik-Konzeption keine Herrschaft des Geistes über den Körper kennt, sondern die Notwendigkeit begreiflich macht, dass Geist und Körper gleichermaßen erkannt und aktiviert werden müssen. Statt der Orientierung auf ein höchstes Moralgesetz entwirft Schelling eine ethische Theorie der Potenzen von Körper und Geist, die sich, anders als in Spinozas Parallelismus, wechselseitig durchdringen und auf beiden Seiten Präponderanzen erzeugen. Am Beispiel der Darstellung des Menschen und seiner körperlichen Erscheinung in verschiedenen Schriften Schellings lässt sich Kisser zufolge eine zunehmende Stufung vom Materialen zum Geistigen im Menschen ablesen. In Schellings Freiheits-Schrift von 1809 zeichnet sich bei aller Nähe eine deutliche Kritik an Spinoza ab, der den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen nicht konstruieren könne. Der Theorie Spinozas setzt Schelling seine Konzeption vom Werden Gottes und einem anderen Werden der menschlichen Subjektivität entgegen, die gegen diese Kritik immun sei. Die beiden Romantikforscherinnen Bärbel Frischmann und Elizabeth Millán legen eine gemeinsame Untersuchung »Zu Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit Spinoza und dem Spinozismus« vor. Schlegel habe Spinoza, so die These, vermittelt durch Jacobis bekannte Briefe Über die Lehre des Spinoza kennen und schätzen gelernt. Fichtes Philosophie des Ich, die ihm für Agilität und Tätigkeit steht, bringt Schlegel mit Spinozas Substanzenontologie, die Gediegenheit, Ruhe, Einheit repräsentiert, in den Vorlesungen über Transzendentalphilosophie zu einer Synthese, in deren Mitte die eigene Konzeption situiert wird. Diese verknüpft Reflexion und Wissen mit dem, was er Divination und Glaube nennt und bedient sich der Allegorie des symbolischen Bildes. Philo-

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sophie ist Wissenschaft, Kunst, Religion zugleich. Ein letztbegründendes Absolutes wird abgelehnt, wenngleich Schlegel am Streben nach dem Absoluten als unabschließbarem Prozess festhält. Für den Schlegel von 1796 sind Fichte und Spinoza Mystiker, die einen Sinn für das Unendliche des Geistes und seine Nähe zur Kunst erkennen lassen, die freilich auch Gefahr laufen, sich in den eigenen Systemen einzuschließen. Später geht Schlegel in größere Distanz zu Spinoza, hatte dieser doch in Wahrheit keinen expliziten Ausdruck für Kunst und Poesie vorgesehen. Nach Schlegels Bekehrung zum Christentum wird Spinoza, bei aller bleibenden Wertschätzung, von Schlegel zum Pantheisten gestempelt, der nicht zum wahren Glauben gefunden habe. Reiner Wiehl, der bedauerlicher Weise wegen Krankheit von der Tagung fern bleiben musste, hatte dennoch für den Tagungsband einen Beitrag versprochen, den er im Ausgang von einem bereits erschienenen Beitrag ausarbeiten wollte. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Reiner Wiehl verstarb am 30. Dezember 2010. So kristallisierte sich der Entschluss, Wiehls bereits veröffentlichten Aufsatz zum Thema »Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza« in den vorliegenden Band zu integrieren und erneut abzudrucken. Der Beitrag ist zuerst in Reiner Wiehls Sammlung von Einzelbeiträgen erschienen, die den Titel trägt, Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte.16 In dem Beitrag »Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza« rekonstruiert Wiehl die Gründe, die Nietzsche zu einer entschiedenen Ablehnung des Platonismus führten, obwohl er Platon und mit ihm Spinoza weithin gelten lässt. Wiehl betont, dass Nietzsches offenkundige Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit in seinen Positionen, die nicht entwicklungsgeschichtlich aufgelöst werden kann, Hand in Hand geht mit einer rhetorischen Überdeutlichkeit in vielen seiner Aussagen. Nietzsche erkenne sich in Platon wieder, weil beide die Kunst des Denkens, die Logik des Verstandes mit einer Logik des Herzens verbinden. Philosophie ist nicht bloß Wahrheitssuche, sondern Kunst der Überredung, weil sie sich nicht bloß dem denkenden, sondern dem ganzen Menschen in therapeutischer Absicht zuwende, wie dies Ärzten zu eigen ist. Diese Affinität Nietzsches zu Platon bei Ablehnung der metaphysisch orientierten Platoniker erklärt nun auch die Affinität Nietzsches zu Spinoza, in dem er seinem berühmten Brief an den Freund Franz Overbeck vom 30. Juli 1881 zufolge einen Geistesverwandten entdeckte. Nach Wiehl stimme 16 Reiner Wiehl: »Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza«, in: Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte. Frankfurt am Main 1998, 129–149. Der Beitrag wurde für den Wiederabdruck vorsichtig redigiert und an die Richtlinien des vorliegenden Bandes angeglichen. Offenkundig arbeitete der Autor mit eigenen Übersetzungen der Ethik Spinozas, da der deutsche Wortlaut der verwendeten Zitate in keiner gängigen Ausgabe gefunden werden konnte. – Dem Suhrkamp Verlag sei herzlich gedankt für die Erlaubnis zum Wiederabdruck.

Einleitung

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Nietzsche mit Spinoza überein, dass die Erkenntnis der mächtigste Affekt sei.17 Überdies leugnen sie beide die Willensfreiheit, die Zwecke, die sittliche Weltordnung, das Unegoistische, das Böse. Wiehl geht diesen Linien im Licht von Nietzsches berühmtem Perspektivismus nach. Nietzsche sieht sich bald mehr in die Nähe zu Spinoza, bald doch wieder mehr zu Platon hingezogen. Und schließlich ist Nietzsches Anti-Platonismus, der zugleich eine Anti-Metaphysik artikuliert, doch auch wieder ein Stück Metaphysik, aus der er sich nur zum Teil zu befreien wusste. Es bleibt noch, Dank zu sagen. Der Universität Wien danke ich für die Bereitstellung der finanziellen Mittel zum Gelingen der Tagung im Februar 2010 an der Universität Wien und für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Meinen Mitarbeitern, Max Brinnich und Peter Gaitsch, sei herzlich gedankt für ihr Engagement bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge und der Einrichtung der Texte für den Druck. Gabriele Geml und Philipp Schaller danke ich für Korrekturlesungen. Violetta L. Waibel, Wien, im Juli 2012

17 Friedrich Nietzsche am 30. Juli 1881 an Franz Overbeck, in ders.: Briefwechsel, KGB III/1, 111.

Konrad Cramer

Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza

Opfert mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza. Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht. Unvermittelt, so scheint es, konfrontiert Schleiermacher 1799 seinen Leser in der Zweiten seiner Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern mit diesen Sätzen über Spinoza. Einen weiten Weg hatte Spinoza zurückgelegt, bis ihm eine derartige Apotheose zu Teil wurde. »Durch den abtrünnigen Juden Spinoza, aus der Hölle stammend, worin in einer unerhörten Atheistenmanier bewiesen wird, daß Gottes Wort durch Philosophie erklärt […] werden müsse«, so beschreibt eine zeitgenössische Schmähschrift den Ursprung von Spinozas 1670 veröffentlichtem Tractatus Theologicus-Politicus; und eine weitere Flugschrift drückt dies noch genauer so aus: »Von dem abtrünnigen Juden zusammen mit dem Teufel in der Hölle geschmiedet und mit Wissen seiner […] Komplizen herausgegeben.« In der Ersetzung dieser Einschätzung durch ihr konträres Gegenteil waren Schleiermacher freilich andere schon vorausgegangen. 1785 hatte Friedrich Heinrich Jacobi seine Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn herausgebracht und in ihnen die These vertreten, dass jeder konsequent zu Ende gedachte Pantheismus in den Spinozismus münden müsse, der Spinozismus aber notwendigerweise Atheismus sei. Mit dieser These hatte Jacobi die weitere verbunden, dass der Spinozismus das einzige System einer Weltinterpretation sei, in dem die Position des vernünftigen Denkens sich selber genüge. Das von der Vernunft erschließbare Absolute könne nur als das »Seyn[] in allem Daseyn«, als ein »immanentes Ensoph« gefasst werden, dem Vernunft und Wille, freie Schöpfung aus dem Nichts und damit Charakter und Handeln als Person gerade abgesprochen werden müssen. Daher muss vernünftiges Wissen das, was ihm der Name Gottes bedeuten

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kann, mit dem Gott des Spinoza identifizieren, der einen unendlichen Substanz, in der alles ist, was sein und gedacht werden kann. Der Spinozismus aber ist Atheismus, denn die Vernunft muss das, was sie allein als Gott zu verstehen vermag, von all denjenigen Konnotationen freihalten, welche die Offenbarungsreligionen ihm als seine wesentlichen Prädikate zusprechen. Gerade diese aber haben – so Jacobi – ihr anthropologisches Fundament in etwas, das sich von allem Ausgriff auf vernünftiges Wissen grundsätzlich unterscheidet und entzieht. Und so erweist sich für Jacobi der Spinozismus gerade wegen der ihm zuzubilligenden logischen Stringenz und metaphysischen Unvermeidlichkeit als Folge eines in sich sinnwidrigen Unternehmens. Denn dem menschlichen Gemüt drängt sich mit nicht durch Vernunftgründe vermittelbarer Macht die ›Ahndung‹ – so der romantische Grundbegriff – eines Höheren in der unmittelbaren Gegebenheitsweise eines bloßen Glaubens an eine extramundane, verständige und gütige personale Ursache des Weltganzen auf, und sie ist es, die allein den unabweisbaren Bedürfnissen des Gemüts genüge tun kann. Damit hat Jacobi gegen den Rationalismus und Atheismus des Spinoza die Ahndung eines allem Endlichen gegenüber transzendenten Unendlichen eingeklagt, das in einer aus dem Leben selber erwachsenden unmittelbaren Gewissheit präsent ist. Jacobis Ansicht vom Atheismus des Spinoza vermochte sich freilich schon sein Freund Goethe nicht anzuschließen. In einem Brief vom 9. Juni 1785 aus Ilmenau schreibt er an Jacobi Folgendes: »Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fließt. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so möchte ich ihn theissimum ja christianissimum nennen und preisen.« Was der dezidierte Nichtchrist Goethe damit gemeint haben mochte, dass er Spinoza den allerchristlichsten Denker nannte, ist schwer zu ergründen. Dass er ihn theissimum nannte und damit den jacobischen Vorwurf des Atheismus von Spinoza nicht nur abwehrte, sondern diesen Vorwurf als eine Absurdität verwarf, hatte Gründe. Die Gründe sind dieselben, die Schleiermachers Anrufung Spinozas geleitet haben. Schleiermachers Apotheose Spinozas geschieht nur dem Anschein nach unvermittelt. Das wird deutlich, wenn man die Eingangsüberlegungen der Ersten seiner Reden über die Religion genau liest. Die Gebildeten unter ihren Verächtern, das heißt die aufgeklärten Bildungsbürger der Epoche um 1800, werden hier so angeredet: Ich weiß daß Ihr ebenso so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als ihr die verlassenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter giebt, als die Sprüche der Weisen und

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die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn Ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüthe Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm. – Warum nicht? Schleiermachers Antwort lautet: Weil ihnen dieses ewige und heilige Wesen jenseits der Welt liegt. Es ist die extramundane Auffassung vom Wesen und Dasein Gottes als des Gegenstandes der Religion, die in den »Tempeln«, das heißt im Rahmen eines den Gebildeten obsolet gewordenen institutionalisierten christlichen Lebens, gelehrt und gefeiert wird, die ihnen zum Gegenstand ihrer Verachtung geworden ist. Es ist die Auffassung von der Transzendenz Gottes gegenüber der von ihm geschaffenen Welt, seiner Jenseitigkeit gegenüber all dem, worin sich der Gebildete unter den Verächtern der Religion zu finden vermag, aus der sich eben diese Verachtung nährt. Denn eben diese Jenseitigkeit Gottes und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist unverständlich geworden. »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan! Ich weiß nichts anders.« Diese Worte hatte Jacobi Lessing in den Mund gelegt und damit den Streit zwischen ihm und dem darob bestürzten Mendelssohn über Lessings Spinozismus entfacht, über dem Mendelssohn hinwegstarb. Ein Streit jedoch, der eine Welle der Beschäftigung mit Spinoza in Deutschland erzeugen sollte, deren Sprache sich von der vormaligen Verwerfungs-Rhetorik grundsätzlich unterschied. Und auch Jacobi selber sollte sich von dieser auf dramatische Weise verabschieden und zwischen dem Atheisten des philosophischen Systems und dem Lebensfrommen in seiner Kampfschrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza von 1786 so unterscheiden: »Eh pro dolor … Und sey Du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus. Wie du auch über die Natur des Höchsten Wesens philosophieren und in Worten dich verirren mochtest: seine Wahrheit war in Deiner Seele, und seine Liebe war Dein Leben!« »Solange unsere Priester« – so fährt er fort – »uns nach dem Himmel sehen heissen, nur darum, weil er uns die Erde düngt«, wäre es »Schwachheit von Leßing gewesen – ja Dummheit, Tollheit, und Ruchlosigkeit, daß er einem solchen Theismus, den unendlich frömmeren Atheismus eines Spinoza vorzog?« Nun hatte Jacobi nicht nur dem vormaligen Schmähgeschrei, sondern auch dem stereotypen »Spinoza errat«, das noch Christian Wolffs 1737 durchgeführte Kritik an Spinoza durchzogen hatte, entgegengehalten, dass sich der Vorwurf, Spinoza habe eine ihrem Inhalt nach völlig irrige Metaphysik in die Welt gesetzt, selber in einem fundamentalen Irrtum befinde und dass, näher besehen, die Metaphysik der Leibniz-Wolffschen Schule, der auch Mendels-

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sohn noch anhing, sich zum Spinozismus hätte bekennen müssen, wenn sie nur konsequent genug gedacht hätte. Das war für Jacobi nicht zuletzt dadurch angezeigt, dass er die Autorität Lessings bemühen konnte, der, folgt man Jacobi, die Ungenießbarkeit der orthodoxen Begriffe von der Gottheit mit dem Namen dessen verbunden hatte, der in seiner Ethica Ordine Geometrico demonstrata hierzu die Theorie geliefert hatte: »Wenn ich mich nach jemandem nennen soll, so weiß ich keinen andern [als Spinoza].« So hatte Lessing zu Jacobi nach dessen Behauptung gesagt. Lessings ›Hen kai Pan‹ verweist also auf Spinoza und damit auf den Spinozismus als die der Orthodoxie überlegene Auffassung von Gott, der »Gottheit«, wie Lessing in charakteristischer Neutralitätsmodifikation sagt. Darin wird ihm Schleiermacher in den Reden folgen. Und so ist es Schleiermachers zunächst paradox erscheinendes Programm, den Grund der Verachtung der Religion durch die Gebildeten gerade mit Spinoza zu beseitigen. Denn er war, so Schleiermacher, »voller Religion«, und nicht die, »welche die Virtuosen derselben zu sein behaupten, und von Staat und Volk dafür angesehen werden«. Und so ist sich der Prediger an der Berliner Charité dessen bewusst, dass er, wenn er zu denen, an die er sich wendet, als christlicher Theologe und Seelsorger sprechen würde, selber der Verachtung anheim fallen müsse, welche die Verächter der Religion dem Stande der Verwalter der orthodoxen Begriffe von der Gottheit eben deswegen bezeugen, weil diese Begriffe »ungenießbar« geworden sind. So muss es eine andere Redeweise über das, was Religion und religiöses Bewusstsein ist, geben. Diese andere Redeweise aber ist in Wahrheit Rede über etwas anderes als über das, dem die Verachtung der Gebildeten gilt. Denn von dem, was Schleiermacher als das Werk der Religion preist und fühlt, steht, so schreibt er, wohl wenig in den heiligen Büchern. »Nicht der hat Religion«, so hat Schleiermacher diesen Gesichtspunkt provokant genug formuliert, »der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte«. Was also ist Religion, wenn diese nicht nur ohne die orthodoxen Begriffe der Gottheit auszukommen vermag, sondern sogar die Funktion besitzen kann, diese Begriffe aus dem religiösen Bewusstsein zu entfernen, derart, dass wie es später heißt, »eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott«? »Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen.« Diese Aussage findet sich im unmittelbaren Anschluss an die Apotheose Spinozas, des Meisters in seiner Kunst. War also dessen Kunst die des wahrhaften Virtuosen des religiösen Bewusstseins? Ist Spinozas Ethica von Schleiermacher als das Dokument der Artikulation von Religiosität als Anschauen des Universums aufge-

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fasst worden? Und ließe sich, wenn dies so ist, mit dieser Auffassung ein Sinn verbinden, der Spinozas Unternehmen wirklich trifft? Zunächst: ›Anschauen‹ des Universums ist noch nicht der vollständige Titel für das, was der Angelpunkt von Schleiermachers Reden ist. Genauer heißt es »Anschauung und Gefühl«, »Sinn und Geschmak fürs Unendliche«, »Instinkt fürs Universum«, »Trieb anzuschauen«, der »aufs Unendliche gerichtet ist«, »Ahndung«. All diese Worte bezeichnen Zustände des ›Gemüths‹, die dieses in einer eigentümlichen Schwebe halten, sie deuten hin auf etwas Unfixiertes, Unfixierbares, was nicht in die Diskursivität unseres Wissens und in die Praktizität unseres Tuns aufgelöst werden kann, deuten hin auf ein affektives Betroffensein durch etwas, das sich objektivierender Auffassung entzieht. – Gefühl, Sinn, Geschmack, Instinkt, Trieb, Ahndung – das sind Zustände des Gemüts, in denen sich ihm Bedeutsamkeit rein hinnehmend erschließt. Sie erschließen jedoch nicht nur auf andere Weise, als es Begriff und Urteil, Zwecksetzung und Tätigkeit tun, sie erschließen auch Anderes als das, was Gegenstand unseres theoretischen und praktischen Wissens, was das Universum in metaphysischer und moralphilosophischer Perspektive sein kann. Nur in Entgegensetzung zu solcher Perspektive kann Religion den Besitz ihres Eigentums antreten. Was aber kann unter dieser Bedingung Anschauung des Universums oder des Unendlichen bedeuten? – Es ist nicht zufällig so, dass der Inhalt des religiösen Bewusstseins seine einzige nähere Bestimmung im Laufe der Reden durch die Formel erhält, die Jacobi Lessing in den Mund gelegt hatte. Es heißt: »Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden.« Religion »will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung«. »[W]arum« – so fragt er – vergißt über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden? weil Ihr ihn dem Universum entgegensetzt und ihn nicht als einen Theil deßelben und als etwas heiliges aus der Hand der Religion empfangt. […] [W]eil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannigfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs.

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[A]lles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie. Das sind schwungvolle Worte. Und so ist es gewiss nicht zufällig so, dass die Formel des ›Hen kai Pan‹ als Formel für den Inhalt der hinnehmenden Anschauung und des passivischen Gefühls des religiösen Bewusstseins gerade dort noch einmal auftritt, wo Schleiermacher sich in den Reden zum zweiten und letzten Mal auf Spinoza bezieht: [W]o alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Götzendiener? Spinoza also hat, das behauptet Schleiermacher mit diesen Sätzen, das Universum angeschaut als die Totalität des Eins und Alles, und eben deswegen konnte Schleiermacher von ihm sagen, dass er voller Religion war. Aber Religion ist – so die Erste Rede – »ihrem ganzen Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Philosophie sich […] dazu hinneigt«, was aber ist die Lehre des Spinoza anderes als systematische Philosophie? Offensichtlich hat Schleiermacher in diesem unleugbaren Sachverhalt keinen Widerspruch zu seiner Charakterisierung Spinozas gesehen. Denn offenbar war er der Überzeugung, dass die Lehre des Spinoza, so wie sie in seiner Ethik niedergelegt ist, auf einer mit seiner Artikulation im System more geometrico keineswegs identischen Grunderfahrung aufruht; und diese Grunderfahrung war eben Religion als die Anschauung des Einen und Allen. Aber was heißt das eigentlich? Anschauung, so Schleiermacher, ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem was ihr begegnen kann das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt.

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Das Anschauen des religiösen Bewusstseins bleibt bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen und damit beim anschauend hingenommenen Einzelnen stehen, aber so, dass es das angeschaute Einzelne als ebenso unmittelbare, nicht durch Akte des bestimmenden Verstandes konstituierte Erfahrung vom Dasein und Handeln des Universums auffasst. Religion ist Gewahren des Einzelnen als Gewahren des Daseins und Handelns des Universums. Bezieht man nun diese Aussage auf die Formel des ›Eins und Alles‹, so ist erstens klar, dass das Eine dem Allen nicht in der Form eines dem Allen transzendenten Grundes gegenübersteht. Denn insofern das religiöse Bewusstsein das angeschaute Einzelne als unmittelbare Erfahrung vom Dasein und Handeln des Universums auffasst, kann das, was dieses Universum als Eines anzusehen erlaubt, nichts von dem einzelnen Angeschauten Getrenntes sein. Vielmehr wird das Eine im Einzelnen angeschaut: Hen en tois pasin – Eines in Allem. Zweitens aber wird das Eine auch nur im Einzelnen angeschaut. Denn das Eine ist unabhängig von Allem, das heißt vom Inbegriff des jeweils Einzelnen und als Einzelnes Angeschauten, kein selbständiger Gegenstand der Anschauung. Das Eine, das in Allem ist, muss folgerichtig als das Eine gefasst werden – to Hen. Wäre das Eine so gefasst, dass der Gedanke zugelassen bleibt, es sei eines unter anderem, wäre das Eine selber als etwas gedacht, was Element der Klasse der Vielen ist. Was aber immer Element der Klasse der Vielen ist, ist etwas Einzelnes unter möglichem oder wirklichem Einzelnen. Denn unter dem Vielen verstehen wir etwas und noch etwas gleicher oder ungleicher Art. So kann das Eine der Formel ›Hen kai Pan‹ selber nicht nach dem Modell der Ontologie der Einzeldinge verstanden werden. Das bedeutet jedoch, dass das Eine als solches gerade nicht angeschaut werden kann. Das Eine kann vielmehr nur im Einzelnen angeschaut werden, nämlich insofern jedes angeschaute Einzelne auf ebenso unmittelbare Weise, wie das Einzelne in der Anschauung zur Präsenz kommt, als Erfahrung des Daseins des Einen verstanden wird. Schließlich folgt, dass Alles in dem Einen ist. Panta en to heni. Denn nur unter der Bedingung, dass Alles, das heißt der Inbegriff von jeglichem als Einzelnes Anschaubarem, in dem Einen ist, das selber kein Element dieses Inbegriffs ist, kann mit Sinn gesagt werden, dass das Eine im Einzelnen angeschaut wird. Wäre der Inbegriff des Einzelnen nicht in dem Einen, sondern außerhalb des Einen, wäre unverständlich, wie die Anschauung von etwas Einzelnem die unmittelbare Erfahrung vom Dasein des Einen sein könnte. Das heißt noch nicht, dass es verständlich ist. Tatsächlich ist nämlich die These, dass Alles in dem Einem ist, leichter zu verstehen als die zu ihr komplementäre These, dass das Eine in Allem ist. Beide Thesen gehen jedoch in Schleiermachers Bestimmung des Inhalts des religiösen Bewusstseins ein. Das Endliche, und näher alles Endliche, mithin alles Einzelne, wird von diesem Bewusstsein so gesehen, dass es in allem Endlichen das Unendliche, als dessen

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Abdruck, als dessen Darstellung sieht. Steht das Unendliche für das Eine der Formel, für das Universum in seiner Totalität, so ist das Alles, nämlich alles Endliche als anschaubares Einzelnes, nicht nur im Unendlichen, sondern das Unendliche ist auch in allem einzelnen Endlichen. Soviel freilich ist verständlich: Ist das Eine der Formel ›Eins und Alles‹ die Chiffre für das, was Schleiermacher in den Reden ›die Gottheit‹ oder auch ›das Göttliche‹ nennt, so macht die Rede von einem Gott außer der Welt des Einzelnen, einem weltlos gedachten Gott, der zwar ihr Schöpfer ist, aber seiner Schöpfung gegenüber transzendent bleibt, so wenig Sinn wie die Rede von einer Welt, die Gott gegenüber transzendent ist. Denn das Eine ist nur, insofern Alles, was mit ihm nicht identisch ist, in ihm ist. Das ist authentischer Spinoza. Schleiermachers Beschäftigung mit Spinoza geht auf das Jahr 1793 zurück, und zwar an Hand einer sorgfältigen Analyse von Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza, da ihm Spinozas Schriften selber zunächst nicht zur Verfügung standen. Dabei hat Schleiermacher in einem Text mit dem Titel Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems als den »Hauptsatz« des Spinoza die Aussage bestimmt: »Es muß ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist«. Tatsächlich darf dieser Satz als der zusammenfassende Ausdruck des Prinzips des Spinozismus aufgefasst werden. Denn das von Spinoza entwickelte Prinzip seiner Ontologie lautet, (1) dass jede Substanz notwendigerweise unendlich ist, dass es (2) außer einer einzigen Substanz von unendlichen Attributen eine andere Substanz weder geben noch eine andere begriffen werden kann, dass (3) diese einzige Substanz mit dem zu identifizieren ist, was allein sinnvollerweise ›Gott‹ genannt werden kann, und dass (4) alles, was ist und mit Gott nicht identisch ist, in Gott ist, und nichts ohne Gott sein noch begriffen werden kann. Gott ist Substanz und daher etwas, das in sich ist und durch sich begriffen wird. Da Gott die einzige Substanz ist, gibt es außer Gott nichts, das in sich ist und durch sich begriffen wird. In Differenz zur Substanz gibt es jedoch die Modi der Substanz, nämlich solches, das in einer Substanz ist und durch diese Substanz auch begriffen wird. Außer Substanz und Modus gibt es jedoch ›in rerum natura‹ nichts. Wenn nun Gott die einzige Substanz ist, dann gibt es nur solches von dieser Substanz Differentes, was ihr Modus ist, das heißt nur solches, was in Gott ist. Damit ist ein absolutes Immanenzverhältnis zwischen Gott und allem, was mit ihm nicht identisch ist, gesetzt. Sofern daher Gott etwas wirkt, setzt er nicht etwas außer sich, sondern nur etwas in sich, als Modifikationen seiner selbst. Gott ist daher die immanente, nicht die transiente Ursache von allem, was nicht mit ihm identisch ist. So muss es nach Spinoza in der Tat, wie Schleiermacher schreibt, »ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist«. Ein Unendliches also, dies aber ein Unendliches gerade und nur insofern, als alles Endliches in ihm, und zwar alles Endliche in ihm ist.

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Dieser Position des Spinoza hat Schleiermacher in den Reden emphatisch zugestimmt. Ihr zuzustimmen aber heißt, einen Hauptgrund der Verachtung der Religion durch die Gebildeten zu beseitigen. Den ›salto mortale‹ Jacobis in diejenige Irrationalität, durch welche die Ahndung und der Glaube an ein der Welt transzendentes Prinzip ihres gesamten Daseins gekennzeichnet ist, ist Schleiermacher nicht mitgesprungen. Schon Lessing hatte Jacobi nach dessen eigenem Bericht empfohlen, »wieder auf [die] Füße zu stehen kommen« und andere mit seinem Glauben an eine verständige persönliche Ursache der Welt lieber nicht zu beschweren. Ebenso der Schleiermacher der Reden: Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drükt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nöthig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hülfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigenthümlichen Boden. Nun wäre aber eine Metaphysik, die ihrerseits, und zwar als Metaphysik, solchen Grübeleien den Boden entzieht, allen anderen Formen von Metaphysik gewiss vorzuziehen. Denn in einer solchen Metaphysik würde eine das religiöse Bewusstsein selber kennzeichnende Grunderfahrung leitend sein, diejenige nämlich, dass das Sein Gottes nichts außer der Welt und vor der Welt ist, die Grunderfahrung des ›Alles in Einem‹. Indem Spinozas Metaphysik eben diese religiöse Grunderfahrung als Theorem ausspricht, erweist sich, so könnte gesagt werden, ihr Autor für Schleiermacher als »voller Religion«. Aber das ›Alles in Einem‹, das ›Panta en to heni‹, ist nur die eine Seite der Sache der Religion. Die andere ist ihr ›Eines in Allem‹, das ›Hen en tois pasin‹. Lässt sich aus Spinozas Metaphysik erheben, dass er auch nach dieser Seite »voller Religion« war? Es ist nicht ausgemacht, dass das Spinoza von Lessing und Schleiermacher zugeschriebene ›Eins und Alles‹ jenen Gedanken der All-Einheit alles Seienden impliziert, der nicht nur die Immanenz alles Seienden in Gott, sondern auch die Immanenz Gottes in allem Seienden behauptet. Nirgends findet sich im System des Spinoza der Satz: »In allem, was ist, ist Gott, und nichts kann sein und begriffen werden, ohne dass Gott in ihm ist.« – Das hat Gründe. Die eine und einzige mit Spinozas Gott identische Substanz ist in sich und daher nicht in etwas Anderem. Gott kann nicht in etwas Anderem sein, weil er Substanz, nicht Modus ist. Gott kann nicht in etwas Anderem sein, das mit ihm nicht identisch ist, weil alles, was in etwas Anderem ist beziehungsweise sein kann, in ihm ist, oder: weil nur das, was mit Gott nicht identisch ist, in etwas Anderem sein kann, nämlich in Gott. Gott ist daher nicht in den Modi. Da es

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außer der einen Substanz und ihren Modi ›in rerum natura‹ nichts gibt noch geben kann, müsste Gott, um selber in etwas Anderem sein zu können, in seinen Modi sein. Das ist ein sinnloser Gedanke, solange er buchstäblich genommen wird. Denn was sollte es heißen, von irgendetwas zu behaupten, es sei in etwas Anderem, und von diesem Anderen zugleich zu behaupten, es selber sei in dem, was in ihm ist? Die spinozanische These von der Immanenz und näher der Inhärenz von allem, was mit Gott nicht identisch ist, in Gott, führt zwar zu einem strikten Panentheismus. Zu einem Pantheismus reziproker Immanenz und Inhärenz der Dinge, die mit Gott nicht identisch sind, in Gott, und Gottes in allen Dingen, die mit ihm nicht identisch sind, führt er nicht. Dieser entscheidende Punkt war schon Jacobi deutlich geworden und er hatte deswegen vorgeschlagen, den Pantheismus des Spinoza besser Panentheismus zu nennen und die auch aus diesem notwendigerweise folgenden atheistischen Konsequenzen bloß aus dem Satz »Omnia, quae sunt, in Deo sunt« zu ermitteln. Wenn aber das voll entwickelte religiöse Bewusstsein, wie Schleiermacher fordert, das angeschaute Einzelne derart anschaut, dass es auch anschaut, dass das Eine in ihm ist, und eben nicht nur, dass das Einzelne in dem Einen ist, war dann Spinoza nicht »voller Religion«, weil er sich zu diesem entscheidenden Schritt der Immanenz der Gottheit in allem Einzelnen nicht ebenso entschließen konnte wie zu dem von ihm wirklich vollzogenen Schritt der Immanenz alles Einzelnen in ihr? Und zwar, weil er dieses zweite konstitutive Moment der Struktur des religiösen Bewusstseins nicht zu gewahren vermochte? Was lässt sich hier mit dem authentischen Spinoza sagen? Um diese Frage zu befördern, soll noch einmal Goethe in seinem Brief an Jacobi aus Ilmenau zu Wort kommen: Er schreibt da: Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne, zu deren nähern und tiefern Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst, obgleich vor seinem Blicke alle einzelnen Dinge zu verschwinden scheinen. […] Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus. Diese Sätze bekunden, welch tiefen Blick Goethe in das System des Spinoza getan hat. ›In herbis et lapidibus‹: das heißt nicht, die Steine auf dem Wege und die Gräser, die an seinem Rande wachsen, zu zählen. Es heißt, Gestein und Pflanze nicht nach abstrakt-allgemeinen Begriffen, sondern als ›Gestalten‹, als ›Formen‹, als ›Typus‹ der Natur in ihrer Individualität und damit in ihrem Wesen zu erkennen. Es ist der Verfasser der Metamorphose der Pflanzen, der Abhandlungen Über den Granit und Zur Kenntnis der böhmischen Gebirge, des Entwurfs Zur Bildung der Erde, der, Mitglied der Herzoglichen Bergwerkskommission, der er war, als Mineraloge und Geologe die Geschichte des Or-

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tes unseres Aufenthaltes im Leben sehen lernen will, der beobachtend Unterscheidende und das Beobachtete doch nicht Scheidende, der im Brief an Jacobi spricht. Aus dieser Sprache spricht Spinoza. Lehrsatz 24 des Fünften Buches der Ethica lautet: »Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott«. Auch hier ist nicht die Rede davon, dass Gott in den Einzeldingen – in rebus singularibus – ist, wohl aber davon, dass sich unsere Erkenntnis Gottes in dem Maße erweitert, in dem wir die Einzeldinge, die in ihm sind, erkennen. Das heißt nicht, dass wir eine ausgebreitetere Erkenntnis Gottes dadurch gewinnen, dass wir Regentropfen zählen. Vielmehr erweitert sich unsere Erkenntnis Gottes dadurch, dass wir erkennen, dass Gott nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Einzeldinge ist, und daher in dem Maße, wie wir das Wesen dieser Dinge erkennen. Denn dieses Wesen ist eine Modifikation der Attribute Gottes und drückt seine Natur auf eine bestimmte Weise aus. So kann zwar nach wie vor nicht gesagt werden, dass Gott in den Einzeldingen ist wie die Einzeldinge in ihm sind. Insofern aber verstanden wird, dass das Wesen der Einzeldinge in der absoluten Kausalität Gottes ebenso gründet wie deren Existenz, und deren Wesen ebendaher eine bestimmte Weise der Expression, des ›Ausdrucks‹, der göttlichen Natur selber ist, wird allererst verstanden, was das Einzelne ist. Von Gott als solchem haben wir nur die abstrakte, noch qualitätslose Erkenntnis dessen, was Spinoza seine ›propria‹ nennt, nämlich dass er Substanz und Ursache seiner selbst ist, und die ihn qualifizierende, aber ebenfalls noch abstrakt bleibende Erkenntnis, dass Denken und Ausdehnung die einzigen uns bekannten Attribute Gottes sind. Auch kann eingesehen werden, dass in Gott – im Unterschied zu allen Dingen, die er hervorgebracht hat, sein Wesen und sein Dasein nicht unterschieden werden können. Eben das mochte Goethe im Sinn haben, wenn er im Brief an Jacobi schrieb: »Er [Spinoza] beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott.« Gottes von seinem Dasein ununterscheidbares Wesen aber ist seine Macht, aus der Unendliches auf unendliche Weise hervorgehen muss. Seine Macht und damit sein Wesen wird allererst erkannt, wenn erkannt wird, was aus dieser Macht hervorgeht. Die Endpunkte seiner Wirkmacht sind die aus ihr hervorgehenden Einzeldinge, die Gott als immanente Kausalität nicht außer sich, sondern in sich bewirkt. Je mehr sich daher das Erkennen in das Erkennen der Einzeldinge ausbreitet, desto mehr ersieht es Gottes Macht und damit sein Wesen. Goethe hat dies in dem Zweizeiler ausgedrückt: Willst Du in’s Unendliche schreiten, Geh im Endlichen nach allen Seiten. Solches Ausschreiten aber ist im System des Spinoza genau das, was von der Religion, wenn man Schleiermachers Reden folgt, abgehalten werden muss, näm-

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lich Wissen. Es wird durch die Erkenntnis der qualitativen Individualität der Einzeldinge erworben, die Spinoza der dritten der vom ihm unterschiedenen Erkenntnisarten zugeordnet hat, derjenigen, die er »scientia intuitiva« nannte und auf die sich Goethe in genau diesem Zusammenhang auch berufen hat. Sie galt Spinoza im Unterschied zu der unsicheren Erfahrung und der fehleranfälligen Imagination sowie der rationalen Erkenntnis von den Eigenschaften der Dinge bloß durch allgemeine Begriffe – per notas communes – als die höchste Erkenntnisart. Sie allein schreitet von der adäquaten Idee der formalen Wesenheiten der uns bekannten Attribute Gottes fort zu der adäquaten Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge. Je mehr wir daher die Einzeldinge auf die Weise dieser dritten Erkenntnisart erkennen, umso mehr erkennen wir Gott als die adäquate Ursache von Singulärem qua Singulärem, und daher von Individuellem, mithin nicht nur als die Ursache des Allgemeinen, das für viele Singuläre gilt. Und doch wäre es gänzlich verfehlt, Spinozas Redeweise von einer anschauenden Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge Schleiermachers Redeweise vom Anschauen des Universums im Einzelnen anzugleichen. Hier hat Goethe wirklich tiefer gesehen, hier war er der ›bessere‹ Spinozist. Wenn es erlaubt ist, Goethes Satz, dass er das göttliche Wesen ›in rebus singularibus‹ und nur in diesen suche, als Ausdruck dessen zu deuten, was ihm ›Religion‹ war, dann darf Religion nicht nur sehr wohl »in das Gerede geraten, der Totalität wißenschaftlicher und physischer Urtheile zu nahe zu treten«, sie muss vielmehr mit der recht verstandenen Totalität solcher Urteile identifiziert werden. Denn dann ist Goethes naturforschender Pantheismus, mit Hegel zu reden, beobachtende Vernunft: die Sonderung und Vereinigung der ›Bildungen‹ der Natur in einer Anschauung, die zum Entwurf von individualisierenden Begriffen des Bleibenden in der Erscheinungen Flucht führt. So dem ›Wesen‹ der Einzeldinge nachzuforschen, das heißt, das Göttliche in ihnen zu suchen. Das ist es, was Spinoza in Lehrsatz 24 des Fünften Buchs der Ethica ausspricht. Und so hatte Goethe recht, wenn er schrieb, dass zu solcher ›nähern und tiefern Betrachtung‹ der Einzeldinge niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst. Eben diese Auffassung hat Goethe in einem weiteren Brief vom 21. Oktober 1785 an Jacobi noch einmal bestätigt und gegen dessen Salto Mortale nachgerade eingeklagt: Daß ich dir über dein Büchlein nicht mehr geschrieben verzeih! […] Du weißt daß ich über die Sache selbst nicht deiner Meinung bin. Daß mir Spinozismus und Atheismus zweyerley ist. Daß ich den Spinoza wenn ich ihn lese mir nur aus sich selbst erklären kann, und daß ich, ohne seine Vorstellungsart von Natur selbst zu haben, doch wenn die Rede wäre ein Buch anzugeben, das unter allen die ich kenne, am meisten mit der meinigen übereinkommt, die Ethik nennen müßte.

Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza

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Und nun fährt er fort: Eben so wenig kann ich billigen wie du am Schlusse mit dem Worte glauben umgehst, dir kann ich diese Manier noch nicht passiren lassen, sie gehört nur für Glaubenssophisten, denen es höchst angelegen seyn muß alle Gewißheit des Wissens zu verdunckeln, und mit den Wolcken ihres schwankkenden lufftigen Reichs zu überziehen, da sie die Grundfesten der Wahrheit doch nicht erschüttern können. Religion aus allen Formen des Wissens zu entfernen und einem Glauben à la Jacobi zu überantworten, war Goethe eine unerträgliche Vorstellung. Aber auch für Schleiermacher gilt: wenn Religion etwas für ihn nicht ist, dann Erkenntnis der Natur, der Natur, die Spinoza im Unterschied zu Gott, der ›natura naturans‹, die ›natura naturata‹ nannte. So kommt auch in Schleiermachers Berufung auf Spinoza eine Zweideutigkeit hinein. Denn Schleiermachers Anschauung des Endlichen im Unendlichen und die von ihr nicht zu unterscheidende Anschauung des Unendlichen im Endlichen ist nicht nur durch die Unmittelbarkeit und Begriffslosigkeit der Beziehung auf den ihr eigentümlichen Inhalt charakterisiert, sie ist auch etwas Flüchtiges, Verschwebendes. Sie hält nicht fest, sondern lässt los, ist ›da‹ nur in ihrer transitorischen Verfassung, die nichts fixiert, in der Anschauung und Gefühl noch nicht getrennt sind. Sie befestigt nicht die Flucht der Erscheinungen in dauernden Gedanken. Das aber war Goethes, des dezidierten Nichtchristen, Auffassung des wahrhaften Pantheismus, dem er nach seinem eigenen Bekenntnis in einem Brief an Jacobi vom 6. Januar 1813 als Naturforscher nachzuleben bestrebt war, – so wie er nach eben diesem Bekenntnis als Dichter und Künstler Polytheist war – und zwar »eins so entschieden als das andre«.

TEIL I Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im Deutschen Idealismus und in der Romantik

Ursula Renz

Zum Verhältnis von Fühlen und Erkennen bei Spinoza

In der gegenwärtigen Philosophie der Gefühle wird oft stillschweigend unterstellt, dass Emotionen etwas anderes als Erkenntnisse sind. Zwar machen sich kognitivistische Emotionstheorien dafür stark, dass auch Emotionen einen repräsentationalen Gehalt haben und eine kognitive Rolle spielen können.1 Dennoch gehen selbst kognitivistische Emotionstheorien meist von einer Differenz derart aus, dass es sich bei Emotionen und Kognitionen um zwei verschiedene Arten mentaler Zustände handelt, die im Prinzip getrennt auftreten können. Nach einer solchen Unterscheidung sucht man in der Ethik vergeblich. Zwar differenziert auch Spinoza zwischen verschiedenen Typen mentaler Zustände, doch die Grenzen, die er dabei zieht, verlaufen nicht zwischen Phänomenen des Fühlens einerseits und des Denkens andererseits. Im Gegenteil, bei genauerem Hinsehen zeigt sich sogar, dass sein Ansatz sich einer solchen Trennung zwischen Fühlen und Denken – und damit indirekt auch zwischen Fühlen und Erkennen – systematisch widersetzt. So wird etwa in 2a3 (E 103) explizit festgehalten, dass unseren Emotionen genauso wie den Kognitionen Ideen von bestimmten Dingen zugrunde liegen, und in 2p48 (E197) und 2p49 (E 199) wird die Unterscheidung zwischen kognitiven und emotionalen Vorgängen dadurch unterwandert, dass zuerst jegliche geistigen Vermögen als Hypostasierungen denunziert und dann sämtliche mentalen Zustände mit Ideen gleichgesetzt werden (2p48 f., E 197–201). Es ist somit weder im Hinblick auf die ontologische Kategorisierung noch im Hinblick auf die Frage der repräsentationalen Strukturiertheit des Gehalts ein Unterschied zwischen Gefühlen und Gedanken auszumachen. Genauso wenig kann aber das Fühlen im Hinblick auf die Erfüllung epistemischer Normen vom Denken unterschieden werden, denn wie an mehreren Stellen des Fünften Buchs deutlich wird, nimmt Spinoza an, dass auch wahre Erkenntnis gefühlt und nicht nur gewusst wird (vgl. insbesondere 5p23, E 567). Vor diesem Hintergrund ist es auch völlig konsistent, wenn Spinoza zu den Affekten auch jene mentalen Zustände zählt, denen adäquate Ideen zugrunde liegen und die in 3d3 (E 223) terminologisch als actiones gefasst werden.

1 Siehe dazu Sabine A. Döring: »Die Renaissance des Gefühls in der Gegenwartsphilosophie«, in: Information Philosophie 4 (2005), 14–27.

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Wir können festhalten, dass die Ethik, obschon sie ein durchaus differenziertes Vokabular zur Beschreibung von mentalen Zuständen bereitstellt, nicht unterscheidet zwischen Ereignissen des Typs ›Kognition‹ und Ereignissen des Typs ›Emotion‹. In scholastischer Terminologie gesprochen, könnte man auch sagen, dass Spinoza jegliche phänomenologisch motivierte Annahme einer Realdistinktion zwischen Fühlen und Denken ablehnt. Wie sinnvoll ist das? Vom philosophischen Gesamtprogramm der Ethik her betrachtet, ist es zunächst einmal wenig erstaunlich. Spinoza vertritt ja eine Art epistemischer Perfektionismus, demzufolge das wesentliche Ziel unseres gesamten Strebens in einer Verbesserung unserer epistemischen Bilanz besteht. Nun wäre das allerdings ein ziemlich resignatives Programm, könnte man nicht zugleich erwarten, dass das Haben und Gewinnen von Erkenntnis auch als emotional beglückend erfahren werden kann. Und tatsächlich stellt Spinoza mit der Doktrin des amor Dei intellectualis diese Erwartung in den Raum. Doch diese ist nur berechtigt, wenn angenommen werden kann, dass sich der Zuwachs von Erkenntnis stets und mit berechenbarer Zuverlässigkeit in einem bestimmten affektiven Effekt niederschlägt. Vor diesem Hintergrund erweist sich daher die Ablehnung der Realdistinktion zwischen Fühlen und Denken als schlechterdings notwendig. Damit ist jedoch noch völlig offen, ob und wie Spinozas theoretische Philosophie diese begriffliche Entscheidung auch stützt. Konkret sind dazu zwei Dinge zu klären. Zum einen stellt sich die Frage, ob Spinoza diese Ablehnung einer Realdifferenz von Fühlen und Denken auf der Basis seiner kognitionspsychologischen Vorgaben überhaupt einzuholen vermag. Zum anderen muss gezeigt werden, wie Spinoza phänomenologisch motivierten Einwänden begegnen kann. Ich werde diese beiden Fragen in den ersten beiden Abschnitten anhand einer Darstellung von Spinozas Konzeption der imaginatio sowie einer Analyse seiner Verwendung des Verbs sentire erörtern. Es wird sich dabei zeigen, dass Spinoza seine Erkenntnis- und seine Emotionstheorie nicht nur auf eine gemeinsame kognitionspsychologische Basis stellt, sondern dass er mit der imaginatio zudem ein Modell präsentiert, demzufolge ein und derselbe psychische Prozess sich sowohl in einem Fühlen als auch in Gedanken niederschlägt. Trotz der Ablehnung einer Realdifferenz von Fühlen und Denken leugnet also Spinoza die phänomenologische Differenz keineswegs. Aber er zieht daraus nicht den Schluss, dass man es hier mit zwei verschiedenen Vorgängen zu tun hat, sondern eher mit zwei Aspekten, die sich an jedem psychischen Prozess unterscheiden lassen. Wie ich zeigen werde, ist das insgesamt aufschlussreich für die Frage, wie in der Ethik mit dem Problem des subjektiven Erlebens von mentalen Zuständen umgegangen wird. Im dritten Abschnitt werde ich dann nochmals kurz auf den für Spinozas epistemischen Perfektionismus wesentlichen Begriff des amor Dei intellectua-

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lis zu sprechen kommen. Inwiefern, so fragt sich nämlich, machen die herausgestellten Besonderheiten von Spinozas Konzeption der imaginatio ihrerseits den Effekt des amor Dei intellectualis erklärbar? Ich werde die These vertreten, dass Spinozas Verhältnisbestimmung von Fühlen und Denken zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für das im Begriff des amor Dei intellectualis unterstellte Heilsversprechen ist. Es stellt sicher, dass zwischen intuitivem Erkennen und dem, was wir dabei fühlen, ein systematischer Zusammenhang besteht. Doch wie dieser beschaffen sein muss, das ist damit noch nicht gesagt. Auch wer Spinozas Ethik folgt, ist daher seines Glücks noch keineswegs sicher.

I. Der psychologische Ursprung menschlichen Denkens und Fühlens Es gehört zu den Schwierigkeiten der Spinoza-Interpretation, dass viele Termini in unterschiedlicher Funktion verwendet werden, wobei das bemerkenswerterweise oft mit einem gewissen System erfolgt. Das ist auch bei den Ausdrücken ›imaginari‹ und ›imaginatio‹ der Fall, die teils in kognitionspsychologischer, teils in erkenntnistheoretisch-evaluativer Absicht verwendet werden. So ist in den Lehrsätzen 2p16–2p18 (E 141–149) in rein erklärender, quasi kognitionspsychologischer Absicht vom ›imaginari‹ die Rede. Hingegen wird der Ausdruck in 2p40s2 (E 181–183), wo Spinoza seine Klassifikation dreier Gattungen von Erkenntnissen einführt und die erste unter den Titel der ›imaginationes vel opiniones‹ rückt, auch in evaluativer Absicht verwendet. ›Imaginationes‹ sind Vorstellungen, die, weil sie Einzeldinge auf verstümmelte oder verworrene Weise repräsentieren, weniger adäquat sind als jene Ideen, die der zweiten und dritten Erkenntnisgattung zugerechnet werden können (2p40s2, E 181). Dass in beiden Kontexten dasselbe Wort verwendet wird, hat natürlich einen sachlichen Hintergrund; es wäre aber falsch, daraus zu schließen, dass die in 2p16–2p18 (E 141–147) vorgestellte Theorie des imaginari nur die Entstehung von solchen Erkenntnissen der ersten Gattung erklärt. Im Gegenteil, wie noch deutlich werden wird, stellt der als ›imaginari‹ bezeichnete Vorgang auch eine Vollzugsbedingung für Erkenntnis der zweiten und dritten Gattung dar. Doch betrachten wir zunächst einmal etwas genauer, wie Spinoza den Vorgang des imaginari konzipiert. Zwei Dinge stechen dabei ins Auge: 1. Es fällt auf, dass der Prozess der imaginatio von einer irreduziblen Komplexität ist. Dass jemand eine Vorstellung von einem externen Körper hat, hängt nicht nur von verschiedenen physikalischen Voraussetzungen ab,2 son2

Diese sind: 1. Nur Individuen, die von einer gewissen körperlichen Komplexität

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dern es sind überdies stets mehrere Ideen beteiligt. Denn es sind, wie in 2p16 (E 141) deutlich wird, in jeder imaginatio mindestens drei Ideen involviert, nämlich die Idee des vorgestellten externen Körpers, die Idee des eigenen, affizierten Körpers sowie die Idee der Affektion dieses Körpers durch den externen Körper. Diese drei Ideen bestimmen einander wechselseitig, und es ist daher durchaus möglich, das ein Mal die eine, ein anderes Mal die andere im Fokus der Aufmerksamkeit des entsprechenden Subjekts steht. Ausgeschlossen ist jedoch, dass diese Ideen völlig getrennt von einander vorkommen, und es ist auch keine dieser drei Ideen auf eine andere reduzierbar. Schon die grundlegendsten Ideen, die wir überhaupt haben, unterliegen also der Determination durch andere Ideen, was im Endeffekt nichts anderes heißt, als dass unsere Vorstellungen von Anfang an holistisch determiniert sind. Es wird sich zeigen, dass diese Annahme von entscheidender Bedeutung ist. 2. Es ist augenfällig, dass Spinoza in den Lehrsätzen 2p16–18 (E 141–147) auf ganz unterschiedliche mentale Phänomene wie Wahrnehmung, Empfindung, Erinnerung oder Zeichenbildung zu sprechen kommt. Offensichtlich ist er der Auffassung, dass diesen verschiedenen mentalen Tätigkeiten ein und derselbe Vorgang zugrunde liegt, derjenige Vorgang eben, den er in 2p17s (E 145–147) unter Rekurs auf »die gebräuchlichen Worte« als ›imaginari‹ bezeichnet. (Dass er damit zwar tatsächlich auf eine gebräuchliche Terminologie zurückgreift, diese aber ironischerweise für ein so weites Spektrum verwendet, dass die für den traditionellen Gebrauch konstitutive Abgrenzung zum Begriff der perceptio hinfällig wird, sei hier nur am Rande erwähnt.) Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass Spinoza mit der Beschreibung dieses Vorgangs einen theoretischen Anspruch verfolgt. Es geht ihm nicht einfach darum, mittels Rückgriff auf empirische Gesetzmäßigkeiten die Besonderheiten einer bestimmten Gruppe mentaler Tätigkeiten zu beschreiben, sondern er sucht nach einem Modell, das die Entstehung unserer Vorstellungen von Einzeldingen begreifbar macht. Die Konzeption der imaginatio dient demnach maßgeblich einer Klärung der kognitionspsychologischen Voraussetzungen der Möglichkeit einer intentionalen Bezugnahme auf Gegenstände. Oder genauer: Es geht um eine Beantwortung der Frage, wie es sein kann, dass endliche Subjekte Ideen von Dingen haben können. An dieser Stelle könnte eingewendet werden, dass Spinoza doch gar keine Kognitionspsychologie brauche, um die Möglichkeit intentionaler Bezugsind, Individuen also, denen man einen Geist zuschreiben kann, können imaginationes haben; 2. es muss externe Körper geben, die den eigenen Körper affizieren oder affiziert haben; und 3. die Affektionen müssen von dem Ausmaß und der Art sein, dass das affizierte Individuum als Ganzes davon betroffen ist. Vgl. zur Theorie der imaginatio im Allgemeinen auch Ursula Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes. Frankfurt/Main 2010, 215–240.

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nahme einsichtig zu machen. Denn ihm zufolge seien alle Ideen immer schon im göttlichen Intellekt enthalten, und der menschliche Geist sei intentional einfach auf jene Dinge bezogen, deren Ideen Teil jener Idee Gottes seien, die den menschlichen Geist selber ausmachen würden. Wie ich bereits an anderen Orten deutlich gemacht habe, scheint mir diese – leider weit verbreitete und Tradition gewordene – Lesart von Spinozas Ethik, wonach das einzige tätige Subjekt Gott sei, ziemlich problematisch. Gott ist nach Spinoza kein Subjekt, im Gegenteil, Spinozas Gott gehen sämtliche Eigenschaften, die wir Personen zuschreiben, von vornherein ab.3 In einem Punkt hat der obige Einwand allerdings Recht: Tatsächlich ist es nach Spinoza nicht die Aufgabe der Kognitionspsychologie zu klären, warum es Entitäten gibt, die sich durch einen intentionalen Bezug auf Gegenstände auszeichnen. Denn das wird schon auf der Ebene seiner Metaphysik geklärt. So werden Ideen bei Spinoza als Modi im Attribut des Denkens begriffen, und das impliziert, dass sie genauso zur metaphysischen Grundausstattung der Realität gehören wie jene meist physikalischen Entitäten, die durch sie repräsentiert werden. Mentale Zustände respektive die sie ausmachenden Ideen sind nichts, was zur Realität erst noch dazu kommen müsste. Und deshalb ruft ihre Existenz auch keinen größeren ontologischen Erklärungsbedarf hervor als die Existenz von Körpern und Bewegungen: Dass es in unserer Welt Ideen gibt, ist um nichts verwunderlicher, als dass es in ihr Bäume, Tische und Menschen gibt. Das macht allerdings eine kognitionspsychologische Klärung der Möglichkeit intentionaler Bezugnahme keineswegs überflüssig. Denn auch wenn man annimmt, dass Ideen genauso wie die in ihnen repräsentierten körperlichen Modi zur metaphysischen Grundausstattung der Realität gehören, so ist damit noch nicht geklärt, wie es möglich ist, dass sich einzelne Subjekte in ihrem Denken intentional auf Gegenstände beziehen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es »in Gott« zu jedem körperlichen Modus eine entsprechende Idee gibt,4 muss man sich fragen, wie es kommt, dass Individuen Ideen von bestimmten Dingen haben. Auch im Rahmen eines Ansatzes, der, wie Spinozas

3 Vgl. dazu insbesondere Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 41 ff., 52 ff., 110 ff., 176 ff., sowie bereits dies.: »Die Definition des menschlichen Geistes und die numerische Differenz von Subjekten«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin 2006 (= Klassiker Auslegen, Bd. 31), 101–121, 106 ff. 4 Das Verständnis von Aussagen der Form »es gibt in Gott eine Idee von x« scheint vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Lesart Probleme zu bereiten: Was heißt es, dass eine Idee »in Gott« sei, wenn es kein göttliches Subjekt mehr gibt? Meines Erachtens besagt diese Aussage nichts weiter, als dass eine Idee von x gebildet werden kann, durch welche die vollständige Bestimmtheit von x vollständig erkannt werden kann (vgl. auch Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 119 f.).

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Ethik, auf ungewöhnlich starken metaphysischen Vorgaben beruht, ist Platz für eine Erörterung der kognitionspsychologischen Voraussetzungen der intentionalen Bezugnahme. Allerdings kann diese Erörterung – und das ist die pikante Kehrseite von Spinozas Metaphysik – nicht für sich beanspruchen, zusammen mit den psychologischen Bedingungen des Habens von Ideen auch den ontologischen Status des Mentalen bestimmt zu haben. Welche Implikationen hat dieses Verständnis von Spinozas Theorie der imaginatio für das Verhältnis von Fühlen und Erkennen? Zunächst ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass der in den Lehrsätzen 2p16–18 (E 141– 147) modellierte Vorgang gemäß dieser Interpretation eine kognitive Vollzugsbedingung von sämtlichen Ideen und mentalen Zuständen darstellt. Man wird also sagen müssen, dass alle mentalen Zustände oder Tätigkeiten, sofern man sie rein kognitionspsychologisch betrachtet, im Kern imaginationes sind. Nun mag das prima facie ziemlich problematisch erscheinen. Steht diese Annahme nicht im Widerspruch dazu, dass Spinoza in 2p40s2 (E 181) zwischen den inadäquaten Erkenntnissen der ersten Gattung der imaginationes vel opiniones einerseits und den adäquaten Erkenntnissen der zweiten und dritten Gattung der Erkenntnis andererseits unterscheidet? Beachtet man die eingangs formulierte explizierte Unterscheidung zwischen einem kognitionspsychologischen und einem erkenntnistheoretischevaluativen Gebrauch des Begriffs der imaginatio, so ist das kein grundsätzliches Problem. Es mag zwar terminologisch ungeschickt sein, zugleich zu behaupten, dass alle Erkenntnisse imaginationes in einem kognitionspsychologischen Sinn des Wortes seien, und zu sagen, dass nicht alle Erkenntnisse der erkenntnistheoretischen Gattung der imaginationes vel opiniones angehören. Ein Widerspruch liegt darin aber nicht. Denn natürlich können auch adäquate Erkenntnisse darauf hin untersucht werden, wie sie entstanden sind, während umgekehrt auch zufällig zustande gekommene Vorstellungen von Einzeldingen auf ihren Erkenntnisgehalt hin analysiert werden können. Die Frage bleibt, was mit dieser Annahme gewonnen ist. Ich möchte nur auf einen Punkt hinweisen. Geht man davon aus, dass alle Erkenntnisse kognitionspsychologisch betrachtet aus Prozessen des imaginari entstehen, dann ist es möglich, den Begriff der intuitiven Erkenntnis in einer neuen Weise zu explizieren, die nicht auf den Gedanken angewiesen ist, dass sich intuitive Erkenntnisse durch eine besondere Art und Weise der Entstehung von anderen Erkenntnissen unterscheiden. Stattdessen kann man die intuitive Erkenntnis schlicht mit dem Abschluss eines auf die vollständige Einsicht in das Wesen respektive die vollständige Bestimmtheit von Einzeldingen ausgerichteten Erkenntnisprozesses gleichsetzen.5 An dessen Anfang kann die durch ein imagi5

Diese Lesart rückt Spinozas intuitive Erkenntnis in die Nähe von Leibniz’ notio-

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nari gebildete Idee eines Einzeldings stehen. Gleichwohl kann man annehmen, dass eine intuitive Erkenntnis erst dann vorliegt, wenn jemand sämtliche Eigenschaften dieses Einzeldings kennt und versteht. Und auch die Erkenntnisse der zweiten Gattung haben in dieser Auslegung einen klar bestimmten Platz: So kann man annehmen, dass die Vervollständigung der Erkenntnis der vollständigen Bestimmtheit oder des Wesens von Einzeldingen maßgeblich durch die Bildung von Gemeinbegriffen erfolgt. Deren Gegenstände sind ja bekanntlich jene Bestimmungen, die entweder alle Körper (nach 2p38, E 173) oder die den menschlichen Körper affizierenden Körper (nach 2p39, E 175) gemeinsam haben. Insgesamt können wir somit festhalten, dass mit dem präsentierten Modell des imaginari ein theoretischer Rahmen vorgeschlagen wird, der für die kognitionspsychologische Entstehung von sämtlichen emotionalen oder kognitiven Zuständen aufkommen soll. Inwiefern Spinoza überdies zeigen kann, dass Fühlen und Denken auch in einem numerischen Sinne aus einem Vorgang entspringen, ist damit allerdings noch offen. Wie sich zeigen wird, ist auch das ein Aspekt dieses Modells. Um das zu sehen, muss man sich allerdings erst vergegenwärtigen, wie Spinoza in seinem Ansatz dem phänomenalen Unterschied zwischen Fühlen und Denken Rechnung trägt.

II. Der Gefühlsaspekt von psychischen Ereignissen Spinoza ist kein Phänomenologe, der die menschlichen Gefühle und Empfindungen unter einem methodischen Primat der Ersten-Person-Perspektive untersucht. Wie aus etlichen Stellen der Affektenlehre hervorgeht, lässt er sich im Gegenteil eher von der Annahme leiten, dass der phänomenologische Blick auf die internen Strukturmomente des Gehalts von Emotionen uns über ihre wahre Natur täuscht. So begreift Spinoza zahlreiche Leidenschaften als eine Folge irreführender Kausalattribuierungen: Beispielsweise lieben wir viele Dinge, weil wir sie als Ursache unserer Freude auffassen, obwohl sie das unter Umständen gar nicht sind. Solche den Emotionen zugrunde liegenden Irrtümer kann Spinoza nur aufdecken, weil er die Gehalte unserer Emotionen dezidiert unter einem genetischen und nicht einem phänomenologischen Gesichtspunkt analysiert. nes completa, weswegen sie in der Diskussion u. a. von Wolfgang Bartuschat und Konrad Cramer abgelehnt wurde. Gegen eine solche Lesart spricht sich auch Matson aus, vgl. Wallace Matson: »Body Essence and Mind Eternity in Spinoza«, in: Edwin Curley; Pierre-François Moreau (Hg.): Spinoza. Issues and Directions. Leiden u. a. 1990, 82–95. Für eine ausführliche Begründung dieser Lesart siehe Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 290 ff.

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Es wäre nun allerdings problematisch, aus diesen Beobachtungen über das Verfahren der Affektenlehre zu schließen, dass die Perspektive der fühlenden Subjekte in der Ethik grundsätzlich vernachlässigt würde, wie es im Kontext pantheistischer Interpretationen oft geschehen ist. Im Gegenteil, beachtet man, wie Spinoza sich bei der Herleitung des Begriffs des menschlichen Geistes auf die Axiome des Zweiten Buchs stützt – Axiome, die der Sache nach mehrheitlich phänomenologische Tatsachen zum Ausdruck bringen –, so ist nicht zu übersehen, dass dem subjektiven Betroffensein durch Affektionen bei der Konstitution individueller Geister eine entscheidende Funktion zukommt.6 Es stellt sich indes die Frage, wie Spinoza das Phänomen subjektiven Erlebens genau einholt und welchen systematischen Stellenwert es in der Ethik hat. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Spinozas Gebrauch des Verbs sentire genauer zu studieren. Dieses Verb taucht in seinem Werk zwar nur selten, aber an signifikanten Stellen auf, wie etwa im Tractatus de intellectus emendatione bei der Zurückweisung skeptischer Zweifel, oder in 2a4 (E 103), das bei der Herleitung des Begriff des Geistes eine zentrale Rolle spielt, oder schließlich in 5p23s (E 567), wo die im vorangegangenen Lehrsatz aufgestellte Behauptung, dass vom menschlichen Geistes etwas bestehen bleibe, das ewig sei (5p23, E 565), mit dem Satz unterstrichen wird: »[Wir] empfinden und erfahren […], daß wir ewig sind.«7 Es stellt sich die Frage, worauf Spinoza rekurriert, wenn er von sentire spricht. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen kann man davon ausgehen, dass auch das als sentire bezeichnete Phänomen, psychologisch betrachtet, unter Rückgriff auf das Modell des imaginari zu erklären ist. Dabei ist aber zu beachten, dass die Ethik die Termini ›sentire‹ und ›imaginari‹ nicht etwa promiscue verwendet, sondern unterschiedliche Akzente setzt: Von imaginari ist die Rede, wo die Vorstellung externer Körper im Zentrum steht, von sentire dagegen, wo es um das Empfinden des eigenen Körpers geht. So heißt es beispielsweise in 2a4 (E 103), dass wir »einen [gewissen] Körper, der auf vielfache Weise affiziert wird«, fühlen.8 Und in 2p13c (E 125), worauf auch in 2p17s (E 145–147) Bezug genommen wird, wird aus der Definition des menschlichen Geistes geschlossen, dass der menschliche Körper, so wie wir ihn fühlen, exis6

Siehe auch Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 189 ff. 5p23s, E 567. Eine detaillierte Auslegung dieser Textstelle liefert Pierre-François Moreau: Spinoza. L’expérience et l’éternité. Paris 1994, 539 ff.; für das Verhältnis von Fühlen und Denken in der Unsterblichkeitsdoktrin siehe v.a. auch Robert Schnepf: »Wer oder was ist unsterblich (wenn überhaupt)? Spinozas Theorie des ewigen Teils des endlichen Geistes«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 88 (2006), 189–215. 8 Im Lateinischen heißt es: »Nos corpus quoddam multis modis affici sentimus.« Es handelt sich also nicht um irgendeinen beliebigen, sondern um einen bestimmten Körper. Vgl. dazu auch Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 193. 7

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tiere.9 Mit dem Verb ›sentire‹ rekurriert Spinoza also nicht wie die britischen Empiristen mit dem Ausdruck ›sensation‹ auf die sinnliche Wahrnehmung bestimmter Qualitäten, sondern der Fokus liegt auf der terminologisch als Fühlen des affizierten Körpers gefassten Propriozeption.10 Diese Beobachtungen zur Verwendung des Terminus sentire machen deutlich, dass das Modell des imaginari noch mehr leistet, als bislang deutlich wurde. Es bildet nämlich nicht einfach einen theoretischen Rahmen, mithilfe dessen sowohl die Entstehung von Kognitionen als auch von Emotionen erklärt werden kann. Das Modell erlaubt es überdies, Fühlen und Denken als verschiedene Momente ein und desselben psychischen Prozesses zu beschreiben, und das erst noch, ohne dass deswegen die phänomenale Differenz zwischen Fühlen und Denken vernachlässigt würde. Man könnte auch sagen, dass Spinoza Fühlen und Denken als unterschiedliche Aspekte von imaginari-Prozessen begreift. Das zeigt, dass die in Spinozas ethischem Programm motivierte Ablehnung einer Realdistinktion zwischen Fühlen und Denken sehr wohl eine Konkretisierung in seiner theoretischen Philosophie, genauer: in seiner Philosophie des Geistes, erfährt. Darüber hinaus lassen die Beobachtungen zum Gebrauch des Verbs sentire aber auch wichtige Schlüsse darüber zu, welcher Stellenwert in der Ethik dem Phänomen subjektiven Erlebens zukommt. 1. Spinoza ist offensichtlich der Auffassung, dass jeder mentale Zustand – oder genauer: jede aktuell existierende Idee – von jemandem gehabt wird. Das mag trivial anmuten, im Rahmen von Spinozas Ansatz, in dem Ideen ontologisch als Modi des Attributs des Denkens bestimmt werden, ist es das aber nicht. Dass eine Idee von jemandem gehabt wird, bleibt auch nicht unbemerkt, sondern wird empfunden, und zwar von demjenigen Individuum, das sie hat. Denn wenn, wie oben gezeigt wurde, in jedem imaginari nebst der Idee eines externen Körpers auch die Ideen des eigenen Körpers und dessen Affektionen involviert sind, dann liegt nicht nur jedem sentire ein imaginari zugrunde,

9 Vom corpus humanum wird in der Ethik öfters auch im Sinne von corpus noster gesprochen, siehe dazu auch Renz: Die Erklärbarkeit von Erfahrung, 195. 10 Im Hintergrund steht natürlich Descartes’ Analyse der auf den eigenen Körper bezogenen Wahrnehmungen in § 24 der Passions de l’âme, siehe René Descartes: Œuvres de Descartes. Hg. von Charles Adam; Paul Tannery. Paris 1996, vol. XI, 347. Wie Stephen H. Voss: »How Spinoza enumerated the Affects«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 63 (1981), 167–179, zeigt, hat Spinoza nicht die französische, sondern die von Descartes nicht mehr autorisierte lateinische Version verwendet. Zur sensatio siehe auch Lorenzo Vinciguerra: Spinoza et le signe. La genèse de l’imagination. Paris 2005, sowie zur Empfindung bei Descartes Ursula Renz: »Klar, aber nicht deutlich. Descartes’ Schmerzbeispiele vor dem Hintergrund seiner Philosophie«, in: Studia Philosophica 62 (2003), 149–165.

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sondern es wird auch jedes imaginari von einem sentire begleitet. Und wenn man sich zudem daran erinnert, dass kognitionspsychologisch betrachtet auch adäquate Erkenntnisse imaginationes sind, dann ist klar, dass auch diese von einem Gefühl begleitet werden. Es ist daher leicht einsehbar, wie Menschen fühlen können, dass sie ewig sind. 2. Mit dem Empfinden der Affektionen des eigenen Körpers, das alle unsere Vorstellungen begleitet, bringt Spinoza zwar ein Analogon zum subjektiven Erleben mentaler Zustände ins Spiel, doch dieses begreift er nicht einfach als Fühlen einer gegebenen Qualität, sondern er konzipiert es seinerseits als ein Haben von bestimmten, auf ihren Gehalt hin analysierbaren Ideen. Dass wir den eigenen Körper und seine Affektionen fühlen, ist nach Spinoza gleichbedeutend mit der These, dass wir eine Idee des eigenen Körpers und seiner Affektionen haben. Das schließt zwar nicht aus, dass unser Fühlen qualitativ bestimmt ist. Doch wie wir es erleben, ein bestimmter Körper zu sein, hängt maßgeblich davon ab, welche Vorstellungen wir von diesem Körper und seinen Affektionen haben. 3. Dies wiederum ist aufschlussreich für die Frage nach dem epistemischen Wert des Empfindens. Obwohl Spinoza im Tractatus de intellectus emendatione dem Skeptiker vorwirft, dass er sich selber nicht mehr fühle, ist er mitnichten der Auffassung, dass das Empfinden uns ein unkorrigierbares Wissen von uns selber vermittle. Wer fühlt, hat lediglich die Gewissheit, dass es einen Körper gibt, nämlich jenen, den wir anlässlich seiner Affektionen wahrnehmen und der de facto unserem Körper entspricht. Doch mehr als diese Gewissheit ist dem Fühlen nicht abzuringen, denn wie dieses Fühlen in ein Konzept des eigenen Körpers oder gar in Behauptungen über seine Natur übersetzt wird, hängt noch von zahlreichen weiteren Bedingungen ab. Diese drei Punkte zeigen, dass Spinoza eine durchaus differenzierte, wenn auch zugleich distanzierte Haltung gegenüber der mit dem Phänomen des Fühlens verquickten Problematik subjektiven Erlebens von psychischen Prozessen einnimmt. Dass wir die Affektionen unseres Körpers wahrnehmen und damit einhergehend psychische Prozesse subjektiv erleben, gehört auf der einen Seite zwar unausweichlich zu unserem mentalen Leben. Der Vorgang des Fühlens ist ein ständiger Komplize unseres Denkens und Erkennens, dem wir auch dann nicht entrinnen könnten, wenn wir unsere Tage mit dem Lösen mathematischer Gleichungen verbrächten. Gleichzeitig ist aber das Fühlen mehr als nur ein qualitatives Begleitphänomen unserer mentalen Zustände, denn es hat mit den Affektionen des eigenen Körpers einen spezifischen intentionalen Gegenstand. Es hat daher einen – wenn auch variierenden – repräsentationalen Gehalt und beschränkt sich nicht darauf, irgendwie zu sein. Im Gegenteil, wenn Spinoza im Fühlen ein Analogon zum subjektiven Erleben mentaler Zustände ins Spiel bringt, dann erfolgt das ohne Rückgriff auf die Annahme eines

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unmittelbaren Bewusstseins von irgendwelchen Qualia. Wir können festhalten, dass Spinoza durchaus akzeptiert, dass mentale Vorgänge von individuellen Geistern subjektiv erlebt werden. Gleichzeitig wird aber dieser Umstand von ihm in einer Art und Weise theoretisch eingeholt, die jeglichem Pathos der Unmittelbarkeit den Boden entzieht.

III. Der amor Dei intellectualis oder die Frage nach der Begründbarkeit von Spinozas erkenntnistheoretischem Perfektionismus Wie eingangs erwähnt, handelt es sich beim amor Dei intellectualis um einen affektiven Effekt, der mit dem intuitiven Erkennen einhergehen soll und der gewissermaßen den emotionalen Fluchtpunkt von Spinozas epistemischem Perfektionismus ausmacht. Es stellt sich die Frage, unter welchen geist- und erkenntnistheoretischen Bedingungen dieser Perfektionismus und insbesondere die Aussicht auf den amor Dei intellectualis überhaupt eine plausible und erstrebenswerte Perspektive eröffnet. Zunächst ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Spinoza mit seinem Perfektionismus einen Prozess anvisiert, der das ganze mentale Leben von Menschen betrifft. Worauf es ihm ankommt, ist nicht einfach die Vermehrung von wissenschaftlichem Wissen. Ziel ist vielmehr eine epistemische Verbesserung und Reform unseres ganzen Denkens inklusive unserer privatesten Gedanken über die Welt, den Menschen und insbesondere über uns selber. Diese Forderung nach einer so umfassenden Reform unseres Denkens ist natürlich nur sinnvoll, wenn alle mentalen Zustände mindestens im Prinzip daraufhin beurteilt werden können, ob sie die epistemische Norm der Wahrheit erfüllen. Und das wiederum setzt voraus, dass letztlich alle mentalen Zustände inklusive so ephemerer Phänomene wie Träume und Phantasien epistemisch relevant sind. Diese beiden Bedingungen – epistemische Beurteilbarkeit aller mentalen Zustände sowie die Zubilligung einer epistemischen Rolle – sind in Spinozas Ansatz gewährleistet. Eine umfassende epistemische Beurteilbarkeit aller mentalen Zustände ist dadurch gegeben, dass sämtliche Vorgänge menschlichen Fühlens und Denkens auf eine ideentheoretische Basis gestellt werden; und Ideen können nach Spinoza immer daraufhin beurteilt werden, ob sie die in 1a6 (E 9) gesetzte epistemische Norm der wahren Idee erfüllen. Hinzu kommt, dass Spinoza einem Ideenholismus verpflichtet ist, demzufolge der Gehalt jeder einzelnen unserer Ideen vom Gehalt sämtlicher übriger Ideen abhängig ist, was zur Folge hat, dass sich auch mentale Zustände, die nicht im Fokus epistemischer Suchprozesse stehen, für diesen relevant sein können. Es mag zwar durchaus Ideen geben, die für die anvisierte epistemische Vervollkommnung

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Ursula Renz

weniger wichtig sind als andere. Doch wenn alle Ideen mit allen anderen zusammenhängen, dann dürfen beim Versuch einer Verbesserung der eigenen epistemischen Situation Gefühle nicht einfach kategorisch außen vor gelassen werden können. Soweit lässt sich also Spinozas Perfektionismus auf der Basis seiner Geist- und Erkenntnistheorie plausibel machen. Ein Punkt ist allerdings noch offen. Wozu, so könnte man hier fragen, soll man denn überhaupt eine solche Reform des eigenen Denkens unternehmen und sich freiwillig einem solch rigiden epistemischen Regime unterwerfen? Was ist, mit anderen Worten, der Lohn, den wir als Gegenleistung für diese Anstrengung erwarten dürfen? An dieser Stelle ist entscheidend, sich klar zu machen, dass das Ziel der anvisierten epistemischen Verbesserung nichts dem Erkennen selber Äußerliches sein kann. Daher ist die Erwartung eines Lohns von vornherein irreführend. Das wird in 5p42 (E 593), dem letzten Lehrsatz der Ethik, explizit festgehalten, wenn Spinoza sagt, dass die Glückseligkeit nicht der Lohn für die im Zuge unserer epistemischen Perfektionierung erworbene Tugend sei, sondern vielmehr diese Tugend selber ausmache. Und er begründet diese Behauptung unter Rekurs auf die in 5p36 (E 579–581) aufgestellte These, dass unsere intuitive Erkenntnis von Einzeldingen vom Affekt des amor Dei intellectualis begleitet wird. Es fragt sich, ob diese Auskunft wirklich zu befriedigen vermag. Zunächst ist festzuhalten, dass Spinoza mit den oben erläuterten kognitionspsychologischen Annahmen durchaus gute Karten in der Hand hat für die Behauptung, dass in der Erkenntnis selber – oder genauer: im Gefühl, das wir beim Erkennen erleben – das Ziel unserer epistemischen Perfektionierung liegt. Es leuchtet durchaus ein, dass dieses Gefühl uns im Falle einer intuitiven Erkenntnis rundum zu befriedigen vermag. Spinozas Auskunft entspricht hier weitgehend unseren alltäglichen Intuitionen. Wir fassen Erkennen oft als eine jener Tätigkeiten auf, die wir nicht um eines äußerlichen Ziels willen tun, sondern die wir als an sich befriedigend erleben. Und wir haben auch die Erfahrung, dass diese Befriedigung dann besonders ausgeprägt ist, wenn wir eine epistemische Aufgabe abschließend zu lösen vermocht haben. Soweit ist die in 5p42 (E 593) artikulierte Zurückweisung der Erwartung eines Lohns durchaus nachvollziehbar, und dies ist sie gerade dann, wenn man, wie ich oben vorgeschlagen habe, die intuitive Erkenntnis bei Spinoza der vollständigen Einsicht in die vollständige Bestimmtheit von Einzeldingen gleichsetzt.11 Nun stellt aber Spinoza in 5p42 (E 593) mit dem Rückgriff auf 5p36 (E 579– 581) etwas in Aussicht, was meines Erachtens deutlich über das soeben angesprochene Gefühl der Befriedigung hinausgeht. Zwar setzt Spinoza die versprochene ›Glückseligkeit‹, ›beatitudo‹, bisweilen auch mit der ›Zufriedenheit 11

Siehe oben S. 54.

Zum Verhältnis von Fühlen und Erkennen bei Spinoza

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des Gemüts‹, ›animi acquiescentia‹, gleich (4cap4, E 509 und 5p42s, E 595). Allerdings siedelt er den Grund für diesen Zustand der Glückseligkeit in einer Liebe zu Gott an, die ihrerseits auf die Liebe Gottes zu sich selber zurückgeht. Das lässt Zweifel daran aufkommen, ob es sich hier tatsächlich noch um ein »normales« Gefühl handelt, oder ob es Spinoza hier nicht um eine wesentlich religiöse Erfahrung geht, genauer um eine religiöse Erfahrung der Art, dass es für das Erleben eines mentalen Zustands von dieser mit ›beatitudo‹ umschriebenen Qualität konstitutiv ist, dass das erlebende Subjekt sich als von Gott geliebt weiß oder wähnt. Doch ist das, so fragt sich, überhaupt möglich, ohne dass dieses Subjekt Gott als Person begreift? Anders gefragt: Stattet Spinoza seinen Gott vermittels der Doktrin des amor Dei intellectualis letztlich nicht mit Eigenschaften aus, die – aller Substanzmetaphysik zum Trotz – nur ein personaler Gott haben kann? Die Ausführungen in der Ethik sind zu spärlich, als dass diese Interpretationsfrage eindeutig beantwortet werden könnte. Unabhängig davon ist aber klar, dass beide Lesarten unbefriedigende Konsequenzen mit sich bringen. Wenn man die obige Frage bejaht, dann wird man entweder zugestehen müssen, dass der Schluss der Ethik in einen Widerspruch zur jegliche Personalität Gottes bestreitenden Metaphysik gerät; oder aber man muss annehmen, dass diese Metaphysik gar nicht so radikal antitheologisch ist, wie sie sich stellenweise gibt. Wenn man sie hingegen verneint, wird man sich fragen müssen, ob Spinoza nicht besser daran getan hätte, auf die Doktrin des amor Dei intellectualis zu verzichten. Wie oben gezeigt worden ist, kann Spinoza auch ohne diese Doktrin deutlich machen, dass das Erkennen einen positiven Effekt auf unser Fühlen hat. Dieses Verdikt gegen Spinozas Annahme eines amor Dei intellectualis ändert indessen nichts daran, dass seine Zurückweisung einer Realdistinktion zwischen Fühlen und Denken ein ziemlicher Geniestreich ist. Mag sein, dass sich diese begriffliche Entscheidung, welche der Ethik in manchen Teilen zugrunde liegt, auf der Basis heutiger epistemologischer und emotionstheoretischer Ansätze nicht halten ließe. In Spinozas Theorie des Geistes ist sie jedoch klar verankert. Zudem macht sie – und zwar ganz unabhängig von der konkreten Interpretation des amor Dei intellectualis – plausibel, warum die Sorge um das eigene Denken wesentlich zum Streben nach einem guten Leben gehört. Wir können nach Spinoza gar nicht anders als unser Denken auch zu fühlen. Ob wir es wollen oder nicht – was wir für wahr halten, hat immer eine Auswirkung auf unsere Gefühle und unsere Befindlichkeit. Ob aber – und wenn ja, warum – uns das Haben wahrer Ideen so glücklich macht, wie Spinoza verspricht, ist eine andere Frage.

Jane Kneller

Novalis’ nüchterne Rezeption der spinozistischen ›Gott-Trunkenheit‹1

Novalis’ Rezeption der spinozistischen Philosophie ist in erster Linie eine frühromantische Aneignung der Gedanken des großen rationalistischen Denkers. Dennoch befasst sich Hardenberg mit Spinoza auf eine eigentümlich persönliche Weise, indem er sich den Geist seines Werks zu eigen macht und ihn zum Zweck eines einzigartigen Unternehmens transformiert, welches auf nichts Geringeres als die Umgestaltung der Philosophie selbst zielt. Im Folgenden werde ich auf die Rolle eingehen, welche Spinozas Gottes- und Naturbegriff und sein Konzept des amor Dei intellectualis bei der Entwicklung von Novalis’ Philosophie gespielt haben. Dazu will ich mich mit der weitverbreiteten Ansicht auseinandersetzen, wonach Novalis’ Spinoza-Rezeption primär durch den sogenannten »Pantheismusstreit« und noch allgemeiner durch Novalis’ zunehmend orthodoxere (christliche) Religiosität beeinflusst worden sei. Zwar ist es unstrittig, dass der Pantheismusstreit für die Frühromantiker von großem Interesse war, dennoch besteht die Gefahr, dass eine zu starke Betonung dieses Einflusses auf die romantische Philosophie die wichtigsten Einflüsse, die der Spinozismus auf sie hatte, verdunkelt oder gar verzerrt. Dies ist besonders im Falle von Novalis entscheidend, dessen radikale Idee von Philosophie und letztlich sehr unorthodoxe Religiosität den spinozistischen Einsichten viel verdankt. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass die frühromantische Spinoza-Rezeption nicht vom so genannten Pantheismusstreit getrennt betrachtet werden kann. Die geistige Auseinandersetzung wurde von Jacobis absichtlich provokativer »Offenbarung« gegenüber Mendelssohn hervorgerufen, wonach Lessing sich selbst als »Spinozist« bezeichnet habe.2 Die darauf folgende Debatte zwischen Jacobi und Mendelssohn kreiste in philosophischer Hinsicht um die Frage, ob Spinozas neutraler Monismus unvermeidlich in einen Atheismus zu münden habe. Da sich viele deutsche Intellektuelle dieser Debatte in den

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Übersetzt von Jörg Noller, Ludwig-Maximilians-Universität München. Vgl. dagegen David Bell: Spinoza in Germany: 1670 to the Age of Goethe. London 1984, 72 ff. u. 85 ff., der betont, dass Lessing kein »Spinozist« im engeren Sinne gewesen sei und dass sein »Bekenntnis« selbst vorbehaltlich und möglicherweise ironisch war, in dem Sinne, dass er, »wenn« er überhaupt irgendetwas sei, sich als Spinozist bezeichnen würde. 2

Novalis’ nüchterne Rezeption der spinozistischen ›Gott-Trunkenheit‹

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80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts anschlossen, tendiert die Forschung verständlicher Weise dazu, Novalis’ Spinoza-Rezeption als weitestgehend von dem Bedürfnis motiviert zu betrachten, sich mit seinen eigenen Sichtweisen in die Debatte einzuschalten, ob der Spinozismus ein Atheismus sei, worauf Jacobi insistiert hatte.3 Es steht außer Zweifel, dass auch Novalis seinen Beitrag zur Debatte beisteuern wollte, doch es ist mit Sicherheit ein Fehler, Novalis’ Spinoza-Rezeption allein aus dieser Perspektive zu betrachten. Die meisten Bezüge, die er zu Spinoza in seinem veröffentlichten Werk herstellt, betreffen nicht den Atheismus, und diejenigen, die dies tun, beziehen sich nur indirekt darauf. Dies ist nicht überraschend, berücksichtigt man Novalis’ abweisende Haltung, die er in seinen Blütenstaub-Fragmenten dargelegt hat. Danach ist der Atheismus »nur Negation aller Religion überhaupt, und hat also gar nichts mit der Religion zu schaffen«.4 An den meisten Stellen, in denen Spinoza diskutiert oder erwähnt wird, bezieht sich Novalis auf ihn gewöhnlich in überaus positiver Weise, wobei er ihn als ein Vorbild oder zumindest als eine Hilfe für die Entwicklung seines eigenen romantischen Begriffs der Philosophie und des Philosophierens ansieht. Eine sehr bekannte Ausnahme davon stellt sicherlich Novalis’ berühmte und oft zitierte Behauptung in den Fragmenten und Studien (1789–1800) dar, die auf den Februar 1800 datiert, wonach »Spinotza […] ein gotttrunkener Mensch«5 sei. Dieses Zitat muss jedoch im Kontext seiner folgenden Bemerkung interpretiert werden: »Der Spinotzism ist eine Übersättigung mit Gottheit. Unglauben ein Mangel an göttlichem Organ und an Gottheit. Es giebt also directe und indirecte Athëisten. Desto besonnener und ächtpoëtischer der Mensch ist, desto gestalteter, und historischer wird seine Religion seyn.«6 Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass die obige Bemerkung keine Zurückweisung von Spinozas »Übersättigung mit Gottheit« – seiner ›Gott-Trunkenheit‹ – darstellt, sondern vielmehr eine Bekräftigung. Tatsächlich verweist sie nämlich auf Novalis’ eigene Theorie, die der Frage nachgeht,

3 Beiser stellt hier insofern eine Ausnahme dar, als er argumentiert, dass Herders 1787 erschienene Schrift Gott: Einige Gespräche »weit wichtiger« für das romantische Verständnis der Spinoza-Rezeption gewesen sei als die Debatte zwischen Jacobi und Mendelssohn (Frederick C. Beiser: The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism. Cambridge, Mass.; London 2003, 181 f.). 4 Hardenberg/Novalis wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Friedrich von Hardenberg: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn; Richard Samuel, zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, 4 Bde. und ein Begleitband. Stuttgart/Berlin/Köln 1960 ff. Hier: Blüthenstaub, in: Novalis Schriften, Bd. 2, 443. 5 Hardenberg: Fragmente und Studien 1799–1800, in: Novalis Schriften, Bd. 3, 651. 6 Hardenberg: Fragmente und Studien 1799–1800, in: Novalis Schriften, Bd. 3, 649.

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wie die Glückseligkeit, die Spinozas intellektuelle Gottesliebe begleitet, gewöhnlicheren Gottessuchern zugänglich gemacht werden könne. Mit anderen Worten: Es soll dahingehend argumentiert werden, dass Novalis’ Spinoza-Rezeption enthusiastisch und tieffühlend, zugleich aber auch sensibel und nüchtern war. Ich möchte speziell gegen eine weit verbreitete Ansicht in der gegenwärtigen englischsprachigen Forschung argumentieren, wonach sich Novalis von einer anfänglichen enthusiastischen Umarmung des spinozistischen Pantheismus weg und hin zu einer orthodoxeren christlichen Sicht auf das Verhältnis von Gott und Natur bewegt habe. Im dritten Kapitel des mit »Absoluter Idealismus« überschriebenen Teils seines überaus einflussreichen Werks German Idealism argumentiert Frederick Beiser, dass in Novalis’ Philosophie eine Spannung bestehe zwischen seiner kritischen Haltung gegenüber ersten Prinzipien und dem Wissen des Absoluten einerseits und andererseits seinem Bedürfnis, Spinozas Natur und Fichtes Ich mit einem höheren Prinzip zu überbieten, welches er »Gott« nennt.7 Beiser geht davon aus, dass Novalis Spinozas naturalistischen Realismus zusammen mit Fichtes Idealismus zurückweisen wollte, um sie durch seine eigene Metaphysik eines transzendenten Absoluten zu ersetzen. Beiser weist auch die verlockende These, die im Werk von Manfred Frank vertreten wird, zurück, wonach Novalis’ »Gott« nicht eine metaphysische Entität sei, sondern eine bloße regulative Idee, weil, so Beiser, die Texte eine solch einfache Versöhnung nicht zulassen. Die Spannung besteht fort, weil Novalis auch das Absolute zu einem Objekt des Gefühls und Glaubens macht, was jedoch voraussetzt, dass es existiert. Wenn wir behaupten, dass das Absolute nur eine regulative Idee ist […], dann kann es nicht zu einem Objekt des Gefühls und Glaubens gemacht werden. Dies würde dann aber bedeuten, dass es für uns nichts gibt, was wir fühlen und an was wir glauben können […].8 An eine Fiktion zu glauben würde bedeuten, die »Ursünde« eines metaphysischen Dogmatismus zu begehen, nämlich den Fehlschluss einer Hypostase, argumentiert Beiser.9 Beiser folgert daraus, dass Novalis seine eigene kritische Haltung unterläuft, um die religiösen Gefühle zu befriedigen, mit denen er 7

Vgl. Hardenberg: Fichte-Studien, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 151, 157. »the texts do not permit such an easy reconciliation. The tension persists because Novalis also makes the absolute into an object of feeling and faith […], which implies that it exists. If we claim that the absolute is only a regulative idea […] then it cannot also be a made into an object of feeling and faith. For this is to imply that there is nothing for us to feel or believe in.« (Frederick C. Beiser: German Idealism. The Struggle Against Subjectivism, 1781–1801. Cambridge 2002, 417) 9 Beiser: German Idealism, 417. Vgl. auch ders.: The Romantic Imperative, 179. 8

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aufgewachsen war, und ebenso sein tief empfundenes Bedürfnis nach einem Jenseits und nach Gott nach dem Tod seiner geliebten Sophie.10 Beiser behauptet, dass Novalis gegen Ende seines Lebens »immer mehr die Distanz zwischen dem Natürlichen und dem Göttlichen betont habe, während er ebenso zunehmend die Abhängigkeit der Natur von einer höheren moralischen Norm«11 hervorgehoben habe. Beiser glaubt dies am deutlichsten in Novalis’ Brief an Schlegel vom 20. Juli 1798 hervortreten zu sehen, in welchem dieser behauptet, Schelling durch die Entwicklung einer neuen Methode übertroffen zu haben, in der die Physik »symbolisch« behandelt werde und die auf der Idee einer »moralischen Astronomie« und der Entdeckung einer »Religion des sichtbaren Weltalls«12 basiere. Ich werde auf Beisers These und auf diesen wichtigen Brief noch zurückkommen, aber zunächst möchte ich mich einem weiteren aktuellen Beitrag der englischsprachigen Forschung zuwenden, der, in meinen Augen irrtümlicherweise, Beisers Interpretation von Novalis’ Anti-Naturalismus und Anti-Spinozismus noch weiterführt. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz im British Journal for the History of Philosophy argumentiert Benjamin Crowe, dass Novalis’ »einzigartiger Beitrag zu den andauernden Versuchen, das Erbe des Pantheismusstreits zu lösen« seine »Synthese des spinozistischen Pantheismus und des traditionellen Christentums«13 gewesen sei. Nach Crowe benutzte Novalis Spinozas Pantheismus, um seine Auffassung des Christentums zu »irgendetwas dem traditionellen Theismus Ähnlichen« zu »synthetisieren«. Er betrachtet diese »Synthese« als Teil von Novalis’ »andauerndem Versuch, sich zu einer traditionelleren Form von Religion hindurchzuarbeiten«.14 Der Pantheismus10 Beiser lässt hier allerdings die Möglichkeit unbeachtet, dass auch eine Idee selbst ein Gegenstand sein kann, zum Beispiel ein Gegenstand der Hoffnung. Auf etwas zu hoffen, von dem man weiß, dass es in einer bestimmten Situation nicht vollständig erreichbar ist, muss nicht irrational sein, speziell dann, wenn man zugleich bedenkt, dass ein Glaube an diesen Gegenstand als eine Idee Handlungen unterstützen kann, welche zu einer Annäherung führen können. 11 »Novalis increasingly stressed the distance between the natural and divine while also the dependence of nature on a higher moral order.« (Beiser: German Idealism, 429) 12 Novalis am 20. Juli 1798 an Friedrich Schlegel, in: Hardenberg: Novalis Schriften, Bd. 6, 255. 13 »The result is an ambitious synthesis of Spinozistic pantheism and traditional Christianity, which Novalis dubs ›the religion of the visible universe‹. This represents Novalis’s unique contribution to the continued attempts to resolve the legacy of the ›Pantheism Controversy‹« (Benjamin Crowe: »On ›The Religion of the Visible Universe‹: Novalis and the Pantheism Controversy«, in: British Journal for the History of Philosophy 16:1 (2008), 125–146, 125). 14 »Spinoza’s deus sive natura formula has been left behind in favour of something approximating traditional theism«; »fragments from the ›Fichte-Studien‹ also testify to

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streit, argumentiert er, regte Novalis’ Versuche an, »das problematische Erbe des Spinozismus in den Griff zu bekommen, und […] dieser Versuch lieferte eine Art vereinigenden Rahmen für Novalis’ Werk zwischen 1795 und seinem frühen Tod im Jahre 1801«.15 Mit der Formulierung, den »Spinozismus in den Griff zu bekommen«, meint Crowe, dass Novalis gewisse Aspekte der spinozistischen Metaphysik, besonders seinen Pantheismus und seinen Begriff der intellektuellen Gottesliebe, an seine eigene religiöse Sicht anpassen wollte – eine Sicht, welche nach Crowe Novalis immer noch »innerhalb des Bereichs des Christentums«16 verortete. Crowe vertritt dabei die starke These, wonach Novalis’ Spinoza-»Rezeption« im Lichte seiner Zurückweisung des spinozistischen Naturalismus interpretiert werden müsse. Crowe behauptet, dass Novalis zunächst von Spinozas Pantheismus angezogen gewesen sei, weil dieser teilweise Novalis’ eigenes Bedürfnis gestützt habe, Gott zum »ersten Prinzip seiner Metaphysik«17 zu machen. Er führt dazu einige Passagen der Fichte-Studien an,18 von denen meines Erachtens keine nahe legt, dass Novalis versucht haben mag, ein »erstes Prinzip« der Metaphysik zu entdecken, geschweige denn so etwas wie einen traditionellen christlichen Gottesbegriff als Fundament des Universums. Nur um ein Beispiel zu nennen: Crowe führt zwei dunkle Sätze Novalis’ aus Fragment 151 der Fichte-Studien an: »Spinotza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum Ich oder der Person. Ich bis zur These Gott.«19 Crowe liest diese Sätze als eine direkte Infragestellung des spinozistischen Naturalismus. Mit »Naturalismus« meint Crowe Spinozas Lehre des »deus sive natura« – die Identifikation von Gott und Natur als eine Substanz, die durch verschiedene wesentliche Attribute erkannt werden kann – mit anderen Worten: Spinozas Monismus. Crowe ist der Ansicht, dass Novalis den Monismus (also die Identifikation von Gott und Natur) »für das, was er tatsächlich ist, nämlich eine radikale Abkehr vom traditionellen Theismus, der auf eine naturalistische Konzeption Gottes hinausläuft«, halte, und er behauptet, dass Novalis ihn aus diesem Grund zurückgewiesen habe.20 Er erklärt jedoch nicht, wie his ongoing attempts to work through a more traditional form of religion« (Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 129 f.). 15 »Novalis attempts to come to grips with the troubled legacy of ›Spinozism‹«; »[This attempt] provides a kind of unifying framework for Novalis’s work between 1795 and his early death in 1801« (Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 125). 16 »Novalis still located his own views within the domain of Christianity.« (Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 128) 17 »Novalis seems attracted to Spinoza’s use of God as a first principle in his metaphysics« (Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 128). 18 Besonders die Fragmente Nr. 8 und 71–73 der Fichte-Studien. 19 Hardenberg: Fichte-Studien, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 2, 157. 20 »He takes Spinoza’s deus sive natura for what it, in fact is, namely, a radical depar-

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Novalis auf diese angebliche Zurückweisung unmittelbar die gleichermaßen nicht-traditionelle Behauptung in Fragment 152 folgen lassen konnte, wonach »Gott […] die Sfäre aller Analyse und Synthese [ist] – Ein theoretischer und practisch nothwendiger Begriff – lezteres ist ein Gefühl – jenes eine Idee. /Verwandschaft d[er] nothwendigen Gefühle und Ideen«, wiederum gefolgt von der weiteren Behauptung in Fragment 153: Die transscendente Natur ist zugleich immanent – so auch die immanente Person ist transscendent zugleich – und auch umgekehrt […] Es sind einerley Wesen – nur umgekehrt. Sie correspondiren aufs genaueste. Bildlich sind sie, wie zwey Pyramiden, die Eine Spitze haben […] Sie sind wie Eine Linie. Her ist sie das Bild der Natur – hin das Bild des Ich.21 Weit entfernt von einer Zurückweisung des Naturalismus klingt dies sehr nach einem spinozistischen Begriff von Gott als einer Substanz, identisch mit der Natur, die durch die Attribute des Denkens und der Ausdehnung gewusst werden kann. Im Lichte dieser Passagen können Novalis’ Behauptungen in Fragment 151 am besten als sein Scheitern erklärt werden, anzuerkennen, dass die eine Substanz für Spinoza unentschieden zwischen Ausdehnung und Denken ist – ein Missverständnis der spinozistischen Lehre, das gut ein Erbe von Jacobis programmatischem Bedürfnis sein könnte, auf Spinozas Materialismus zu insistieren. Novalis’ Fehldeutung von Spinoza wird diesbezüglich auch unterstützt durch Fragment 23 seiner Logologischen Fragmente, worin Novalis bemerkt, dass eine Verbindung von Spinozismus und Hylozoismus die Vereinigung von Materialismus und Theismus bewirken könne.22 Oder es könnte einfach Novalis zweckdienlich gewesen sein, Spinoza und Fichte in dieser Hinsicht als Gegensätze hinzustellen, um seine eigene philosophische Synthese der inneren und äußeren Welt voranzutreiben. Spätere Fragmente im Allgemeinen Brouillon (Nr. 1098 und 633) legen dies nahe: »Spinotza setzte alles heraus – Fichte alles hinein.« Tatsächlich gibt Crowe zu, dass Novalis zuvor in den Fichte-Studien im Fragment 126 die explizit spinozistische (und hochgradig unorthodoxe) Behauptung aufgestellt habe, dass Gott »weder frei noch moralisch«23 sei. Crowe verwirft diese Passage als inkonsistent mit Novalis’ Verständnis von Gott als ein »moralisches Ideal« und besteht darauf, dass Novalis Spinozas Natuture from traditional theism that amounts to a naturalistic conception of God.« (Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 130) 21 Hardenberg: Fichte-Studien, in: ders.: Schriften, Bd. 2, 157. 22 Vgl. Hardenberg: Logologische Fragmente, in: ders.: Schriften, Bd. 2, 529. Es wäre geradezu falsch, sich auf diese Fehlinterpretation von Spinoza zu beziehen, da nicht erwiesen ist, dass Novalis überhaupt Spinoza im Original gelesen hat. 23 Hardenberg: Fichte-Studien, in: Novalis Schriften, Bd. 2, 154.

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ralismus zurückgewiesen habe »als eine radikale Abkehr vom traditionellen Theismus«.24 Crowe stimmt mit Beiser darin überein, dass Novalis eine Trennung von Gott und Natur favorisiere, indem er Gott mit einem moralischen Ideal identifiziere und den spinozistischen Naturalismus zurückweise. Allerdings widerspricht die Ansicht, dass Gott weder frei noch moralisch sei, nicht der Behauptung, wonach Gott ein moralisches Ideal sei. Schließlich ist ein Ideal ein Produkt des menschlichen Bewusstseins und vermag verschiedene natürliche Ursprünge zu haben, einschließlich einer, wie man in Novalis’ Fall vermuten darf, starken Hoffnung oder eines gefühlten Bedürfnisses nach Transzendenz. Außerdem muss sich ein christlicher personaler Gott als identisch mit dem Menschsein herausstellen, wenn, wie Novalis behauptet, die immanente Person zur selben Zeit transzendent und die transzendente Person immanent ist. Und Novalis zögert nicht, solch unorthodoxe Behauptungen aufzustellen, wie Beiser selbst betont.25 Durchweg verficht Novalis in den Fichte-Studien eine Konzeption, die wir heute einen humanistischen Gottesbegriff nennen würden, die exakt »eine radikale Abkehr vom traditionellen Theismus, welche auf eine naturalistische Konzeption Gottes hinausläuft« darstellt, von welcher Crowe behauptet, dass Novalis sie vermeiden wollte. Darüber hinaus kann diese Ansicht nicht als eine frühe Konzeption verworfen werden, welche in Novalis’ späteren Schriften ersetzt wurde. Tatsächlich erscheint sie immer wieder in Novalis’ späteren Schriften, was den Schluss nahe legt, dass er sich nie von einer Art von Naturalismus oder der Ansicht, dass in gewissem Sinne Gott und Natur eins seien, entfernte. Es scheint, als ob Novalis niemals seine Bewunderung für den frischen und schöpferischen Atem verlor, den Spinoza in die Philosophie eingeführt hatte. Sein Brief aus dem Jahre 1796 an Schlegel drückte dies folgendermaßen aus: Ich fühle in Allem immer mehr die erhabnen Glieder ein[es] wunderbaren Ganzen – in das ich hineinwachsen, das zur Hülle meines Ichs werden soll – und muß ich nicht alles gern leiden, da ich liebe und mehr liebe, als die 8 Spannenlange Gestalt im Raume, und länger liebe, als die Schwingung der Lebenssayte währt. Spinotza und Zinzendorf haben sie erforscht, die unendliche Idee der Liebe und geahndet die Methode – sich für sie und sie für sich zu realisiren auf diesem Staubfaden. Schade, daß ich in Fichte noch nichts von diesem Schöpfungsathem fühle.26 24

Crowe: »Religion of the Visible Universe«, 129. Vgl. Beiser: German Idealism, 417. Beiser führt zur Untermauerung noch folgende Stellen an: Hardenberg: Fichte-Studien, in: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 462, 249; Nr. 396, 233; Nr. 234, 179 und Nr. 454 u. 455, 247. 26 Novalis am 8. Juni 1796 an Friedrich Schlegel, in: Hardenberg: Novalis Schriften, Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, 188. 25

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Novalis ist so tief berührt von Spinoza, weil seine Philosophie ein Gefühl der Einheit mit der Natur ermöglicht und eine Methode vorgibt, dieses Gefühl in eine gelassene aber dennoch aktive Liebe für die ganze Welt zu entwickeln. In dieser Hinsicht kann Novalis als ein frühes und musterhaftes Beispiel für jenes Phänomen angesehen werden, welches Abrams, sich auf Carlyle stützend, einen »natürlichen Supernaturalismus« nennt: »die allgemeine Tendenz [der Frühromantiker in Deutschland und England] in unterschiedlichen Graden und Hinsichten das Übernatürliche zu naturalisieren und das Göttliche zu vermenschlichen«.27 Spinoza verstand nicht nur die Natur als Gottheit, sondern erblickte auch den notwendigen Ort des Menschseins in diesem göttlichen Ganzen. Novalis’ tief empfundene Wertschätzung hierfür ist auch aus einem Brief an Caroline Schlegel aus dem Jahr 1799 ersichtlich (und diente Novalis ebenso als Eintrag in das Allgemeine Brouillon, Nr. 1096): »Auch im Spinotza lebt schon dieser göttliche Funken des Naturverstandes.«28 So entdecken wir, dass Novalis in den Schlusspassagen des Allgemeinen Brouillon, Novalis’ letztem philosophischen Werk, noch einmal seine Verbundenheit mit einem »neutralen« Monismus bekräftigt, der, ob er es nun ganz realisierte oder nicht, mit dem Spinozismus konsistent ist: »Cos[mologie]. Es ist einerley, ob ich das Weltall in mich, oder mich ins Weltall setze. Spinotza setzte alles heraus – Fichte alles hinein.«29 Später wiederholt er im selben Werk sein enthusiastisches Lob für Spinoza, diesmal jedoch verbunden mit einer Kritik an Fichtes Einseitigkeit: »Die Hypostase versteht Fichte nicht – und darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes. Ohne Ecstase – fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein – ist es mit der ganzen Philosophie nicht weit her. (Spinotza’s Zweck.)«30 Hier macht sich Novalis in plotinischen Begriffen die Hypostase zu eigen, welche Beiser ihm zum Vorwurf macht, jedoch nicht in Form eines Fehlschlusses. Menschliche Eigenschaften in der Natur zu verorten bedeutet für Novalis ein schöpferisches Vorhaben. Fichtes Problem besteht nach Novalis darin, dass er nicht die Bedeutung solcher Projektionen versteht und ihm deshalb »die andre Hälfte des schaffenden Geistes« fehlt. Fichte vermag nicht die zahlreichen Möglichkeiten oder »Modi« nachzuvollziehen, in welcher sich die eine Substanz manifestiert – Fichtes intellektuelle Anschauung begreift nur die Tä27 »[T]he general tendency [of the early romantics in both Germany and England] was, in diverse degrees and ways, to naturalize the supernatural and to humanize the divine.« (Meyer Howard Abrams: Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Literature. New York 1971, 68) 28 Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon, in: Novalis Schriften, Bd. 4, 276. 29 Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon, in: Novalis Schriften, Bd. 3, Nr. 633, 382. 30 Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon, in: Novalis Schriften, Bd. 3, Nr. 1067, 465.

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tigkeit des Selbstsetzens und vermag deshalb nicht durch Intuition die Natur außerhalb der Subjektivität zu begreifen. »Spinotza’s Zweck« besteht auf der anderen Seite bewusst darin, uns selbst im Denken außerhalb unserer selbst zu entwerfen. Indem wir uns darin üben, uns über die niedereren Affekte zu höherer, rationalerer Kontemplation des Ganzen zu erheben, sind wir in den Stand versetzt, außerhalb unserer selbst zu stehen. Dies mündet in eine »Extase« – das Gefühl einer intellektuellen Liebe des eigenen Selbst und der anderen, den Zustand der Seligkeit. Spinozas Seligkeit, die intellektuelle Gottesliebe, beinhaltet das Bewusstsein der Einheit der inneren und äußeren »Hälfte« des schöpferischen Geistes.31 Was aber ist Novalis’ »ecstasis« anderes als eine Form des Deus sive natura? Novalis erkennt Spinozas Absicht als seine eigene. Dies ist kaum eine Zurückweisung des Naturalismus von Seiten Novalis’ und es ist gewiss nicht aus der Perspektive eines orthodoxen Christentums geschrieben. Es scheint damit auf der Hand zu liegen, dass Novalis tatsächlich Spinozas Naturalismus recht nahe stand, oder jedenfalls einer ihm sehr ähnlichen Ansicht. Er versuchte daher auch nicht, sich selbst davon zu distanzieren. Seine eigene romantische Version sollte lediglich auf der Einführung eines Lebensprinzips und der Zurückweisung eines mechanistischen Begriffs bestehen, welcher, wie es Spinoza tat, Materie allein über die Ausdehnung definierte. Ohne Frage verwarf Novalis, wie auch Schelling, Goethe und die Frühromantiker im Allgemeinen die mechanistische Physik, aber dies schließt sicherlich nicht einen nicht-mechanistischen oder vitalistischen Naturalismus aus, worauf Beiser selbst treffend hingewiesen hat.32 Trotzdem behauptet Beiser auch, wie wir bereits sahen, dass sich Novalis letztlich von Spinozas Naturalismus im Zuge seiner zunehmend kritischen Haltung gegenüber Schellings Naturalismus entfernt habe. Im Gegensatz zu Schelling, behauptet Beiser, ist [f]ür Novalis […] Natur jedoch nicht ein selbstgenügsames Ganzes, sondern nur eine Emanation des Göttlichen, während [Schellings] Weltseele ebenso nur die weltliche Verkörperung Gottes ist […]. Als Reaktion auf Schellings Naturalismus und Spinozismus betonte Novalis zunehmend die Distanz zwischen dem Natürlichen und Göttlichen und dabei gleichzeitig die Abhängigkeit der Natur von einer höheren moralischen Ordnung.33 31 Das Problem, sich selbst außerhalb seiner selbst zu finden, beschäftigte Novalis auch in den Kant-Studien: »Giebt es noch außersinnliche Erkenntniß? Ist noch ein anderer Weg offen, aus sich selbst herauszugehn und zu andern Wesen zu gelangen, oder von ihnen afficirt zu werden?« (Hardenberg: Kant-Studien, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 46, 390) 32 Vgl. Beiser: The Romantic Imperative, 182–184. 33 »For Novalis, however, nature is not a self-sufficient whole, but only an emanation

Novalis’ nüchterne Rezeption der spinozistischen ›Gott-Trunkenheit‹

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Als Beweis dafür, dass Novalis eine nicht-naturalistische Gegen-Metaphysik hervorbrachte, um diejenige Schellings und Spinozas abzulösen, zitiert Beiser ein Fragment aus der unmittelbar auf die Teplitzer Fragmente (1798) folgenden Zeit, in welchem Novalis seine Bedenken ausdrückt, dass, »[w]er bey der Erklärung des Organism keine Rücksicht auf die Seele nimmt, und das geheimnißvolle Band zwischen ihr und dem Körper, […] nicht weit kommen«34 wird. Dies klingt zunächst nach einer Zurückweisung einer vereinheitlichten Ansicht von Natur und Geist. Novalis schreitet dann aber weiter und beschreibt »Leben« als »vielleicht nichts anderes, als das Resultat dieser Vereinigung« von Seele und Körper, wobei er es mit dem Funkenflug vergleicht, der sich beim Reiben des Eisens am Wetzstein ereignet, und dem Ton, der beim Streichen der Saiten erklingt, usw. Wie der Lichtfunke, so kann auch das Leben verstanden werden als ein aufkommendes »höheres Ereignis« mechanischer Operationen. Somit kann dies alles kaum eine Zurückweisung eines vitalistischen Naturalismus sein; es ist vielmehr eine Erinnerung daran, dass aus mechanischen Operationen Ergebnisse auftreten können – Bewusstsein, zum Beispiel –, welche andere Arten der Erklärung benötigen. Beisers zweites Argument für Novalis’ reaktionären Anti-Naturalismus besteht in einem Verweis auf die Fragmente 60 und 61 im Allgemeinen Brouillon, eine Passage, die zunächst das Ausmaß in Frage zu stellen scheint, in welchem sich Novalis an einen extremen Naturalismus klammerte. Es ist vielleicht mehr als jede andere gerade diese Passage, welche Beiser und andere dazu veranlasst hat dafür zu argumentieren, dass Novalis letztlich den Naturalismus zurückgewiesen habe. Die Passage lautet folgendermaßen: Cosmologie. Gott und Natur muß man hiernach trennen – Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen – Er ist das Ziel der Natur – dasjenige, mit dem sie einst harmoniren soll. Die Natur soll moralisch werden und so erscheint allerdings der Kantische Moralgott und die Moralitaet in einem ganz andern Lichte. Der moralische Gott ist etwas weit Höheres, als der magische Gott.35 Bezeichnenderweise fügt Novalis jedoch eine unmittelbare Wendung hinzu: Theosophie. Wir müssen Magier zu werden suchen, um recht moralisch seyn zu können. Je moralischer, desto harmonischer mit Gott – desto göttof the divine, while [Schelling’s] world soul too is only the earthly embodiment of God. (no. 453, II, 643). In reaction against Schelling’s naturalism and Spinozism, Novalis increasingly stressed the distance between the natural and divine while also the dependence of nature on a higher moral order.« (Beiser: German Idealism, 429) 34 Hardenberg: Teplitzer Fragmente, in: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 453, 643. 35 Hardenberg: Allgemeines Brouillon, in: Novalis Schriften, Bd. 3, Nr. 60, 250.

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licher – desto verbündeter mit Gott. Nur durch den Moralischen Sinn wird uns Gott vernehmlich – der moralische Sinn ist für Daseyn, ohne äußre Affection – der Sinn für Bund – der Sinn für das Höchste – der Sinn für Harmonie – der Sinn für freygewähltes, und erfundenes und dennoch gemeinschaftliches Leben – und Seyn – der Sinn fürs Ding an sich – der ächte Divinationssinn.36 Novalis fährt fort, wobei er bemerkt, dass der Begriff »Sinn« nicht ganz angemessen sei, da es das Ergreifen einer unendlichen Quantität sei, was damit in Widerspruch stehe. Nun stellt sich jedoch die Frage, wo Novalis ein Muster für solch eine Idee – ein Sinnesorgan für das Unendliche – gefunden haben könnte. Vielleicht bei jemandem, dessen Philosophie von Gottheit gesättigt ist – einem von Gott berauschten Philosophen? Zur Erinnerung: Dem Satz, wonach »Spinotza […] ein gotttrunkener Mensch« sei, welcher in der Sammlung der Fragmente und Studien von 1799–1800 enthalten ist, gehen Fragmentpassagen voran, nach denen der »Spinotzism […] eine Übersättigung mit Gottheit« und »Unglauben ein Mangel an göttlichen Organ und an Gottheit« sei.37 Somit wurde das, was auf den ersten Blick wie eine Rückkehr zu traditionellen religiösen Ansichten aussah, prompt wieder in einen Naturalismus zurückgeführt, der ein notwendiges Gefühl für die Ideen von Gott, Substanz, Natur – das »Weltall«, welches Spinozas Ethik schildert, enthält. Vielleicht meint Novalis einfach, dass der »moralische Gott« die regulative Idee und in diesem Sinne außerhalb jeglicher Reichweite sei, während der »magische Gott« die ganze Welt um uns herum und in uns sei – der »reale« Gott, oder die Natur. Der letzte Abschnitt des angeblich anti-spinozistischen Fragments, welches Beiser zitiert, kehrt zurück zum Thema der Trennung: »Will ich nun Gott oder die Weltseele in den Himmel setzen?« Novalis stellt sich diese Frage, und seine Antwort klingt kantisch: »Besser wär es wohl, wenn ich den Himmel zum moralischen Universo erklärte – und die Weltseele im Universum ließe.« Das moralische Universum, welches er erwähnt, obwohl er sicherlich dem kantischen Postulat oder der Idee von Gott verpflichtet ist, geht ebenfalls auf die »Entdeckung« einer »moralischen Astronomie« zurück, auf die sich Novalis in einem Brief an Schlegel aus Teplitz im Juli 1798 bezog. Da auch dieser Brief sowohl von Beiser als auch von Crowe als klarer Beweis für Novalis’ Bruch mit dem Spinozismus gehalten wird, ist er einen näheren Blick wert.38 In diesem Briefwechsel teilt Novalis Schlegel mit, dass er glaube, dass er Schelling durch

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Hardenberg: Allgemeines Brouillon, in: Novalis Schriften, Bd. 3, Nr. 61, 250. Hardenberg: Fragmente und Studien 1799–1800, in: Novalis Schriften, Bd. 3, 649. 38 Vgl. Beiser: German Idealism, 429; sowie Crowe: »Religion and the Visible Universe«, 129. 37

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das, was er die »interessante Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls« nennt, weit übertroffen habe. Sowohl Beiser als auch Crowe halten dies für eine Zurückweisung einer naturalistischen Identifikation der natürlichen mit der moralischen Welt. Aber Novalis führt diese »Entdeckung« nicht als eine neue und bessere Metaphysik oder Theologie ein, sondern als eine Herausbildung seiner »Philosophie des täglichen Lebens«: »In meiner Philosophie des täglichen Lebens bin ich auf die Idee einer moralischen (im Hemsterhuissischen Sinn) Astronomie gekommen und habe die interessante Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls gemacht.«39 Crowe fasst dies als ein Zeichen dafür auf, dass Novalis mit diesem Projekt eine Wiederherstellung der orthodoxen christlichen Lehre in romantischem Gewand beabsichtige. Dabei stützt er sich stark auf Novalis’ Begriff eines christusgleichen Vermittlers. Wie aber Lacoue-Labarthe und Nancy gezeigt haben,40 hat Novalis diesen Begriff von seinem engen Freund und Mitarbeiter Friedrich Schlegel übernommen, der ihn eindeutig mit dem Künstler identifiziert. Alle Gründe sprechen dafür, eine solche Identifizierung vor dem Hintergrund der gerade zitierten Texte Novalis selbst zuzuschreiben. Novalis’ Kommentaren einen religiösen Traditionalismus zuzuschreiben bedeutet, die Tatsache zu ignorieren, dass Novalis seine »Entdeckung« als abstammend von seiner »Philosophie des täglichen Lebens« betrachtet. Aber gerade dieser Aspekt seiner »Entdeckung« ist von allergrößter Bedeutung. Er legt nahe, dass Novalis, getreu seiner Definition von »Romantik«, für sich selbst nicht nur eine »potenzierte« oder »exponenzierte« Philosophie der »unendlichen Annäherung« an die Wahrheit konzipierte, sondern auch damit begann, eine Philosophie zu entwickeln, welche in die andere Richtung fortschreitet: das Höhere, Unbekannte, Mystische und Unendliche zu »logarithmieren«, so dass es die Erscheinung des Alltäglichen annimmt.41 Sein Bezug auf eine »moralische Astronomie« im Hemsterhuissischen Sinne von »Moral« im Brief ist kein Bezug auf eine andere, höhere Welt, sondern bezieht sich einfach auf Hemsterhuis’ neuplatonischen Begriff eines moralischen Sinns oder »Organs« für die Erkenntnis von moralischen Eigenschaften und »Gegenständen«. Novalis’ »Entdeckung« besteht darin, dass er auf die Idee stieß, die Gegenstände der moralischen inneren Welt symbolisch zu repräsentieren, indem er wohl die Symbolik der »äußeren« Welt benutzte und insbesondere auch die christliche Symbolik, was auf eine »Religion des sichtbaren Weltalls« hinauslaufen

39 Hardenberg/Novalis am 20. Juli 1978 an Friedrich Schlegel, in: Novalis Schriften, Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, 255. 40 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy: The Literary Absolute: The Theory of Literature in German Romanticism. Trans. P. Barnard & Cheryl Lester. Albany 1988. 41 Hardenberg: Poeticismen, in: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 105, 545.

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sollte. Dies steht im Einklang mit seinen dichterischen Anstrengungen zur selben Zeit und hilft dabei, einige der überschwänglich religiösen Wendungen in der Rede über »Christenheit oder Europa« zu erklären. Anders formuliert: Als Teil seiner Logarithmisierung der Philosophie entwarf Novalis ein literarisches Projekt, das in einem wissenschaftlichen Kunstwerk, einer »sichtbaren« Version der moralischen Welt gipfeln sollte. Ein solches Projekt wäre dann eine künstlerische Schnittstelle zwischen der inneren moralischen Welt und der äußeren Welt der Natur. Es wäre wissenschaftlich, weil es systematisch eine künstlerische Darstellung der Wechselwirkung von natürlichen und moralischen Phänomenen ermöglichen würde. Dies sollte von großem methodischem und heuristischem Wert sein, da Novalis, wie wir sahen, postuliert hatte, dass die zwei Welten eigentlich eine durchgehende »Linie« seien, deren Momente sich gegenseitig exakt spiegeln. Der beabsichtigte Zweck des Projekts wird im Brief an Schlegel nicht genannt, allerdings hätte es sicherlich die Entwicklung einer Sprache beinhaltet, moralische Ideen und wissenschaftliche Konzepte durch die Einkleidung in Bilder des täglichen Lebens und der Natur darzustellen. Es gibt zahlreiche Variationen über dieses Projekt in den Lehrlingen zu Sais und im Allgemeinen Brouillon. Das letztendliche Ziel dieses ehrgeizigen Projekts bestünde dann darin, die jeweiligen Muster oder Projektionen der moralischen Ideen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche wir anstreben, jedoch noch nicht verwirklicht haben, ins Dasein treten zu lassen. Um zu den Problemen der Spannung in Novalis’ Konzeption von Gott und dem absoluten Sein zurückzukommen, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass diese nicht dadurch aufgehoben werden kann, dass man sich auf die regulative Natur von Gott und dem Absoluten beruft, da diesen damit die Möglichkeit genommen würde, ein wirklicher Gegenstand des Gefühls oder des Glaubens zu sein. Wenn wir jedoch Novalis’ Projekt als eine konstruktivistische Metaphysik lesen – als eine Verwirklichung der eigentlichen Gegenstände, die unsere Freiheit und Moralität von uns erfordert, durch menschliche Schöpfungskraft, und wenn wir dem zustimmen, dass, wie ich argumentiert habe, Novalis niemals sein Empfinden und seinen Glauben an eine spinozistische Einheit von Natur und Geist aufgegeben hat, dann haben wir eine Möglichkeit, diese Spannung zu verringern. Ein Künstlertum, das durch Naturwissenschaft informiert ist, zielt darauf ab, Gegenstände hervorzubringen, welche moralische und spirituelle Hoffnung in das individuelle menschliche Leben bringen. Diese Vorbilder – realistisch-utopische Konstruktionen, nicht mystische Abschweifungen – wären nicht Hypostasen in einem negativen Sinne, sondern würden vielmehr den Weg zur Schöpfung ihres Gegenstandes weisen und ihn glaubhaft machen. Für Novalis nahm dies die Form christlicher Religiosität an, aber wie wir sahen, war seine Definition des Christentums nahe daran zu leugnen, dass der Atheismus für die Religion ein Problem darstelle. Und sie

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bezeichnete tatsächlich den Theismus als irreligiös. Entscheidend ist dabei für Novalis allein ein Gefühl, dass etwas in der sichtbaren Welt ein Weg für mich darstellt (und es meine eigene Wahl ist), das größere Ganze zu erfahren, von dem ich selbst ein Teil bin: Nichts ist zur wahren Religiosität unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet […] In der Wahl dieses Mitglieds muß der Mensch durchaus frey sein. Der mindeste Zwang hierin schadet seiner Religion […] Wahre Religion ist, die jenen Mittler als Mittler annimmt, ihn gleichsam für das Organ der Gottheit hält, für ihre sinnliche Erscheinung […] Die wahre Religion scheint aber bei einer nähern Betrachtung abermals antinomisch getheilt in Pantheismus und Monotheismus. Ich bediene mich hier einer Licenz, indem ich Pantheism nicht im gewöhnlichen Sinn nehme, sondern darunter die Idee verstehe, daß alles Organ der Gottheit, Mittler seyn könne, indem ich es dazu hebe.42 Zwar wählt Novalis für sich selbständig das Christentum. Spinoza hingegen, der gotttrunkene Mensch, fühlte sich dem Göttlichen verbunden durch sein eigenes geistiges Bewusstsein der einen Substanz und ihrer Seinsweisen in der Welt um ihn herum. Novalis bemerkt zu Spinozas intellektueller, ekstatischer Gottesliebe ganz am Ende seines letzten zusammenhängenden philosophischen Werks: Spinotza und Andre haben mit sonderbarem Instinkt alles in der Theologie gesucht – die Theologie zum Sitz der Intelligenz gemacht. Spinotzas Idee von einem kategorischen imperativen – Schönen oder vollkommenen Wissen – einem an sich befriedigenden Wissen – einem alles übrige Wissen annihilirenden und den Wissenstrieb angenehm aufhebenden Wissen – kurz einem wollüstigen Wissen (welche allem Mysticism zum Grunde liegt) ist höchst interessant.43 Obwohl Novalis keineswegs diese intellektuelle Liebe kritisiert, trifft er doch eine wichtige Aussage über Spinozas Affektenlehre, nämlich, dass Spinozas intellektuelle Gottes-, Natur- und Substanzliebe am Ende doch noch Liebe sei. Sie ist gewissermaßen ein Gefühl der Freude, hervorgerufen von demjenigen Bewusstseinszustand, in welchem wir uns befinden, wenn wir nach der befreienden Aufhebung des Bedürfnisses nach allem Wissen streben und einzig und allein das Wahre und Wirkliche in seiner Totalität umarmen möchten. Diese Liebe transzendiert nicht die Freude, sondern sie ist nur eine feinfühlige und 42 43

451.

Hardenberg: Blütenstaub, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 74, 443 und 445. Hardenberg: Allgemeines Brouillon, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 3, Nr. 958,

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erhabene Art des Gefallens. Novalis stimmte darin mit Spinoza überein: Diejenigen, die durch große Mühe diesen ausgezeichneten aber seltenen Zustand erlangen können, sind wahrhaft gesegnet. Die Übrigen müssten sich mit einer einfacheren Form der Zufriedenheit begnügen, aber jedes menschliche Wesen wäre fähig, sich diesem Zustand der Glückseligkeit weiter anzunähern. Die Meisten würden dabei Hilfe benötigen, und an dieser Stelle schaltet sich Novalis ein: Diese Helfer, Erzieher, ja »Vermittler« sind jene Philosophen, die darin zu Künstlern werden und fähig sind, in und aus der Natur heraus sichtbare Zeichen des größeren Ganzen zu formen. Diese Kunstwerke dienen gewissermaßen als Zeichen für die anderen, auf ihren eigenen Wegen ihren jeweiligen Gegenständen der Hoffung zu folgen. Vielleicht hätte Spinoza diesen letzten, künstlerischen Schritt nicht befürwortet, aber zumindest in dieser einzigen Hinsicht ist Novalis nüchtern: Der Entschluß zu philosophiren ist eine Aufforderung an das wirckliche Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geist seyn solle.44

44

529.

Hardenberg: Logologische Fragmente, in: ders.: Novalis Schriften, Bd. 2, Nr. 22,

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Hegels Würdigung von Spinozas Affektenlehre

Die Intention dieses Aufsatzes ist nachzuweisen, dass Hegel auf dem Höhepunkt seines Schaffens in der 1827 geschriebenen Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften auf die philosophische Relevanz der Affektenlehre Spinozas verwiesen und ihre Explikation als angemessene Ausgangsbasis zur Überwindung des abstrakten Akosmismus der Substanz in Spinozas Metaphysik anvisiert hat. Hegels Rekurs auf Spinozas Emotionenlehre geschieht in der Zeit, als der Bonner Mediziner und Physiologe Johannes Peter Müller mit seiner einflussreichen Schrift Über die phantastischen Gesichterscheinungen aus dem Jahre 1826 auf Spinozas Affektenlehre aufmerksam gemacht und diese als »wirkliche Erklärung des Lebens« gedeutet hat. Müller hat auch in seinem Handbuch der Physiologie des Menschen (1833) die wichtigsten Bestandteile der Affektenlehre Spinozas aufgenommen und mit der Seelenkonzeption der Vertreter des Deutschen Idealismus in Verbindung gebracht, worauf namentlich Karl Jaspers und Reiner Wiehl hingewiesen haben.1 Im ersten Teil meines Beitrags wird auf die wichtigsten Merkmale und Errungenschaften der Spinozanischen Affektenauffassung, soweit sie für die existenzielle Unterscheidung von Gut und Böse von Belang sind, eingegangen und im zweiten Teil auf die Relevanz der Affektenerörterung für Hegels Philosophie des subjektiven Geistes verwiesen. Wie aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie ersichtlich ist, deckt sich Hegels Plädoyer für die vom Zeitgeist bedrohte spekulative Philosophie mit einer gründlichen Reinterpretation von Spinozas Erträgen der Affektenlehre und seiner grundlegenden Unterscheidung vom Gut und Böse im konkreten Lebensvollzug. Erst in der neueren Spinoza-Forschung wurde unter dem erheblichen Einfluss der so genannten Philosophy of Mind darauf aufmerksam gemacht, dass das von Spinoza ausführlich thematisierte Verhältnis von Geist und Leib für die gegenwärtige philosophische Diskussion von Belang ist.2 Vor allem sollte

1 Vgl. Reiner Wiehl: Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays. Frankfurt am Main 1996, 277–332. 2 Vgl. dazu Michael Della Rocca: Representation and the Mind-Body Problem in Spinoza. New York 1996, 19; Antonio R. Damasio: Looking for Spinoza – Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. London 2003.

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man dabei auf die nicht ausreichend geklärten Fragen des Verhältnisses von Geist und Emotionen bzw. von menschlichem Wollen und Handeln hinsichtlich der Thematisierung des menschlichen Selbst eingehen.

I. Spinozas Affektenlehre der Lebenssteigerung und Lebensminderung Im Dritten und Vierten Teil der Ethik entwickelt Spinoza ausführlich seine Explikation der Affekte und vertritt dabei die Ansicht, dass das methodologische Prinzip mos geometricus ebenso auf »die menschlichen Handlungen und Triebe« übertragen werden kann, so dass die menschliche Existenz exakt und plausibel analysiert bzw. deduziert werden kann, wie »Linien, Flächen oder Körper« (humanas actiones atque appetitus considerabo perinde, ac si quaestio de lineis, planis aut de corporibus esset, 3praef, E 220).3 Diese aus der euklidischen Geometrie abgeleitete, stringente Methodologie, more geometrico, ist ein kultureller Ausdruck des Aufklärungszeitgeistes und geht zum Teil auf die von Descartes stammende Annahme zurück, dass sich die Gesetze der Natur mittels der mathematisch-geometrischen Methode ebenso sehr auf die menschlichen Empfindungen und Emotionen übertragen lassen. Als Ausgangsbasis seiner philosophischen Reflexionen setzt Spinoza das jedem Lebewesen zugeschriebene Streben nach Selbsterhaltung, den so genannten »Conatus« an, der auch als Grundlage seiner Explikation der Affekte fungiert. Der Kern der menschlichen Existenz besteht primär im eigenen aktiven Streben nach Selbsterhaltung bzw. in dem permanenten Willen nach Steigerung der eigenen Tätigkeit. Der aus dem Geiste derivierte Selbsterhaltungstrieb (conatus) wird terminologisch als Wille (voluntas) gefasst; soweit mit ihm aber das Verhältnis von Körper und Geist geregelt wird, bezeichnet ihn Spinoza als »appetitus«. Die geistig-leibliche cupiditas fungiert ferner als Grundform der Affekte, die sowohl Intensivierung als auch Minderung des geistigen und leiblichen Tätigkeitsvermögens impliziert. Im Falle der affirmativen Förderung dieses leiblich-geistigen Strebens spricht Spinoza von positiven Affekten, wenn dagegen dieses Triebvermögen unterdrückt und entmutigt wird, beschäftigen wir uns mit negativen Formen der Affekte, die wesentlich zur Reduktion der aktiven leiblichen und geistigen Fähigkeiten im Menschen beitragen. Spinozas Konzept der Affekte geht von einer triadischen Struktur der menschlichen Natur aus: Es gibt stricto sensu nur drei Grundaffekte, Freude, Trauer und Verlangen, auf die alle anderen reduziert werden können. Bei der genaueren Analyse des Kontextes des Terminus »laetitia«, das ist der Freude, in Spinozas Ethik bleibt eindeutig evident, dass Spinoza darunter ein 3

Die deutschen Übersetzungen stammen hier und im Folgenden vom Autor.

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Vermögen des Menschen versteht, das ihn stets zur höheren Lebensform der Perfektibilität motiviert. Deshalb haben wir diese Ermunterungsfähigkeit auch als positive Lust gefasst und begriffen. Die Trauer (tristitia) bzw. Unlust bleibt das wichtigste emotive Konstituens und Movens verschiedener Verfallsformen des menschlichen Lebens. Unter »cupiditas«, dem Verlangen, das freilich als das dritte konstitutive Element genommen und gründlich analysiert wird, versteht Spinoza primär das bewusste Bestreben des Menschen nach Erhaltung. Das Verlangen, als Grundaffekt des Menschen, wird in der Ethik folgendermaßen definiert: »Cupiditas est appetitus cum ejusdem conscientia« (3p9s, E 242). Diese Dreiheit der Fundamentalaffekte wird als Grundlage für die einleuchtende Ausarbeitung more geometrico des Netzwerks von Affekten und Emotionen anvisiert. Es handelt sich um ein Ordnungsprinzip, mit dem jede Lebensform als Affektäußerung plausibel gemacht wird. So wird beispielsweise die Liebe als aktive Lust gedeutet, die mit der »Idee einer äußerlichen Ursache« verbunden bleibt, der Hass dagegen wird als passive Unlust verstanden und mit der »Idee einer äußeren Ursache« in Zusammenhang gebracht (3p13s, E 248). Ähnlich wird die Hoffnung als »unbeständige Lust (inconstans laetitia)« definiert, die aus der Vorstellung eines zukünftigen oder vergangenen Dinges entspringt, über dessen Verlauf man unsicher bleibt. Dagegen wird die Angst (metus) als »unbeständige Unlust (inconstans tristitia)« verstanden, die aus der Vorstellung eines zweifelhaften Gegenstandes entsteht (3p18s2, E 258). Wenn der Zweifel völlig verschwindet, transformiert sich die Hoffnung zuerst in Zuversicht und dann in Freude, die Angst hingegen geht zunächst in Verzweiflung über und erreicht zum Schluss den emotionellen Zustand des Leides. Nach diesem Verfahren werden sämtliche unsere Lebensvollzüge bestimmenden Affekte zu einem Netzwerk von Gemütsbewegungen verknüpft. Dabei kommt es Spinoza in erster Linie auf eine streng formalisierte Beschreibung an, nicht so sehr auf den Inhalt der Affektenäußerung und deren Begründung. Im Unterschied zu den Stoikern und zu Descartes, die behaupten, dass der Mensch fähig sei, seine Gemütsbewegungen mit Hilfe unserer Rationalität und Intelligibilität zu beherrschen, ist Spinozas primäre philosophische Intention, aufzuzeigen, dass der Mensch, wenn er im Einklang mit seinem intelligiblen Vermögen lebt, die passiven Affekte zu aktiven Affekten zu verwandeln vermag, um mit Hilfe der aktiven Affekte gegen die passiven Affekte wirksam vorzugehen und sie endgültig zu überwinden. Zu den aktiven Affekten wird primär die Seelenstärke (fortitudo) gerechnet, die in Willenskraft (animositas) und Edelmut (generositas) eingeteilt wird. Unter Willenskraft versteht Spinoza die Begierde (cupiditas), durch die jeder Mensch danach trachtet, sein eigenes Sein nach dem Gebot der Rationalität und Vernünftigkeit allein zu erhalten (suum esse ex solo rationis dictamine conservare, 3p59s, E 332). Unter Edelmut wird die Begierde verstanden, mit der jeder Mensch sich bemüht, allein

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nach der Anordnung der Vernünftigkeit seine Mitmenschen zu unterstützen und dadurch Freundschaft zustande zu bringen (3p59s, E 332). Die passiven Gemütsbewegungen üben eine allzu starke Beeinflussung auf das menschliche Leben aus, als dass der Mensch in Einklang mit einer vernünftig gesetzten Lebensform seinen Existenzvollzug gestalten könnte. Spinoza behauptet, dass die meisten Menschen ihr Leben in der Lebensform der imaginatio verbringen, das heißt sie verhalten sich in ihrem Alltagsleben überwiegend assoziativ. Durch die Zuwendung zu den aktiven Affekten, wie der Freude, gerät der Mensch beziehungsweise seine Seele in einen Zustand einer aktiveren Handlungsfähigkeit, dagegen nimmt durch die Überlassung an die passiven Affekte, wie es mit der Trauer der Fall ist, auch die Handlungskraft im menschlichen Existenzvollzug ab. Deshalb verdienen die aktiven Affekte, wie Freude und Liebe, größere Aufmerksamkeit und philosophische Analyse, weil sie naturgemäß wesentlich stärker sind als die Affekte der Trauer und Hasses (3p43, E 298). Die Freude als wünschenswerte Emotion sollte man demzufolge in unserem Leben fördern und erzeugen, während man die Trauer als unerwünschte Leidenschaft meiden sollte. Sofern der Mensch ein vernünftiges, bewusstes Leben führt, werden auch seine Emotionen zum Einklang gebracht, wenn er dagegen seinen Existenzablauf durch die »imaginatio« belastet, geschieht das Gegenteil in seinem Leben, er wird nämlich von seinen Gemütsbewegungen beherrscht und beansprucht eine direkte Befriedigung seiner Lüste. Wer dagegen ein vernünftiges Leben führt, wird nach einer höheren Lust streben und damit versuchen, ein gutes und glückliches Leben zu führen. Als die erstrebenswerteste Lebensform wird die Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen hervorgehoben. Spinoza betrachtet es als die erste Verpflichtung seiner an sich plausiblen Ethik, ein stabiles Gleichgewicht unter den Affekten dadurch zustande zu bringen, dass die so genannten weniger negativen Affekte, die an sich nicht gut sind, wie Demut und Reue, gegen schlimmere Affekte als Gegenkräfte eingesetzt werden. Je erfolgreicher diese Ausschaltung der negativen Affekte vollzogen wird, desto freier wird der Mensch von seinen Leidenschaften und kann sich folglich für eine höhere Lebensform des liebevollen und freien Lebens entscheiden. Die menschliche Freiheit wird dementsprechend als aktive Verfügung über die affektierte Leidenschaft des Menschen bestimmt: »Wer daher seine Affekte und seine Triebe (affectus et appetitus) allein durch die Liebe zur Freiheit zu meistern trachtet, der wird alles daransetzen, die Tugenden und ihre Ursachen zu erkennen und das Gemüt mit dem Frohlocken zu erfüllen, das aus ihrer wahren Erkenntnis entsteht« (5p10s, E 552). Die Selbsterhaltung wird als existenzieller Zustand der Tugend gekennzeichnet, in dem die Leidenschaften überwunden und eine Lebensform der Verbindung von Vernunft, Freiheit und Macht zustande gebracht wird. Im Zustand des Strebens nach Selbsterhaltung gebraucht der Mensch seine immanente Kraft, naturgemäß zu handeln und

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sein Leben so zu gestalten, dass er aus den Gesetzen seiner eigenen Natur sinnvoll handelt. Mit anderen Worten, ein sinnvolles, glückseliges Leben zu führen, wäre gleichbedeutend damit, wie die rationalistischen Philosophen zu sagen pflegen, dass die Tugend naturgemäß über adäquate Ideen verfügt. Glückseligkeit besteht eigentlich im gelungenen Vollzug der Tugend (4p18s, E 410). Durch die gründliche Analyse des Begriffs der Tugend sollte auch plausibel gemacht werden, was gut und böse, nützlich oder schädlich im unserem Leben ist. Dabei wird primär der Nachdruck auf die in unserem Denken gesetzten Relationen gelegt, das an sich Positive und Negative in den Dingen wird dabei ausgeklammert. Als gut und nützlich erweist sich in diesem Zusammenhang das, was als adäquate Idee unserer Selbsterhaltung positiv dazu dient, dass wir Leidenschaften beherrschen beziehungsweise feindliche Ursachen bekämpfen können. Als böse wird diejenige Leidenschaft gekennzeichnet, die die Selbstbehauptung des Menschen hindert und beeinträchtigt und seine kreativen Kräfte hemmt. Dieses Gegensatzpaar bestimmt das menschliche Verhalten und Handeln dadurch, dass wir tugendhaft leben, indem wir meiden, was für unsere Selbstbehauptung schädlich ist, beziehungsweise uns dasjenige aneignen, was uns in unserer kreativen Lebensgestaltung nützlich ist. Nach Spinozas Urteil lebt der Mensch tugendhaft, indem er die immanente Macht entdeckt, nach den Gesetzen der Natur zu leben. Spinoza plädiert folglich für einen Lebensvollzug unter der Leitung der Vernunft, weil nach seiner Einschätzung und Beurteilung vernünftige und tugendhafte Handlungen immer gut sind, die von den Begierden geprägte Lebensweise nur manchmal, das heißt wenn sie nicht leidenschaftlich ist, gut verfährt. Die Aufgabe und Verpflichtung unseres Geistes besteht darin, die Affekte in ihrer Quintessenz zu ergründen und zur aktiven Wirksamkeit zu motivieren. Sobald Begierden und Triebe auf adäquate Ideen bezogen werden, hören sie auf, für uns negativ belastende Leidenschaften zu sein, da sie sich nun als handlungsbezogen und tugendhaft erweisen und manifestieren (5p3, E 536; 5p4s, E 538). Die zweite Wesensbestimmung unseres Geistes zeigt sich darin, seine Leidenschaften von den unangemessenen Vorstellungen der äußeren Ursachen zu befreien und diese in einem Zusammenhang mit Gedanken zu verknüpfen. Durch die Abkoppelung der Trauer und des Hasses von ihren äußeren Ursachen werden diese Leidenschaften in positive Motivationen transformiert (5p2, E534; 5p4s, E 538). An diesem Transformationsprozess beteiligt sich aktiv die menschliche Seele dadurch, dass sie die äußere Ursache der Leidenschaften denkend erfasst und in Verbindung zu den anderen Dingen bringt beziehungsweise in einem breiteren Kontext der Vergangenheit und der Zukunft ergründet, wodurch sich Möglichkeiten ergeben, dass aus dem Nachdenken über Ursachen von menschlichen Eigenschaften neue Erfahrungen gemacht werden können und Gedanken über diese Eigenschaften uns vertrauter werden. Dadurch er-

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halten menschliche Affekte einen Status der Gleichmäßigkeit, vor allem, wenn die gemeinsame Eigenschaft »Notwendigkeit« im Spiel ist. Viertens bewirkt der Geist, dass eine Beschwichtigung und Verharmlosung von Affekten in uns erreicht wird, indem sie auf mehrere unterschiedliche Ursachen bezogen und verteilt werden. So wirkt beispielsweise der Affekt des Hasses schwächer, indem er auf etliche Ursachen verstreut wird. Wenn sich dagegen ein Affekt konzentriert und gezielt auf eine einzige Ursache richtet, bleibt auch seine Wirkung wesentlich effektiver. Hinsichtlich des Umgangs mit den Affekten hält sich Spinoza an die tradierte Weisheit, dass der Mensch lieber ermutigende und erfreuliche Gegenstände und Vorkommnisse anvisieren und die negativen, entmutigenden und schädlichen Erscheinungen und Leidenschaften meiden sollte. Dementsprechend empfiehlt Spinoza, dass man sich im Leben vornehmlich auf stimulierende und affirmative Affekte konzentriert, um dadurch den Zustand des Geistes umzuformen, damit die Wirkung und der Einfluss schädlicher Affekte und Leidenschaften minimalisiert wird. Der Weg zur Tugend als einsichtiger Weg zur Erkenntnis beinhaltet ebenfalls einen umsichtigen Umgang mit den Affekten. Der Mensch kommt freilich zur Einsicht und dementsprechend auch zur Tugend durch die rationale bzw. verstandesmäßige Erkenntnis, die als zweite Stufe des kognitiven Aufstiegs gedeutet wird, sowie durch die dritte Stufe der intuitiven Erkenntnis. Die diskursive Erkenntnis der »ratio« erfasst, als klare und deutliche Erkenntnis des Verstandes, ihre Gegenstände adäquat und erzeugt dabei kein Leiden. Es handelt sich um einen kognitiven Prozess der kohärenten und konsistenten Vernetzung mehrerer deutlicher Erkenntnisse bzw. der Beweise, die Gott als ultima ratio, als Letztbegründung voraussetzen. Die kohärente Verkettung der Beweise und Argumente wird als ausreichende Grundlage für die zusammenhängende, kontextuelle Klärung der Phänomene verstanden. Da für Spinoza Gott als ultima ratio, das heißt als Letztbegründung der stringenten Argumentation betrachtet wird, führt die diskursive Erkenntnisart unabdingbar zur Liebe zu Gott. Die intuitive Erkenntnis impliziert einen Überblick, im Sinne der traditionellen Theoria, der Präsenz des ganzen kohärenten Sachzusammenhangs, der sich aus der diskursiven Erkenntnisart dialektisch ergibt. Wenn man, wie Spinoza, die Welt sub specie aeterni zu erklären und zu verstehen sucht, wobei Gott als Letztbegründung der Beweiskette fungiert, befindet sich der Mensch vor dem Abschluss seines irdischen Zieles, auf dem rechten Wege, die Vollendung des irdischen Glückes zu erreichen. Dementsprechend behauptet Spinoza in seiner Ethik, dass der menschliche Geist bewirken kann, alle unsere Körperaffektionen und Vorstellungsbilder (imagines), die wir von Dingen erwerben, auf die einheitliche Idee Gottes beziehen zu können. Es besteht nach Spinozas Überzeugung keine Affektion unseres Leibes, von der unser Geist keinen plausiblen und distinkten Begriff

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bilden könnte. Die Idee der Letztbegründung bleibt dabei führend: »Weil aber alles, was ist, in Gott ist und nichts ohne Gott sein noch begriffen werden kann, so kann eben der Gott bewirken, daß alle Körperaffektionen auf die Idee Gottes bezogen werden« (5p14dem, E 554). Der Status der erreichten Glückseligkeit des Menschen hängt offensichtlich von der gelungenen Herrschaft über die Leidenschaften ab, wobei die Glückseligkeit als Tugend selbst charakterisiert wird. Spinozas Argumentation ist dabei plausibel und überzeugend. Wir können unsere Gelüste (libidines) hemmen, weil wir diese mit Freude erfassen bzw. ihnen mit Freude begegnen: Die Glückseligkeit besteht in der Liebe zu Gott […]. Je mehr der Geist dieser göttlichen Liebe oder Glückseligkeit sich erfreut, desto mehr versteht er […]. Um so mehr ist ein Affekt in unserer Macht, je mehr er uns bekannt ist, und so bedeutet es, daß der Geist um so mehr Vermögen gegen die Affekte hat und um so weniger von den Affekten, die schlecht sind, leidet. (5p42dem, E 592) Die Kritiker der Spinozanischen Konzeption der Affekte, Leidenschaften und existenziellen Emotionen haben immer wieder darauf verwiesen und Bedenken geäußert, dass man die emotionellen Bestimmungen unserer Existenz nicht als elementare psychosomatische Entitäten adäquat in geometrischer Transparenz beschreiben und plausibel machen kann. Spinozas Überzeugung, eine klare Übersicht über die Komplexität des vorrationalen, leidenschaftlichen Bereiches verschaffen zu können, ist ein dogmatisches Vorurteil der Aufklärungszeit. Aber immerhin bleibt faszinierend, wie Spinoza den Zusammenhang des geistigen Lebens analysiert und die Dimension der Affekte für die ethische Gestaltung unseres Lebens zur Sprache bringt.

II. Hegels späte Auseinandersetzung mit Spinozas Affektenlehre In der Spinoza-Forschung besteht inzwischen eine opinio communis, dass Spinozas Unternehmen, eine philosophisch-naturwissenschaftliche Affektenkonzeption zu elaborieren, im diametralen Gegensatz zur Bestimmung der Affekte und der Emotionen in der traditionellen Rhetorik und der Ethik stehe. Durch die Explikation seiner Tugendlehre im Vierten Teil (De servitute humana seu de affectuum viribus) versucht Spinoza auch die ethische Relevanz der Affekte aufzuzeigen, wobei das Verhältnis von Gut und Böse tiefer ergründet wird. Die durch den Pantheismusstreit erfolgte Spinoza-Rezeption bringt diese Diskussion in der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte auf den Weg. Moses Mendelssohn bemüht sich, unter Berufung auf Lessing, 1785 in seiner Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, die Relevanz

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von Spinozas geläutertem Pantheismus für die aus dem Geiste der Aufklärung derivierte Konzeption der Religion und der Sittlichkeit zu thematisieren. Friedrich Heinrich Jacobi antwortet in demselben Jahr mit seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza, wonach der Spinozismus als das einzige konsequente philosophische System aus Glaubensgründen abgestreift werden muss. Diese Kontroverse weckte ein erstaunliches Echo mit der reichlichen Rezeption der Ideen Spinozas sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie, in der deutschen Klassik wie in der Frühromantik. Hegels detaillierte Beschäftigung mit Spinoza fängt mit seiner Mitarbeit an der Spinoza-Edition seines damaligen Mentors Heinrich E. G. Paulus an. Seit den Jenaer Schriften übernimmt Hegel Spinozas Schlüsselbegriff »conatus in suo esse perseverandi« als Grundlage für die Bestimmung von Welt- und Gattungsprozess, so dass seine Philosophie in der Jenaer Zeit, wie aus den Schriften Glauben und Wissen und Differenz-Schrift ersichtlich ist, eine Metaphysik der einen absoluten Substanz darstellt. Erst im Systementwurf aus dem Jahr 1804/05 hält es Hegel für notwendig, die Ontologie der Substantialität durch die »Metaphysik der Subjektivität« zu ergänzen bzw. zu vervollständigen. In diesem Zusammenhang wird in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes die programmatische Forderung aufgestellt, eine Metaphysik absoluter Subjektivität auszuarbeiten: »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«.4 Gemeint ist offensichtlich die Einsicht, dass das Wahre nicht nur, wie in der überlieferten metaphysischen Ontologie, wohl aber auch eine allumfassende substantia infinita im spinozanischen Sinne ist. Diese Substanz muss aber zum selbstbezüglichen Subjekt qua Geist beziehungsweise zur absoluten Subjektivität entwickelt werden. Somit erweist sich Hegels Metaphysik der absoluten Subjektivität sowohl als eine Überwindung und zugleich auch als eine metaphysische Aufbewahrung der in der als causa sui prinzipiierten metaphysischen Ontologie von Spinoza, wobei der statische Zentralbegriff der »causa sui« zum dynamischen »Werden zu sich« transformiert wird. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kritisiert Hegel an Spinozas Substanzbestimmung die verdinglichende Bewegungslosigkeit und die vorstellende Unlebendigkeit. Sie manifestiert sich nach Hegels Urteil als die bewegungslose Substanz, die in allen Bestimmungen des Seienden aufbewahrt wird. Durch diese verdinglichende und vorstellende Konzeption kann der als Substanz gedachte Gott, wie Hegel kritisch bemerkt, nicht als unendlicher Geist, als lebendige Persönlichkeit oder als absolute Subjektivität gedacht 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. von der Rheinisch-Westfällischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff., hier Bd. 9, 18.

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und begriffen werden, weil als Grundbestimmung die »Freiheit des Subjekts« fehlt. Hegel vermisst ferner in Spinozas Substanzmetaphysik eine grundlegende Differenz zwischen »natura naturans« und »natura naturata«, was zur verhängnisvollen Folge hat, dass die Welt in ihrer Geschichtlichkeit unthematisiert bleibt. Spinozas Theorie der Weltlosigkeit des so genannten pantheistischen »Akosmismus«5 versucht Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften aufzuheben. Die »Hohlheit« der Spinozanischen Substanzauffassung kommt nach Hegels Beurteilung am deutlichsten zur Sprache in der Behandlung der Verschiedenheit von Gut und Böse. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie von 1827 äußert sich Hegel dazu: »Hat man beim Spinozismus nur die Substanz vor Augen, so ist in ihr freilich kein Unterschied des Guten und Bösen, wie das Endliche und die Welt überhaupt auf diesem Standpunkt gar nichts ist.«6 Um das Mangelhafte am Spinozanischen System des »Akosmismus« zu beheben, schlägt Hegel paradoxerweise den anthropologischen Ansatzpunkt vor: Hat man den Standpunkt vor Augen, auf welchem in diesem Systeme auch der Mensch und das Verhältnis des Menschen zur Substanz vorkommt, und wo nur das Böse im Unterschied desselben vom Guten seine Stelle haben kann, so muß man die Teile der Ethik nachgesehen haben, welche von demselben, von den Affekten, der menschlichen Knechtschaft und der menschlichen Freiheit handeln, um von den moralischen Folgerungen des Systems erzählen zu können.7 Hegel ist fest davon überzeugt, dass man durch genauere Recherchen von Spinozas Philosophie der Affekte und der Leidenschaften ein anderes Bild von seiner Ethik erlangen kann: »Ohne Zweifel wird man sich von der hohen Reinheit dieser Moral, deren Prinzip die lautere Liebe Gottes ist, eben so sehr als davon überzeugen, daß diese Reinheit der Moral Konsequenz des Systems ist.« Unter Berufung auf Lessings Plädoyer für Spinozas Ethik drückt Hegel seine Hoffnung aus, es sei an der Zeit, dass man aufhört, mit Spinoza und dementsprechend überhaupt mit »spekulativer Philosophie« »wie mit einem toten Hund« umzugehen. Es wäre das Minimum von hermeneutischer Gerechtigkeit, sich zu bemühen, die philosophischen Gedanken als »die Fakta richtig zu fassen und sie richtig anzugeben«, bevor man über sie urteilt. »Die gebildete Erkennt-

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Neu herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, 8. Auflage. Hamburg 1991, § 50. 6 Hegel: Enzyklopädie (1830), 10. Diese Ausgabe enthält auch die Vorrede der zweiten Ausgabe. 7 Hegel: Enzyklopädie (1830), 10 (Vorrede von 1827).

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nis der Gedankenverhältnisse ist die erste Bedingung«, so Hegel, »ein philosophisches Faktum richtig aufzufassen«. Es bliebe noch nachzuweisen, inwiefern Hegels Aneignung von Spinozas Affektenlehre nicht bloß rekonstruierendes Verstehen derselben, sondern »ein Fortschreiten der Wissenschaft selbst« darstellt.8 Im Kontext der Thematisierung des Verhältnisses von Geist und Körper geht Hegel im Kapitel »Anthropologie« auf die Relevanz der Emotionen und der Affekte ein. Vor allem im § 401 der Enzyklopädie bemüht sich Hegel nachzuweisen, dass alles, was in der »psychischen Physiologie« als Empfindungen, Affekte, Emotionen etc. erschlossen wird, gleichzeitig ein »System der Verleiblichung des Geistigen« bildet und als sinnlich Inneres einer ganz anderen Deutung bedarf.9 Die positive Bewertung der Emotionen vollzieht Hegel in seiner Kunstphilosophie, vor allem in den Vorlesungen über die Ästhetik. Oft wird Hegel der Vorwurf gemacht, dass er in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik eine »Degradierung der Anthropologie«, so Marquard, vollzogen hat.10 Hegel bemüht sich, nachzuweisen, dass in der romantischen Anthropologie nur eine Theorie des Geistes in seiner bloßen »Naturbestimmtheit« präsentiert wird bzw. eine Philosophie der Dynamis des Menschen, soweit er »an sich« ist, entworfen wird, die für die Probleme seiner geschichtlichen Verwirklichung nicht ausreicht, weil der Mensch nur hinsichtlich seiner Möglichkeit thematisiert wird. Hegels Versuch, die Anthropologie an die Geschichtsphilosophie anzupassen, impliziert nach Marquards Urteil die Degradierung der Anthropologie. Hegel opfert sozusagen den Menschen der Geschichte zugunsten der Phänomenologie des absoluten Geistes, die letztlich eine Betätigung der »ewigen an und für sich seienden Idee« ist. Aber Hegels Ästhetik ist ein Beleg dafür, dass die Aufgabe der Kunst darin bestehe, zum Ausdruck zu bringen, »was das menschliche Gemüt in seinem Innersten und Geheimsten« enthält. Das Zeitalter der Moderne lässt sich nach Hegels Auffassung durch das Prinzip der Subjektivität kennzeichnen, die sich primär in Freiheit und Reflexion manifestiert: »Es ist das Große unserer Zeit, dass die Freiheit, das Eigentum des Geistes, dass er in sich bei sich ist, anerkannt ist«.11 Das Denken der Moderne hat seine Selbstbehauptung vor allem im Bereich der Kunst etabliert, da die Moderne eine Autonomie der Kunst proklamiert und diese vom religiösen 8

Hegel: Enzyklopädie (1830), 19 (Vorrede von 1827). Hegel: Enzyklopädie (1830), 328 (Vorrede von 1827). 10 Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt am Main 1973, 132. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe (im Folgenden TWA mit Bandangabe). Hg. von Eva Moldenauer und Karl M. Michel, 20 Bde., Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt am Main 1970, 329. 9

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Zusammenhang unabhängig gemacht hat, wobei das individuelle Subjekt mit seinem Empfindungsvermögen zum Grund und Träger der ästhetischen Erfahrung und Kreativität wurde. Die autonome Kunst, namentlich die Literatur, die durch keine anderen Zwecke als die des Ästhetischen bestimmt wird, wird anstelle der Theologie zur neuen Dialogpartnerin der Philosophie. Wenn nach Hegels Einschätzung die Kunst aufgehört hat, »das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein«,12 bleibt sie immerhin durch ihren partialen Charakter und ihre Bestimmung ein freies Spiel der menschlichen Einbildungskraft, wobei die Kreativität des Geistes unter diesen Umständen nach den neuen Schöpfungen strebt. Diese Tätigkeit des Geistes erweist sich als ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst […] zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen. Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selbst und ist der wirklich sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist, dem nicht mehr fremd ist, was in Menschenbrust lebendig werden kann.13 Indem Hegel vom »Humanus« als neuem Heiligen spricht, eröffnet er eine neue Epoche für die Kunst und behauptet indirekt, dass die Kunst nicht ihre Möglichkeiten erschöpft hat, sondern einen neuen Inhalt für die eigene Kreativität gefunden hat. Die kreative Tätigkeit kommt aus den »Tiefen und Höhen des menschlichen Gemütes«, die Kunst als Vermittlerin substantieller Sittlichkeit soll das Gemüt in seiner Fülle zur Sprache bringen bzw. zum Inhalt haben. Wie sich Kunst in einer Zeitepoche nach ihrer Befreiung von der Mission der Theophanie erneut behaupten und wie »das recht Lebendige« in der künstlerischen Produktion manifest sein kann, ohne dabei in die romantische Falle zu geraten, dafür sollte uns nach Hegels Beurteilung jedenfalls Goethe als positives Beispiel und Vorbild dienen. Von Goethe übernimmt Hegel übrigens auch die Idee des »Humanus«, der als der »neue Heilige« der postromantischen Kunst14 ihr einen auratischen Glanz der Autonomie verleihen soll.

12 13 14

Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 142. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 237 f. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, TWA 14, 237.

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III. Abschließende Bemerkungen Hegel hat bereits in seinen Frühschriften die Philosophie seiner Zeit als eine bloße »Reflexions-« und »Verstandesphilosophie« gebrandmarkt, die nicht imstande ist, die Versöhnung mit der eigenen Substantialität zu vollziehen. Dies hofft er auf der Höhe seines Schaffens in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie vollziehen zu können, wo er versucht, die Situation seiner Zeit sub ratione veritatis kritisch zu beurteilen. Durch Anknüpfung an Spinozas Affektenlehre versucht Hegel die Relevanz der Gefühle und Emotionen für die Explikation der Lebendigkeit des Lebens hervorzuheben. Dadurch hoffte er die zur Mode gewordene selbstbewusste Vereitelung des Objektiven zu brandmarken und die »Lebendigkeit der Vernunft«, die das eigentliche Organon des Philosophierens ist, zu aktualisieren und gegen die Tendenzen der Zeit zu behaupten. Vor allem die in der Kunstphilosophie der Frühromantik vertretene Desavouierung des Objektiven durch die Berufung auf die Kreativität der Gefühle wird von Hegel kritisch angesprochen. Es sind primär verschiedene Bereiche des Substantiellen, um die es Hegel namentlich geht, nämlich alles, was als sachlich, sittlich, wahrhaftig und gehaltvoll gilt.15 Der sich primär auf Gefühle und Emotionen stützenden romantischen Subjektivität erscheint nach Hegels Urteil die sittliche Substantialität als »nichtig und eitel«, nur die eigene »geniale Individualität« ist ihr wertvoll und wird zum kreativen Prinzip erhoben. Die »Virtuosität eines ironisch-künstlerischen Lebens« versteht sich als eine »göttliche Genialität« und fühlt sich an keine Substantialität gebunden, sie kann »dasselbe vernichten wie schaffen«. Ihr Ideal bleibt es, »als Künstler zu leben und sein Leben künstlerisch zu gestalten«.16 Das einzige Beurteilungskriterium für das Gelingen oder Misslingen dieser künstlerischen Existenzweise sind die hervorgebrachten Kunstwerke und ihre Wirkungsgeschichte. Hegels Rekurs auf Spinozas Affektenlehre sollte ein Beleg dafür sein, dass Emotionen, wenn man sie sub ratione veritatis analysiert, als Grundlage für die Unterscheidung von Gut und Böse in unserem Existenzvollzug fungieren können.

15 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst. Vorlesungen von 1826. Hg. von A. Gethmann-Siefert. Frankfurt am Main 2004, 63; Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 96 f. 16 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, TWA 13, 94.

TEIL II Spuren der Rezeption: Spinozas Trieb- und Affektenlehre im 19. und 20. Jahrhundert

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Der »Philosoph der Psychoanalyse«? Zu den Verwandtschaften zwischen Spinoza und Freud Der Philosoph, dem ich zumeist vertraue, Lehrt, wo nicht gegen alle, doch die meisten, Daß unbewußt wir stets das Beste leisten. (J. W. v. Goethe)

I. Mutmaßungen Die Philosophin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé erkannte als erste eine gewisse »Familienähnlichkeit« zwischen Spinoza und Freud. In ihrem Tagebuch des akademischen Jahres 1912/1913 In der Schule bei Freud widmete sie Spinoza ein Kapitel und nannte ihn den »Philosoph[en] der Psychoanalyse«.1 Dabei erwähnte Lou Andreas-Salomé eine Spinoza-Schrift des Psychoanalytikers Viktor Tausk aus dem Jahre 1909. Das Manuskript befindet sich nicht in ihrem Nachlass, sie schickte es laut ihres Briefes vom 28. Oktober 1913 an Rilke, wozu Rilke dann am 2. Dezember Stellung nahm. Es lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mutmaßen, dass es sich bei diesem Manuskript um Tausks Vorlage für seinen Vortrag zu »Erkenntnistheorie und Psychoanalyse« handelte, welchen Tausk am 24. November 1909 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hielt und dem Freud beiwohnte. Im erhalten gebliebenen Protokoll ist Spinoza als einer der wenigen Philosophen genannt, auf die Tausk ausführlicher einging.2 Zwar wird in diesem Protokoll mit keinem Wort auf eine mögliche Beziehung zwischen Freud und Spinoza hingewiesen, aber es war die darauf folgende Sitzung am 1. Dezember 1909, in der Freud den Vortrag »Eine Phantasie des Leonardo da Vinci« präsentierte.3 Wenn auch die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung keine explizite Bezugnahme zu Spinoza in Freuds Vortrag vermerken, ebensowenig 1

Lou Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913. München 1965, nicht datierte Eintragung zwischen dem 14. und dem 24. Dezember 1912, 44–45. 2 Viktor Tausk: »Erkenntnistheorie und Psychoanalyse« [88. Protokoll], in: Herman Nunberg; Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. 2. Frankfurt am Main 1977, 297–305, 297–299. 3 Vgl. Sigmund Freud: »Eine Phantasie des Leonardo da Vinci« [89. Protokoll; mit Diskussionsbeiträgen], in: Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. 2, 306–319.

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wie im Diskussionsbeitrag von Tausk, so befindet sich doch eine der zwei namentlichen Erwähnungen Spinozas in Freuds Schriften gerade in der veröffentlichten Überarbeitung dieses Vortrags, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.4 Aus diesem Grund erscheint das zeitliche Zusammentreffen der Vorträge von Tausk und Freud bedenkenswert. Da sich in Freuds Briefen weitere sechs Verweise auf Spinoza finden, zählen wir insgesamt acht Namensnennungen von Spinoza seitens Freud. Des weiteren ist in den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, in der Kasuistik-Sitzung vom 22. Dezember 1909, von Fritz Mauthners Buch Spinoza die Rede.5 Auf Tausks Diskussionsbeitrag zum Begriff der reinen Form wendet die ungarische Philosophin und Psychoanalytikerin Luise von Karpinska ein: »Kants Voraussetzung sei erkenntnistheoretisch und es wäre nicht zulässig, das auf die Affektivität anzuwenden.«6 Ihr erwidert der Psychoanalytiker Eduard Hitschmann, daß alle diese Themen des Funktionierens und reinen Denkens nichts als Worte sind, […] Es habe noch niemand bewiesen, dass es ein reines Denken gibt; es spielen dabei doch immer die Affekte und der Wille mit. Er würde Tausk auf die Werke von Mauthner über die Sprache verweisen, wo dieser Wortmißbrauch, hinter dem sich manchmal wertvolle Gedanken verbergen (Mauthner: Spinoza) dargelegt sei.7 Diese Fragmente zeugen davon, dass in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eine Debatte im Gange war, in welcher Spinoza als ein Verbündeter, als ein Denker der Affekte und als philosophisches Gegenmodell zu Kant eingebracht wurde. In diesem Licht muss folgende Bemerkung des ungarischen Philosophen Bernhard Alexander wohl relativiert werden: »Über die Trieblehre bei Spinoza, über seine Theorie der Affekte und Leidenschaften bei den Psychoanalytikern kein Wort. Man sollte doch meinen, dass Spinoza bei den Psychoanalytikern Anklang finden müßte.«8

4

Siehe: II. Freuds Verweise auf Spinoza. Fritz Mauthner: Spinoza. Berlin und Leipzig 1906. 6 Luise von Karpinska: »Diskussionsbeitrag« [91. Protokoll], in: Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. 2, 331. 7 Eduard Hitschmann: »Diskussionsbeitrag« [91. Protokoll], in: Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. 2, 331–332. 8 Bernhard Alexander: »Spinoza und die Psychoanalyse«, in: Chronicon Spinozanum 5 (1927), 96–103, 103. Alexanders Sohn Franz Alexander wurde zu einem der bekanntesten Pioniere der Chicago-Schule in der Psychoanalyse und entwarf die Theorie der »emotionalen korrektiven Erfahrung«; siehe unten: III. 2. Zur dynamischen Auffassung des Geistes. 5

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Im Folgenden werden Freuds tatsächliche Verweise zu Spinoza aufgegriffen und Verwandtschaften zwischen Spinoza und Freud herausgehoben, wobei jedoch Differenzen nicht übersehen werden sollen. Um das Thema einzugrenzen, wird dabei weder das weite Feld »Freud und die Philosophie« aufgegriffen, noch auf Vergleiche zwischen Spinoza und anderen bedeutenden PsychoanalytikerInnen, PsychotherapeutInnen bzw. psychodynamisch denkenden WissenschaftlerInnen (wie Lou Andreas-Salomé, Constantin Brunner, Carl Gustav Jung, Erich Fromm, Jacques Lacan u. a.) eingegangen.9

II. Freuds Verweise auf Spinoza 1. Verweise in zwei Werken Eingeführt durch die Worte von Heinrich Heine betritt Spinoza die Szene von Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten aus dem Jahre 1905. In dem der »Technik des Witzes« gewidmeten Kapitel stützt sich Freud auf den Ésprit seines geliebten Dichters: »Die Negationspartikeln ermöglichen sehr schöne Anspielungen mit geringen Abänderungskosten: ›Mein Unglaubensgenosse Spinoza‹, sagt Heine«.10 In Zukunft einer Illusion findet man eine Parabel: Der Mensch (»Kleinbauer«) zieht seine Erwartungen vom Jenseits ab und erwartet keine Abhilfe mehr vom Gott (»Großgrundbesitzer auf dem Mond«), sondern weiß, dass er auf die eigene Kraft und auf das Hilfsmittel Wissenschaft angewiesen ist, und konzentriert deshalb seine freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben: »Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.«11 9 Es wird hier auch kein Bezug zu psychodynamischen Psychographien Spinozas hergestellt, wie zum Beispiel zu Ben-Ami Scharfstein; Mortimer Ostow: »The Unconscious Sources of Spinoza’s Philosophy«, in: American Imago 9 (1952), 221–237, oder zu Lewis Samuel Feuer: »The Dream of Benedict de Spinoza«, in: American Imago 14 (1957), 225–242. Wahrlich ein gewagtes und delikates Unterfangen, auf der Basis von Biographien Spinoza auf die Couch zu legen. 10 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905c), in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud u. a., 18 Bde. u. ein unnummerierter Nachtragsband (im Folgenden zitiert als GW), Bd. 6. Frankfurt am Main 1987, 85. Die in Klammern ergänzten Jahresangaben geben das Jahr der Erstveröffentlichung an. Im gleichen Jahr publizierte Schriften werden durch Kleinbuchstaben unterschieden. Die nachgestellten Zahlen nennen das Jahr der Niederschrift. Die Jahresangaben zu den Publikationen Sigmund Freuds sind entnommen aus: Ingeborg Meyer-Palmedo; Gerhard Fichtner: Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Frankfurt am Main 1989, 15–90. 11 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927c), GW 14, 325–396, 374.

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Ohne Namensnennung deutet Freud hier wieder und gleich doppelt auf den verehrten Dichter – auf Heines Wortspiel und Heines Gedicht – hin. Da die in seinen Werken stets wiederkehrenden Heine-Zitate den Freud-LeserInnen als Leitmotiv gelten, versteht sich diese »betonte« Namensunterlassung in Bezug auf seinen Lieblingsdichter eher als Augenzwinkern dem vertrauten Publikum gegenüber. Es ist also insofern allein der Namensverweis auf Spinoza, welcher dabei unterbleibt. Ob es sich dabei um ein »Vergessen« und möglicherweise ein »Verdrängen« des Namens Spinoza oder um eine gewählte, absichtliche Unterlassung handelt, sei dahin hingestellt. Zurück zum knappen Witz selbst. Dessen weiterer und bitterer Hintergrund wird durch die Charakterisierung Spinozas seitens Antonio Damasio entsprechend erhellt: »Begraben oder nicht begraben, jüdisch oder nicht, Portugiese, aber kein richtiger, Holländer, aber nicht ganz – Spinoza war überall und nirgends zu Hause.«12 Den nahe liegenden Brückenschlag zu Freud liefert die Bemerkung des Spinoza-Forschers Yirmiyahu Yovel: »Wie Spinoza war Freud der Fremde im eigenen Land, weder in der Gesellschaft ganz integriert noch von seiner Herkunft ganz abgeschnitten, ein Mensch, der drinnen und draußen stand, oder besser gesagt, der dadurch drinnen war, daß er draußen, daß er ein Außenseiter war. Das machte ihn distanziert, aber nicht neutral, nüchtern, aber nicht zynisch«.13 Nicht weniger ergiebig ist Freuds zweiter Verweis auf Spinoza im Buch Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci aus dem Jahre 1910 zum Thema Epistemophilie: Man hat Leonardo wegen seines unersättlichen und unermüdlichen Forschungsdranges den italienischen Faust geheißen. Aber von allen Bedenken gegen die mögliche Rückverwandlung des Forschertriebs in Lebenslust abgesehen, die wir als die Voraussetzung der Fausttragödie annehmen müssen, möchte man die Bemerkung wagen, daß die Entwicklung Leonardos an spinozistische Denkweise streift.14 Was meint Freud hier? Eine Aussage Leonardos weckte Freuds Aufmerksamkeit: »Nessuna cosa si può amare nè odiare, se prima non si ha cognition di quella.« In Freuds Übersetzung: »Man hat kein Recht, etwas zu lieben oder zu hassen, wenn man sich nicht eine gründliche Erkenntnis seines Wesens ver-

12 Antonio R. Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München 2003, 34. 13 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 423. 14 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910c), GW 8, 127–211, 141.

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schafft hat.«15 Freud war fasziniert und versuchte sich in einer Psychographie Leonardos: Seine Affekte waren gebändigt, dem Forschertrieb unterworfen; er liebte und haßte nicht, sondern fragte sich, woher das komme, was er lieben oder hassen solle, und was es bedeute, und so mußte er zunächst indifferent erscheinen gegen Gut und Böse, gegen Schönes und Häßliches. Während dieser Forscherarbeit warfen Liebe und Haß ihre Vorzeichen ab und wandelten sich gleichmäßig in Denkinteresse um. In Wirklichkeit war Leonardo nicht leidenschaftslos, er entbehrte nicht des göttlichen Funkens, der mittelbar oder unmittelbar die Triebkraft – il primo motore – alles menschlichen Tuns ist. Er hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt […].16 Freud schreibt: »Er [Leonardo] hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt; er ergab sich nun der Forschung mit jener Ausdauer, Stetigkeit, Vertiefung, die sich aus der Leidenschaft ableiten«.17 Yirmiyahu Yovel erläutert Freuds Interpretation: »Diese Worte, mit denen Freud Leonardo (und mit ihm Spinoza) beschreibt, sind sein eigenes Selbstportrait. Freud machte selbst eine ähnliche Sublimierung durch«.18 Leonardos Biograf Edmondo Solmi, auf welchen sich Freud hier beruft, bezeichnet die Manuskripte Leonardos als eine »trasfigurazione della scienza della natura in emozione, quasi direi, religiosa«, also als eine »Transfiguration der Naturwissenschaft in fast – würde ich sagen – religiöse Emotion«.19 Aus dieser Passage heraus versteht Yovel Freuds Charakterisierung Leonardo da Vincis als einen, der »an spinozistische Denkweise streift«, und schreibt dazu: »Das ist der Verbindung nicht unähnlich, die bei Spinoza zwischen dem Erkenntnisfortschritt und seinem affektiven Höhepunkt im amor Dei intellectualis besteht.«20

15

Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910c), GW 8, 127–211, 140. 16 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910c), GW 8, 127–211, 141. 17 Ebd. 18 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 427. 19 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910c), GW 8, 127–211, 142. 20 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 429.

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2. Verweise in sechs Briefen Es war wieder eine Philosophin, die auf gewisse Verwandtschaften zwischen Freud und Spinoza aufmerksam wurde und Freud auch nach seiner Beziehung zum Philosophen fragte. Auf einen entsprechenden Brief der jungen Philosophin Juliette Boutonier antwortete Freud am 11. April 1930: »Philosophische Probleme und Formulierungen sind mir so fremdartig, daß ich mit ihnen nichts anzufangen weiß, auch nicht mit der Spinozas.«21 Vor ein fait accompli wurde Freud hingegen gestellt, als ihm Lothar Bickel seinen Artikel »Über die Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und einer dynamischen Psychologie«, nämlich der philosophischen Psychologie Spinozas, zusandte, in dem zu lesen war: »An Spinoza wird man bei der Lektüre Freuds erinnert und wundert sich, wie bei so starker Verwandtschaft der Gedankengänge man doch nirgends ausdrücklich an den Philosophen gemahnt wird.«22 Diesmal weniger zurückhaltend als gegenüber Juliette Boutonier antwortete Freud am 28. Juni 1931 darauf: Meine Abhängigkeit von den Lehren Spinozas gestehe ich bereitwilligst zu. Ich habe keinen Anlass genommen, seinen Namen direkt zu erwähnen, weil ich meine Voraussetzungen nicht aus seinem Studium holte, sondern aus der von ihm geschaffenen Atmosphäre. Und weil es mir um eine philosophische Legitimation überhaupt nicht zu tun war.23 Gerade diese von Freud erwähnte Atmosphäre wie deren Wirkung auf Freud hat Jacob Golomb rekonstruiert und gezeigt, dass die ganze Psychologie und Physiologie des 19. Jahrhunderts von Spinozas Lehre stark durchtränkt und beeinflusst war, und somit auch Freuds Vorbilder. Freuds verehrter Lehrer Ernst von Brücke war ein Schüler von Johannes Müller, der seinen eigenen Beitrag auf Spinozas Affektenlehre und Monismus zurückführte, desgleichen

21 Sigmund Freud am 11.4.1930 an Juliette Boutonier (1955e, 1930), GW Nachtragsband, 671–672, 671. 22 Lothar Bickel: »Über die Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und einer dynamischen Psychologie«, in: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 4 (1931), 221–246; nachgedruckt in Lothar Bickel: Probleme und Ziele des Denkens. Zürich 1939, 35–63, 36. 23 Sigmund Freud am 28.6.1931 an Lothar Bickel (1975c, 1931), in: Heinrich Z. Winnik: »A Long-Lost and Recently Recovered Letter of Freud«, in: The Israel Annals of Psychiatry and Related Disciplines 13 (1975), 1–3; nachgedruckt in: »Siegfried Hessing: Freud’s Relation with Spinoza«, in: Siegfried Hessing (Hg.): Speculum Spinozanum 1677–1977. London 1978, 224–239, 227.

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waren auch andere Vorbilder Freuds wie Goethe, Gustav Theodor Fechner und Hermann von Helmholtz Spinoza-Anhänger.24 Dennoch, als Siegfried Hessing im Jahr danach Freud einlud, einen Beitrag für die Festschrift zur Dreihundertjahrfeier von Spinozas Geburt zu verfassen, winkte Freud am 9. Juli 1932 höflich ab: Ich habe mein langes Leben hindurch der Person wie der Denkleistung des großen Philosophen Spinoza eine außergewöhnliche, etwas scheue Hochachtung entgegengebracht. Aber ich glaube, diese Einstellung gibt mir nicht das Recht, etwas über ihn vor aller Welt zu sagen, besonders da ich nichts zu sagen wüßte, was nicht schon von anderen gesagt worden ist. Entschuldigen Sie durch diese Bemerkung mein Fernbleiben von der geplanten Festschrift und seien Sie meiner Sympathie und Hochachtung versichert. Ihr Freud.25 Auf den Erhalt der Spinoza-Festschrift hin, in der sein eigener Brief abgedruckt wurde, bedankte sich Freud am 19. März 1933 beim Herausgeber Hessing: Dank für die Zusendung Ihrer Spinoza-Festschrift. […] Meine Empfindlichkeit, dass ich in ihr genannt wurde, findet eine Beschwichtigung darin, dass auch zwei Andere sich ähnlich wie ich geäußert haben. Einstein hat das richtige Wort getroffen, dass die Liebe zu Spinoza allein nicht genügt, um einen Beitrag zu rechtfertigen. Ich habe die Schrift unserer Zeitschrift Imago übergeben.26 Die erwähnte dritte Absage kam übrigens von Jacob Wassermann, so dass alle drei Stellungnahmen (Einstein, Freud und Wassermann) unter der Überschrift »Äußerungen von Persönlichkeiten über Spinoza« in der erwähnten Festschrift erschienen. Zum weiteren Verständnis dieser anhaltenden Zurückhaltung mögen Briefe aus der Zeit in Erinnerung gerufen werden, als Freud Student Franz Brentanos war und zum Thema »Philosophie und Philosophen« weit weniger vorsichtig schien. Freuds spätere Abneigung gegenüber der Philosophie und seine Kritik an ihr teilt Freud mit vielen philosophischen DenkerInnen Österreichs27 und

24 Vgl. Jacob Golomb: »Freud’s Spinoza: A Reconstruction«, in: The Israel Annals of Psychiatry and Related Disciplines 16 (1978), 275–288, 286. 25 Sigmund Freud am 9.7.1932 an Siegfried Hessing (1933f ), GW Nachtragsband, 670. 26 Siegfried Hessing: »Freud’s Relation with Spinoza«, in: Siegfried Hessing (Hg.): Speculum Spinozanum, 1677–1977. London; Boston 1977, 224–239, 229. 27 Vgl. insbesondere Patrizia Giampieri-Deutsch: »Freud: ein österreichischer Philosoph?«, in: Austriaca. Aspects de la philosophie autrichienne 14 (1989), 69–86; dies.:

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führte ihn zu einem Unterfangen, das ihn in die Nähe zur Neurobiologie und zu den Kognitionswissenschaften der Gegenwart rückt, also dem Versuch, der Philosophie die Theorie des Geistes zu entziehen und diese auf einem wissenschaftlichen Boden zu gründen. Seine Theorie des Geistes nannte Freud »Metapsychologie« und hoffte, dass das Fortschreiten der Wissenschaften seinem vorläufigen psychologischen Entwurf des Geistes eine neurophysiologische Basis liefern wird.28 In den Briefen an seinen Mitschüler Eduard Silberstein leitete Freud diesem – neben der Nachricht der Veröffentlichung des Aufsatzes »Über Spinozas Beweis für das Dasein Gottes« von Emanuel Loewy für ein internes studentisches Blatt29 – auch Franz Brentanos Empfehlungen an seine Studierenden weiter: »Bei Cartesius sollen wir beginnen, diesen ganz durchlesen, weil von ihm ein neuer Anstoß für die Philosophie ausgehe. Von seinen Nachfolgern Guelinx [statt: Geulincx], Malebranche, Spinoza sei keiner lesenwert.«30 Vermochte Brentanos Warnung den reifen Freud nachträglich davon abzuhalten, sich in Spinozas Nähe zu begeben? Neben den – allzu oft bewusst und akkurat gewählten – Worten gibt es Handlungen. Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, dass Letztere oft ein erhellendes Licht auf das Verborgene zu werfen vermögen. Als Freud in die Emigration getrieben wurde, musste er einen Teil seiner Bibliothek in Wien zurücklassen.31 Spinozas Leben, Werke und Lehre, das Spinoza-Buch von Kuno Fischer, nahm er jedoch nach London mit.

»Mach und Freud: Ein Vergleich«, in: Zeitgeschichte 17 (1990), 291–310; dies.: »Freud und die österreichische Philosophie«, in: Ludwig Nagl; Helmuth Vetter; Harald Leupold-Löwenthal (Hg.): Philosophie und Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1990, 41–54. 28 Was in der zeitgenössischen Zusammenarbeit der Psychoanalyse mit den Wissenschaften des Geistes und des Gehirnes in Erfüllung geht. Vgl. Patrizia GiampieriDeutsch (Hg.): Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Europäische Perspektiven. Bd. 1. Stuttgart 2002; dies. (Hg.): Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Angloamerikanische Perspektiven. Bd. 2. Stuttgart 2004; dies. (Hg.): Psychoanalysis as an Empirical, Interdisciplinary Science. Collected Papers on Contemporary Psychoanalytic Research. Wien 2005; dies. (Hg.): Geist, Gehirn, Verhalten: Sigmund Freud und die modernen Wissenschaften. Würzburg 2009. 29 Sigmund Freud am 2.12.1874 an Eduard Silberstein, in: ders.: Jugendbriefe an Eduard Silberstein. Frankfurt am Main 1989, 85. 30 Sigmund Freud am 15.3.1875 an Eduard Silberstein, in: Sigmund Freud: Jugendbriefe an Eduard Silberstein. Frankfurt am Main 1989, 117. 31 Vgl. Ernest Harms: »A Fragment of Freud’s Library«, in: Psychoanalytic Quarterly 40 (1971), 491–495.

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III. Zu den Verwandtschaften zwischen Spinoza und Freud Wenn auch aus dem bereits Gesagten hervorgeht, dass Freud mit den Gedanken Spinozas durchaus vertraut war, so wäre es nicht zutreffend, daraus auf einen direkten Einfluss von der Art eines Vorläufers und seines Nachfolgers, einem Verhältnis, in dem sich Letzterer auf Ersteren bezieht und beruft, zu schließen. Ein Gegenbeispiel, das für eine unmittelbare und dokumentierte Rezeption Spinozas in der Entstehung der wissenschaftlichen Psychologie und Physiologie spricht, wurde jedoch von Walter Bernard aufgezeigt. Denn anhand der aufgewiesenen Zitate und expliziten Verweise wird in dessen detaillierter Untersuchung der Werke von Johannes Müller, seiner Schüler Hermann von Helmholtz und Wilhelm Wundt sowie der Werke von Gustav Theodor Fechner eine solche sehr deutlich.32 Obwohl Spinozas Ausstrahlung dazu verleitet, ihn wie einen Zeitgenossen heranzuziehen, so darf die Zeitspanne zwischen Spinozas »Neuzeit« und Freuds »Gegenwart« dennoch nicht ganz in Vergessenheit geraten, wobei nicht zuletzt im Auge behalten werden soll, dass beide Denker ihre Theorien auch aus verschiedenen Hintergründen heraus erarbeiteten und dabei verschiedene Methodologien anwandten.33 Innerhalb dieses Rahmens lassen sich jedoch Verwandtschaften bei folgenden Schwerpunkten feststellen: 1. bei conatus und Libido; 2. bei der dynamischen Auffassung des Geistes; 3. bei der Verkörperung des Geistes; 4. beim psychophysischen Problem; 5. bei Determiniertheit und Kausalität, sowie 6. bei Befreiung als Emanzipation und Erlösung.

1. Conatus und Libido: eine Annäherung mit Unterschieden Auf Affinitäten zwischen Spinoza und Freud wird man anhand von Passagen wie jener Anmerkung zum Lehrsatz 2 des Dritten Teils der Ethik aufmerksam, in der Spinoza schreibt, »daß die Entscheidungen des Geistes nichts sind als die Triebe selbst, die entsprechend der verschiedenen Disposition des Körpers

32

Vgl. Walter Bernard: »Spinoza’s Influence on the Rise of Scientific Psychology: A Neglected Chapter in the History of Psychology«, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 8 (1972), 208–215. 33 Für ein ideen- und philosophiegeschichtliches sowie philologisches Verständnis der Auseinandersetzungen, auf welche Spinozas Ethik eine Antwort zu geben versuchte, siehe zum Beispiel Harry Austryn Wolfson: »Behind the Geometrical Method«, in: Harry Austryn Wolfson: The Philosophy of Spinoza. Bd. 1. Cambridge 1934, 3–31; nachgedruckt in: Marjorie Grene (Hg.): Spinoza. A Collection of Critical Essays. New York 1973, 3–24.

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verschiedenartig sind. Denn ein jeder handhabt alles von seiner Affektivität her« (1p2s, E 233). Ein Großteil der Sekundärliteratur zu Spinoza und Freud nähert den Begriff des conatus oder des Strebens an den Freud’schen Begriff der Libido an.34 In El amor en los tiempos del cólera ermöglicht Gabriel García Márquez seinem betagten romantischen Helden Florentino Ariza nach dreiundfünfzig Jahren, sieben Monaten und elf Tagen Wartezeit die Vereinigung mit Firmina Daza. Florentinos Streben für Firmina lässt im Roman Begehren und Selbsterhaltung übereinstimmen, ineinanderfließen. Florentino »erschrak über den späten Verdacht, daß nicht so sehr der Tod, vielmehr das Leben keine Grenzen kennt«.35 Anders bei Freud. Bei allen möglichen Berührungspunkten zwischen Streben und Libido drängen sich bei näherer Betrachtung des komplexen Begriffs der Libido und dessen Stellung in der Freud’schen Triebtheorie gewisse grundsätzliche Unterschiede auf, die in der Folge aufgezeigt werden. Gleich vorweggenommen, der von Spinoza und der Evolutionstheorie vertretenen Annahme einer allgemeinen Tendenz zur Selbsterhaltung steht jene klinische psychoanalytische Erfahrung gegenüber, welche auch mit den Phänomenen der Depression oder gar der Selbstzerstörung, der Aggression gegen sich selbst, also nicht lediglich der Gewalt oder Aggression gegen die Außenwelt, konfrontiert wird und dafür nach erklärenden theoretischen Modellen sucht. Der Begriff des Strebens oder conatus wird im Lehrsatz 6 des Dritten Teiles der Ethik auf folgende Weise eingeführt: »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren.« (3p6, E 239) Im Beweis dieses Lehrsatzes steht: »kein Ding hat etwas in sich, von dem es zerstört werden könnte oder das seine Existenz aufhöbe […]; vielmehr steht es allem, was seine Existenz aufheben kann, entgegen […]; mithin strebt es, so viel es kann, das heißt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren. W. z. b. w.« (3p6dem, E 239) Spinozas conatus ist unmissverständlich ein Streben nach Selbsterhaltung. Und der Lehrsatz 7 im selben Teil der Ethik erklärt uns die zentrale Bedeutung des Strebens nach Selbsterhaltung: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem 34 Vgl. zum Beispiel: Maurice Hamblin Smith: »Spinoza’s Anticipation of Recent Psychological Developments«, in: British Journal of Medical Psychology 4 (1925), 257– 278, 257; Constance Rathbun: »On Certain Similarities Between Spinoza and Psychoanalysis«, in: The Psychoanalytic Review 21 (1934), 1–14, 3; Stuart Hampshire: »Spinoza and the Idea of Freedom«, in: Marjorie Grene (Hg.): Spinoza. A Collection of Critical Essays. New York 1973, 297–317, 314; Jérôme Neu: Emotion, Thought, and Therapy. A Study of Hume and Spinoza and the Relationship of Philosophical Theories of the Emotions to Psychological Theories of Therapy. Berkeley 1977, 149. 35 Gabriel García Márquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Frankfurt am Main 2004, 508.

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Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« (3p7, E 239) In seiner ersten Triebtheorie stellt Freud die Sexualtriebe den Ich-Trieben gegenüber. Die Libido ist die Energie der Sexualtriebe, aber ausschließlich die Ich-Triebe streben nach Selbsterhaltung, da Freud auch auf destruktive Aspekte der Sexualität aufmerksam geworden war. Der Begriff der Libido ist in den frühen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie36 die sexuelle Energie, die nach Befriedigung (und nicht nach Selbsterhaltung) strebt. Auch später behält die Freud’sche Libido immer einerseits sexuellen Charakter – und ist deshalb keinesfalls als eine erweiterte nicht-sexuelle seelische Energie zu verstehen, wie dies zum Beispiel C.G. Jung vorgeschlagen hatte – und behält andererseits auch einen quantitativen Aspekt, wie dies spätere Arbeiten wie zum Beispiel Massenpsychologie und Ich-Analyse bezeugen: »Libido ist ein Ausdruck aus der Affektivitätslehre. Wir heißen so die als quantitative Größe betrachtete – wenn auch derzeit nicht meßbare – Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann.«37 In Jenseits des Lustprinzips38 wird Freuds zweite Triebtheorie eingeführt, in welcher alle destruktiven Phänomene, auch die sexuellen, durch den Todestrieb erklärt werden, da eine allgemeine Triebmischung oder Vermengung von Anteilen angenommen wird. Dem Todestrieb bzw. den Todestrieben werden die Lebenstriebe entgegengestellt. Die Ich-Triebe, die nach Selbsterhaltung streben, sind in der neuen Triebtheorie nicht mehr präsent. Die Selbsterhaltung wird den Lebenstrieben zugeschrieben. Nach der neuen Triebtheorie in Jenseits des Lustprinzips muss »alles Lebende aus inneren Gründen« sterben.39 Freuds Annahme steht im Gegensatz zum Lehrsatz 4 des Dritten Teils der Ethik Spinozas: »Kein Ding kann anders als von einer äußeren Ursache zerstört werden.« (3p4, E 237) Im Beweis des Lehrsatzes 8 im Dritten Teil der Ethik, in welchem Spinoza erklärt, warum das Streben keine endliche, sondern eine unbestimmte Zeit in sich schließt, betont Spinoza wieder, dass der Tod, die Ursache der Zerstörung, von außen kommt: »weil es […] mit derselben Macht, mit der es jetzt existiert, immer fortfahren wird zu existieren, falls es nicht von einer äußeren Ursache zerstört wird, schließt dieses Streben eine unbestimmte Zeit in sich. W. z. b. w.« (3p8dem, E 241)

36 37

Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905 d), GW 5, 27–145. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c), GW 13, 71–161,

98. 38 39

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920g), GW 13, 1–69. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920g), GW 13, 1–69, 40.

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Freuds Annahme, dass »alles Lebende aus inneren Gründen stirbt […] Das Ziel alles Lebens ist der Tod«,40 wird im Abriß der Psychoanalyse näher erläutert: »Wenn wir annehmen, dass das Lebende später als das Leblose gekommen und aus ihm entstanden ist, so fügt sich der Todestrieb der erwähnten Formel, dass ein Trieb die Rückkehr zu einem früheren Zustand anstrebt.«41 Freud kam aufgrund unterschiedlicher Beobachtungen zur Einführung seines unter manchen PsychoanalytikerInnen eher umstrittenen Begriffs des Todestriebes. Die klinischen Wiederholungsphänomene waren nicht mehr plausibel als libidinöse Befriedigung oder als Meisterung von Spannungen erklärbar; in der Zwangsneurose und der Melancholie war Freud auf die klinischen Phänomene des Masochismus und des Sadismus gestoßen; auch die Erklärung des allgemeinen Phänomens des Hasses, ursprünglich den Ich-Trieben zugeschrieben, war noch ungelöst geblieben; nicht zuletzt ließen auch Kriege und destruktive Aggression als Konstanten der Menschheitsgeschichte auf einen Todestrieb schließen. Welche Rolle spielt die Libido in der neuen Triebtheorie Freuds? Sein Aufsatz »Das ökonomische Problem des Masochismus« erläutert diesen Punkt: Die Libido trifft in (vielzelligen) Lebewesen auf den dort herrschenden Todes- und Destruktionstrieb, welcher diese Zellenwesen zersetzen und jedem einzelnen Elementarorganismus in den Zustand der anorganischen Stabilität […] überführen möchte. Sie hat die Aufgabe, diesen destruierenden Trieb unschädlich zu machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum großen Teil […] gegen die Objekte der Außenwelt richtet.42 Die nach innen gerichtete Selbstzerstörung kann von der Libido in die Zerstörung äußerer Objekte in der Welt – Menschen nicht weniger als unbelebter Dinge – verwandelt werden. Im Begriff des conatus hingegen verbindet Spinoza Tugend mit der Selbsterhaltung, wie Wolfgang Bartuschat zum Ausdruck bringt: »Tugendhaftes Handeln ist Realisierung der Selbsterhaltung, in der der einzelne an sich selbst die Vollkommenheit Gottes ausdrückt.«43 Für Freud hat das langsame Erlernen der Selbsterhaltung eher mit einem gesunden Zustand zu tun, der durch ein

40

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920g), GW 13, 1–69, 40. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse (1940a, 1938), GW 17, 63–138, 71. 42 Sigmund Freud: »Das ökonomische Problem des Masochismus« (1924c), GW 13, 371–383, 376. 43 Wolfgang Bartuschat: »Baruch de Spinoza«, in: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. 2. Halbband. Basel 1993 (= Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. III 2,2), 893–969, 974–986; 951. 41

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gelungenes frühes mothering,44 elterliche, familiäre Zuwendung oder durch psychoanalytische Behandlung als Emanzipation aus dem psychischen Leiden erreichbar wird. Es lässt sich abschließend bemerken, dass der psychoanalytisch und evolutionstheoretisch orientierte Neurobiologe Jaak Panksepp Spinozas Streben – auf Grund dessen organisatorischer und lebensbehauptender Funktion – mit dem appetitiv-motivationalen seeking-System der affektiven Neurowissenschaften verbindet.45

2. Zur dynamischen Auffassung des Geistes In seinem Dritten Teil der Ethik »Von dem Ursprung und der Natur der Affekte« präsentiert Spinoza nicht nur eine dynamische Auffassung der Affekte, sondern auch des Geistes. Bei Spinoza gehen die Affekte aus dem Geist und nicht aus den Körpern hervor: »[N]icht aus deren Streben leitet Spinoza die menschliche Affekte her«, wie dies Wolfgang Bartuschat betont, »sondern aus dem des Geistes, mit dem er seine Affektenlehre eröffnet: ›Mens […] conatur […]‹«.46 Insbesondere wird die Dynamik der fundamentalen Affekte der Liebe und des Hasses beschrieben, die sich aus den – vom Grundaffekt der Begierde abstammenden – Kardinalaffekten der Freude und der Trauer ableiten. Wie bei Freud können sich auch bei Spinoza Affekte sowohl von den Vorstellungsbildern (imagines) als auch von den »Dingen« (Spinoza) bzw. »Objekten« (Freud) lösen, sich verschieben oder auf andere übergehen. Sollte Anstoß daran genommen werden, dass mit »Dingen« und »Objekten« Menschen gemeint sind, so darf man dabei nicht vergessen, dass diese Termini möglicherweise auch der Hervorhebung einer Dynamik dienen sollen, zumal bei beiden, Spinoza wie Freud, die emanzipatorische Emphase kaum zu übersehen ist.47

44 Bahnbrechend war Ferenczis Arbeit aus dem Jahre 1929: Sándor Ferenczi: »Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb«, in: Sándor Ferenczi: Bausteine zur Psychoanalyse. Bd. 3. Bern; Stuttgart; Wien 1984, 446–452. 45 Vgl. Jaak Panksepp: »The Ego is First and Foremost a Body Ego. Review of Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. New York 2003«, in: Neuropsychoanalysis 5 (2003), 201–215, 213. 46 3p1, E 224. Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 109. Einen anderen Standpunkt vertritt Jean-Marie Beyssade: »Can an Affect in Spinoza be ›of the Body‹?«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.): Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at the Third Jerusalem Conference. New York 1999 (= Ethica, Bd. 3), 113–128. 47 Patrizia Giampieri-Deutsch: »Zum ›Objekt‹ in der psychoanalytischen Theorie

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Objekte können gleichzeitig geliebt und gehasst werden, wenn man sich zum Beispiel vorstellt, dass das gehasste Objekt des weiteren auch »irgendeine Ähnlichkeit« mit einem anderen, in diesem Fall geliebten Objekt aufweist, wie der Lehrsatz 17 besagt (3p17, E 255). Spinoza und Freud erkennen beide die Ambivalenz mentalen Lebens an. Dieses Phänomen wird von Spinoza, auch wenn bei ihm nicht von »Ambivalenz« die Rede ist, auf beeindruckende Weise aufgezeigt; so kann man zwei entgegengesetzte Affekte gegenüber ein und demselben Objekt verspüren bzw. Affekte, die entgegengesetzt sind, können von demselben Objekt hervorgerufen werden: »Wenn wir ein Ding, das uns gewöhnlich mit einem Affekt der Trauer affiziert, uns als etwas vorstellen, das irgendeine Ähnlichkeit mit einem anderen Dinge hat, das uns gewöhnlich mit einem gleich großen Affekt der Freude affiziert, werden wir es hassen und zugleich lieben.« (3p17, E 255) In der Anmerkung dazu versucht Spinoza das Phänomen auf seine Weise zu benennen: »Der beschriebene Zustand des Geistes, der aus zwei entgegengesetzten Affekten entspringt, heißt Schwankung des Gemüts« (3p17s, E 255). Weniger die Theorie und mehr die Kasuistik betreffend vermag der Lehrsatz 47 das Phänomen der Ambivalenz näher zu beleuchten: »Die Freude, die dem entspringt, daß wir uns vorstellen, ein verhaßtes Ding werde zerstört oder erleide irgendeinen Schaden, entsteht nicht ohne einige Trauer des Gemüts.« (3p47, E 303) Im Lehrsatz 16 wird das Phänomen der Identifizierung angesprochen. »[I] rgendeine Ähnlichkeit« zwischen zwei Objekten genügt, um jene Liebe und jenen Hass hervorzurufen, welche man für das ursprüngliche »primäre« Objekt hegt. Man identifiziert das neue mit dem alten Objekt (3p16, E 253). Auch die Massenpsychologie wird berücksichtigt, und zwar in der Weise, wie per Identifizierung Affekte gegenüber einer/einem Angehörigen eines Standes oder einer Nation auf alle anderen Individuen dieses Standes oder Nation verschoben werden können (3p46, E 303). Wie man – wieder durch Ähnlichkeit – einem Objekt einen Affekt zuschreiben kann und denselben Affekt selbst verspüren kann, wird vom Lehrsatz 27 dargestellt, was mit einem in der Psychoanalyse als projektive Identifizierung untersuchten Phänomen verglichen werden könnte (3p27, E 269). Der Lehrsatz 51 beschreibt, wie ein und dasselbe Objekt verschiedene Affekte nicht nur bei verschiedenen Subjekten, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten sogar bei ein und demselben Subjekt hervorzurufen vermag (3p51, E 309). Im Vierten Teil der Ethik bietet Lehrsatz 57 über den Hochmut eine treffende Beschreibung des zwischen Grandiosität und Ohnmachtsgefühl schwankenden Erlebens im Narzissmus an, wenn Spinoza schildert, des Mentalen und in der klinischen Theorie«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 32 (2001), 157–175.

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daß der Hochmütige zwangsläufig neidisch ist […] und vor allem diejenigen haßt, die ihrer Tugenden wegen besonders gelobt werden, aber auch daß sein Haß auf sie sich von Liebe oder Wohltun nicht leicht besiegen läßt […] und daß er sich der Nähe nur derer erfreut, die der Ohnmacht seiner Gemüts willfahren und aus einem Narren einen Größenwahnsinnigen machen. Obwohl Kleinmut Hochmut entgegengesetzt ist, steht der Kleinmütige dem Hochmütigen doch sehr nahe. (4p57s, E 475) Der Vierte Teil der Ethik »Von menschlicher Knechtschaft oder von der Kräften der Affekte« skizziert zum Beispiel im Lehrsatz 7 die Dynamik der Affekte untereinander: »Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden als durch einen Affekt, der dem zu hemmenden Affekt entgegengesetzt ist und der stärker als dieser« (4p7, E 393), desgleichen im Lehrsatz 14: »Die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten kann keinen Affekt hemmen, insofern sie wahr ist, sondern allein, insofern sie als ein Affekt angesehen wird.« (4p14, E 403) Spinozas dynamische Auffassung zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit der Alltagserfahrung der klinischen Arbeit. Nach der die Prozesse der klinischen Behandlung beschreibenden Theorie der psychoanalytischen Technik ermöglicht das analytische Mittel der Deutung, der PatientIn die versteckte, »unbewusste« Bedeutung ihrer Worte, Handlungen und Beziehungen zu erhellen, aufzuklären, ihr »bewusst« zu machen. Wenn die PatientIn jene ihr bisher opak gebliebene Bedeutung zu hören bekommt und die Deutung annimmt, ist diese Erkenntnis, diese erste intellektuelle Annahme, zwar vorerst wichtig, führt jedoch noch nicht zur Veränderung. Erst eine langwierige Durcharbeitung, die auch als Umstellung auf der affektiven Ebene zu verstehen ist, vermag Veränderungen zu bewirken. Die kapitale Frage nach der therapeutischen Wirksamkeit, nach dem »what works?« begleitet die Entwicklung der Theorie der psychoanalytischen Technik von ihrer Anfängen, indem über den respektiven Wert der Einsicht in die Deutung gegenüber jenem des emotionalen Erlebens, des Wiederbelebens und der Umgestaltung der Affekte in der analytischen Beziehung nachgedacht wurde.48 Es ist erwähnenswert, dass der Psychoanalytiker Franz Alexander als Sohn des bereits zitierten Philosophen Bernhard Alexander – eines der ersten Verfechter von Spinozas Relevanz für die Psychoanalyse – die Theorie der korrektiven emotionalen Erfahrung entwarf, für welche sich Inspiration seitens der Lehrsätze 7 und 14 mutmaßen ließe. Alexanders technisches Mittel legt nahe, bei der Übertragung der vergangenen Erfahrung auf die

48 Siehe Patrizia Giampieri-Deutsch: »Ferenczis Beitrag zur Theorie des psychoanalytischen Prozesses«, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 10 (1995), 259–291, Einsicht vs. Erleben, 269–270.

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AnalytikerIn, diese Wiederholung entsprechend soweit zu modifizieren, dass die PatientIn ein neues emotionales Erlebnis als Korrektur des Defektiven der Vergangenheit erfahren kann.49

3. Die Verkörperung des Geistes Nach Freud ist das »Ich«, verstanden als mentale Struktur als »zusammenhängende Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person«,50 ein Körper-Ich, nicht ohne einen Körper denkbar und somit verkörpert. Der Körper wird als Ort aufgefasst, von dem die inneren und äußeren Wahrnehmungen ausgehen. Das Ich, die Struktur der Persönlichkeit, kann als mentale Projektion der Körperoberfläche betrachtet werden: Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe sucht, kann man es am ehesten mit dem ›Gehirnmännchen‹ der Anatomen identifizieren, das in der Hirnrinde auf dem Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach hinten schaut und wie bekannt, links die Sprachzone trägt.51 In Spinozas vergleichbarer Auffassung des Körpers wird dieser als das erste Objekt des Geistes verstanden: »Lehrsatz 13. Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper, das heißt ein bestimmter wirklich existierender Modus von Ausdehnung und nichts anderes.« (2p13, E 125) Der Geist ist eine Idee, und wie Bartuschat kommentiert: »Seine Singularität und damit konkrete Bestimmtheit (actuale esse) bestehe darin, die Idee eines wirklich existierenden Dinges zu sein (2p11, E 121), nämlich des eigenen Körpers (2p13, E 125).« Dass der menschliche Geist die Idee des eigenen Körpers ist, wird darin begründet, dass das menschliche Subjekt die Affektionen seines Körpers wahrnimmt, während es andere Dinge nicht als eigenen Körper wahrzunehmen vermag. »Der Mensch hätte als erkennendes Subjekt keine Wirklichkeit, wenn sein Körper als unmittelbarer Gegenstand seines Erkennens nicht selber wirklich existierte.«52 Durch diese Wahrnehmung ist der Geist konstituiert 49 Vgl. Franz Alexander; Thomas French: Psychoanalytic Therapy. New York 1946. Diese technische Intervention trifft auf den weit verbreiteten Einwand des Einsatzes der Suggestion; wenn die Vergangenheit auf diesem Wege manipuliert wird, verlässt die AnalytikerIn ihre Neutralität und Abstinenz. 50 Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923b), GW 13, 237–289, 243. 51 Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923b), GW 13, 237–289, 253–254. 52 Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 85.

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(2p12, E 123), sodass die Organisation des Körpers das Sein des Geistes ausmacht (2p13 und 2p13s, E 125–126). In der Zeitschrift Neuropsychoanalysis diskutieren zwei RezensentInnen des Buches Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen von Antonio Damasio53 Spinozas Auffassung des Körpers in seiner Beziehung zum Geist: der Neurobiologe Jaak Panksepp54 und die Philosophin Heidi Ravven.55 Einen impliziten Bezug zur Psychoanalyse verrät der Titel der Buchbesprechung von Jaak Panksepp »The Ego is First and Foremost a Body Ego«.56 Damasio wird von Panksepp und Ravven eine dualistische Interpretation Spinozas in der Art eines Geist-Körper-Parallelismus zugeschrieben, wozu Damasio in der Folge wiederum abweichend Stellung nimmt.57 Panksepp und Ravven verstehen Spinozas Position ihrerseits als einen Monismus in der Form einer nichtreduktionistischen Identität.

4. Das psychophysische Problem Mit Hinblick auf diesen Konflikt in den Interpretationen drängt sich die Frage nach einer Klärung der respektiven Positionen von Spinoza und Freud in Bezug auf das psychophysische Problem auf. Wenn es auch kein leichtes Unterfangen und nicht einfach möglich ist, bei so vielschichtigen Denkern zu einem eindeutigen Verständnis zu gelangen, so wird in der Folge doch ein Versuch unternommen, eine argumentative Linie in Hinblick auf ein monistisches Verständnis seitens Spinozas und Freuds zu zeichnen.58 53 Antonio R. Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München 2003. 54 Jaak Panksepp: »The Ego is First and Foremost a Body Ego. Review of Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. New York 2003«, in: Neuropsychoanalysis 5 (2003), 201–215, zum Freud’schen Körper-Ich: 203; vgl. auch seine Replik auf Damasios Antwort: Jaak Panksepp; Douglas Watt: »Antonio Damasio’s Looking for Spinoza«, in: Neuropsychoanalysis 6 (2004), 107–111. 55 Heidi M. Ravven: »Spinoza and the Education of Desire. Review of Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. New York 2003«, in: Neuropsychoanalysis 5 (2003), 218–229. 56 Panksepps Titel ist die englische Version des schon erwähnten Freud-Zitats. Vgl. Anm. 54. 57 Vgl. seine Replik auf die Rezensentin Heidi M. Ravven: Antonio R. Damasio: »Spinoza’s Monism and the Idea of the Body: A Reply to Heidi Ravven«, in: Neuropsychoanalysis 5 (2003), 229–230. 58 Im Gegensatz zum Beispiel zu Alan Donogan: Spinoza. Chicago 1988, 119. Für Donogan würde ein monistisches Verständnis Spinozas einer reduktionistischen Auffassung von dessen Theorie (der Reduktion des menschlichen Denkens auf Prozesse in menschlichen Körpern) gleichkommen.

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Im anfangs erwähnten Brief an die Philosophin Juliette Boutonier, in dem sie Freud nach seiner Beziehung zu Spinoza fragte, drückte er zwar seine Distanz gegenüber PhilosophInnen – Spinoza inbegriffen – aus, fügte nichtsdestoweniger jedoch auch hinzu, daß ich keine Schwierigkeit darin finde, eine physikalische Welt neben der psychischen anzuerkennen in der Art, daß die letztere [die psychische Welt, die Verfasserin] ein Teilgebiet der ersteren [der physikalischen Welt, die Verfasserin] ist. Die Frage der Relation zwischen physikalisch und psychisch kommt nur für letztere[s] (das Psychische) in Betracht. Die physikalische Welt hat eine psychische Seit[e] insofern, als auch sie von uns nur durch psychische Wahrnehmung erkannt wird. Andererseits drängen uns unsere psychische[n] Wahrnehmungen auch die Notwendigkeit der Annahme einer physikalische[n] Realität hinter dem Seelenleben auf.59 Ontologisch wird die psychische Welt von Freud als ein »Teilgebiet«, als eine »Seite« eines Kontinuums, der ganzen physikalischen Welt angesehen. Erkenntnistheoretisch vermag der Mensch durch die Wahrnehmung zwei Bereiche, das Physikalische und das Mentale, zu unterscheiden. Freud teilt mit Spinoza das Schicksal, häufig als psychophysischer Parallelist rezipiert worden zu sein. 1915, in seinem Aufsatz »Das Unbewusste«, konnte der reife Freud diese Frage insofern herausarbeiten, als er »die unlösbaren Schwierigkeiten des psychophysischen Parallelismus« beschrieb,60 und zeigte damit, dass er auch mit der philosophischen Diskussion zum psychophysischen Problem vertraut war. Was für Freud keineswegs vertretbar war, ist die Position eines ontologischen Dualismus, auch der Parallelismus wird als dualistische Position abgelehnt. An dieser Stelle trifft sich sein Weg mit jenem Spinozas. Der Erste Teil der Ethik bietet Spinozas Definition des Attributs an: »Unter Attribut verstehe ich, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erkennt.« (1d4, E 5) Wenn Gott als göttlicher Substanz die Attribute des Denkens (2p1, E 103) und der Ausdehnung (2p2, E 105) zugeschrieben werden, sind dies keine Eigenschaften Gottes, sondern der Verstand erkennt seinerseits Denken und Ausdehnung bei der göttlichen Substanz. In der Anmerkung zum Lehrsatz 2 im Dritten Teil der Ethik wird noch klarer, dass das Attribut des Denkens und das Attribut der Ausdehnung keine Eigenschaften der Substanz sind, sondern zwei erkennende Zugänge des Subjekts, um Geist und Körper zu begreifen. Das menschliche Erkenntnisvermögen erkennt die 59 Sigmund Freud am 11.4.1930 an Juliette Boutonier (1955e, 1930), GW Nachtragsband, 671–672, 672. 60 Sigmund Freud: »Das Unbewußte« (1915e), GW 10, 264–303, 266.

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göttliche Substanz einzig dank beider Attribute, da »nämlich der Geist und der Körper ein und dasselbe Ding sind, das bald unter dem Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird« (2p2s, E 227). Die Identität von Geist und Körper wird hier behauptet, worauf auch die Anmerkung zum Lehrsatz 7 im Zweiten Teil der Ethik verweist, in der sich Spinoza für den Substanzmonismus einsetzte: »daß folglich die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefasst wird« (2p7s, E 111). Die Brücke von Spinoza zur gegenwärtigen Philosophie des Geistes wird von Michael Pauen geschlagen: Grundzüge des Monismus Spinozas – die Identifikation von Geist und Körper auf der Objektebene und die Unterscheidung auf der Ebene des Zugangs zu diesem Objekt – [sind] ganz allgemein ein Kennzeichen von Identitätstheorien in der Philosophie des Geistes. […] Die Identitätsbehauptung versteht sich dabei von selbst, doch auch die Unterscheidung von Perspektiven oder Zugängen ist unverzichtbar, weil sonst gar nicht verständlich würde, warum die Frage nach der Identität überhaupt auftritt.61 Pauen versucht auch die Frage des Parallelismus dahingehend zu lösen, dass er Spinozas »monistischen Parallelismus« als Zugang zu einer Reihe von Ereignissen – anstelle eines dualistischen Parallelismus zweier Ereignisreihen – bezeichnet.62 Man kann Spinozas Identitätstheorie auch Zwei-Aspekte-Theorie nennen. Mit explizitem Bezug auf Spinoza hat Gustav Theodor Fechner diese im 19. Jahrhundert vertreten: »Es sind im Grunde nur dieselben Processe, die von der einen Seite als leiblich organische, von der anderen Seite als geistige, psychische aufgefasst werden können.«63 Auch Herbert Feigl scheint seine Position, jedoch mit einer Korrektur versehen, als eine Art Fortsetzung Spinozas zu verstehen: »Diese Position hat nicht den Nachteil der spinozistischen Lehre des nicht gewussten oder nicht zu wissenden Dritten, von dem das Mentale und das Physikalische Aspekte sind.«64 Feigl nennt seine Identifikation von phä-

61

Michael Pauen: »Spinoza und die Identitättheorie«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin 2006, 81–100, 85–86. 62 Michael Pauen: »Spinoza und die Identitättheorie«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin 2006, 81–100, 87–88. 63 Gustav Theodor Fechner: Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunk der Naturbetrachtung. Bd. 2. Karben 1992, 320. 64 Herbert Feigl: »Das ›Mentale‹ und das ›Physikalische‹«, in: Thomas Metzinger

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nomenalen Daten mit neurophysiologischen Ereignissen, die er nicht als logische, sondern als empirische Identifikation auffasst, Theorie des »zweifachen Zugangs« oder des »doppelten Wissens«. In seiner Replik auf Heidi Ravvens Buchbesprechung reiht sich Antonio Damasio zu den VertreterInnen dieser Position, wenn er festhält: Wenn wir über Geist und Körper sprechen als unterschiedliche physiologische Prozesse, wie wir es müssen, haben wir uns gewiss in einen Aspektdualismus begeben. Der Bezug auf Körper und Geist ist unvermeidlich. Es gibt einfach keinen anderen Weg, diese Themen zu erforschen und zu diskutieren, ob wir Neurobiologen oder Philosophen sind. […] Aber weder Spinoza noch ich sind Substanzdualisten […].65 Wider eine parallelistische Interpretation von Spinoza gerichtet, fasst Marx Wartofsky, als einer der klassischen Kommentatoren, die Identität in der Ethik nicht einfach als »Identität zwischen Geist und Körper, sondern in diesem Zusammenhang, als Identität zwischen Denken und Affekt, Denken und Freude, Denken und Trauer, Denken und Begierde«. Deshalb plädiert Wartofsky für die Zurückweisung sowohl der mechanistischen Determination psychischer Zustände durch körperliche Zustände (einer Spinoza missverständlich zu oft zugeschriebenen epiphänomenalistischen Auffassung) wie auch der psychischen Determination der körperlichen Zustände (der Auffassung des freien Willens, gegen welche Spinoza argumentiert) […] jede Veränderung [ist] in einem psychischen Zustand eine Veränderung in einem körperlichen Zustand notwendigerweise, aber nicht kausal. Eine Veränderung im psychischen Charakter oder in der Intensität oder in der Qualität eines Affektes führt nicht zu einer Veränderung in einem körperlichen Zustand: es ist eine. So hat die irrtümliche Auffassung, dass Spinoza einen Parallelismus gegen den Interaktionismus von Descartes vorschlägt, das Modell verfehlt. Insofern wir an Körper und Geist [minds] denken, ergibt sich ein begrifflicher Parallelismus. Was wir jedoch unter diesen zwei Attributen denken, ist nicht parallel, sondern identisch.66

(Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Übersetzung des Exzerpts von Antonia Barke. Paderborn 2007, 132–163, 154. 65 Antonio R. Damasio: »Spinoza’s Monism and the Idea of the Body: A Reply to Heidi Ravven«, in: Neuropsychoanalysis 5 (2003), 229–230, 229 (deutsche Übersetzung der Verfasserin). 66 Marx Wartofsky: »Action and Passion. Spinoza’s Construction of a Scientific Psychology«, in: Marjorie Grene (Hg.): Spinoza. A Collection of Critical Essays. New York 1973, 329–353, 349 (deutsche Übersetzung der Verfasserin).

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In »Spinoza’s Causal Theory of Affects« nähert sich Donald Davidson letztendlich Spinoza mit Argumenten an, welchen jenen in »Geistige Ereignisse«67 ähnlich sind. Davidson suggeriert darin Bezüge zwischen Spinozas Position und seinem eigenen »anomalen Monismus«. Er vertritt dabei einen ontologischern Monismus, in dessen Rahmen mentale und physikalische Objekte und Ereignisse identifiziert werden können, welcher jedoch durch einen Dualismus der Begriffe und wissenschaftlicher Erklärungen begleitet wird.68

5. Der Geist und die Frage der Determiniertheit und Kausalität Auf den ersten Blick scheinen Spinoza und Freud von der Annahme der Geschlossenheit der Kausalität in der Natur auszugehen: Der Geist ist ein Teil der Natur, deren Gesetzen er unterliegt und infolgedessen er wissenschaftlich untersucht werden kann. In seinem Vorwort zum Dritten Teil der Ethik »Von dem Ursprung und der Natur der Affekte« geht Spinoza auf diese Gesetzlichkeit ein: [D]enn die Natur ist immer dieselbe, und was sie auszeichnet, ihre Wirkungsmacht, ist überall ein und dasselbe; das heißt die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere sich verändert, sind überall und immer dieselben. Mithin muß auch die Weise ein und dieselbe sein, in der die Natur eines jeden Dinges, von welcher Art es auch sein mag, zu begreifen ist, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur. (3praef, E 221) Spinoza erläutert seine Schlussfolgerung und kündigt seine methodologische Entscheidung an: »[I]ch werde menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper.« (3praef, E 221) In »Über eine Weltanschauung«, der 35. Vorlesung der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, nähert sich Freud in einer Spinozas Schlussfolgerung verwandten Einstellung der Erkenntnis des Geistes an: Geist und Seele sind in genau der nämlichen Weise Objekte der wissenschaftlichen Forschung wie irgendwelche menschenfremde Dinge. Die Psychoanalyse hat ein besonderes Anrecht, hier das Wort für die wissenschaftliche Weltanschauung zu führen, weil man ihr nicht den Vorwurf machen 67 Donald Davidson: »Geistige Ereignisse«, in: Donald Davidson: Handlung und Ereignis. Frankfurt am Main 1990, 291–320. 68 Vgl. Donald Davidson: »Spinoza’s Causal Theory of Affects«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.): Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at the Third Jerusalem Conference. New York 1999 (= Ethica, Bd. 3), 95–111, 106.

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kann, daß sie das Seelische im Weltbild vernachlässigt habe. Ihr Beitrag zur Wissenschaft besteht gerade in der Ausdehnung der Forschung auf das seelische Gebiet.69 Die Annahme, dass sich auch der Geist der kausalen Determiniertheit nicht entziehen kann, stellt für Spinoza und Freud die Freiheit des Willens in Frage. Der Lehrsatz 32 des Ersten Teils der Ethik zur Freiheit des Willens besagt: »Lehrsatz 32. Der Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern allein eine notwendige.« (1p32, E 67) Der Wille »bedarf einer Ursache, von der er zum Existieren und Wirken bestimmt wird; mithin kann er (nach Definition 7) nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern allein eine notwendige oder besser eine gezwungene. W. z. b. w.« (1p32dem, E 67). Daraus folgt auch, »daß Wille und Verstand sich zu Gottes Natur so verhalten […] wie alle natürlichen Dinge.« (1p32c2, E 67) Und der Lehrsatz 48 des Zweiten Teils der Ethik präzisiert zum Thema der Freiheit noch: »Im Geist gibt es keinen unbedingten oder freien Wille, sondern der Geist wird von einer Ursache bestimmt, dieses oder jenes zu wollen, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist und diese wiederum von einer anderen und so weiter ins Unendliche.« (2p48, E 197) Diese Stellungnahme wird im Anhang zum Ersten Teil der Ethik noch bekräftigt, wenn Spinoza das trügerische subjektive Gefühl der Freiheit anspricht und bemerkt, »daß Menschen sich für frei halten, weil sie sich ihres Triebes und dessen, daß sie mit ihm manches wollen, bewußt sind und an die Ursachen, von denen sie veranlaßt werden, etwas zu begehren und zu wollen, nicht einmal im Traum denken, weil sie sie nicht kennen« (1app, E 81). Vom hier angesprochenen Phänomen der Selbsttäuschung ist auch in Freuds Zur Psychopathologie des Alltagslebens die Rede, wenn die reichliche Kasuistik psychischer Fehlleistungen (des Vergessens, Versprechens, Verschreibens, Vergreifens und der Zahleneinfälle sowie der so genannten »Zufallshandlungen«) besprochen wird: Diese Einsicht in die Determinierung scheinbar willkürlich gewählter Namen und Zahlen kann vielleicht zur Klärung eines anderen Problems beitragen. Gegen die Annahme eines durchgehenden psychischen Determinismus berufen sich bekanntlich viele Personen auf ein besonderes Überzeugungsgefühl für die Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgefühl besteht und weicht auch dem Glauben an den Determinismus nicht.70 Dieses illusorische Erste-Person-Gefühl wird im Kapitel »Die Fehlleistungen« – einer der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse – als Täuschung ent69 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zu der Einführung in die Psychoanalyse (1933a, 1932), GW 15, 171. 70 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901b), GW 4, 282.

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larvt, weil damit die Annahme der Geschlossenheit der Kausalität in Frage gestellt wird: »Wenn jemand so den natürlichen Determinismus an einer einzigen Stelle durchbricht, hat er die ganze wissenschaftliche Weltanschauung über den Haufen geworfen.«71 Vor der Möglichkeit dieses Selbstbetrugs werden die HörerInnen seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse nachdrücklich ermahnt, wenn Freud ihnen vorhält, »daß ein tief wurzelnder Glaube an psychische Freiheit und Willkürlichkeit in ihnen steckt, der aber ganz unwissenschaftlich ist und vor der Anforderung eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus die Segel streichen muß«.72 Es kann jedoch nicht übersehen werden, dass erstens einiges in der Ethik dafür sprechen würde, dass bei Spinoza die Annahme einer geschlossenen Kausalität und die Frage nach der Freiheit mit dessen Theologie (und nicht nur mit seiner Naturauffassung) zu tun haben könnte. Diese Zweideutigkeit könnte durch die Annahme einer unmittelbaren Identifikation von Gott und Natur gelöst werden, welche sich jedoch auch als eine Verkürzung erweisen könnte. Zwar scheint zweitens der gemeinsame und aufrichtige Wunsch nach Wissenschaftlichkeit Spinoza und Freud nahe zu bringen, ihre jeweilige Auffassung von Methoden in der Wissenschaft sie jedoch wieder von einander zu entfernen. Die 7. Definition in »Von Gott«, dem Ersten Teil der Ethik, bietet Spinozas Umriss der Freiheit: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder eher gezwungen dagegen dasjenige, das von einem anderen bestimmt wird, auf bestimmte und geregelte Weise zu existieren und etwas zu bewirken.« (1d7, E 7) Im Verständnis von Dieter Sturmas Kommentar zu dieser Definition vermag also nicht der Mensch, sondern nur Gott frei zu sein, und die Begründung der Unfreiheit des Menschen gegenüber Gottes Freiheit liegt im Wesen Gottes: »Das Vermögen, aus der Notwendigkeit seines Wesens heraus zu existieren und sich selbst zu bestimmen, bleibe aber ausschließlich Gott vorbehalten. Der Mensch könne nur in dem Maße frei sein, wie er dem Gebot der Vernunft folge.«73 Im Fünften Teil seiner Ethik »Von menschlicher Knechtschaft« findet sich in der Anmerkung zum Lehrsatz 73 ein konkretes Beispiel, welches als Erörterung seiner 7. Definition dienen kann und Sturmas Deutung zu bekräftigen scheint. Die Notwendigkeit scheint

71 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17a, 1915–17), GW 11, 104. 72 Ebd. 73 Dieter Sturma: »Freiheit«, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 1. Hamburg 1999, 400–407, 402.

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aus Gott, aus seiner göttlichen Natur, mehr als aus den Gesetzen der Natur zu entstammen: Ein Mensch von starkem Charakter bedenkt in erster Linie, daß alles aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgt und somit daß alles, was er lästig und schlecht ansieht und offenbar unmoralisch, schrecklich, ungerecht und unanständig ist, dem entspringt, daß er die Dinge selbst in einer Weise begreift, die ungeordnet, verstümmelt und verworren ist; und aus diesem Grund strebt er vor allem, die Dinge zu begreifen, wie sie in sich selbst sind, und das heißt die Hindernisse wahrer Erkenntnis zu beseitigen, also Haß, Zorn, Neid, Spott, Hochmut und die anderen Affekte, die wir erwähnt haben. (4p73s, E 505) Auf den Weg der unmittelbaren Identifizierung verzichtend, für den vor allem die beliebten Zitate aus dem Vierten Teil der Ethik »Deus seu Natura« (4praef, E 374) und »Deus sive Natura« (4p4dem, E 388) zeugen, wird in der Folge Spinozas Gottesbegriff in seiner Beziehung zu Spinozas Auffassung der Natur erläutert, um dann zum Thema der Kausalität bei Spinoza überzugehen. Zu Spinozas Annäherung der Begriffe »Gott« und »Natur« bemerkt Yirmiyahu Yovel: Keines dieser beiden Wörter ist verzichtbar, denn gerade in ihrer Verbindung zu Deus seu natura liegt Spinoza eigentliche Botschaft: sowohl eine Naturalisierung Gottes wie eine Sakralisierung der Natur. […] Streng formal oder ›geometrisch‹ betrachtet, sind die Ausdrücke Deus und natura austauschbar; aber natura allein kann wegen der historisch gegebenen Konnotationen die Immanenz und Inhärenz des Göttlichen in jedem natürlichen Gegenstand nicht ausdrücken.74 In dieselbe Richtung bewegte sich bereits im Jahre 1912 auch die Deutung der Psychoanalytikerin und Philosophin Lou Andreas-Salomé, nach der Spinoza »[dadurch] weder das Natürliche verübernatürlichte, noch auch den Namen seines Gottes zu den Dingen herabzog«.75 Es muss nicht im Besonderen erwähnt werden, dass Freuds Atheismus eine Assoziation von Natur und Gott nicht zugelassen hätte. Zum Verständnis der Naturalisierung Gottes und seiner Immanenz in der Natur verhilft im Ersten Teil der Ethik die Anmerkung zum Lehrsatz 15: »Alle Dinge […] sind in Gott, und alle Dinge, die sich ereignen, ereignen sich durch die bloßen Gesetze der Natur Gottes, folgen also aus der Notwendigkeit seiner 74

Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 191. Lou Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913. München. 1965, 45. 75

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Essenz […] Man kann daher in keiner Weise sagen, Gott erleide etwas von einem anderem oder ausgedehnte Substanz sei der göttlichen Natur unwürdig« (1p15s, E 41). Gott erscheint in der Ethik nicht als Schöpfer – vgl. zum Beispiel in der Anmerkung zum Lehrsatz 17 (1p17s, E 45) –, sondern nach dem Lehrsatz 18 (1p18, E 49) als immanente Ursache aller Dinge, genau wie er laut der allerersten Definition der Ethik »Ursache seiner selbst« (1d1, E 5) ist, so dass – laut Beweis zum Lehrsatz 34 – »Gott die Ursache seiner selbst […] und […] aller Dinge [ist] […] Folglich ist Gottes Macht, durch die er und alles ist und handelt, genau seine Essenz.« (1p34dem, E 77) Dies wird auch von der Anmerkung zum Lehrsatz 25 bekräftigt: »[I]n der Bedeutung, in der Gott Ursache seiner selbst genannt wird, muß er auch Ursache aller Dinge genannt werden« (1p25s, E 57). Wolfgang Bartuschats Deutung folgend: »Gott ist nicht etwas für sich und dann auch noch produktiv. Er ist nur, sofern er produktiv ist, das heißt erfüllt sich in seiner Produktivität.«76 Gott ist nur etwas, das sich selbst bewirkt, sofern er zugleich alle Dinge bewirkt. Es ist folglich kein schöpferischer Gott, der den Dingen transzendent wäre und die Möglichkeit hätte, noch mehr und anderes zu erschaffen, als er tatsächlich hervorgebracht hat. Seine potentia ist nicht Potentialität, sondern erfüllte Wirklichkeit. […] Gottes Wirksamkeit ist insofern eine ›immanente Kausalität‹, durch die sich Gott in den Dingen vollständig manifestiert.77 Spinozas Betonung des Substanzmonismus, nach dem es nur eine Substanz gibt, die Gott ist (1p14, E 31), so »daß es neben der einen Substanz nicht nur nicht weitere Substanzen geben kann, sondern überhaupt nichts, das außerhalb von ihr wäre«78, und Gottes immanente Kausalität werden von Bartuschat auch mit Spinozas Auffassung des prinzipiellen Begreifens der universellen Intelligibilität aller Dinge in der Natur in Verbindung gebracht: Deshalb folgt aus der Identifizierung der Essenz Gottes mit dessen Kausalität, dass Gott in den Dingen (Modi) ist. Das Sein Gottes in den Modi ist für die Erkennbarkeit sowohl der Modi als auch Gottes von fundamentaler Be-

76 Wolfgang Bartuschat: »Baruch de Spinoza«, in: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. 2. Halbband. Basel 1993 (= Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 3, 2, 2), 893–969, 974–986; 925. 77 Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 51–52. 78 Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 65.

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deutung. Die Leugnung der Transzendenz Gottes ist Voraussetzung dafür, dass eine Theorie der rationalen Explizierbarkeit der Strukturen der Welt gegeben werden kann. Gott ist […] ›bewirkende Ursache aller Dinge‹ […] Ein anderes Konzept Gottes wird von Spinoza in erster Linie deshalb verworfen, weil es ›ein großes Hindernis für die Wissenschaft‹79 wäre, wie Spinozas Zitat in seiner zweiten Anmerkung zum Lehrsatz 33 (1p33s2, E 73) besagt. Spinozas Rezeption der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts bringt ihn dazu, das Thema der Naturgesetze in seine Philosophie zu integrieren. Hier mahnt Stuart Hamphshire jedoch ein, dass Spinoza einen anderen Maßstab von Erklärung als die moderne Wissenschaft vor Augen hat: Für Spinoza ist wissenschaftliche Erklärung rein deduktiv und mathematisch; Erklären bedeutet, dass eine Aussage die logische Folge einer anderen ist und dass die notwendigen Zusammenhänge gezeigt werden.80 Wie aus der Anmerkung zum Lehrsatz 47 des Zweiten Teils der Ethik ersichtlich wird, leitet Spinozas »geometrische Methode« die Erkenntnis der Dinge aus der Erkenntnis Gottes, die auch Erkenntnis der Prinzipien der Natur ist, ab: »Wir sehen hieraus, daß Gottes unendliche Essenz und seine Ewigkeit jedermann bekannt sind. Und weil alles in Gott ist und durch Gott begriffen wird, folgt, daß wir aus dieser Kenntnis [Gottes] sehr viele Dinge ableiten können, die wir adäquat erkennen, mithin jene dritte Erkenntnisgattung [die intuitive Erkenntnis (2p40s2, E 183), die Verfasserin]« (2p47s, E 195). Während nach Freuds Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaft diese empirisch und experimental ist, fasst Spinoza die Wahrheiten der Natur letztlich als Wahrheiten der Logik oder der Vernunft auf. Unter Bezug auf den Lehrsatz 7 im Zweiten Teil der Ethik (2p7, E 109) kommentiert Michael Pauen Spinozas Verständnis der Wissenschaft näher: Der aus heutiger Sicht naheliegende Einwand, dass damit bestenfalls ein kohärentes theoretisches Konstrukt, nicht jedoch eine adäquate Einsicht in die reale Beschaffenheit unserer Welt möglich sei, hat für Spinoza nicht nur deshalb kein Gewicht, weil er der Wahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle zubilligt, sondern auch weil er eine grundsätzliche Entsprechung zwischen der ›Ordnung der Ideen‹ und der ›Ordnung der Dinge‹ unterstellt.81 79 Wolfgang Bartuschat: »Baruch de Spinoza«, in: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. 2. Halbband. Basel 1993 (= Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 3, 2, 2), 893–969, 974–986; 926–927. 80 Vgl. Stuart Hampshire: Spinoza. New York 1951, 35. 81 Michael Pauen: »Spinoza und die Identitätstheorie«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin 2006, 81–100, 82.

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Damit bleibt noch eine Schilderung von Spinozas Auffassung der Kausalität offen, die nicht lediglich zu einem besseren Verständnis der Fragestellung dienen kann, inwieweit die Ethik Gottes immanente Kausalität oder Naturkausalität behandelt, sondern auch dazu, inwieweit der Begriff der Kausalität bei Spinoza in dem Sinn ein einfacher ist. Spinozas doppelte Form der Kausalität oder doppelte Determination aller Dinge sieht eine vertikale, immanente oder Gotteskausalität und eine horizontale, transitive Kausalität vor, so wie es im Ersten Teil der Ethik beschrieben wird.82 Die vertikale, immanente Kausalität ist die Kausallinie, welche von der »bewirkende[n] Ursache aller Dinge« (1p16c1, E 41), der immanenten Ursache Gott ausgehend (1p16, E 41–43; 1p18–1p27, E 49–59; insbesondere 1p26 und 1p27, E 59), über ein Attribut zu unendlichen Modi und bis hin zum Einzelding »auf unendlich viele Weisen« (1p16, E 41) läuft. Die horizontale, »innerweltliche«83 Kausalität der äußeren Determinierung im Endlichen wird im Lehrsatz 28 (1p28 und 1p29dem, E 59–63) als eine Verkettung endlicher Modi beschrieben. Jedes Einzelding wird von einem anderen Einzelding in einer Kausalkette hervorgebracht. Die unendlich vielen Modi sind die Naturgesetze, deren logische Notwendigkeit die Macht und die Notwendigkeit Gottes übertragen, während die horizontale, innerweltliche Kausalität die immanente, vertikale Kausalität in der Natur verwirklicht. Ein – durch immanente logische Ableitung hervorgebrachtes – Gesetz G bestimmt das – von anderen Einzeldingen hervorgebrachte – Einzelding A (immanente, vertikale Kausalität), indem es festlegt, wie die mechanistischen Ursachen B, C, D und E auf das Einzelding A einwirken (horizontale, innerweltliche Kausalität). Yovel bemerkt: »Die Gesetze bestimmen das Einzelding vertikal durch die Vermittlung über andere Einzeldinge, die es horizontal beeinflussen.«84 Dass die Kausalitätsbeziehungen nicht als einfache Verkettung gedacht werden sollten, hatte Freud besonders während seiner Untersuchung des Traums bemerkt. Der Freud’sche Begriff der Überdeterminierung oder der mehrfachen Determinierung drückt Freuds Beobachtung aus, dass als Ursache eines psychischen Phänomens (eines Traums, aber auch eines Symptoms) mehr als ein Triebwunsch herangezogen werden sollte. Die Triebwünsche bilden den Gedankeninhalt der latenten Traumgedanken: 82 Mit Bezug auf Edwin M. Curley: Behind the Geometrical Method. A Reading of Spinoza’s Ethics. Princeton N.J. 1988, unterscheidet Yovel zwischen horizontalen und vertikalen Kausallinien, siehe Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 201–203. 83 Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 81. 84 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 203.

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Jedes der Elemente des [manifesten] Trauminhaltes ist durch das Material der [latenten] Traumgedanken überdeterminiert, führt seine Abstammung nicht auf ein einzelnes Element der Traumgedanken, sondern auf eine ganze Reihe von solchen zurück, die einander in den Traumgedanken keineswegs nahe stehen müssen, sondern den verschiedensten Bezirken des Gedankengewebes angehören können.85 Die Deutung der AnalytikerIn dringt vom manifesten Inhalt des erzählten Traums zu seinem latenten Trauminhalt, also zu seinen Traumgedanken, um die in diesen Gedanken ausgedrückten Triebwünsche offenzulegen. Die Verwandschaft zwischen Spinozas Verständnis der Kausalität und dem Freud’schen Begriff der Überdetermination sprach die Psychoanalytikerin Lou AndreasSalomé an, indem sie die Frage der kausalen Determination bei Spinoza und Freud als ein »Netz« interpretierte: In der Psychoanalyse ist etwas grundlegend, was allem Spinozismus äußerst stark entgegenkommt: der Begriff der Überdetermination. Diese Einsicht, jegliches sei psychisch überdeterminiert, ja müsse es sein, wenn man es nur weit genug verfolgt, dringt über den gewöhnlichen logischen Determinationsbegriff weit hinaus, zerreißt seine einseitige Kettengliedlinie und macht aus ihm schließlich eine Allwechselwirkung. Die Wechselwirkung von allem mit allem muß aber nur bis in ihre letzten Konsequenzen aufgenommen sein, um das zu haben, wodurch man bei Spinoza aus der empirischen Bewegung in die Ewigkeitsruhe seiner Philosophie kommt […].86

6. Befreiung als Emanzipation und Erlösung Die Annahme einer Determiniertheit des psychischen Geschehens sowie die Absage an jede libertarische Auffassung eines freien Willens hindern Spinoza und Freud jedoch keinesfalls, sich die Frage nach der Möglichkeit der Befreiung des Menschen zu stellen und nach einem Weg zu suchen, welcher über Selbsterkenntnis zu Emanzipation oder gar Erlösung führen kann. »Verstehen ist Transzendieren«,87 wird Spinozas Weg der Immanenz – quasi 85

Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900 a), GW 2–3, 666. Lou Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913. München 1965, 45. 87 Abraham Kaplan: »Spinoza and Freud«, in: The Journal of the American Academy of Psychoanalysis and Dynamic Psychiatry 5 (1977), 299–326, 316: »Ein grundlegendes Prinzip, das Spinoza und Freud teilten, könnte das philosophische Axiom genannt werden: Verstehen ist Transzendieren.« (kursiv im Original; deutsche Übersetzung der Verfasserin) 86

Der »Philosoph der Psychoanalyse«? Spinoza und Freud

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als Oxymoron – von Abraham Kaplan genannt. Durch die Arbeit des Verstehens wird der Mensch befreit. Aber um welche Art Verstehen geht es Spinoza? Bestimmt nicht um ein vom Körper gelöstes »reines« Selbstbewusstsein, im Gegenteil. »Wahre Selbsterkenntnis«, schreibt Yovel, beginnt mit Überwindung der Illusion reiner Subjektivität und der Objektivierung des cogito, indem man es dem Körper zurechnet und beide in die Kausalordnung der Natur als ganzer einbezieht. Um das zu tun, bedarf es einer mühevollen wissenschaftlichen Erforschung (meines Körpers, meines Bewussteins, meiner Lage), bei der ich mich mir ›von außen‹ annähere, und zwar über die mechanistischen Naturgesetze und andere natürliche Entitäten, die mein Sein determinieren.88 Im Lehrsatz 3 des Fünften Teils der Ethik »Von der Macht des Verstandes oder von menschlicher Freiheit« betrachtet Spinoza als Gegenmittel der Affekte, von welchen wir versklavt sind, deren Erkenntnis: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden.« (5p3, E 537) Und im Folgesatz: »Je bekannter uns also ein Affekt ist, umso mehr ist er in unserer Gewalt und umso weniger erleidet der Geist von ihm.« (5p3c, E 537) Ja, Spinoza fügt in der Anmerkung zum Lehrsatz 4 hinzu: »[E]in jeder [hat] die Gewalt, sich und seine Affekte – wenn nicht völlig, so doch wenigstens teilweise – klar und deutlich einzusehen, und folglich die Gewalt, es dahin zu bringen, daß er von ihnen weniger erleidet.« (5p4s, E 539) »Und wir können […] uns kein Heilmittel für die Affekte ausdenken, das von unserer Gewalt abhängt und vortrefflicher wäre als das, das in ihrer wahren Erkenntnis besteht« (5p4s, E 541). Die wahre Erkenntnis, die klare und deutliche Einsicht, ist die Erkenntnis der Ursachen. Wir verstehen unsere Affekte, wenn wir die Ursachen verstehen, von denen wir veranlasst werden, etwas zu erstreben und zu wollen, und es geht dabei nicht lediglich um die Einsicht in eine einfache Verkettung, sondern vielmehr um die Erfassung der Vernetzung zwischen endlichen Ursachen und der unendlichen Ursache (Gott/ Natur), wie auch Lou Andreas-Salomé herausgehoben hatte. Spinoza verschweigt nicht, dass der Weg durch die Gattungen der Erkenntnis bis zum amor Dei intellectualis ein langwieriger Prozess sein kann, und so bietet Spinoza in der Anmerkung zum Lehrsatz 10 des Fünften Teiles der Ethik quasi-»therapeutische« Empfehlungen an:89 88

Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 209. Neben Jérôme Neu, dessen Buch bereits in der Anmerkung 34 erwähnt wurde, wurde Spinozas Weg zum amor Dei intellectualis auch von folgenden Autoren mit einer »Psychotherapie« verglichen: Walter Bernard: »Psychotherapeutic Principles in 89

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Patrizia Giampieri-Deutsch

Das Beste also, war wir tun können, solange wir nicht eine vollkommene Erkenntnis unserer Affekte haben, ist ein richtiges Prinzip, das heißt sichere Regeln, für unsere Lebensführung zu konzipieren, diese unserem Gedächtnis einzuprägen und sie beständig auf die besonderen Fälle, die im Leben häufig vorkommen, anzuwenden, damit so unsere Vorstellungskraft weitgehend von ihnen affiziert wird und sie uns jederzeit zur Verfügung stehen. (5p10s, E 549) Nicht unähnlich einer kognitiven PsychotherapeutIn hebt Spinoza in derselben Anmerkung den Wert der Übung hervor: »Und wer diese [Regeln] sorgfältig beachtet (denn sie sind nicht schwer) und einübt, wird sicher in kurzer Zeit imstande sein, seine Handlungen meistens unter der Herrschaft der Vernunft zu regeln.« (5p10s, E 553) Zum besseren Verständnis von Befreiung betont Wolfgang Bartuschat die Handlungsfreiheit »im Sinne eines spontanen Handelns und dies in einer Radikalität, die die Freiheit nicht darin erfüllt sieht, ein partikulares Begehrtes ohne äußere Hindernisse realisieren zu können, sondern darin, alles subjektive Begehren zu einem Handeln zu machen, das aus der Natur dieses Subjekts selbst erwächst«.90 Der Erfolg dieses langen Weges ist jedoch ungewiss, wie Spinozas Anmerkung zum Lehrsatz 42 zugibt: »Und natürlich muß das, was so selten gefunden wird, schwer sein.« (5p42s, E 595) Wenn im Vergleich dazu auch Freuds Analyse kein leichter und kurzer Weg ist und wenn sich auch das Ergebnis der psychoanalytischen Behandlung nicht einfach aus der Auflösung der neurotischen Symptome, sondern aus dem strukturellen Wandel der Persönlichkeit ergibt, welcher allein ermöglichen kann, dass keine weiteren Symptome mehr entstehen, so spielt doch Freud das Ergebnis einer gelungenen Analyse ironisch als das Erreichen »normalen Unglücks« herunter. Yirmiyahu Yovel bringt dies auf folgende Weise auf den Punkt: »Das Ziel der Freudschen Therapie ist es, eine gewöhnliche Person zustande zu bringen; das Ziel von Spinozas Ethik ist es, eine ungewöhnliche Person zustande zu bringen, nämlich ein seltenes menschliches Wesen von außerordentlicher innerer Vortrefflichkeit.«91

Spinoza’s Ethics. Freud’s Relation with Spinoza«, in: Siegfried Hessing (Hg.): Speculum Spinozanum, 1677–1977. London; Boston 1977, 63–80; Amihud Gilead: »Human Affects as Properties of Cognition in Spinoza’s Philosophical Psychotherapy«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.): Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at the Third Jerusalem Conference. New York 1999 (= Ethica, Bd. 3), 95–111. 90 Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, 2006 (= Beck’sche Reihe Denker 537), 146. 91 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 444.

Helma Riefenthaler

Spinoza und Sartre über Existenz, Willensfreiheit und Affekte Wer also glaubt, er rede oder schweige oder tue sonst etwas aus einer freien Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen. (3p2, E 237)

I. Spinoza und Sartre. Theoriegebäude Der Mensch existiert kontingent, meint vielfach bloß, er entscheide frei, obwohl er bei näherer Betrachtung nur seinen Affekten folgt – und ist dennoch frei und verantwortlich in seinem Sein, für sich und für andere: Baruch de Spinoza und Jean-Paul Sartre führen in ihren Theorien, die in ihrer äußeren Form gegensätzlicher nicht sein könnten, zu diesen Schlussfolgerungen. Die Überlegungen können jeweils in Hinblick auf die physischen Abläufe, die Affekten zu Grunde liegen, und auf die Möglichkeit, die Affekte über den Verstand zu beherrschen, in Kohärenz mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Gegenwart zu Willensfreiheit und Affekten gebracht werden.1 Stellen wir zunächst die Grundrisse der Theoriegebäude Spinozas und Sartres nebeneinander. Spinozas mathematisch geschlossenes und dogmatisches Postulat zur Existenz des Menschen definiert diesen als partikulare Modifikation, abhängig von einem großen Ganzen, Gott oder der Natur; in seinem spezifischen Seinsmodus ist der Mensch in der metaphysisch argumentierten Definition Spinozas Ausdruck der Immanenz Gottes – oder der Natur – in allem Seienden, ausgestattet mit den Attributen des Geistes und der Körperlichkeit (»Denken« und »Ausdehnung«). Als einzelner Modus kontingent, und abhängig von der Notwendigkeit des Ganzen, eröffnet sich die menschliche Freiheit in der Erkenntnis der Bedingtheit des Menschen. Die mögliche und dem Gesetz der Natur gemäße, notwendige Überwindung der Affekte ist letztlich in der Erkenntnis Gottes und in notwendiger Liebe zu Gott begründet. Diese (dritte) Erkenntnisebene ist nur wenigen erreichbar beziehungsweise abhängig von der Physis (2p13s, E 125 f.; 3p14, E 139; 5p39s, E 587). Die phänomenologische Ontologie Sartres und ihre ganzheitliche Sicht der Existenz des Menschen, des Daseins (»réalité humaine«), postuliert die in ihrer Offenheit zugleich rigideste Formulierung der Existenz des Menschen als Freiheit, der für sich und die Welt verantwortlich ist. Sartre wendet sich gegen 1 Vgl. zum Beispiel Antonio Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin: 2009; Peter Kampits: »Willensfreiheit«, in: Thomas Flynn; Peter Kampits; Eric Vogt (Hg.): Über Sartre. Wien 2005, 55–67.

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eine in Gott begründete Ethik und fordert: »Die Sittlichkeit muss sich auf ein Ziel hin überschreiten, das sie nicht selbst ist. […] Sie muß Wahl der Welt sein, nicht Wahl ihrer selbst.«2 Das Fundament der rigiden These – jeder ist Freiheit, jeder ist verantwortlich – ist eine Theorie des Bewusstseins, die Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein ebenso wie Affekte auf nicht-thetischer Ebene des Bewusstseins verortet. Die Konversion von »komplizenhafter Reflexion« hin zu »authentischer Reflexion«, dieser Übergang von affektgeleitetem Sein zu moralischem Handeln ist nicht notwendig, aber allen möglich.3 Mit Blick auf eine »Skizze der Natur« vermerkt er »eine größere Konstanz des Übergangs vom Unmittelbaren zum Komplizenhaften als vom Unmittelbaren zum Reinen«.4 Die Spinoza-Rezeption Sartres wird im Folgenden in einem ersten Schritt mit Blick auf die Theoriebildung aus dem Werk Sartres selbst skizziert, in einem zweiten Teil werden die ontologischen Positionen zu Existenz, Affekten und (Willens-)Freiheit beleuchtet.

1. Spinoza und Sartre. Denkwege Eine wesentliche Brückenfunktion zwischen Körper und Geist kommt sowohl in dualistischen als auch in monistischen Theorien der erkenntnistheoretischen Darstellung von Affektionen und den damit verbundenen Vorstellungen zu. Wichtig ist dabei die Frage, wie und in welcher Form Affektionen des Körpers durch den Geist wahrgenommen werden? Ein Parallelismus von Körper und Geist kennzeichnet das System Spinozas: »Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen« (2p7, E 109). Metaphysischer Ausgangspunkt ist Gott als res cogitans und res extensa (1p15, E 31; 2p1, E 103 und 2p2, E 105). Gott ist die einzige Substanz und der Mensch ein Modus dieser Substanz. Gott, die Substanz, kann über die beiden Attribute »Denken« und »Ausdehnung«, an denen der Mensch Anteil hat, vom Menschen als Substanz erkannt werden. Die Erkenntnis ist eine unvollständige. Insofern der Mensch in kontingenter und endlicher Existenz (nur) Körper und Geist in anteiliger Ausdrucksform der göttlichen res cogitans und res extensa ist, können mögliche andere 2

Jean Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie. Reinbek bei Hamburg: 2005,

27. 3 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Abschnitt I: Entwurf einer ontologischen Moral, 816–820; Abschnitt II, 820 f.; Die Konversion, 821–962. 4 Jean-Paul Sartre: »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. Reinbek bei Hamburg 2002, 267–326, 326.

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Dimensionen, an denen er in seiner Seinsweise keinen Anteil hat, nicht vorgestellt, wahrgenommen und erkannt werden. In der Anmerkung zum Lehrsatz 17 im Zweiten Teil der Ethik, in dem er den Vorgang der Affizierung des Körpers durch einen Affekt beschreibt (2p17, E 143), führt Spinoza das Vorstellungsbild begrifflich ein: »die Affektionen des menschlichen Körpers, deren Ideen äußere Körper als uns gegenwärtig darstellen [wollen wir] Vorstellungsbilder von Dingen nennen, obgleich sie die äußere Gestalt von Dingen nicht wiedergeben. Und wenn der Geist Körper auf diese Weise betrachtet, wollen wir sagen, daß er vorstellt« (2p17s, E 145 ff.). Innerhalb der Erörterung dessen, wie der Geist, der die Idee oder Erkenntnis des menschlichen Körpers ist (2p19dem, E 151), wahrnimmt, ist die Definition des Vorstellungsbildes als Ding zentrales Element für eine Darstellung der Relation der Modi des Denkens und der Ausdehnung, die Spinoza in der Ordnung und Verkettung der Dinge als eine mechanische definiert. Sartre setzt in seiner Forschung an diesen Topoi an, er untersucht das Vorstellungsbild und die Wechselwirkung von Körper und Geist – und legt über einen Begründungsgang, in dem er von der Vorstellung als Ding zur Vorstellung als Bewegung führt, den Grundstein für seine phänomenologische Ontologie: In seiner Magisterarbeit L’Imagination5 handelt Jean-Paul Sartre drei große metaphysische Konzeptionen – Descartes’, Leibniz’ und Spinozas – sowie den Empirismus Humes ab, um die Vorstellung, das mentale Bild, das sich in seiner Wesensidentität von seiner Existenzidentität unterscheidet, auf der Ebene des Körper-Geist-Problems in Abgrenzung zur Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts auf ontologischer Ebene weiterzudenken. Aufbauend auf eine Skizze dreier klassischer Theorien zu Bild, Vorstellung und Wahrnehmung, die er als zentrale Grundpositionen benennt (Descartes, Leibniz und Hume), führt Sartre in einer Kritik an wissenschaftlichen Positionen der Psychologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus, dass diese nicht über die in den klassischen Konzeptionen enthaltene Körper-Geist Problematik hinausgehen beziehungsweise auf die Grundlage der genannten klassischen Konzeptionen zurückführbar sind; erstens sei das Wesen des Bildes noch immer die Passivität, und »[z]weitens geht man das Bild noch immer mit den gleichen Interessen an. Noch immer geht es darum, gegenüber der metaphysischen Frage von Seele und Körper oder der methodologischen Frage von Analyse und Synthese Stellung zu nehmen.«6 Im Vergleich der Theorien von Descartes und Leibniz wendet sich Sartre Spinoza in eindeutiger Weise zu. Es gäbe nur einen Weg, aus der Verlegenheit, 5 Jean-Paul Sartre: »Die Imagination«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Reinbek bei Hamburg 1997, 97–254. 6 Sartre: »Die Imagination«, 170.

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in die uns die Dualismen von Descartes und Leibniz bringen, herauszukommen, eine Verlegenheit, die darin bestehe, dass es mittels der dualistischen metaphysischen Konzeptionen nicht gelänge, zu erklären, wie es möglich ist, dass Menschen »räsonieren, konzipieren, Maschinen konstruieren, mentale Experimente realisieren usw.«: »Es gibt nur eine einzige Art aus dieser Verlegenheit herauszukommen: nämlich den integralen Parallelismus der Ausdehnungsund Denkmodi akzeptieren. In diesem Fall werden körperliche Affektionen auch dem logischen Denken korrespondieren.«7 Sartre weist jedoch zugleich darauf hin, »daß der integrale Parallelismus nur in der Spinozistischen Metaphysik akzeptabel ist«,8 warnt vor einer Interpretation, die reduktionistisch zu einem Epiphänomenalismus führt, und erläutert: »Man muß also diesen Parallelismus ganz anders verstehen, das heißt, wie Spinoza immer wieder sagt, daß ein Denken durch ein Denken erklärt werden muß und eine Bewegung durch eine andere Bewegung«9 (2p13, E 125 f.; 2p43, E 185). Wie ist also das Zusammenspiel von sensorischen Wahrnehmungen und Denken zu erklären, was ist vorstellendes Denken, was bewusstes Sein, Bewusstsein? Sartres Schlussfolgerungen in Die Imagination münden in die Feststellung, dass die Vorstellung ein Akt sei, kein Ding.10 Die Bewegung des sich fliehenden Für-sich, die in der phänomenologischen Ontologie ausgearbeitete Theorie des Selbstbewusstseins, wird (auch) aus der Auseinandersetzung mit dem Vorstellungsbild entwickelt werden: In Die Transzendenz des Ego greift Sartre die Vorstellung wiederum als Objekt des Bewusstseins auf. Systematisch arbeitet Sartre hier aus, dass Spontaneität und Negation gemäß dem Prinzip der Trägheit nicht aus einem mechanistischen System entspringen können. Er wendet sich in einem nächsten Schritt der Affektenlehre zu und formuliert eine Skizze zur Theorie der Emotionen (1939)11. Diese Arbeit knüpft thematisch evident an die akademische Schrift zum Vorstellungsbild an – Sartre rekurriert hierbei jedoch nicht auf Spinozas Affektenlehre, die Skizze zur Theorie der Emotionen ist als eine Diskussion zum Status quo der Psychologie und zum Status quo der Philosophie als Untersuchung der Emotionen als Phänomene angelegt. Die Untersuchung zu den Emotionen führt zum transzendenten Ich, zum Ausgangspunkt konkreter und subjektiver Moral. Sartres Weiterführung der Ideen Spinozas beziehungsweise deren

7

Sartre: »Die Imagination«, 202. Sartre: »Die Imagination«, 203. 9 Ebd. 10 Vgl. Sartre: »Die Imagination«, 242. 11 Jean-Paul Sartre: »Skizze einer Theorie der Emotionen«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego, 255–322. 8

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kritische Diskussion durchziehen insbesondere die in Anschluss an Das Sein und das Nichts, das die phänomenologische Ontologie vorstellt, verfassten Entwürfe für eine Moralphilosophie,12 nicht immer unter direkter Nennung Spinozas, sondern oftmals auf der Folie zentraler Fragestellungen, die ihren Ausgangspunkt zum Teil explizit, zum Teil implizit bei Spinoza nehmen. Für eine Analyse, wie Sartre Theorien rezipiert, sich von einem Vorbild wie Spinoza, den er für sein (politisch) freies Denken bewundert,13 befreit und eigenständig an die Theoriebildung herangeht, stellt er uns in den Entwürfen für eine Moralphilosophie einen einzelnen, für sich stehenden Satz zur Verfügung: »Wir haben Gedanken aus Stein (zur Hälfte) im Kopf. Nicht sie werden uns helfen, uns zu befreien.«14 Er erläutert die Metapher später an anderer Stelle, in Sartre über Sartre: Die »Gedanken aus Stein« sind Wissensinhalte, vorliegende Ideen, fest gefügte starre Theorien. Ein Theoriegebäude, zusammengesetzt aus Bausteinen, bedarf der Überschreitung des interiorisiert Gegebenen in der Form, dass die Bewegung des Für Sich erkennt, »daß die Ideen Steine sind, daß sie sich in einer starren Ordnung befinden und daß man sich ihrer zum Bauen bedienen muß«.15 Sartre schreibt dies auf der Folie von Reflexionen über das Modell Spinozas – der Bezug zu Spinoza ist an beiden Textstellen gegeben. Im Kontext dieser Textstellen verweist Sartre auf die Gefahr der affirmativen Übertragung des spinozistischen Modells, das Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere auch in Zusammenhang mit der Weiterbearbeitung der Affektenlehre durch Freud von der philosophischen Avantgarde in ihrer Abkehr von idealistischen Modellen und Hinwendung zu Theorien über die Determiniertheit des Menschen 12 Sartre: L’Être et le Neant (frz. Erstausgabe 1943); Sartre verfasst die Cahiers pour une morale vermutlich 1947–1948, begonnen 1939 (vgl. Arlette Elkaim Sartre: »Einleitung«, in: Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 23); Veröffentlichung posthum, frz. Erstausgabe Cahiers pour une morale 1983, dt. Erstausgabe Entwürfe für eine Moralphilosophie 2005. 13 »S. de B.: Sie hatten auch Ideen über die Kontingenz, und das waren philosophische Ideen. Als wir uns kennenlernten, haben Sie zu mir gesagt: ich will Spinoza und Stendhal sein. […] J.-P.S.: […] Spinoza sah ich mehr als Menschen denn als Philosophen. Ich liebte seine Philosophie, aber vor allem liebte ich den Menschen« (Simone de Beauvoir: »Gespräche mit Jean-Paul Sartre. August – September 1974«, in: Simone de Beauvoir: Zeremonie des Abschieds. 8. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2004, 210). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass S. de B. dieselbe Frage dreimal stellt (vgl. Simone de Beauvoir: »Gespräche mit Jean-Paul Sartre«, 171 u. 191), aber erst im dritten Gespräch Sartre hierauf diese – knappe – Antwort gibt. Gegenüber dieser Selbstauskunft Sartres vertrete ich in diesem Aufsatz die These, dass Sartre sehr wohl in tiefer Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik an einer ontologischen Moralphilosophie gearbeitet hat. 14 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 41. 15 Jean-Paul Sartre: »Über Paul Nizan. Was brauchen wir eine Kassandra«, in: ders.: Sartre über Sartre. Reinbek bei Hamburg 1997, 9–55, 25.

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durch Körper, Natur und Realität neu aufgegriffen wurde.16 Im Rückblick auf Paul Nizan grenzt sich Sartre sehr kritisch von einem Denken ab, das in affirmativer Übertragung Theorien aufnimmt. Als Einzelkind war er [Nizan] sich seiner Einmaligkeit zu sehr bewusst, als daß er sich, wie ich es tat, auf die allgemeinen Ideen hätte stürzen können: ein Sklave, kam er zur Philosophie, um sich zu befreien, und Spinoza gab ihm sein Modell an die Hand: auf den ersten beiden Stufen der Erkenntnis bleibt der Mensch unfrei, weil er unvollkommen ist; die Erkenntnis der dritten Stufe sprengt die Bande, die negativen Bestimmungen: es läuft für den Modus auf dasselbe hinaus, ob er zur unendlichen Substanz zurückkehrt oder die affirmative Totalität seines partikulären Wesens verwirklicht.17 Sartre beschreibt die Etappen Paul Nizans, die affirmative Übertragung des spinozistischen Modells im Weg Nizans vom frömmelnden Katharismus, in der Verbindung mit Freud, über den politischen Manichäismus zum Marxismus – das Aufgehen des Einzelnen als Modus in der Objektivität des (materialen) Ganzen. Die Bruchstelle, die Nizan und andere vom Spinozismus zum Kommunismus führt, eröffnet sich als die Ablehnung des Inhalts der Lehrsätze im Fünften Teil der Ethik Spinozas, in denen Spinoza bei entsprechender Erkenntnis und Liebe zu Gott eine Überwindung der Angst vor dem Tod verspricht (5p36, E 579 und 5p38, 585). Sartre dokumentiert: Die Revolution befreite die Menschen von der Lebensangst, sie nahm ihnen nicht die Angst vor dem Tode. […] Enttäuscht verzichtete Nizan für immer auf den alten spinozistischen Traum: er würde niemals die affirmative Fülle des endlichen Modus kennenlernen, der damit seine Schranken zerbricht und zur unendlichen Substanz zurückkehrt. […] Er wollte nicht mehr über sich nachdenken.18 Ebenso wie in der kritischen Reflexion über Paul Nizan und die kommunistische Partei wird vor allem in den Entwürfen für eine Moralphilosophie deutlich, wie sehr die Rezeption Spinozas mit den Denkwegen der frühen existentialistischen Bewegung bis hin zum Marxismus mit der Auseinandersetzung und der Interpretation der spinozistischen Ontologie verknüpft ist. Reflexionen

16 Vgl. zur Wiederentdeckung des Spinozismus und dessen Einfluss auf die französische Philosophie Ende des 19./Anfang des 20. Jh. zum Beispiel Maurice Blondel: »Eine der Quellen des modernen Denkens«, in: ders.: Der Ausgangspunkt des Philosophierens. Drei Aufsätze. Hamburg 1992, 3–39. Sartre rekurriert in seinen Schriften nicht auf Blondel, aber zum Beispiel auf Leon Brunschvicg. 17 Sartre: »Über Paul Nizan. Was brauchen wir eine Kassandra«, 27. 18 Sartre: »Über Paul Nizan. Was brauchen wir eine Kassandra«, 49.

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über die »Versuchung der Objektivität« und die Bedenken zum Auseinanderklaffen der theoretischen Idee und der empirischen Wahrheit, zur Verfehlung der Idee in der Lebenswelt, finden sich sowohl in Sartres Romanen wie auch in anderen philosophischen Schriften. Dass er Spinoza hierbei nicht immer zitiert, sondern frei schreibt – z. B. in Auseinandersetzung mit von Spinoza geprägten Begriffen wie natura naturans und natura naturata, oder Mensch als modus – ist im Stil der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gängige Methode.19

2. Spinoza und Sartre. Dialektische Überschreitungen Sartre verwehrt sich also sehr offensiv gegen die Vorstellung, eine gegebene Theorie könne als Theoriegebäude wahr sein und lehnt den in der École Normale Supérieure vermittelten philosophischen Kanon ab. Er möchte frei sein, frei denken20 – und benützt ebenfalls ein theoretisches Geländer – eines, das ihm Husserl und Heidegger zur Verfügung stellen: die Phänomenologie. In Weiterführung der in Die Imagination begonnenen Auseinandersetzung mit der idea ideae Spinozas (2p21s, E 153) verortet er diese in der Einleitung seiner phänomenologischen Ontologie als infiniten Regress21 und verdeutlicht die Problematik eines Substanzbegriffs, in dem das Geschöpf im Schöpfer aufgeht, als Substanzbegriff eines nicht haltbaren Rationalismus. Seine Kritik an Descartes präzisiert Sartre mit Spinoza, das heißt in der Zuspitzung des cartesianischen Substanzbegriffs, die er bei Spinoza verortet: »die kartesianische Lehre von der Substanz findet ihre logische Vollendung im Spinozismus«.22 Diese im Spinozismus verortete »logische Vollendung der cartesianischen Lehre von der Substanz« wird von Sartre im weiteren Argumentationsgang als 19 Vgl. die Ausführungen Traugott Königs: »Auf Grund seiner philosophischen Ausbildung im Paris der zwanziger Jahre war Sartre mit Philosophen vertraut, die – abgesehen von Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant und Bergson – bei uns so gut wie unbekannt sind. Wenn er Autoren zitiert oder paraphrasiert, so tut er das meist aus dem Gedächtnis und – bei Husserl wurde schon darauf hingewiesen – in interpretierender Weise. Dieser in Frankreich verbreitete unakademische Umgang mit evozierten Texten, der auch Mißverständnisse, Irrtümer und falsche Erinnerungen nicht ausschließt, erwies sich bei Sartre – doch nicht nur bei ihm – als außerordentlich produktiv.« (Traugott König: »Zur Neuübersetzung«, in: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 8. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002, 1087) 20 Vgl. zum Beispiel Jean-Paul Sartre: »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego, 33–38. 21 Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 20 f. 22 Sartre: Das Sein und das Nichts, 31. Vgl. auch Sartre: »Die Imagination«, bes. 104 f.

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wesentliches Moment zur Erhellung der Nicht-Haltbarkeit des cartesianischen Substanzbegriffs herangezogen. Die Metapher Sartres zu Theoriegebäuden und ihren Bausteinen mag daher der Schlüssel sein zu einem hermeneutischen Zirkel, der die Methode der Theoriebildung und die ihr inhärierende Idee der Dialektik des historischen Materialismus in einem sehr einfachen Bild erschließt. Im Rückblick wird er später sagen: »Es gibt verschiedene Gestalten der dialektischen Realität, und jede ist völlig bedingt durch die vorausgehende, die sie zugleich in sich aufbewahrt und überschreitet. Und eben dieses Überschreiten ist nicht reduzierbar. Niemals kann eine Gestalt auf die vorausgehende reduziert werden.«23 Dieses Denken des dialektischen historischen Materialismus bildet sich in der dialektischen Auseinandersetzung Sartres ab: In sehr intensiver Form zitiert er vor allem Marx, Hegel und Heidegger, die historisch bereits die vorgängigen Theorien interiorisiert und bearbeitet haben. Jeweils an entscheidenden Wegmarken wendet sich Sartre jedoch reflexiv an Spinoza, wenn er die allgemeinen Ideen Spinozas selbst heranzieht, wie sich im close reading der Entwürfe für eine Moralphilosophie eröffnet: Die Fragen nach Gott, Schöpfung und causa sui, nach der Natur, nach dem Menschen als Modus,24 nach Notwendigkeit versus Kontingenz, nach Freiheit, Bedingtheit und den Möglichkeiten beziehungsweise der Verantwortung des Menschen. Das Denken Jean-Paul Sartres erscheint an manchen Stellen als Vexierbild, in zentralen Fragestellungen in dialektischer Negation gespiegeltes Spiegelndes zum Denken Spinozas.25 Die intensive Auseinandersetzung mit dem

23 Jean-Paul Sartre: »Sartre über Sartre«, in: ders.: Sartre über Sartre. Reinbek bei Hamburg 1997, 163–187, 169. 24 Hervorhebungen (Blockschrift: im Folgenden als Kapitälchen, Kursivsetzungen: gemäß der Schreibweise Sartres) in Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie. 25 Am Anfang der Entwürfe für eine Moralphilosophie, in denen Sartre nach einer Begründung einer ontologischen Moralphilosophie ohne einen metaphysischen Gott sucht, verwirft Sartre die Sittlichkeit als metaphysischen Seinsmodus, der notwendig erreicht werden muss, und stellt an das Ende den Entwurf einer ontologischen Moral, in der der Mensch aus sich selbst heraus in der Konversion das Gute als Mensch für Menschen will. Strukturell handelt es sich somit um einen Gegenentwurf – eine Negation – der Ethik Spinozas, die mit der Setzung Gottes beginnt und in die Freiheit des Menschen als Geschöpf Gottes, der diesen notwendig lieben muss, mündet (Fünfter Teil, bes. 5p14–5p20, E 555–559). In dialektischer Negation wendet sich Sartre gegen eine Ethik, die erstens als Notwendigkeit (Determiniertheit) formuliert wird, die zweitens in einer innerhalb der Gesetze seiner eigenen Natur und Notwendigkeit nicht freien metaphysischen Substanz (= Gott) aufgeht: »Solange man an einen Gott glaubt, steht es einem frei, das Gute zu tun, um moralisch zu sein. Die Sittlichkeit wird zu einem bestimmten ontologischen und sogar metaphysischen Seinsmodus, den wir erreichen müssen. […] Die Sittlichkeit muss sich auf ein Ziel hin überschreiten, das sie nicht selbst ist. […] Sie

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Denken Spinozas entbirgt sich eingewoben in den Denkweg Sartres, und aus den Bausteinen der allgemeinen Ideen entwickelt Sartre für sich ein Denken. Für die Interpretation bleiben folgende Aspekte wesentlich: Jede (der beiden) Theorie(n) ist nur aus sich selbst heraus zu begreifen. Der Gesichtspunkt, dass es zulässig sei, ja geradezu der epistemisch erforderliche Weg, allgemeine Ideen als Bausteine – als Objekte des Denkens – und Erkenntnis als Bewegung, als Prozess, zu begreifen, und, indem allgemeine Ideen zueinander in Beziehung gesetzt werden (können), geschlossene Theoriegebäude zu verlassen (verlassen zu können), ist Teil von Sartres Begründungsgang. Diese Position grenzt sich jedoch deutlich ab gegenüber jenen, die nur in sich geschlossene Theorien als wahr akzeptieren, ist somit für sich selbst eine bestimmte Position, warnt vor affirmativer Anwendung – und lässt zugleich Inner- und Interdisziplinarität zu.

3. Spinoza und Sartre. (Be-)Deutungen. Von der Existenz sub specie aeternitatis zum Dasein (réalité humaine) Die theoretische Herangehensweise in der Theoriebildung Spinozas korrespondiert der mathematischen Methode in den Naturwissenschaften. Wiewohl im ersten Schritt – in der Setzung Gottes als Substanz – induktiv, geht Spinoza in der Folge nach geometrischer Methode deduktiv vor und postuliert kausale Naturzusammenhänge. Trotz der logisch-mathematisch komponierten Darstellung räumt Spinoza den Anmerkungen, den narrativen Erläuterungen der Definitionen, Propositionen und Axiome im jeweiligen Scholium breiten Raum ein. Damit der vernunftbegabte Mensch mathematisch-logische Schlüsse, die sein Wesen und Erkenntnisvermögen direkt affizieren, verstandesmäßig erfassen kann, bedarf es mehr als der geometrischen Formel. Auch die im Schriftwechsel umfangreich narrativ formulierten Explikationen werden heute noch herangezogen, um die Bedeutung der Aussagen zu verstehen.

muss Wahl der Welt sein, nicht Wahl ihrer selbst.« (Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 17) Während also Spinoza von einem metaphysischen Gott ausgeht, der sich selbst liebt (»Gott liebt sich selbst mit einer unendlichen geistigen Liebe«, 5p35, E 579; vgl. auch 5p36, E 579; 5p42, E 593), ist es Sartres Intention, eine ontologische Moral zu entwerfen, die nicht über Gott begründet ist, der Mensch muss die Menschen lieben: »der Mensch muß sich selber wiederfinden und sich davon überzeugen, daß nichts ihn vor sich selbst retten kann, und sei es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.« (Jean-Paul Sartre: »Der Existentialismus ist ein Humanismus«, in: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002, 145–192, 176)

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Spinoza hatte Geist und Körper in einem ersten Schritt als untrennbar in ihrer existentiellen Wahrnehmung verortet, er hält fest: »daß der Mensch aus einem Geist und einem Körper besteht und daß der menschliche Körper, so wie wir ihn empfinden [wirklich] existiert« (2p13c, E 125; vgl. auch 5p21, E 565), und nimmt in Hinblick auf den Tod eine Deutung vor, die zum einen schlüssig aus der eingangs getroffenen Grundannahme einer ewigen, unendlichen Substanz abzuleiten ist, zum anderen aber den allgemein nach christlicher Lehre üblichen Vorstellungen eines »Lebens nach dem Tode« nicht entspricht: Mit Endlichkeit der materiellen Existenz ist zwar zugleich eine anteilige Unendlichkeit für den Geist anzunehmen, dieser wird sich aber nicht mehr an seinen Körper, seine Existenz erinnern, insofern eben diese körperhaft, nicht Teil des Geistes sind. Es verbleibt – so auch die existentialistische Kritik – lediglich leere Objektivität. Die Glückseligkeit und Freiheit desjenigen (unendlichen) Teils des Geistes, der wieder in die Substanz eingehe, definiert Spinoza unter dem Aspekt der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) innerhalb einer Beweisführung zur Notwendigkeit der Liebe zu Gott und den Menschen (5p36), und die Erkenntnis als Essenz, die durch physisches Leiden (= Affekte) und (Angst vor dem) körperlichen Tod unangefochten bleibe: »Je mehr Dinge der Geist in der zweiten und dritten Erkenntnisgattung einsieht, umso weniger erleidet er von Affekten, die schlecht sind, und umso weniger fürchtet er den Tod« (5p38, E 585). Die gemäß Spinoza anzustrebende dritte Erkenntnisebene (5p25, E 569) als Liebe zu Gott zu denken und als metaphysisch-unendlichen Teil des Geistes zu verorten, der nicht mit dem Körper stirbt (5p23, E 565), kann im Realismus der Vorkriegszeit, des Krieges und des Phänomens der Todesangst, von den Existentialisten nicht mehr mitgedacht werden; das bewusste Erleben der Gegenwart und das Nachdenken darüber mündet in einer Absage an Spinozas Idee der Glückseligkeit und Freiheit, die die Angst vor dem Tod überwinde. Die phänomenologische Perspektive bricht mit dieser Festlegung Spinozas, die im 20. Jahrhundert, das in zwei Weltkriegen vom Phänomen der Angst, des Hasses, von menschlicher Grausamkeit, Wut und Schrecken beherrscht wird, als metaphysische Abstraktion weitab von der Wirklichkeit einer Lebenswelt wahrgenommen wird. Wenn nun Sartres Herangehensweise eine völlig andere ist und er auch auf den Unterschied zwischen empirischer Forschung in der Psychologie und phänomenologischer Forschung in der Philosophie hinweist, so erkennen wir zum einen im Ausspruch »zu den Sachen selbst«26 das empirische Fundament und die Ablehnung jeglicher Metaphysik, die Negation der Metaphysik, die die Immanenz Gottes als logische Voraussetzung postuliert; zum anderen erschöpft sich aber die Aufgabe der Phänomenologie nicht in Er26

Jean-Paul Sartre: »Skizze zu einer Theorie der Emotionen«, 268.

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fassung und Beschreibung der Fakten, sondern ist ausgerichtet auf die Untersuchung der Phänomene, in der Hinterfragung der Bedeutung. Die Intention Sartres ist es, das Konkrete phänomenologisch zu erfassen. Nicht metaphysisch soll der Zugang sein, die Hinterfragung des Seins geht vom Menschen aus, beginnt im Hier und Jetzt, um schließlich nach der transphänomenalen Bedeutung zu fragen. Die grundlegende Richtung seiner Forschung im Bereich der Ontologie, Ethik und Anthropologie hatte Sartre bereits zu Beginn seiner Untersuchungen angekündigt: »draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen. Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen.«27 In Abkehr von der Vollkommenheit eines immanenten Seins umkreist Sartre Spinozas Theorie zum göttlichen ens causa sui und zur Existenz des Menschen als Modus: »Wie man bei Spinoza sieht: die unlösbare Schwierigkeit besteht darin, vom Sein zu den Modi überzugehen.«28 Die Unvollkommenheit der Modi, deren Heil darin liege, zur Substanz zurückzukehren, blendet die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen und deren Selbstverantwortung im weltlichen Handeln aus, so Sartre. Er wirft die Frage auf, die das Handeln des Menschen in dieser unserer endlichen Welt betrifft: Die Möglichkeitsbedingungen einer Freiheit des Menschen, die nicht zur Notwendigkeit einer Substanz, aus der der Mensch als Modus nur ein abgeleitetes Existierendes ist, zurückgeführt wird – und einer daraus resultierenden Eigenverantwortung, gesetzt der Mensch sei frei –, ontologisch zu untersuchen und zu begründen, ist Kernelement der phänomenologischen Betrachtung Sartres. In dialektischer Abkehr von Spinozas deus sive natura schockiert Sartre mit Überlegungen zum Menschen als causa sui, mit Überlegungen zur schöpferischen Freiheit des Menschen, zur Natur des Menschen und der Bedeutung des Selbstverständnisses des Menschen: »Der Mensch will Gott oder Natur sein«,29 um letztlich darauf hinzuweisen: Der Mensch ist causa sui in dem Sinne, dass er eigenverantwortlich seine Lebenswelt gestaltet. Die metaphysische Überhöhung des Geistes, die Spinoza in der mystischen Begründungsfigur eines ewigen menschlich-göttlichen Geistes »sub specie aeternitatis« einführt, holt Sartre, Gespiegeltes spiegelnd, in der Ausarbeitung des schöpferischen Menschen ein. Der Mensch ist für sich selbst causa sui, der Ort seines Wirkens ist die Lebenswelt. Krieg, Leid, Hunger und Mangel werden hierzu von Sartre immer wieder thematisiert. Der Entwurf der onto27 Jean-Paul Sartre: »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität«, 37. 28 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 907. 29 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 45.

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logischen Moral überrascht nicht – die doppelten Negationen münden bezogen auf das Handeln des Menschen in dieselbe logische Möglichkeit: Der authentische Mensch Sartres handelt in nicht-komplizenhafter Reflexion – dann ebenso wie Spinozas Mensch auf der Ebene der dritten Erkenntnisgattung – sittlich und gut. Während also Spinozas Ethik in geometrischer Methode mit der Setzung Gottes beginnt und die Macht des menschlichen Verstandes abschließend mit Gott begründet wird (5p14 ff., E 555), diskutiert Sartre in den Entwürfen für eine Moralphilosophie den Menschen unter Ausblendung der von Spinoza vorgenommenen metaphysischen Voraussetzungen, stellt ebenfalls die Frage nach Gott an den Beginn und stellt dem Gott, der Substanz Spinozas, letztlich im Entwurf einer ontologischen Moral den Menschen als causa sui gegenüber, und überantwortet damit dem Menschen die Verantwortung für die Gestaltung seiner Lebenswelt. In Unterscheidung zu einer unendlichen Möglichkeit verschiedener Abfolgen, die jedoch in ihrer Gesamtheit einer gottgewollten beziehungsweise aus der Natur Gottes folgenden determinierten Notwendigkeit unterliegen, wodurch sich die Zukunft als verkettete Abfolge von Naturnotwendigkeit ergebe, hält er fest: »In Wirklichkeit gibt es eine Vielheit der Strukturen der Zukunft. Die Zukunft ist der Entwurf meiner Freiheit insoweit dieser Entwurf einen Weg in eine bereits gefügige Welt skizziert. Aber sie ist unter diesem Entwurf auch die permanente Möglichkeit für meine Freiheit, im Verhältnis zu diesem Entwurf andere zu sein (sich zu ändern).«30 Die Freiheit ist der Riss im Sein, aus dem Neues nur entspringen kann. Entgegen einer notwendigen Verkettung postuliert Sartre daher eine notwendige Freiheit. Nur dann, wenn der Mensch selbst dieser Riss im Sein ist und nicht Teil einer determinierten geometrischen Folge, ist er frei; hieraus ergibt sich in stringenter Konsequenz ein rigides Postulat: Ist der Mensch frei, dann ist er auch verantwortlich für sein Handeln und die im Handeln von ihm gesetzten Werte – sowie in der authentischen Reflexion ausgerichtet auf positives Sein und nicht auf Zerstörung. Sartre widerspricht Spinozas Postulat eines notwendigen Heils, und dass nur das Gute oder gerade das Gute einer Anstrengung bedarf (5p42s, E 595), insofern gerade verbrecherische oder zerstörerische Handlungen großer Anstrengung bedürfen.31 In drastischer Rigidität, die in Hinblick auf die moralische Eigenverantwortung des Menschen diejenige Spinozas übersteigt, weist er im Zusammenhang mit dem Begriff der menschlichen Freiheit immer wieder auf diese Eigenverantwortung des Menschen hin. Im Fokus stehen Selbstentwurf und Wahl des Menschen: Wahl seiner selbst, Wahl der Welt. Sartre führt 30 31

Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 727. Vgl. Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 966 f.

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aus: »Anders gesagt, es hängt vom Menschen ab, ob er das Reich der Zwecke hervorbringt, oder die unmittelbare Gesellschaft der Ameisen.«32

II Spinoza und Sartre. Existenz – Affekte – Willensfreiheit 1. Kontingente Existenz Spinoza führt schlüssig von der Vollkommenheit des Ganzen, von der Substanz, zur Unvollkommenheit des Einzelnen, der nicht seine eigene Ursache ist, daher auch seine Existenz nicht selbst bestimmen kann. Die nicht-notwendige Existenz des Einzelnen wird in der ersten auf den Menschen bezogenen Feststellung als Definition zum Menschen, zum Wesen des Menschen, festgehalten. Die Kontingenz der Existenz des Einzelnen wird von Spinoza mathematisch gefolgert und in spektakulärer Klarheit formuliert: »Die Essenz des Menschen schließt nicht notwendige Existenz ein; das heißt nach der Ordnung der Natur kann es gleichermaßen geschehen, daß dieser oder jene Mensch existiert, wie daß er nicht existiert« (2a1, E 101). Diese Nicht-Notwendigkeit des Einzelnen entbirgt die Gefahr der Objektivierung der Masse, die Gefahr des Aufgehens in gesichtsloser Menge; Sartre notiert in den Cahiers scheinbar zusammenhanglos: »Die Versuchung der Objektivität: Spinoza und die Stalinisten: alles objektivieren. Um das Bewusstsein der anderen und letztlich das eigene abzuschaffen«.33 Für ein Kollektiv, das nach Naturgesetzen steuerbar ist, ist der Einzelne ohne Bedeutung. Was aber bedeuten die Natur und die Notwendigkeit einer Substanz, »die Substanz und das unendliche Objekt, das alles Denken und alle Wirklichkeit umschließt«,34 für den Modus, für die Freiheit der Substanz, für die Freiheit des Modus? Immer wieder greift Sartre die Frage nach dem absoluten (Bewusstsein des) Einzelnen auf, und die Bedeutung von Notwendigkeit versus Kontingenz. Sartre bleibt nicht bei der Feststellung, dass der Mensch »nicht notwendig existiert«, er fokussiert auf Kontingenz als existentialen Ausgangsort des Einzelnen. Was bedeutet die Kontingenz für den Menschen – dies ist die phänomenologische Frage, die Sartre aufwirft. Die Erfahrung der Kontingenz – die Grundlosigkeit seines eigenen Daseins zu begreifen – ist schmerzhaft, sie fällt zusam32

Jean-Paul Sartre: »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis«, 314. Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 41. 34 Charakterisierung des Spinozismus zitiert nach Maurice Blondel: »Eine der Quellen des modernen Denkens«, 9. 33

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men mit der Erfahrung der Endlichkeit, ist direkte und gefühlte Erfahrung der Existenz. Das Erfahren der Kontingenz wird zugleich zum Ausgangspunkt der Überschreitung. Die Zufälligkeit zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur, in einem bestimmten einzelnen Körper verhaftet, geboren zu sein, ist die Kontingenz der Existenz, die als Kontingenz zugleich notwendig ist, um sowohl Zufälligkeit als auch Determiniertheit zu überschreiten: Wenn das Bewusstsein aufhört, seine tiefe Struktur zu bedauern, wird es seine Notwendigkeit inmitten seiner Grundlosigkeit erreichen. Es ist nicht notwendig, dass es existiert, aber es ist notwendig, dass dies nicht notwendig ist: es ist nicht notwendig, dass es diesen Gesichtspunkt hat, aber es ist notwendig, dass es einen Gesichtspunkt hat, und dass dieser Gesichtspunkt nicht notwendig ist. Das Bewusstsein seiner Grundlosigkeit wird somit das Bewusstsein der Notwendigkeit dieser Grundlosigkeit umschließen.35 Die sowohl historische als auch biologische Kontingenz, in dieser bestimmten physischen, sozialen und zeitlichen Faktizität in der Welt zu sein, als nicht notwendige und dennoch mögliche wie faktische Bestimmung des Menschen, ist zugleich notwendige Voraussetzung für seine Autonomie: Auf ontologischer Ebene wird bei Sartre die Kontingenz die Bedingung der Freiheit. Nur ein kontingentes – nicht notwendiges – Bewusstsein kann autonom sein; das Bewusstsein existiert seinen Körper. Der Körper wiederum ist »keineswegs eine kontingente Zutat zu meiner Seele, sondern im Gegenteil eine permanente Struktur meines Seins und die permanente Möglichkeitsbedingungen meines Bewußtseins als Bewußtsein von der Welt und als Entwurf, der auf meine Zukunft hin transzendiert«.36 Ein Bewusstsein ohne Gesichtspunkt hätte keine Möglichkeiten. Sich anzunehmen, mit diesem Körper, in dieser Zeit, sich auf sich zu nehmen, bedeutet, die Kontingenz auf sich zu nehmen, wodurch die Freiheit die notwendige Bedingung der Existenz über die Kontingenz gewinnt und zugleich gründet: Dieser Körper, diese Augen, dieses Geschlecht, diese Nationalität verleihen mir zugleich in ihrer Grundlosigkeit die Bedingung meines Existierens und sind meine Möglichkeiten, zugleich ist aber meine Freiheit der Zweck genau dieses bestimmten Körpers und dieser Unwissenheit – »meine Freiheit [hat] ein Gesicht:« Sie ist dieser Handlungsentwurf in der Welt, mithin dieser Körper, diese Unwissenheit und diese Gefahr. Gleichzeitig aber geht meine für sich selbst in der Transparenz der absoluten reflexiven Wahl existierende Kontingenz

35 36

Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 856. Sartre: Das Sein und das Nichts, 580.

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zum Absoluten über. Die Kontingenz verwandelt sich in Autonomie. Kontingent war ich, weil ich mich von keiner Notwendigkeit ableiten konnte. Wenn ich aber von einer Notwendigkeit abgeleitet wäre, könnte ich mich nicht auf mich nehmen, denn ich wäre eben durch diese Notwendigkeit streng definiert. Mein Sein wäre relativ zu dieser Notwendigkeit.37 Kontingenz ist mit einer Anthropologie, die den Menschen als Gottes Geschöpf versteht, dessen je einzelnes Schicksal von einem Gott gelenkt, von einem Gott gewollt oder durch einen Gott determiniert ist, nicht kompatibel. Kontingenz ist notwendige Bedingung für Freiheit, denn nur ein Wesen, das kontingent – nicht determiniert ist – kann frei sein, so Sartre. Sartre definiert den Menschen als Freiheit, die Formulierung, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, verweist jedoch ebenfalls auf eine – andere – Notwendigkeit: Der Mensch kann es sich nicht aussuchen, frei oder determiniert zu sein, er ist entweder frei oder determiniert; wenn er aber frei ist, dann ist er somit »zur Freiheit verurteilt«. Und diese Freiheit hat eine Endlichkeit, eine Verletzlichkeit, ein Gesicht, eine Gestalt – eine Begrenzung. Wir blicken in den spinozistischen Spiegel. Der einzelne Körper, der Anteil am Ganzen der Natur hat, und zugleich Gegenstand des Geistes ist, unterliegt einer Begrenzung: er hat eine Gestalt. Spinoza eröffnet den Diskurs zu Gestalt, Grenze und Negation: [W]er nämlich sagt, daß er eine Gestalt begreife, der zeigt eben damit an, daß er ein begrenztes Ding und in welcher Art es begrenzt ist, begreift. Diese Bestimmung bezieht sich also nicht auf die Sache, soweit ihr Sein in Frage kommt, im Gegenteil bedeutet sie gerade ihr Nichtsein. Da also Gestalt nichts anderes ist als Bestimmung und Bestimmung Verneinung, so wird sie wie gesagt nichts anderes sein können als eine Verneinung. (Ep. 50, 210) Spinoza spricht an dieser Stelle im Brief an Jarig Jelles explizit von der Abgrenzung der materiellen Dinge – die er als Attribute der Ausdehnung fasst. Ebenso hatte er bereits in der 2. Definition im Ersten Teil der Ethik darauf hingewiesen, dass ein Denken jeweils durch ein anderes Denken begrenzt ist. Parallel zu den Grenzen, die der Körpergestalt zugewiesen werden, sind Grenzen zwischen adäquaten und inadäquaten Ideen auf Ebene der Affekte eingezogen beziehungsweise wird das Ziel der Affektenlehre darin münden, dass es die Aufgabe des Geistes ist, die adäquaten Ideen von den inadäquaten Ideen zu unterscheiden, Grenzziehungen durch den Verstand vorzunehmen, durch die Tätigkeit des Geistes auf eine höhere Erkenntnisebene zu gelangen. Hier ist wiederum dem Geist eine Grenze durch seinen Körper gesetzt: 37

Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 857.

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Und in der Tat, wer wie ein Kleinkind oder Kind, einen Körper hat, der zu sehr wenigem befähigt ist und in sehr hohem Maße von äußeren Ursachen abhängt, hat einen Geist, der, allein in sich betrachtet, von sich, von Gott und von den Dingen nahezu nichts weiß; wer andererseits einen Körper hat, der zu sehr vielem befähigt ist, hat einen Geist, der, allein in sich betrachtet, von sich, von Gott und von den Dingen sehr viel weiß. (5p39s, E 587) In Verbindung mit den Festlegungen, dass es das natürliche Streben (conatus) des Menschen sei, auf die dritte Erkenntnisebene des Geistes zu gelangen, wozu es aber, wie mehrmals ausgeführt, eines entsprechend fähigen Körpers bedarf, stehen wir vor irritierenden empirischen Grenzen in Hinblick auf die behauptete immanente Vollkommenheit des Seins. Die Ausblendung des Mangels an Möglichkeiten von Menschen, die durch kontingente biologische Determiniertheit, von außen verursachte soziale, kulturelle oder politische Rahmenbedingungen oder Ereignisse irreversible Zerstörungen des Körpers erleiden, denen im Streben zur geistigen Vollendung äußere Grenzen gesetzt sind, verbleibt als nicht nachvollziehbare Leerstelle. Die Gestalt, die Form, ist zugleich die Grenze, die Bestimmung, die seine Unendlichkeit negiert: Spinozas Diktum determinatio est negatio ist zentrales Moment der Überlegungen Sartres, mit dem er von der Kontingenz des Einzelnen zur Absolutheit des Einzelnen in je absoluter Gestalt führt. Sartre nimmt vorerst eine dialektische Umkehrung vor: »So könnten wir in Umkehrung der Formel Spinozas sagen, daß jede Negation Bestimmung ist. Das bedeutet, daß das Sein früher ist als das Nichts und es begründet. Das heißt nicht nur, daß das Sein gegenüber dem Nichts einen logischen Vorrang hat, sondern auch, daß es das Sein ist, von dem das Nichts konkret seine Wirksamkeit herleitet.«38 In der Folge führt er jedoch über die Negation der Negation zur Negativität, die den Kern der phänomenologischen Ontologie bildet, in dialektischer Argumentation zum Dasein (réalité humaine) führend. Das Nichts ist nicht außerhalb des Seins, nicht nach dem Sein, sondern im Sein selbst, ein dem Sein selbst Inertes, Offenes. Zuerst bei Hegel ansetzend, verwirft er die Negation der Negation als Freiheit, die in einem Außen des determinierten Seins zu suchen wäre; ebenfalls verwirft er die (apersonale) Nichtung Heideggers und führt zum Menschen. Es ist der Mensch, der fragt, der nach einem Nichts fragt. Der Mensch ist das Sein, durch das das Nichts – die Frage nach dem Nichts – etwa in der Angst, in der Angst vor der Endlichkeit – in die Welt kommt. Damit der Fragende die Möglichkeit hat, sich von den Kausalreihen zu lösen, die das Sein konstituieren und die nur Sein hervorbringen können, muss er sein eigenes Nichts sein. Diese Überlegungen münden in eine neue ganzheitliche Theorie, die die Nega38

Sartre: Das Sein und das Nichts, 70.

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tivität ontologisch aktiv einbezieht: »Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, in dem es in seinem Sein um das Nichts seines Seins geht: das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, muss sein eigenes Nichts sein.«39 Hieraus ist die Definition des Für-sich abzuleiten, die die Bewegung des Für-sich begreiflich machen soll als eine transzendente und zugleich reflexiv an das An-sich gebundene Bewusstseinsstruktur. Das Für-sich ist, was es nicht ist und ist nicht, was es ist. Der Mensch ist Freiheit, Offenheit innerhalb der Seinsfülle, Bezug zum Sein selbst. Dies führt Sartre letztlich zu der Feststellung: »Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem ›Freisein‹.«40 Unabdingbar bedarf es hierzu eines Bewusstseins: Das Bewusstsein ist ein Sein, dessen Existenz die Essenz setzt.41 Die menschliche Realität ist diese Welt, die Existenz in dieser Welt. Über die Frage nach der Mensch-Welt-Relation erarbeitet Sartre einen existenzphilosophischen Transzendenzbegriff: Der Mensch ist selbst die Beziehung zur Welt, ist Faktizität und Transzendenz. In der Transzendenz setzt sich der Mensch als Freiheit unentwegt in Beziehung zur Welt, trifft eine Wahl. Sartre setzt die Transzendenz, die Freiheit des Noch-nicht-Seienden, das Unbestimmte, phänomenologisch der Immanenz, dem bestimmten Seienden, entgegen. Wenn Sartre immer wieder in phänomenologischer Weise aufgreift: »Das was nicht ist, bestimmt das, was ist«42 – negatio est determinatio –, so erläutert er hiermit etwa den Mangel. Die Transzendenz gibt uns die Möglichkeit, diesen Mangel zu denken, eine Wahl zu treffen. Menschen werden geboren, leben, sterben. Der Mensch ist nicht sein eigener Seinsgrund, seine eigene Ursache. Und doch, der Einzelne hat Bedeutung, ist Bedeutung.

2. Affekte, menschliche Macht und Ohnmacht. Affirmation. Negation. Spontaneität Der Körper wird affiziert von äußeren und inneren Erregungen: Reflexe, Triebe, Emotionen – Affekten. Spinoza benennt drei primäre Affekte: Lust, Unlust und Begierde (der bewusste Trieb), alle weiteren als Affekte benannten Affektionen des Körpers und des Geistes sind nach Spinoza Modifikationen, die sich aus diesen drei primären Affekten bilden lassen. Das Naturhafte, die Vermin39 40 41 42

Sartre: Das Sein und das Nichts, 81. Sartre: Das Sein und das Nichts, 84. Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 36. Sartre: Das Sein und das Nichts, 185.

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derung oder Steigerung der Handlungsfähigkeit des Menschen und das bewusste Streben nach etwas, stehen jeweils in Bezug zu äußeren oder inneren Ursachen. Durch diese »Affektionen des Körpers« werden Körper wie Geist gehemmt oder gefördert – positive Affekte fördern, negative Affekte hemmen, vermindern sowohl das Tätigkeitsvermögen des Körpers wie auch der Geist beeinträchtigt wird. Affektionen, die auf uns einwirken, deren Ursache wir nur in partialem Sinn sind, bewirken ein Leiden, Ideen, die der Mensch als »adäquate Begriffe« bildet (Ideen, deren Ursache er selbst ist), affizieren ihn ebenfalls, sind Affekte, die aus einem Tätigsein des Geistes hervorgehen. Aus den zahlreichen Beispielen jenes herausgegriffen, das Spinoza am intensivsten diskutiert und hin und her wendet, sind es die gegensätzlichen Affekte von Liebe und Hass, die jeweils mit der »Idee einer äußeren Ursache« verbunden sind (3p13s, E 249). Diese äußeren Ursachen müssen allerdings nicht zwangsläufig selbst wirkende Ursache sein. Spinoza baut ebenfalls die Assoziation als Akzidens in die Darstellung ein, wie sich Affekte bilden (3p17, E 255). In Verbindung mit dem Grundprinzip, dass alle Dinge das Bestreben haben, in ihrem Sein zu verharren, hätte der Mensch keine Möglichkeit, der Knechtschaft der Affekte, einer Determinierung durch Eindrücke, die seinen Körper, seinen Geist affizieren, zu entkommen. Diese Möglichkeit eröffnet sich jedoch in der Negation des Affekts (4p7, E 393 und 4p7c, E 395). Der entgegengesetzte Affekt bewirkt eine Tilgung des ursprünglichen Affekts: Wenn Spinoza im Dritten Teil über die Natur des Affekts postulierte, »Haß wird über Erwiderung von Haß vermehrt und kann andererseits von Liebe getilgt werden« (3p43, E 299), zeigt er im Vierten Teil menschliche Macht und Ohnmacht auf, erläutert, dass nur auf Ebene der reflektierten Affektion und im Erkennen des Guten und des Schlechten die Determiniertheit durch tätige Begriffsbildung und somit durch den Verstand überwunden werden kann, somit die Vernunft über ein Regulativ verfügt – und es das aus der Natur des Menschen folgende notwendige Ziel sei, daran zu arbeiten. Mit tristitia kategorisierte Affekte (passive Affektionen der Unlust wie Angst, Ekel, Hass) sind lediglich »verworrene Ideen« – negative Vorstellungen, die den Menschen affizieren und in seiner Tatkraft hemmen. Sartre bejaht, um zu negieren: »Der ethische Rationalismus hat Recht, wenn er die inneren Gemütszustände zurückweist, wenn sie Hindernisse für die Handlung sind; er hat Unrecht, wenn er sie lediglich als Launen betrachtet, das heißt als rein subjektive Erregungen, die nur zu Illusionen über das Sein führen. Alles ist wahr.«43 Sartre nimmt Gefühle – Affektionen – wie Ekel und Angst als Einstieg in die Erfahrung der Kontingenz auf. Wahrhaft frei ist der Mensch, der die Notwendigkeit seiner Grundlosigkeit erkennt, sich in seiner Grundlosigkeit und Kon43

Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 849 f.

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tingenz annehmend diese überschreitet. Dieses Überschreiten ist nur möglich, wenn aus der negativen Affektion eine Handlung des Geistes erfolgen kann. Wäre aber die negative Affektion lediglich Passivität, ein Bild, eine Illusion, wäre eine Spontaneität des Denkens, die für dieses Überschreiten erforderlich ist, gemäß dem Prinzip der Trägheit – wenn es sich um eine kausale Verkettung von Objekten handelte (wie in der Abhandlung über die Vorstellung als Passivität und als Ding bereits diskutiert) – diese Aktivität nicht erklärbar. Spinoza hatte wohl festgehalten, dass jeder die Möglichkeit habe, seine Affekte zu erkennen; gleichzeitig sei das Leiden (= passive Wahrnehmung auf Ebene des Körpers zum Unterschied von aktivem Denken auf Ebene des Geistes) beseitigt, wenn der Affekt als solcher erkannt ist: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden« (5p3, E 537), und führt über die Affirmation der »adäquaten Ideen«, nach denen der Mensch notwendig strebt, wodurch die inadäquaten Vorstellungen vernichtet – negiert – werden, zur Überwindung der negativen Affekte beziehungsweise der menschlichen Freiheit. Wie ist dies allerdings mit dem Prinzip der Trägheit vereinbar? Dem mathematischen Prinzip folgend hatte Spinoza postuliert: »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren« (3p6 f., E 239). Spontaneität, die für eine freie aktive Tätigkeit des Geistes erforderlich wäre, kann nach Sartre nicht aus einem immanenten, in sich geschlossenen und dem mathematischen Prinzip der Trägheit folgenden System – der von der natura naturans geschaffenen natura naturata – entspringen. Spontaneität, ein SichEntreißen aus der Trägheit, ist vielmehr ein Riss im Sein, der nicht aus dem Sein selbst – einer natura naturata, die dem physikalischen Gesetz der Trägheit unterliegt – erfolgen kann. Spontaneität ist Freiheit, die aus dem Nichts erfolgende Negation des Systems. Sartre greift Affirmation und Negation über das physikalische Prinzip der Trägheit auf, um wiederum auf die Freiheit als notwendige Bedingung für eine aktive Bewegung des Für-sich, das sich der Klebrigkeit entreißt, aufmerksam zu machen: Man wirft Sein und Nichts vor, überhaupt nicht von der Affirmation zu sprechen. Es geht nicht darum sie zu leugnen, sondern sie an ihren Platz zu verweisen. So wie Hegel die Philosophie nach Spinoza darüber belehrt hat, dass jede Bestimmung Negation ist, das heißt, dass kein Objekt definiert werden kann, ohne es vor dem unendlichen Hintergrund dessen, was es nicht ist abzuheben, ebenso ist jede Affirmation auf einer anderen Ebene durch eine Nichtung bedingt. Jede Wahrnehmung einer Gestalt impliziert, dass man das Übrige in den Hintergrund drängt. Die Bedingung dafür, dass ich behaupte A sei X, ist: 1. dass ich mich der Klebrigkeit des Seins ent-

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reiße um Seiende zu unterscheiden. Negative Freiheit also. Die Bestimmung durch die Ursachen (das Sein durch das Sein) führt zur Permanenz der Trägheit, nicht der Affirmation. Um mich selbst zu bejahen, genügt es nicht zu existieren, sondern ich muss mich auf Distanz zu mir halten, die reflexive Anstrengung auf mich nehmen; 2. dass ich von der Setzung eines Zwecks motiviert werde, das heißt von etwas, das noch nicht ist.44 Klebrigkeit ist das von Sartre mehrmals eingesetzte Synonym für die Kraft, die nicht nur ein Verharren in einem Sein befördert, sondern zugleich die Sogwirkung darstellt, die das An-sich auf das Für-sich ausübt. Der Affekt ist (klebriges) An-sich, etwas, dem sich das reflexive Für-sich entzieht (entziehen kann), die Gegenbewegung kann nicht aus der Trägheit des Objekts selbst erfolgen, sondern bedarf einer reflexiven Anstrengung, deren Ursache außerhalb des Affekts zu suchen ist. Das reflexive Für-sich ist nicht sein eigenes An-sich, in der Reflexion eröffnet sich die Distanz der Intentionalität zur Affektion. In der Transzendenz ist ein anderer – veränderter – Entwurf möglich – allerdings nicht notwendig. Mit Blick auf die Lebenswelt hält Sartre fest: Man kann sich eine Gesellschaft von Menschen denken, die ihr Leben leben, die sich durch Kinder fortpflanzt und in der die Reflexivität nie erscheint. Ich glaube nicht, daß reflexive Akte notwendig sind. Wir können eine Gesellschaft vorstellen, in der die Reflexion immer eine Welt von Lügen wäre. Diese Gesellschaft können wir umso besser vorstellen, als sie die unsere ist. […] Was ich behaupte ist, daß es keine Notwendigkeit des Übergangs von der einen zur anderen gibt [Hervorhebung H.R.]. […] Es gibt nichts als die Freiheit.45

44 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 263 f. Diese Textstelle ist zugleich ein Beispiel einer doppelten dialektischen Überschreitung: Sartre diskutiert das Problem der Affirmation nach Spinoza (3affgend, E 369 f.), ferner werden Fichte und Hegel negiert. Fichte hält in der Beweisführung zum Satz »Ich bin«, aus dem der Satz »A=A« abzuleiten ist, fest: »Ich bemerke noch, daß man, wenn man das Ich bin überschreitet, notwendig auf den Spinozismus kommen muß!« (Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Hamburg 1997, 21.) Sartres dialektische Überschreitungen münden in »A=X« beziehungsweise »das Fürsich ist nicht, was es ist«, letztlich in »Ich ist ein Anderer«. 45 Jean-Paul Sartre: »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis«, 314.

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3. Willensfreiheit Spinoza führt die Unterscheidung von Begierde (= materiale, körperliche Ebene) und Wille (= geistige Verstandesebene) durch (vgl. z. B. KV 91 ff.) und nimmt in Erörterung der Willensfreiheit in Zusammenhang mit den Affekten beziehungsweise dem, was gemeinhin darunter verstanden wird (KV 86 ff.; 3p2s, E 233), Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften vorweg, die in Bezug auf Affekte und damit verbundene Gehirnaktivität diese als den Entscheidungen vorgängig nachweisen.46 In der Sprache Spinozas ausgeführt, leidet der Geist, indem er von Vorstellungen affiziert – »heimgesucht« – wird, die ihn unangenehm berühren, die sein Tätigkeitsvermögen behindern. Tristitia – Unlust, Traurigkeit – bildet der Geist nicht selbst, die Abbilder inadäquater Ideen beeinträchtigen das Erleben dessen, was ist, als gut zu erleben. Was aber hält ein unreflektierter Wille für gut? Jeweils das, was wir begehren. Die Vorstellung, dass die Menschen ein Gutes wollen, weil es bereits ein ideales Gutes sei, wird von Spinoza einer Umkehrung unterzogen. Eine überraschende Wendung, die auf die Macht der Affekte hinweist: Wir wollen nicht etwas, weil es gut ist, sondern wir halten etwas für gut, weil wir es wollen. Die Überlegungen zur Willensfreiheit hatte Spinoza eingeleitet mit einer Anmerkung, die sich explizit gegen die Auffassung Descartes’ richtet, der Mensch könne direkt und willentlich als Geist dem Körper Befehle erteilen: »Wer also glaubt, er rede oder schweige oder tue sonst etwas aus einer freien Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen.« (3p2s, E 237) Der Wille auf nicht reflexiver Ebene wird von Spinoza auf erster Ebene als Begierde dargestellt, das dennoch postulierte Vermögen des Menschen, frei und aktiv Willenshandlungen zu setzen und solchermaßen die Knechtschaft der Affekte zu überwinden, wird dem Erkennen der adäquaten Ideen auf Ebene des Geistes zugeschrieben. Innerhalb der Geschlossenheit des Systems der Immanenz erörtert Spinoza den Geist (der in Parallelität zu einem Körper steht, der zu vielem fähig ist und daher erkennen kann) wiederum mit Bezugnahme auf Natur – beziehungsweise Gott: Der Wille ist gleich dem Verstand (2p49c, E 201), dieser Verstand aber Teil des unendlichen Willen Gottes auf Ebene des Geistes (2p49, E 199). Insofern der Geist eines der Attribute Gottes ist, der Mensch als Modus Anteil an diesem Attribut hat, ist derjenige Wille, der den

46 Vgl. zum Beispiel Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main 2003; Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main 2004; Antonio Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin 2009; Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin 2010.

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Verstand des Menschen repräsentiert, abhängig von dem göttlichen Denken, kann nur in Abhängigkeit von diesem gedacht werden. Dass der Mensch notwendig somit Sklave ist, ja dieses für seine Glückseligkeit notwendig wollen muss, da er selbst nichts zu seinem Heil und Glück tun kann (KV 93), beraubt ihn einer (herkömmlich gedachten) Willensfreiheit als Mensch, führt diejenigen, die auf diese Erkenntnisebene gelangen, zu unendlicher Glückseligkeit – die innerhalb der Naturnotwendigkeit ein frei zu wollendes ist. Dass wir letztlich das Gute wollen, ja wollen müssen – so das Fortschreiten auf die dritte Erkenntnisebene ein dem Denken immanentes Naturprinzip wäre –, eben ein Gutes, das für den Einzelnen und für alle gut ist –, könne nicht als Freiheit verstanden werden, sondern nur als Notwendigkeit innerhalb eines vollkommenen spinozistischen Systems, so die Kritik Sartres. »Das Ganze selbst ist nicht frei. Seine Freiheit ist die Notwendigkeit Spinozas, übertragen in die zeitliche Folge«,47 überlegt Sartre zur Begrenzung, die dem Modus durch ein notwendiges Ganzes auferlegt ist. Wenn wir hingegen vom Menschen als Freiheit sprechen, begeben wir uns ontologisch auf die Ebene der phänomenologischen Ontologie, die ebenso wie der integrale Parallelismus Spinozas nur innerhalb dieser bestimmten ontologischen Konzeption verstanden werden kann: Die (Willens-)Freiheit ist keine dem Menschen hinzugefügte Qualität, keine Eigenschaft, kein Vermögen im Sinne eines »Könnens«, kein Epiphänomen.48 Weder das Ego, das unreflektiert seinen Affekten folgt, noch das reflexive Für-sich sind gleichzusetzen mit einem Willen, wie er gemeinhin als freier Wille, etwas zu wollen, gedacht wird. In der von Sartre entwickelten Ontologie über die menschliche Freiheit, die sich ausdrückt über einen bestimmten Körper in absoluter Gestalt, wird die Willensfreiheit in Bezug auf das an diesen Körper gebundene Bewusstsein behandelt. Der im Alltagsverständnis gängige Begriff einer Willensfreiheit, der diese als zentrales Vermögen betrachtet oder voraussetzt wird von Sartre wie von Spinoza als Missverständnis eingestuft. Ein Wollen-Können ist nicht mit einem freien Willen oder gar mit Beliebigkeit gleichzusetzen. Und: Der Geist kann dem Körper keine Handlungsanweisungen geben. Ein Bewusstsein vom Streben, vom Ziel der Begierde, ist nichts anderes als ein bewusster Trieb, eine bewusste Affektion. Der Wille ist Bewusstseinsmodus, ebenso wie Motivation oder Trieb, so Sartre, der Wille ist »keine bevorrechtigte Manifestation der Freiheit, sondern ein psychisches Ereignis eigener Struktur […], das sich auf derselben Ebene wie die anderen konstituiert und, nicht mehr und nicht weniger als die anderen, durch eine ursprüngliche und ontologische Freiheit ge-

47 48

Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, 809. Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 762.

Spinoza und Sartre über Existenz, Willensfreiheit und Affekte

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tragen wird.«49 Der Wille hat nicht mehr Wert als den, ein Ankündiger zu sein, der eine vorher, in einer tieferen Struktur getroffene Entscheidung deutlich macht, das ist die klare Aussage Sartres zur Frage der Willensfreiheit.50 Wenn etwas als Wille wahrgenommen wird, ist bereits alles entschieden, der Wille vollzieht einen von Sartre als »Urwahl« bezeichneten Selbstentwurf. Der Wille ist jeweils unmittelbare und zugrunde liegende Tiefenstruktur des Körpers, die Argumentation ist zurückgebunden an die eingangs getroffene Festlegung, dass der Mensch nicht zunächst ist, um dann frei zu werden, sondern dass es sich hier um eine ontologische Freiheit handelt. In der Theorie zu Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis wird der jeweilige Entwurf von Sartre als Wahl bezeichnet. In dieser Tiefenstruktur der ontologischen Freiheit, in der der so genannte beziehungsweise vermeintlich bewusste Wille auf psychischer Ebene den Motiven und Antrieben gleichgesetzt wird, unterscheidet Sartre zwischen Ego und Ich: Das Ego entspricht der Ebene der Wissensinhalte, der objekthaften Bewusstseinsinhalte, zu denen auch die Affekte gezählt werden. Ein Leben in der Unaufrichtigkeit, in der Entfremdung, in einer Unmittelbarkeit, die dem Ego gewidmet ist, ist ein Leben, das – sehr vereinfacht ausgedrückt – auf Triebebene unreflektiert seine Triebe lebt. Das Für-sich, das reflexiv und in der Transzendenz sich in seinem Dasein für sich erfasst, gleichsam seine körperhaften Bedingtheiten – Affekte – betrachtet, aus dem Ego hinaustritt, um dieses zu umfassen, zu reflektieren, strebt nach einer Unmittelbarkeit der Authentizität. Authentisch ist der Mensch, so Sartre, der ständig die Versuchung – die Entfremdung, dass das Ego alles sei – überschreitet. Diese in der Konversion mögliche Veränderung des Selbstentwurfs drückt sich als veränderte Urwahl aus. Der individuelle Entwurf, die transzendente Vorstellung zum Handeln, die Entscheidung – die Wahl – ist jeweils die unmittelbare, ob diese präreflexiv, in der mauvaise foi oder in reiner Reflexion vorgenommen wird, ist der je gewollte Wille. Spinoza wie Sartre nehmen philosophische Klärungen zu einer Freiheit des Willens vor, die keine Beliebigkeit meint, sondern Abgrenzungen von einer Determiniertheit durch biologische Prozesse und soziale Ereignisse vorstellt; Abgrenzungen, die die Möglichkeitsbedingungen der Überschreitung des im Bewusstsein objekthaft Gegebenen durch einen immanenten reflexiven Geist beziehungsweise ein transzendierendes Für-sich, das in reiner Reflexion in der Transzendenz seine Möglichkeiten erkennt, Bedingtheiten negieren und überschreiten kann, untersuchen und postulieren.

49 50

Sartre: Das Sein und das Nichts, 784 f. Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 782.

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Kann ich also wollen, was ich will? Wo sind Grenzen, die nicht überschritten werden können? »Freilich ist menschliche Macht sehr begrenzt und wird von der Macht äußerer Ursachen unendlich übertroffen; mithin haben wir nicht eine unbedingte Gewalt, äußere Dinge für unserem [sic] Gebrauch zurechtzuschneiden« (5cap32, E 523 f.). Der Einsicht in diesen Sachverhalt und dem »Streben des besseren Teils von uns in Übereinstimmung mit der ganzen Natur« (5cap32, E 525), hatte Sartre einen Humanismus in neuem Selbstbewusstsein gegenübergestellt, Einsicht nicht aus Notwendigkeit, sondern in Freiheit.

III. Schlussworte Spinoza wie Sartre verbinden ontologische Grundannahmen mit ethischen Fragestellungen und dem Hinweis auf die Determiniertheit des Willens. Letztlich vermag der Mensch durch Verstand beziehungsweise reine Reflexion die biologische Determiniertheit, die Knechtschaft der Affekte, zu überschreiten: Der Mensch ist frei und verantwortlich, frei und bedingt zugleich. Diese Erkenntnis wird am Ende der metaphysisch-mathematisch-rationalen Ethica Ordine Geometrico demonstrata von Spinoza postuliert, wie auch in den Entwürfen für eine Moralphilosophie von Sartre in Form einer ontologischen Moral konzipiert. Solcherart wird ausgehend von Fragen nach dem Sein und dem Menschen die Ethik zum Ausgangspunkt und zum Ziel der Metaphysik beziehungsweise Ontologie, geht Ethik in Metaphysik auf und ist untrennbar mit ihr verbunden, wird Ontologie zugleich zu einer Moralphilosophie.51 Dass der Mensch in seiner Existenz vielen Einschränkungen, Grenzen unterliegt, hatte Spinoza in seinem Schlusswort verdeutlicht: »Wenn das Heil einfach daläge und ohne große Anstrengung gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß fast jeder es fahren läßt? Aber alles was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten« (5p42s, E 595). Ideale und konkrete Sittlichkeit klaffen weit auseinander, der empirische Mensch widerlegt die Natur-Notwendigkeit von Tugend und Glückseligkeit. Der Mensch wird zum Riss der Theorie der Immanenz. 51 Wesentlich ist an dieser Stelle die Unterscheidung der Begriffe »Ethik« als Reflexionstheorie der Moral und »Moral« als praktisches Handeln des Menschen mitzudenken. Sartre spricht sich explizit gegen das klassische Verständnis von Ethik als normativer Theorie eines Sollens aus (»die Ontologie könnte keine Vorschriften machen«, Sartre: Das Sein und das Nichts, 1068), verweist zugleich auf die Ontologie als enthüllende Struktur für menschliches Handeln in Situation, Verantwortung, Ursprung und Natur der Werte (vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 1068). Hierauf begründet, konzipiert er nicht eine ontologische Ethik, sondern eine ontologische Moralphilosophie.

Spinoza und Sartre über Existenz, Willensfreiheit und Affekte

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Sartres Schlussfolgerungen münden in eine Moralphilosophie für den Menschen, in einen Humanismus, der den Menschen nicht vorgängig als immanenten Wert ansetzt, sondern in einen Humanismus, der als Anspruch an den Menschen gerichtet ist. Gestalten zu können bedingt zugleich die Verantwortung für das Gestaltete. Und auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die jeweils Menschen in bestimmter Weise von außen determinieren, wurden und werden von Menschen gestaltet. In einem Rückblick schränkt Sartre sein Diktum, »Der Mensch ist Freiheit«, das er mit Emphase und Optimismus verteidigt hatte, ein, zieht eine Grenze ein: Heute würde ich den Begriff Freiheit folgendermaßen definieren: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.52 Die Moralphilosophie Sartres ist als offene (ethisch-onto-logische) Matrix angelegt. Die Umkehrung einer in sich geschlossenen ethischen Theorie verweist auf den Menschen selbst, der erkennen kann. Dies verlangt authentische Reflexion, einen moralischen Selbstentwurf, und in Unterscheidung zu idealer und abstrakter eine »konkrete Sittlichkeit«, und verbleibt offener Anspruch an den Menschen.

52 Jean-Paul Sartre (1969): »Sartre über Sartre«, in: ders.: Sartre über Sartre: Überarbeitete Ausgabe. Reinbek bei Hamburg 1988, 165.

Ulrike Kadi

Affekt und Körper: Zu Jacques Lacans Spinoza-Lektüre1

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan rezipierte fremde Texte auf äußerst eigenwillige Weise. Er nahm Texte vor allem dadurch auf, dass er ihnen eine neue Bedeutung verlieh.2 Anstatt sich inspirieren zu lassen von einem Modell, anstatt den Versuch zu machen, einen alten Text durch Kontextualisierung zu entschlüsseln, hat er es stets vorgezogen, ihn neu zu lesen. Eine historisch-kritische Lektüre ist ihm ebenso fremd gewesen wie jegliche Historisierung eines Textes. Die wohl richtige Einschätzung von Roudinesco macht die Schwierigkeit der Aufgabe deutlich, bei Lacan Bezüge zu Spinoza zu finden.3 Die Aufgabe erinnert an die Analyse eines Traums, bei dem nur das entstellte Material zugänglich ist. Und Lacans Text lässt sich schwieriger deuten als ein Traum. Denn im Unterschied zur Traumanalyse, für die Freud die Mechanismen der Traumarbeit beschrieben hat, fehlen bis dato verlässliche Arbeiten über die Mechanismen der Lacan’schen Entstellungsarbeit an den von ihm rezipierten Texten. Nebenbei gesagt ist es weder möglich noch hilfreich, einen unabhängigen latenten Trauminhalt hinter allen Entstellungen aufdecken zu wollen, weil der unbewusste Wunsch sich nicht hinter der Maske einer fassbaren Entstellung verbirgt, sondern selbst an der Entstellung beteiligt ist. In vergleichbarer Weise führt es auch nicht weit, einen reinen Text Spinozas vor oder in den Entstellungen der Lacan’schen Lehre zu suchen. Vielmehr haben wir es mit Verflechtungen zu tun, Textzöpfen gleichsam, in die verschiedene Stränge hineingewoben sind und die sich insgesamt als Maskierung präsentieren, eine Maskierung,

1 Dieser Text entstand im Rahmen des vom WWTF geförderten Projekts Übertragungen: Psychoanalyse – Kunst – Gesellschaft. 2 Vgl. auch für das Folgende: Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Esquisse d’un vie. Paris 1993, 85. 3 Die Versuche, Spinozas Einflüsse auf Lacan zu beschreiben, bleiben entweder oberflächlich (vgl. Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow and the Feeling Brain. London 2003, 260), oder folgen eigenen Fragestellungen, die den philologischen Aspekt der Forschung wenig berücksichtigen (vgl. Slavoj Žižek: Organs without Bodies. On Deleuze and Consequences. New York 2004, insbes. 33–41, und Kiarina Kordela: Surplus – Spinoza Lacan. New York 2007).

Affekt und Körper: Zu Jacques Lacans Spinoza-Lektüre

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hinter der sich nichts verbirgt, weil alles Material, was zu verbergen war, zur Herstellung der Maske selbst verwendet wurde. Die Psychoanalyse ist kein einheitliches Gebilde. Gerade die Erforschung der Affekte und der technische Umgang mit ihnen trennt Schulen voneinander. Lacan steht bei seinen Gegnern im Ruf, die Affekte nicht ausreichend zu berücksichtigen. Das allein wäre Grund genug, Momente von Spinozas Affektenlehre mit Lacans Begrifflichkeit zu konfrontieren. Denn Lacan hat sich mit Spinozas Texten früh auseinander gesetzt, und diese Lektüre hat eine Reihe von Spuren in seinen Arbeiten hinterlassen, wenngleich sich eine ausgearbeitete, explizite Auseinandersetzung mit Spinoza in den nachgelassenen Schriften und Seminaren Lacans nicht findet. Hier werden nun, in ähnlicher Weise wie angesichts der Erzählung eines Traums, zunächst eine Reihe von oberflächlichen Hinweisen auf Spinoza in Lacans Texten dargestellt. In einem zweiten Teil wird am Beispiel des Begehrens und dessen Verhältnis zum Trieb auf Elemente aus Spinozas Affektenlehre hingewiesen, die für Lacans Auffassungen maßgeblich wirksam geworden sind. Im dritten Teil schließlich wird anhand einer Fallvignette untersucht, welche Annahmen Spinozas in einem Zusammenhang zwischen Körper und Affekten bei Lacan von Bedeutung sind oder sein könnten. Manches Traummaterial taucht im Verlauf des Textes auf, ohne für die weitere Bearbeitung genutzt werden zu können. Um es dem Ziel einer für die LeserInnen nachvollziehbaren und in sich stringenten Argumentation nicht gänzlich zu opfern, wird es an manchen Stellen zum Ausgangspunkt weiterer Assoziationen in den Fußnoten verwendet. Dabei wird deutlich, dass die Bezüge zwischen Spinoza und Lacan weit über den hier dargestellten Rahmen hinaus reichen.

I. Verbindungen Lacan war vierzehn Jahre alt, als er Spinoza zu lesen begann. An die Wand seines Zimmers hängte er eine Skizze von Spinozas Ethik mit bunten Pfeilen. Roudinesco deutet sein frühes Interesse an Spinoza und dessen offene Zurschaustellung mittels eines Plakats als subversiven Akt. Lacan, der Sohn eines Senfhändlers, der dem unterstellten Wunsch seines Vaters entsprechend den Senfhandel hätte weiter betreiben sollen, demonstriert mit seinem intellektuellen Interesse, so gut es ihm möglich ist, dass er sich nicht in eine transgenerationelle Folge von Senfhändlern einreihen will. So hat pubertäre Opposition vor etwas weniger als hundert Jahren ausgesehen. Darüber hinaus wird Spinoza im katholischen Milieu seiner Erziehung für Lacan zur Schwelle zwischen einer frömmlerischen Form des Katholizismus und

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einer belesenen, aristokratischen Variante einer Beschäftigung mit Theologie.4 Lacan stellt viele Jahre später eine Verbindung zwischen seiner eigenen und Spinozas Biographie her: 1964 vergleicht er während seines XI. Seminars das, was ihm durch den Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung passiert sei, mit dem 1656 über Spinoza verhängten Bannspruch, der Cherem. In kabalistischer Manier weist er gleichzeitig darauf hin, dass Spinozas Bann auf den Tag genau 200 Jahre vor Freuds Geburt erfolgt ist. Dieses Ereignis in Spinozas Leben verbinde sich mit der Unmöglichkeit einer Umkehr,5 womit Lacan offensichtlich suggerieren möchte, dass seine eigene Haltung gegenüber der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nicht verhandelbar ist. Neben solchen äußeren Bezügen finden sich im gesamten Werk Lacans einzelne Hinweise auf Textfragmente von Spinoza. In seiner 1932 fertig gestellten Dissertation6 bedient sich Lacan eines solchen Mottos: »Quilibet unius cujusque individui affectus ab affectu alterius tantum discrepat, quantum essentia unius ab essentia alterius differt«.7 Spinoza bildet gleichsam eine Klammer um die als medizinische These eingereichte Arbeit. Denn Lacan kommt im Rahmen einer hypothetischen Schlussbemerkung auf ihr Motto zurück. Er betont,

4

Vgl. Roudinesco: Jacques Lacan, 29 ff. Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Olten 1978, 10. Zu den Umständen dieses Ausschlusses vgl. als Überblick Nicolas Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer. Frankfurt/M. 2005, 97– 124 und Claus Diether Rath: »Im Sommer 1963 lässt die Internationale Psychoanalytische Vereinigung Jacques Lacan die Lehrerlaubnis entziehen. Was war das Unvereinbare?«, in: Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung 12 (2003/7), 5–34. Bereits anlässlich seines ersten Auftretens in der psychoanalytischen Community 1936 beim Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Marienbad war Lacan nicht gerade willkommen geheißen worden. Er wurde vom Vorsitzenden Ernest Jones während seines Vortrags unterbrochen und an der Fortsetzung seiner Ausführungen gehindert. In dem begonnenen Vortrag zur Theorie des Spiegelstadiums stellte Lacan das Ich als eine, wie er es ausdrückt, imaginäre Formation dar, die von Selbsttäuschung durchdrungen ist. Auf diese Weise eröffnete er eine Auseinandersetzung mit der sich langsam entwickelnden amerikanischen Ichpsychologie, für die das Ich der zweiten Topik Freuds zunehmend ins Zentrum der psychoanalytischen Behandlung rückte. Es wäre wohl ein historiographisch lohnendes Unterfangen, Lacans lebenslanges Rebellentum biographisch mit Spinozas Widerstandsgeist zu parallelisieren. 6 Jacques Lacan: De la psychose paranoïaque, dans ses rapports avec la personnalité. Paris 1975. 7 Lacan: De la psychose paranoïaque, 11. »Jeder Affekt eines jeden Individuums weicht von dem Affekt eines anderen in dem Maße ab, wie die Essenz des einen sich von der Essenz des anderen unterscheidet« (3p57, E 327). 5

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dass der Determinismus, den er Spinozas Auffassung der Affekte zuschreibt, auch für seinen Ansatz gelte. Dabei formuliert er das Motto Spinozas für das Ergebnis seiner eigenen Untersuchung um: Die für eine Psychose bestimmenden Konflikte, Symptome und Triebreaktionen würden in dem Maße mit verständlichen Persönlichkeitsverhältnissen nicht übereinstimmen, wie es die Geschichte der Affekte eines Subjekts festlege.8 In dieser Bearbeitung des Mottos wird eine Form deutlich, in der Lacan mit Spinozas Text verfährt: Er übernimmt etwas vom geometralen Gestus der Vorlage, um seine eigenen Überlegungen zu formulieren. Damit folgt er – lange vor seiner eigenen expliziten Hinwendung zu einzelnen Paradigmata der Sprachwissenschaft des Strukturalismus – einem Grundprinzip des strukturalistischen Denkens, nämlich jenem der Arbitrarität der Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat. Auf einer Signifikantenebene, der Ebene bedeutsamer Strukturen wie Worten oder Bildern, wird gesprochen, geschrieben oder geträumt, was auf der Ebene des Signifikats, der Bedeutung, etwas immer je anderes heißen kann. Es sind die Worte, ihr Gleichklang, ihr Rhythmus, denen (auch in einer Analyse zunächst) zu folgen ist, was Lacan nicht nur in seiner Übertragung eines Lehrsatzes von Spinoza am Ende seiner Doktorarbeit tut, sondern bereits in der Auswahl dieses Mottos seiner Arbeit. Denn Spinoza verbindet in dem zu diesem Motto gehörigen Beweis Begriffe, die vom psychoanalytischen Denken aufgegriffen worden sind: die Lust, die Unlust, die Begierde, die als »Begehren«9 zu einem zentralen Topos der Arbeiten Lacans in einer mittleren Schaffensperiode10 werden wird, und den Trieb. Lacan, der 8 Vgl. Lacan: De la psychose paranoïaque, 343. Für Roudinesco beruft sich Lacan hier implizit auf eine monistische Sicht einer Einheit zwischen Seele und Körper, die er bei Spinoza findet und die er hier gegen einen Leib-Seele-Parallelismus, wie er im Frankreich seiner Zeit mit dem Namen Hippolyte Taine verbunden war, einbringt. Die Persönlichkeit, die Lacan in dieser Arbeit im Auge hat, ist weder phänomenologisch noch ontologisch noch von einer Konstitutionslehre her zu begreifen. Sie ist vielmehr auf eine kompakte körperlich-seelische Einheit bezogen (vgl. Roudinesco: Jacques Lacan, 81). 9 Im Französischen wird der lateinische Ausdruck cupiditas mit le désir wiedergegeben, was in der deutschen Übersetzung Lacans dem Begehren entspricht (vgl. dazu auch Fn.31). 10 Drei Stichworte müssen hier genügen, um Lacans Hauptinteressen in drei (oftmals ineinander verflochtenen Schaffensperioden) zu charakterisieren: In den Dreißiger und Vierziger Jahren widmet er sich besonders dem Spiegelbild und den mit diesem verbundenen imaginären Phänomenen. In den Fünfziger Jahren rücken mit dem Begehren, das seit den Dreißiger Jahren zum Vokabular Lacans gehört, Fragen der symbolischen Ordnung, die er als eine sprachlich strukturierte Ordnung auffasst, mehr ins Zentrum seiner Überlegungen. In der letzten Phase seines Denkens, die in den Sechziger Jahren beginnt, orientiert er sich am Thema des Genießens und damit an jenem Bereich, den er als das Reale bezeichnet.

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wenig zuvor erst begonnen hatte, sich mit der Psychoanalyse auseinander zu setzen, versucht hier offensichtlich, verschiedene Linien seines Denkens auf der Signifikantenebene einander anzunähern. So als höre er einer Traumerzählung zu, bei der es in einer Analyse zunächst darum geht, der Wortwahl, den Wortwiederholungen, den Betonungen und auch den Auslassungen zu folgen, bevor etwas begriffen werden kann. Mehr als zwanzig Jahre später in seinem bis dato unveröffentlichten Seminar VI folgt Lacan einer dieser Verbindungen, die sich für ihn bereits in der Auswahl des Mottos zu seiner Dissertation dargestellt haben. In der ersten Sitzung dieses Seminars nämlich bezeichnet er Spinoza als den Vorläufer dessen, was die Psychoanalyse in seinen Augen an Neuem gebracht hat. Er zitiert dazu den Beginn der Definitionen der Affekte: »Begierde ist des Menschen Essenz selbst«, und fügt auch die Fortsetzung im Text Spinozas gleich hinzu: »insofern diese als von irgendeiner ihrer gegebenen Affektionen zu einem Handeln bestimmt begriffen wird« (3affd1, E 337). Lacan betont, dass man Spinoza nicht von Freud her übersetzen könne. Er selbst habe Spinoza früh gelesen. Seiner Ansicht nach würden sich die, die an der Freud’schen Erfahrung teilhätten, auch in Spinozas Texten zuhause fühlen.11 Dieser etwas begütigende Ton am Ende der Passage soll möglicherweise über das vorher angesprochene Problem hinweg täuschen, jenes Problem, das sich in der kryptischen Formulierung verbirgt, dass sich Spinoza nicht von Freud her übersetzen lasse. Wir können das als eine Anspielung auf den Umgang mit dem Signifikanten cupiditas verstehen. Denn zwischen Lacans und Spinozas Begriffen des Begehrens / der Begierde besteht eine deutliche Diskrepanz, die zu untersuchen sein wird. Ein halbes Jahr später, in der letzten Sitzung dieses Seminars, verwendet Lacan noch einmal dasselbe Zitat von Spinoza, wobei er festhält, dass das Begehren zur Subjektivität gehört. Seit moralische Erfahrungen gemacht würden, bilde das Begehren den Kern der Subjektivität. Das Begehren stelle sich zwar dieser moralischen Erfahrung als Widerstand entgegen. Doch gerade aus diesem Knoten, diesem Paradox, entwickle sich die Ethik. Damit stütze sich die Ethik auf Spinozas rätselhaften Satz, dass die Begierde das Wesen des Menschen sei. Rätselhaft daran sei, ob der Mensch begehrt, was gut ist, oder dasjenige, was begehrenswert ist, oder – als dritte Möglichkeit – eine Mischung aus beidem. Die analytische Erfahrung gehe vom Abstand aus zwischen dem, was begehrt wird, und dem, was begehrenswert ist. Andeutungsreich fügt La11 Vgl. Jacques Lacan: Le désir et son interprétation. Séminaire VI (1958–1959) (unveröffentlicht), Sitzung vom 12. November 1958, für eine nicht autorisierte Fassung siehe: http://gaogoa.free.fr/Seminaires_HTML/06-DI/DI12111958.htm (Zugriff am 5.9.2010).

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can hinzu: Das Begehren sei nicht nur eine Frage des Handelns oder des Anfangs unserer Knechtschaft. Es sei vielmehr als Schlüssel anzusehen, der für eine Reihe von Handlungen und Verhaltensweisen verantwortlich ist, die das Tiefste unserer Wahrheit verkörpern.12 Im Seminar XIV dient Lacan Spinozas erwähnter Satz vom Begehren des Menschen als Material für einen spielerischen Umgang mit den Signifikanten. Auch hier modifiziert er Spinozas Text für die Zwecke der Psychoanalyse: Den Ausdruck »Mensch« könne er in einem atheologischen System nicht mehr verwenden. Daher müsse es heißen: »Das Begehren ist das Wesen der Realität«, wobei er die Realität wenig vorher als ein Fantasma beschreibt, das gleichsam prêt à porter für jedes Subjekt bereitsteht und eine »Montage aus dem Symbolischen und dem Imaginären« darstellt.13 Eine ähnlich geometrale Parallelisierung eigener Überlegungen mit einem Satz von Spinoza findet sich im Seminar XV, wo Lacan folgenden Gedanken entfaltet: So wie Gott von Spinoza gegen alle Ambiguität des Cogito als Ursache seiner selbst aufgefasst wird, müsse gesagt werden, dass das Subjekt nicht Ursache seiner selbst ist, sondern Folge eines Verlusts, den es im Objekt a verkörpert findet. Das Subjekt hänge also nicht von sich selbst ab, sondern von diesem Objekt a.14 Und als wolle er die sonderbare Form seiner Bearbeitung Spinozas erläutern und als müsse er angesichts der Komplexität seiner Überlegungen ihre Stringenz betonen, verweist Lacan in seinen späten Seminaren XXI und XXII auf die Strenge15 und die Schwierigkeiten16 eines geometralen Denkstils, den er von Spinoza übernommen habe. Diese Verbindung zwischen Lacan und Spinoza mutet zunächst als eine äußerliche, weil formale an. Doch es verbirgt sich in ihr eine Gemeinsamkeit, die weiter führt: Die formale Strenge als (selten erreichtes) Ideal der Behandlung der jeweils untersuchten Gegenstände sah Lacan lange als eine Möglichkeit an, 12

Vgl. Lacan: Le désir et son interprétation, Sitzung vom 1. Juli 1959. Vgl. Jacques Lacan: La Logique du fantasme. Séminaire XIV (1966–1967) (unveröffentlicht), Sitzung vom 16.11.1966, für eine nicht autorisierte Fassung siehe: http:// gaogoa.free.fr/Seminaires_HTML/14-LF/LF16111966.htm (Zugriff am 7.9.2010). 14 Vgl. Jacques Lacan: L’acte psychanalytique. Séminaire XV (1967–1968) (unveröffentlicht), Sitzung vom 10.1.1968, für eine nicht autorisierte Fassung siehe unter: http:// gaogoa.free.fr/Seminaires_HTML/15-AP/AP10011968.htm (Zugriff am 7.9.2010). 15 Vgl. Jacques Lacan: Les non-dupes errent. Séminaire XXI (1973–1974) (unveröffentlicht), Sitzung vom 13.11.1973 siehe unter: http://espace.freud.pagesperso-orange. fr/topos/psycha/psysem/nondup/nondup1.htm (Zugriff am 24.10.2010). 16 »Ein Spinoza brüstete sich damit, nach dem von den Alten vorgegebenen Modell weiterzuspinnen, zu deduzieren. Dieses more geometrico definiert einen im eigentlichen Sinne mathematischen Intuitionsmodus, der sich keineswegs von selbst versteht« (Lacan-Archiv (Hg.): R.S.I. 1974–1975. Seminar XXII von Jacques Lacan. Übersetzung für den vereinsinternen Gebrauch. Sitzung vom 18. Februar 1975, 34). 13

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sich von einer Entwicklung der zeitgenössischen Psychoanalyse abzugrenzen, in welcher der Intuition in der Behandlung und damit dem Bereich des Imaginären (in Lacans Gebrauch des Terminus bedeutet das auch: dem Täuschenden und zum Irrtum Gehörigen) ein größeres Gewicht verliehen wird. Speziell was die Affekte und Emotionen betrifft, war Lacan stets um möglichst große Exaktheit bemüht, was ihm im psychoanalytischen Feld noch während seinen Lebzeiten den Ruf des Intellektualismus eingebracht hat.17 Auch Spinozas Weise, die Affekte geometrisch zu beschreiben, ist als ein Versuch anzusehen, sich einer zeitgenössischen Gewohnheit des Denkens zu widersetzen, in der (eine schlechte und als solche wohl auch missverstandene) Rhetorik dort eingesetzt wird, wo es an überzeugenden Argumenten mangelt.18 Der mos geometricus als ein der Mathematik entlehntes methodisches Moment zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Zweckursache (causa finalis) unberücksichtigt bleibt,19 was etwa für die Beschäftigung mit den Affekten einen gedanklichen Raum eröffnet, in welchem Gefühlsäußerungen wahrgenommen, unterschieden und untersucht werden können, ohne dass sich UntersucherInnen in Spekulationen über Zwecke solcher Äußerungen verlieren. Die Vorbehalte gegen die Zweckursache klingen bei Lacan und Spinoza ähnlich: Sie gehört für Lacan in das Gebiet der Religion,20 während Spinoza sich mit seinem Ausschluss der Zweckursachen gegen den Aberglauben wenden will.21 Von Lacans Seite her ist zur Frage nach den Ursachen allerdings zu erwähnen, dass er der Psychoanalyse von den vier Ursachen des Aristoteles nicht die für die Mathematik adäquate causa formalis, sondern die causa materialis zuordnet.22

17 Vgl. Maria Carmen Gear/Ernesto Liendo: Sémiologie psychanalytique. Paris 1975, 21, und André Green: Le discours vivant: La conception psychanalytique de l’affect. Paris 2004 (Erstausgabe Paris 1973), 137. 18 Vgl. Ursula Renz: »Der mos geometricus als Antirhetorik. Spinozas Gefühlsdarstellung vor dem Hintergrund seiner Gefühlstheorie«, in: Paul Michel (Hg.): Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Gefühlen. Freiburg 2005, 333–349. 19 Vgl. Renz: »Der mos geometricus als Antirhetorik«, 336. 20 Vgl. Jacques Lacan : »Die Wissenschaft und die Wahrheit« (1946), in: ders.: Schriften II. 3. Aufl. Weinheim, Berlin 1991, 252. 21 Vgl. Renz: »Der mos geometricus als Antirhetorik«, 337. 22 Vgl. Lacan: »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, 254.

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II. Entstellung Roudinesco macht darauf aufmerksam, dass Lacan in seiner Dissertation Spinozas Ausdruck »affectiones« mit dem im Französischen damals nicht geläufigen Ausdruck »affect« übersetzt.23 Spinozas Affekte entsprechen Affektionen des Körpers, die dessen Wirkungsmacht vermehren, vermindern, fördern oder hemmen. Sie fallen mit den Ideen der Affektionen zusammen (3d3, E 223). Lacans Übersetzungsentscheidung sei in direktem Zusammenhang mit seiner Freud-Lektüre zu sehen. Sie erfolge aber wohl auch aus Unkenntnis. Denn der Ausdruck »Affekte« ist in der Psychoanalyse nicht mit den affectiones von Spinoza gleichzusetzen.24 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Spinoza und Lacan werden erkennbar in ihrem Umgang mit dem Signifikanten »Begehren«. Bei Spinoza ist die cupiditas einer von drei Grundaffekten. Spinoza führt sie als ein elementares Streben ein, demgegenüber vom Geist her Stellung bezogen wird. Das Streben des Geistes bezeichnet er als Wille. Kommt Bewusstsein hinzu, wird der Wille zum Begehren. Es entspricht einem Streben nach Selbsterhaltung, sofern eine Beurteilung durch den Geist möglich ist. Auf Lacans Seite fällt zunächst die (an Spinoza erinnernde) große Bedeutung auf, die er dem Begehren über weite Strecken seiner öffentlichen Lehre zumisst. Er selbst bringt seinen Begriff des Begehrens mit Spinoza in Verbindung, und eine oberflächliche, am Ausschnitt25 orientierte Lektüre liest darin eine affirmative Bezugnahme. Sobald der Ausschnitt etwas weiter gewählt wird, klingt diese Bezugnahme allerdings anders: Was man zu Unrecht bei Spinoza als Pantheismus glaubte bezeichnen zu können, ist nichts anderes als eine Reduktion des Bereiches Gottes auf die Universalität des Signifikanten, aus der eine beispiellos heitere Sorglosigkeit hinsichtlich des menschlichen Begehrens hervorgeht. In dem Maße, wie Spinoza behauptet – das Begehren ist das Wesen des Menschen – und es, das Begehren, in radikaler Abhängigkeit von der Universalität der göttlichen Attribute, die nur über die Funktion des Signifikanten gedacht werden kann, bestimmt, in dem Maße nimmt er jene einzigartige Position ein, in der der Philosoph – und es ist nicht gleichgültig, dass es ein seiner Tradition

23

Vgl. hierzu auch Green: Le discours vivant, 15. Roudinesco: Jacques Lacan, 84. 25 Christoph Braun bezieht sich auf die Formulierung: »wie Spinoza behauptet – das Begehren ist das Wesen des Menschen« (Lacan: Das Seminar. Buch XI, 289; vgl. Christoph Braun: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse. Berlin 2007, 311). 24

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entfremdeter Jude war, der sie bekleidete – sich mit einer transzendenten Liebe verwechseln kann.26 Hierin verbirgt sich etwas anderes als eine entstellende Traumarbeit Lacans. In einem Spiel mit Mehrdeutigkeit in einer permanenten Bereitschaft zu einem Wechsel der Ebenen grenzt Lacan seinen Begriff des Begehrens, das er als einen durch den Akt des Sprechens bestimmten und für dieses konstitutiven Zustand des Subjekts versteht, gegen den Begriff des Begehrens von Spinoza ab. Im Unterschied zu Spinoza denkt er das Begehren und auch die Universalität der Attribute, die Gott zugeschrieben werden, zuerst als Signifikanten. Er rückt ihre Funktion in einem sprachlichen Universum in den Vordergrund. Das Subjekt, das er als Signifikanteneffekt denkt, verdankt seine Existenz der Möglichkeit, sich in einem sprachlich bestimmten Symbolischen (passager und flüchtig) zu etablieren. Das Rekurrieren auf göttliche Attribute vermag dem Subjekt momentan im Akt des Aussprechens in einer religiös geprägten Welt eine besondere Stabilität zu verleihen. Es führt aber zu einer Verwechslung. Universal sind nämlich aus Lacans Perspektive nicht die göttlichen Attribute, auf die sich Spinoza zu stützen scheint, sondern der Signifikant mit seiner Möglichkeit, etwas anderes zu bedeuten. Auch der Inhalt von universell gedachten göttlichen Attributen lässt sich deshalb durch sprachliche Signifikanten nicht fixieren – jenseits der Frage, ob sie überhaupt existieren. In einer psychoanalytischen Perspektive ist diese Frage nicht relevant. Psychoanalytisch interessiert an der Aufrufung göttlicher Attribute nur der Sprecher, im konkreten Fall der Philosoph, der solcherlei Attribute ins Spiel bringt und damit die Position eines Garanten für das Symbolische zu besetzen versucht. Auch der Gegenstand des Begehrens ist bei Lacan und Spinoza nicht derselbe. Lacan, der immer wieder für eine Rückkehr zu Freud plädiert,27 folgt Spinoza nicht darin, die Selbsterhaltung als Gegenstand des Begehrens anzusehen. Denn mit Freud unterscheidet er den Bereich der Selbsterhaltung von jenem des Sexuellen.28 Auf Selbsterhaltung ist das Bedürfnis aus, das Lacan der 26

Lacan: Das Seminar. Buch XI, 289. Während der frühen Phase der Rezeption von Lacan im deutschen Sprachraum wurde dieser Rückbezug auf Freud oftmals in den Vordergrund gerückt. Vgl. dazu etwa Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Wien 1990. Es ist inzwischen deutlich, dass Lacans Rückbezug auf Freud einem bestimmten Freud gilt, nämlich dem Freud der ersten Topik, der die Psyche als ein Zusammenspiel von Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem auffasst. Immer mehr werden auch die Differenzen herausgearbeitet – beispielsweise zwischen Lacan als einem Autor, dessen Argumentation durch den Kontext des Christentums geprägt ist, und Freud, der vor einem jüdischen Denkhorizont argumentiert (vgl. Léon Rozitchner: »Versions of OEdipus«, in: Sitegeist. A Journal of Psychoanalysis and Philosophy 4 (2010), 111–128). 28 Freud betrachtet die Selbsterhaltungstriebe im Rahmen seiner ersten Triebtheo27

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Sphäre der körperlichen Nöte wie dem Hunger, dem Durst oder dem Schlafwunsch zuordnet. Bedürfnisse lassen sich stillen. Das Begehren basiert auf seiner eigenen Unerfüllbarkeit. Es verbindet das Subjekt in spezieller Weise mit dem Anderen. Diese radikale Heteronomie wird in der Formulierung »Das Begehren ist das Begehren des anderen«29 deutlich. Für Spinoza ist das Begehren ein von Bewusstsein begleiteter Trieb.30 Eine Gleichsetzung von Trieb und Begehren hat Lacan zu keiner Zeit seiner Lehre vertreten. Das wäre nicht möglich gewesen, manifestiert sich das Begehren, von dem er spricht, doch sprachlich, ist wesentlich vom Signifikanten und damit von der Kultur bestimmt. Außerdem ist dasjenige Begehren, von dem er spricht, im Unterschied zum Begehren bei Spinoza kein bewusstes Begehren, sondern das Begehren des Unbewussten. Dieses unbewusste Begehren, le désir,31 ist von einem dialektischen Charakter gekennzeichnet, der dem Trieb nicht zukommt.32 Denn »[w]as Freud den Trieb nennt, ist eine Aktivität, die immer gelingt«.33

rie als frühkindlichen Anlehnungsort der für die Psychoanalyse wesentlicheren Sexualtriebe. Für eine erste Einführung in aktuelle triebtheoretische Überlegungen im Anschluss an Freud, Lacan und Laplanche vgl. Heinz Müller-Pozzi: Eine Triebtheorie für unsere Zeit. Sexualität und Konflikt in der Psychoanalyse. Bern 2008. 29 Jacques Lacan: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, in: ders.: Schriften II. 3 Auflage. Weinheim, Berlin 1991, 190. 30 3p9s, E 243; 3affd1, E 337. Vgl. dazu auch Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, 143. 31 Le désir ist nicht nur die französische Übersetzung für die lateinische cupiditas, sondern neben dem Freudschen Wunsch wird auch die Hegelsche Begierde im Französischen mit dem Ausdruck le désir übersetzt. 32 Ilka Quindeau hat in einer rezenten Publikation vorgeschlagen, den Begriff des Begehrens jenseits seiner Lacanianischen Konnotationen zu verwenden und den Freud’schen Trieb mit dem Begehren gleich zu setzen (vgl. Ilka Quindeau: Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Stuttgart 2008, 289 f.). Es stellt sich hierbei die Frage, warum zwei differenziert ausgearbeitete Konzepte vermischt werden sollen. Karl Stockreiter (vgl. http://stuzzicadenti.at/2010-07-03/geschlechterfusball-2/#more-724, Zugriff am 6.9.2010) hält die Vermischung für symptomatisch: »Entweder man läßt unter dem Trieb das Begehren verschwinden – dann kommt man zu einer Theorie des Agons Leben/Tod, Frau/Mann etc. und der Intensität oder man läßt den Trieb unter dem Begehren verschwinden – dann hat man eine Theorie der Differenz und der Nuance. Wahrscheinlich geht es hier um eine gegenseitige Abhängigkeit, die der Verleugnung anheimfällt: Intensität ohne Künstlichkeit ergibt Barbarei und die Differenz ohne Antagonismus ist ohne Leidenschaft.« Ohne, dass Quindeau darauf hinweist, ist ihr Standpunkt begriffsgeschichtlich mit Blick auf Spinoza nicht ohne Relevanz. 33 Jacques-Alain Miller: »Kommentar zu Lacans Text«, in: Christian Kupke (Hg.): Lacan – Trieb und Begehren. Berlin 2007, 24.

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Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Trieb und Begehren ist zu berücksichtigen, dass Lacan die Konnotationen von beiden Begriffen immer wieder diskutiert und teilweise auch verändert. Lacans Auffassung des Begehrens orientiert sich wesentlich an der Vorstellung eines für ein Begehren notwendigen Mangels, der sich als Movens der Sprache manifestiert. Der Trieb, auf den er mit Freud nicht verzichten kann, lässt sich einem Konzept des Mangels nicht leicht einfügen, impliziert Triebhaftes doch eher einen Überschuss an Energie als einen Mangel. In frühen Phasen seiner Lehre hat es übrigens den Anschein, als würde Lacan den Trieb zugunsten des Begehrens verabschieden.34 Der Trieb, den Freud als »unsere Mythologie« bezeichnet,35 gilt Lacan als eine Fiktion, als ein Grundbegriff.36 Er ist eine konstante Kraft, keine Stoßkraft.37 Seine psychoanalytische Erfassung im Rahmen von vier Parametern, nämlich Objekt, Ziel, Drang und Quelle, ist alles andere als natürlich.38 An eine biologische Funktion soll der Trieb nicht angenähert werden,39 sondern eher in technoider Manier an »eine in Gang befindliche Lichtmaschine […], die an einen Gashahn angeschlossen ist, aus dem eine Pfauenfeder herausragt, die eine hübsche Frau am Bauch kitzelt, welche nur der Schönheit der Sache wegen da ist«.40 In diesen Überlegungen wird der Trieb nahe an das Begehren gerückt,41 was sich etwa daran zeigt, dass Lacan »die grammatischen Beziehungen […], die rein künstlich sind«42 für das Wesentliche am Trieb hält. Beide, Trieb und Begehren, werden in dieser Fassung auf einen gemeinsamen Modus zurückgeführt, der der adäquaten Erkenntnis bei Spinoza nahe steht: auf das Symbolische und damit auf die Sprache. Lacan bestimmt den Trieb während dieser Phase von einer formalen Seite her. Er wird, so lässt sich das Bild mit der Lichtmaschine deuten, zu einem Trieb nur dadurch, dass etwas auf eine heterogene Reihe von Diskontinuitäten trifft. Dasselbe Attribut kommt dem Begehren zu. Diese Nähe zwischen Trieb und Begehren kann zweifellos als Verbindung zu Spinozas Gleichsetzung der beiden Begriffe gelesen werden.

34 Vgl. Dirk Quadflieg: »Die Sprache des Triebes. Hegel, Freud, Lacan«, in: Christian Kupke (Hg.): Lacan – Trieb und Begehren. Berlin 2007, 73. 35 Freud fasst den Trieb bekanntlich uneinheitlich: Einerseits referiert er mit dem Ausdruck »Trieb« auf eine Kraft, andererseits auf die psychische Repräsentation dieser Kraft. 36 Vgl. Lacan: Das Seminar. Buch XI, 171. 37 Vgl. Lacan: Das Seminar. Buch XI, 173. 38 Vgl. Lacan: Das Seminar. Buch XI, 171. 39 Vgl. Lacan: Das Seminar. Buch XI, 173. 40 Lacan: Das Seminar. Buch XI, 178. 41 Miller weist darauf hin, dass Lacan in seinem Text über »Die Bedeutung des Phallus« Trieb und Begehren verwechselt. Vgl. Miller: »Kommentar zu Lacans Text«, 19. 42 Lacan: Das Seminar. Buch XI, 178.

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Lacan ändert sein Konzept des Begehrens in seinem Spätwerk.43 Durch den Blickwechsel auf das Genießen, den er vollzieht, ändert sich die Position des Begehrens. Es verliert seinen »rebellisch[en] und diabolisch[en]«44 Charakter. Es wird zu einem Vollstreckungsmittel des nun weniger allgemein gültig gedachten Gesetzes.45 Dem Begehren gegenüber – auf der Seite des Genießens46 – steht dabei der Trieb. Die an Spinoza erinnernde Engführung von Trieb und Begehren findet sich ab den späten Sechziger Jahren jedenfalls bei Lacan nicht mehr. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Lacans und Spinozas Behandlung des Begehrens wurde bis jetzt nicht explizit genannt: Lacan fasst das Begehren nicht als Affekt auf. Grund dafür ist wohl auch die schon erwähnte terminologische Tatsache, dass Spinozas Affektbegriff nicht deckungsgleich mit jenem der Psychoanalyse ist. Es ist aber auch hinzuzufügen, dass Lacan keine allgemeine Theorie der Affekte entwickelt, sondern auf die Affekte nur insofern zu sprechen kommt, als sie mit anderen Überlegungen in Verbindung stehen.47 Er rekurriert in seinen Bemerkungen zu den Affekten häufig auf Freud, wobei anzumerken ist, dass auch dessen Überlegungen zu den Affekten heterogen sind.48 Das Fehlen einer ausgearbeiteten Theorie der Gefühle – sei es im Sinne einer ordnenden Klassifizierung oder eines ätiologischen Systems – kennzeichnet die Psychoanalyse von Anfang an.49 Im Bereich der an die kleinianische Lesart der Psychoanalyse anschließenden britischen Schule hat sich ein Gebrauch der 43 Vgl. Jacques Lacan: »Über den Trieb bei Freud und das Begehren des Psychoanalytikers«, in: Christian Kupke: Lacan – Trieb und Begehren. Berlin 2007, 13–17. Zunächst stellt Lacan das Begehren dem Inzestverbot gegenüber: Das verbotene Genießen befördert das Begehren. Das mit dem Begehren verbundene Lustprinzip stützt das Subjekt im Symbolischen. Das Begehren strebt eine Überschreitung jener Grenze an, die ihm durch das Verbot gesetzt ist. 44 Miller: »Kommentar zu Lacans Text«, 20. 45 Nun hat das Begehren die Bedeutung eines Symptoms. Manche sehen darin eine Abwertung des Begehrens (vgl. Miller: »Kommentar zu Lacans Text«, 23). 46 Vgl. Miller: »Kommentar zu Lacans Text«, 21. 47 Vgl. Dylan Evans: Dictionary of Lacanian Psychoanalysis. Hove, New York 1996, 5. 48 Freud fasst Affekte vor 1900 unspezifisch als emotionale Zustände auf, die von Gedanken getrennt werden können und sich als eingeklemmte Affekte in der Hysterie darstellen. 1915 gelten sie ihm als qualitativer Ausdruck des quantitativen Faktors der Triebenergie. Als allgemeine Währung, in welche Affektbeträge eingetauscht werden können, sieht er zu diesem Zeitpunkt die Angst, der damit eine Sonderstellung unter den Affekten zukommt (vgl. Sigmund Freud: »Die Verdrängung (1915)«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1999, 255). 1926 modifiziert Freud seine Theorie der Angst: Sie verliert ihren Tauschwert, und das Ich wird zur Stätte der Angst. 49 Vgl. Mai Wegener: »Warum die Psychoanalyse keine Gefühlstheorie hat«, in: Gerd Folkers/Johannes Fehr (Hg.): Gefühle zeigen. Zürich 2009 (= Edition Collegium Helveticum, Bd. 5), 143–162.

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Affekte in der Praxis der Psychoanalyse im Hinblick auf sehr frühe Phasen der Entwicklung herausgebildet, der Lacan veranlasst hat, vor der Annahme eines »protopathischen Subjekts«50 zu warnen. Von Kritikern51 wurde ihm in der Folge nicht nur eine Vernachlässigung, sondern sogar eine Missachtung der Affekte vorgeworfen – ein Vorwurf, den er explizit zurückweist.52 Lacan betont, dass Affekte53 nicht verdrängt werden können.54 Die Rede von unbewussten Gefühlen, unbewussten Emotionen oder unbewussten Affekten ist vor diesem Hintergrund ohne Sinn. Im Rahmen einer Verdrängung werden Affekt und Vorstellung voneinander getrennt. Und während die Vorstellung als Signifikant unbewusst wird, kommt es zu einer Verschiebung des Affektes. Er bindet sich an eine andere, nicht verdrängte Vorstellung. Lacan unterstreicht den imaginären Charakter der Affekte: Sie können trügerisch sein.55 Hierin lässt sich übrigens eine weitere Verbindung zu Spinoza ausmachen. Denn Spinoza hebt die Neigung des Menschen hervor, Dinge »aus bloßem Affekt« zu beurteilen, weshalb er es dann nicht mit den Dingen, sondern nur mit »Einbildungen« zu tun hat (3p51s, E 311).

50

Lacan: »Subversion des Subjekts«, 173. Vgl. etwa Jean Laplanche: The Unconscious and the Id. London 1999, 18, oder Green: Le discours vivant, 136–141. Auch wenn dies angesichts von Greens breit rezipierter Kritik am Fehlen eines Affektkonzepts von Lacan leicht übersehen werden kann, findet Lacans Versuch einer Orientierung an Freuds Affektauffassung durchaus auch Anerkennung (vgl. als Beispiel Joseph H. Smith: »Ego Psychology and the Language of Lacan: Transference and Affect«, in: Psychoanalysis and Contemporary Thought 14 (1991), 143–182). 52 Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre XVII. L’envers de la psychanalyse (1969– 1970). Paris 1991, 168. 53 Für einen detaillierten Überblick über Lacans Behandlung der Affekte siehe http://www.lacanonline.com/index/2010/05/what-does-lacan-say-about-affects/ (Zugriff am 5.12.2010) Colette Soler: Les affects Lacaniens. Paris 2011. 54 Vgl. u. a. Lacan: Le désir et son interprétation, Sitzung vom 26.11.1958 und ders.: Le Séminaire. Livre X. L’angoisse (1962–1963). Paris 2004, 23, und Lacan: Le Séminaire. Livre XVII, 168. 55 Als einziger Affekt, der nicht täuscht, gilt Lacan die Angst. Das ist ein deutlicher Bezug zu Freuds erster Angsttheorie (vgl. Fn. 48). Ein Subjekt hat, was sich erst nachträglich darstellen kann, früh Angst vor Fragmentierung, vor einem Verschlungenwerden durch die Mutter, vor dem Ausbleiben einer den subjektkonstitutiven Mangel einführenden Kastration (vgl. dazu Lacan: Le Séminaire. Livre X). Für einen Überblick über Lacans Angsttheorie siehe Hans-Dieter Gondek: Angst, Einbildungskraft, Sprache. München 1990. 51

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III. Vorsicht Die US-amerikanische Psychoanalytikerin Susie Orbach erzählt von einem fünfzigjährigen Vater von sechs Kindern, der in ihre Praxis kommt, weil er eine Amputation seiner beiden Beine anstrebt.56 Er tut dies ohne ersichtlichen medizinischen Grund, leidet er doch an keiner körperlichen Krankheit. Eine psychoanalytische Behandlung lehnt er ab. Er sucht einen Arzt nach dem anderen auf, weil er Bundesgenossen in Kampf um die Durchführung der Operation sucht. Orbach vergleicht seinen Wunsch nach Verstümmelung mit dem Wunsch nach einer operativen Geschlechtsumwandlung, die wir Orbach zufolge heute mit etwas weniger Befremden als eine Extremitätenoperation zu betrachten bereit sind. Mit dieser Vignette soll der Blick auf die Praxis gelenkt werden, die für psychoanalytische Theoriebildung konstitutiv ist. Neben der Frage nach den Affekten hängt das Verständnis dessen, was angesichts des beschriebenen Operationswunsches gedacht werden kann, auch von jenen Konzepten ab, die wir implizit oder explizit vom Körper haben. Lacan betont schon früh, dass es heute selbstverständlich ist, die Trennung von Körper und Seele in Descartes’ res extensa und res cogitans anzunehmen.57 Heutige Subjekte sind gewohnt, ihren Körper als eine nützliche Maschine zu begreifen. Vielleicht liegt hierin ein Grund der Irritation, die Orbach beschreibt: Mit dem vorgebrachten Wunsch des Patienten wird ein nahezu selbstverständliches Kalkül, dass nämlich Maschinen und speziell Körpermaschinen nutzenmaximierend einzusetzen sind, in Frage gestellt. Lacans Auffassung des Körpers hat sich im Laufe seiner Lehre verändert. Mit Paul Verhaeghe lassen sich dabei drei verschiedene Phasen unterscheiden.58 Zunächst begreift Lacan den Körper vor allem von seiner Oberfläche her. Dies ist die Körpervorstellung des Spiegelstadiums.59 In den folgenden dreißig Jahren verschiebt er sukzessive den Akzent: Neben der Sichtbarkeit des Körpers und der Frage seiner Determinierung durch das Soziale werden Vorstellungen vom Körperinneren einbezogen. In seinem Spätwerk fragt Lacan schließlich,

56

Vgl. Susie Orbach: Bodies. New York 2009, 21. Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (1954–1955). Olten 1991, 97–101. 58 Vgl. Paul Verhaeghe: »Mind your body. Lacan’s answer to a classical deadlock«, in: ders.: Beyond gender. From subject to drive. New York 2001, 99–132. 59 Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: ders.: Schriften I. Olten: 1978, 61–70. 57

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wie der Körper vom Subjekt erreicht werden kann. Der Trieb, die Sexuierung und das Genießen bilden den Rahmen der späten Überlegungen.60 Im Rahmen des Spiegelstadiums macht das Kind durch die Wahrnehmung seines gespiegelten Körpers eine Erfahrung von Ganzheit, von Einheitlichkeit. Lacan beschreibt diese Erfahrung als orthopädische im Sinne einer Stütze, und zwar in doppelter Hinsicht: Die motorische Inkoordination und die mangelnde Beherrschung der eigenen Körperbewegungen, die viel später für die Träumenden als das Bild eines zerstückelten Körpers auftauchen, werden mittels der Vereinheitlichung in ein Bild eines ganzen Körpers ebenso überwunden wie die Abhängigkeit von der Pflege einer anderen. Das Kind, das seinen Körper im Spiegel jubilierend begrüßt, schafft auf diese Weise eine erste (narzisstische) Form seiner selbst, die Instanz des Ich/moi, die es ein Leben lang »allein nie mehr auslöschen kann«.61

60 Weil anders der Umfang dieser Arbeit gesprengt würde, kann hier nur auf die erste Phase von Lacans Körpervorstellung näher eingegangen werden. In der zweiten Phase seiner Behandlung des Körpers vollzieht Lacan hinsichtlich seines Interesses einen shift vom Gesetz zur Ursache (vgl. Verhaeghe: »Mind your body«, 72), vom Symbolischen zu dem, was er das Reale nennt. Das Gesetz als Grundlage der Regeln im Symbolischen impliziert einen Körper, der sich in das Soziale eingliedern lässt, indem er etwa als automaton vorstellbar wird und damit nach vorhersagbaren Abläufen funktioniert. Anders der Körper, der die Ursache als Beweggrund im Realen umfasst. Bei ihm sind seine Unbestimmbarkeit, Unentdecktheit, Unheimlichkeit wichtig. Das Erbe Spinozas lebt hierbei in Lacans Überlegungen zur Ursache weiter. Auf Basis von Aristoteles’ Vierursachenlehre stellt Lacan die Wahrheit der Magie als Wirkursache, die Wahrheit der Religion als Zweckursache, die Wahrheit der Wissenschaft als Formursache und die Wahrheit der Psychoanalyse als Materialursache dar (vgl. Lacan: »Die Wissenschaft und die Wahrheit«). Damit unterstreicht Lacan ein körperliches Moment des Unbewussten. Gemeint ist beispielsweise ein Wort als spezifisches klangliches Gebilde, bei dem es nicht auf dessen Bedeutung ankommt. An Spinoza erinnert Lacans Gedanke einer einzigen Ursache für die Wahrheit in der Psychoanalyse durch den monistischen Zug, der einer solchen Wahrheit eigen ist. Der Körper, auf den sich Lacan in seinem Spätwerk bezieht, ist einerseits sterblich, anatomisch markiert und Träger einer geschlechtlichen Rolle. Er ist andererseits unsignifizierte Materie, kompakt. Er ist Projektionsfläche für Fantasien. Vor allem aber ist er Objekt und Subjekt des Genießens. Lacan assoziiert dabei ein Genießen Gottes mit einem speziellen weiblichen Genießen, das die Grenzen der symbolischen und (von Lacan vor allem) als phallisch angesehenen Ordnung überschreitet (vgl. dazu Ulrike Kadi: »Sexuierung nach Lacan. Eine Fragwürdigung«, in: Christine Diercks/Sabine Schlüter (Hg.): Psycho-Sexualität. Sigmund-Freud-Vorlesungen 2010. Wien 2011, 77–86). Lacan kommt mit dem Ausdruck »Genießen Gottes« Spinoza wieder sehr nahe, wenn er das Genießen der heiligen Therese angesichts der Statue von Bernini als Genießen Gottes beschreibt, ist doch bei Spinoza mit dem Genießen des höchsten Gutes auch dessen Erkenntnis verbunden (vgl. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen, 199). 61 Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 64.

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Lacan beginnt nicht mit der Analyse eines erwachsenen Subjekts. Er setzt nicht wie Descartes ein erkennendes Subjekt voraus, sondern er entfaltet dessen fragilen Status mit Hilfe einer Bezugnahme auf den Körper. Hierin könnte eine Parallele zu Spinoza gesehen werden, bei dem es heißt: »Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper« (2p13, E 125). Auch die Fusion, die bei Lacan zwischen der körperlichen Integrität und einem Machtgefühl entsteht, erinnert an Spinoza, der betont, dass »[d]er Geist strebt, so viel er kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert« (3p12, E 247). Der narzisstischen Form, dem Ich/ moi, schreibt Lacan eine trügerische und selbsttäuschende Aktivität zu. Das Moment des Trügerischen, des »Selbst-Betrügerischen«, findet sich in folgender Beschreibung Spinozas: »So glauben der Faselhans, das Plappermaul, der Kindskopf und viele Leute dieses Schlags aus freier Entscheidung des Geistes zu reden, während sie doch bloß ihrem Rededrang, den sie nun einmal haben, nicht widerstehen können, so daß gerade die Erfahrung nicht weniger als die Vernunft lehrt, daß Menschen sich allein deshalb für frei halten, weil sie sich ihrer Handlungen bewußt sind, aber die Ursachen nicht kennen, von denen sie bestimmt werden« (3p2s, E 233). Im Unterschied zu Spinoza, der die Frage des Selbstbetrugs mit der Frage nach der Freiheit des Menschen verknüpft (vgl. auch 3p51s, E 313), bezieht Lacan die Täuschung ausgehend von den Bewegungs- und Kontrollmöglichkeiten des Körpers auf die Frage nach der Macht des Subjekts.62 Lacan folgt Spinoza zwar nicht darin, dass mit der Empfindung des Körpers dessen Existenz verbunden ist (2p13c, E 125). Denn die Anordnung mit dem Spiegel, die Lacan wählt, gibt der Wahrnehmung des eigenen Körpers einen virtuellen Status. Die jubilierende Reaktion wird zum Ausgangspunkt einer ironischen Interpretation eines selbstbewussten Ichs, das das Fremde des eigenen Bildes jubelnd für einen Beweis der eigenen Existenz halten möchte. Sie wird als Geste der Idealisierung, als Ausdruck der (optischen) Täuschung durch ein Körperbild begriffen. Und damit lassen sich Lacans Annahmen neuerlich mit Spinozas in Verbindung bringen. Spinozas nennt die imaginatio eine verworrene oder inadäquate Erkenntnis. In ihr werden nur (Vorstellungs-)Bilder von Dingen, nicht aber die Dinge selbst wiedergegeben (2p17s, E 145 ff.). Auch Spinozas imaginatio täuscht. Mit dem Spiegelbild im Spiegelstadium verbindet Lacan das, was Spinoza als ein Vorstellungsbild auffasst. Sein Gehalt kann nicht als falsch erkannt werden, weil es dafür einer Reflexion, einer adäquaten Erkenntnis, bedürfte, die innerhalb der imaginatio nicht möglich ist.63 62

Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 64. Spinoza kennt einen Modus, in welchem die auf Basis eines körperlichen Wahrnehmungsprozesses entstandene Täuschung hintan gehalten werden kann: Dem 63

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Für Spinoza lösen Vorstellungsbilder vergangener oder zukünftiger Dinge dieselben Affekte aus wie das Bild eines gegenwärtigen Dinges (3p18, E 257). Affekte heften sich an Vorstellungsbilder und werden damit zu einem Teil einer inadäquaten Erkenntnis. Diese Spur reicht ins Zentrum von Lacans Affektkonzept. Auf eine allein durch Affekte vermittelte, intuitive Erkenntnis möchte Lacan im Behandlungsprozess nicht setzen, weil sie trügerisch wäre. Wie tauchen Affekte in der Praxis der Psychoanalyse auf? Als erstes habe sich ihr der Gedanke aufgedrängt, dass der Mann psychotisch ist, berichtet Orbach. Doch diese Überlegung scheint mehr zu ihren eigenen Affekten zu gehören als zum Wunsch des Patienten.64 Um zu einer Empfehlung für den Patienten zu kommen, ist hier nicht nur die Frage nach dem Verständnis des Körpers, sondern auch nach dem Umgang mit den Affekten in einer Behandlungssituation wichtig. Spinoza zufolge vermag die Vorstellung Affekte hervorzurufen, die einem anderen eigen waren: »Wer sich vorstellt, daß das, was er liebt, mit Freude oder Trauer affiziert ist, wird selbst auch mit Freude oder Trauer affiziert werden; und beide Affekte werden in dem Liebenden größer oder kleiner sein, je nachdem sie in dem geliebten Ding größer oder kleiner sind« (3p21, E 261). Hier kann der Eindruck entstehen, als beschriebe Spinoza eine in einem Modus des Spiegelns gedachte Identifikation mit einem anderen Menschen. Wobei die Identifikation bei Spinoza nicht nur mittels der Affekte, sondern ebenso gut auf Basis der Ähnlichkeit erfolgen kann: »Wenn wir uns ein uns ähnliches Ding, mit dem wir nicht affektiv verbunden gewesen sind, als mit irgendeinem Affekt affiziert vorstellen, werden wir allein dadurch mit einem ähnlichen Affekt affiziert werden« (3p27, E 269). Diese mit ihrer feinen deskriptiven Note beinahe intuitiv einleuchtenden Lehrsätze Spinozas sind geeignet, Lacans vorsichtigen Umgang mit den Affekten in einer Psychoanalyse verständlich zu machen. Affekte sind geeignet, Fernes, nicht Zusammengehöriges, auf eine rasche und quasi plausible Weise miteinander zu verbinden und umgekehrt nah beieinander Liegendes in der gleichen Weise zu trennen. Wenn Orbach sofort darüber nachdenken muss,

menschlichen Geist ist es anders als dem menschlichen Körper möglich, die Realität von Ideen zu erkennen. Das hängt damit zusammen, dass der Geist im Unterschied zum Körper »[Ideen] in ihrer eigenen Perspektive ausdrücken [kann]« (Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 2006, 98). Spinoza führt diese menschliche Fähigkeit darauf zurück, dass Gott die Essenz des menschlichen Geistes ist. Über das hier behandelte Themenfeld hinausgehend lässt sich in Lacans Theorie des Namens des Vaters eine Aneignung dieser Argumentationsfigur finden. Allerdings weicht Lacans Konzeptualisierung der Realität deutlich von Spinozas ab. 64 Vgl. Orbach: Bodies, 21.

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ob der Patient, der eine Beinamputation wünscht, nicht psychotisch ist, sind ihrer eigenen Einschätzung nach Affekte auf der Seite der Untersucherin, das heißt auf ihrer Seite, im Spiel. Eine Spiegelung, eine von positiven Affektionen geleitete Identifikation mit dem Patienten ist ihr nicht möglich, obschon sie ihn als Ähnlichen anerkennt. Ihre Vorstellung, sich ihre eigenen Beine amputieren zu lassen, affiziert sie negativ. Sie würde eine ähnliche negative Affektion auch beim Patienten erwarten. Da sie eine solche aber nicht wahrnehmen kann, kann sie ihn nicht mehr als einen ihr Ähnlichen ansehen und spricht ihm die Fähigkeit ab, gute und nachvollziehbare Gründe für seinen Wunsch zu haben. Ihr Gedanke an eine mögliche Psychose des Patienten ist inadäquat, verworren, trügerisch, zumal sich Orbach an dieser Stelle einzig und allein auf ihre imaginatio stützt. Um Orbachs Gedanken an eine Psychose des Patienten zu begreifen, können wir auf Spinoza und Lacan gleichermaßen zurückgreifen. So weit scheinen die Ähnlichkeiten zwischen beiden Autoren zu reichen. Allerdings lassen sich beider Überlegungen nicht mehr parallelisieren im Hinblick auf Orbachs rasche Entscheidung, ihrer eigenen, durch ihre Affekte motivierten Annahme nicht länger zu trauen. Denn diese Entscheidung macht Orbach zu einem Subjekt im Lacan’schen Sinn. Dieses Subjekt unterscheidet sich vom Geist Spinozas durch die Negativität, die seiner Entstehung vorausgeht und die es gleichzeitig ausmacht. Die Negativität zeichnet sich im Imaginären als der dialektische Aspekt der Erfahrungen vor dem Spiegel ab, als dasjenige, was Lacan mit dem Hegel’schen Kampf zwischen Herrn und Knecht in Verbindung bringt. Sie ist Bedingung für die Individuation und die Separation gegenüber dem anderen in der Spiegelbeziehung, die unser modernes Selbstverständnis bestimmen. Der Kampf im Imaginären führt im Rahmen der Subjektgenese zu einer aus einem Widerspruch gewonnenen und insofern vermittelten, Lacan zufolge nicht mehr täuschenden Subjektivität im Symbolischen. Zumal das Spiegelstadium allerdings die nachträgliche gestaltende Erfassung einer vorgängigen Erfahrung beschreibt, wird hier nun auch ein wichtiger Unterschied zwischen den Affekten in Spinozas Sinn und den Affekten im Kontext von Lacan deutlich:65 Bei Letzterem lassen sie sich ohne Einschränkung dem späteren Subjekt zuordnen. Die Affekte, wie Spinoza sie fasst, können dem Menschen nicht in derselben Weise zugeschrieben werden. Sie treten von außen an den Menschen heran, darin mehr den Intensitäten von Deleuze nahestehend als Affekten im heutigen Sinn. Das ist übrigens ein weiterer Grund, weshalb Lacans Übersetzung von Spinozas affectio durch den franzö-

65 Vgl. zu diesem Gedanken Slavoj Žižek: »Spinoza, Kant, Hegel and … Badiou!«, siehe unter: http://www.lacan.com/zizphilosophy1.htm (Zugriff am 17.12.2010).

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sischen Ausdruck »affect« fragwürdig ist. Orbachs Motive, mit dem Patienten zu sprechen und dabei etwas über dessen Wunsch nach einer Beinamputation zu hören, lassen sich aus demselben Grund in ihrer für Orbach subjektiven Bedeutung nicht aus der Perspektive Spinozas untersuchen. Die philosophiegeschichtlich triviale Feststellung macht die Grenzen, die Lacans Spinozarezeption gesetzt sind, deutlich. Sie lässt aber auch erkennen, dass direkte Linien, die zwischen Spinozas Affektauffassung und neurowissenschaftlichen Lesarten der Emotionen66 gezogen werden, diese entscheidende Differenz übergehen.67 Auch die moderne Betonung der Verknüpfung zwischen Körperveränderungen und affektiven Zuständen verweist auf die Divergenz, die sich zwischen Spinoza und Lacan aufgetan hat: Lacan beharrt zumindest in seiner frühen Auffassung des Körpers auf einer entfremdenden Erfahrung im Hinblick auf den eigenen Körper, die mittels einer affektiven Reaktion überdeckt, aber nie zum Verschwinden zu bringen ist. Diese Erfahrung einer in den eigenen Körper hineinreichenden Entfremdung (alienation) durch die Konfrontation mit einem anderen kann nachträglich als Vorläufer jener dialektischen Bewegung angesehen werden, aus der das Subjekt hervorgeht. Das Lacan’sche Subjekt hat dabei zumindest in jener Fassung, in welcher sich sein Körper vor allem von der Oberfläche im Spiegel aus konstitutiert, den Zugang zu jenen Erfahrungen verloren, die sein Zeitgenosse Maurice Merleau-Ponty der Leiblichkeit zugestanden hat. Lacan spricht von einer leibseelischen Einheit, die »dieser Idiot Descartes zerstückelt hat«.68 Die Zerstückelung wird von Lacan theoretisch durch sein Beharren auf der Dominanz einer Dialektik unterstrichen, im Rahmen derer nicht nur der andere, sondern auch der eigene Körper und die eigenen Affekte vor allem in ihrer unhintergehbaren Fremdheit anzuer-

66

Vgl. Damasio: Looking for Spinoza; Orbach: Bodies, 181–182. Die zeitgenössischen Versuche einer neurowissenschaftlichen Fundierung emotionalen Erlebens lenken den Blick auf ein Problem, das hier bis jetzt nur an einzelnen Stellen angeklungen ist. Im Unterschied zu Lacans Verständnis der Affekte wird der Blick nicht auf die Fragilität eines affektiven Erlebnisses gelenkt, sondern es wird eine korrelative Verknüpfung zwischen beobachteten affektiven Zuständen und morphologischen Veränderungen im Gehirn zum Zentrum der Überlegung gemacht (vgl. Ulrike Kadi, »Stabile Partnerschaften. Über neuronale und politische Subjekte«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik 3 (2007), 73–83). Das ist eine Vorgangsweise, die Spinoza und Lacan nicht hätten wählen können, denn weder waren die für eine solche Anordnung notwendigen bildgebenden Verfahren zur Zeit ihrer jeweiligen Wirksamkeit so weit entwickelt, noch hätten beide auf Grund der Beschränkungen, die ihren Methoden eigen sind, auf Röntgenbilder oder computertomographische Verfahren zurückgreifen können. 68 Lacan: Das Seminar. Buch II, 97. 67

Affekt und Körper: Zu Jacques Lacans Spinoza-Lektüre

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kennen sind. Psychoanalytisch lassen sich zahlreiche Belege solcher Entfremdungserlebnisse finden. Sie reichen von der Unheimlichkeit des Doppelgängers über die Träume körperlicher Zerstückelung hinein in zahllose Beispiele aus der bildenden Kunst, von denen Lacan etwa Hieronymus Boschs Malerei anführt.69 Doch Entfremdung kann nur als solche erlebt werden, wenn auch andere Erfahrungen gemacht werden, die nicht unter das Verdikt der Entfremdung fallen. Der bei Spinoza vorgestellte Zusammenhang von Körper und Geist ist geeignet, solche Momente zu charakterisieren. Lacan hat eine Beschäftigung mit diesen Aspekten der Erfahrung allerdings nicht nur implizit im Hinblick auf seine Spinoza-Rezeption, sondern auch explizit gegenüber Merleau-Ponty abgelehnt. In seiner Zurückweisung »der guten Form[, die] einen scheinbaren Halt bietet«,70 wendet er sich einerseits gegen einen Primat des Bewusstseins, den er bei Merlau-Ponty ausmacht, und hebt andererseits die Verbundenheit des Mediziners Freud mit der cartesianischen Tradition hervor.71 Als käme es ihm nur auf den Bruch an, der die Psychoanalyse als eine Wissenschaft vom Unbewussten praktisch wie theoretisch bestimmt. Green hat in der Auseinandersetzung mit Lacan vorgeschlagen, Zustände des Leibes (corps propre) in die Praxis der Psychoanalyse einzubeziehen und den Affekt als eine Abart (variété) des Signifikanten anzusehen.72 Das ist wenig problematisch, solange damit ein Bemerken von affektiven Momenten gemeint ist, ohne dass diese dann direkt als Schlüssel zur Identifizierung von Bedeutungen eingesetzt werden. Auf dem Weg, der gemeinsam mit dem Patienten zurückzulegen ist, um zu begreifen, was sein Wunsch nach einer verstümmelnden Beinoperation bedeuten könnte, wäre diese Seite der Affektivität wohl durchaus auch zu berücksichtigen. Orbach erzählt allerdings in der Folge in Zusammenhang mit dem Patienten von der verführerischen Kraft der Affekte. Der Patient habe im Rahmen einer insgesamt langweiligen Kindheit entdeckt, dass an Kinderlähmung erkrankte Menschen sich ihres behinderten Körpers wegen einer besonderen Aufmerksamkeit anderer erfreuen. Ein hinkender Freund seiner Mutter und ein Schulkollege mit Krücken avancierten zu Vorbildern für ihn. Er begann sich inständig zu wünschen, selbst gehbehindert zu sein. Mit Lacan ist dabei von einer Spiegelidentifizierung des Patienten auszugehen, im Rahmen derer er sich in einer Bewegung, die an Spinozas imaginatio erinnert, als Freund der Mutter oder als sein Schulkollege vorstellt. 69 70 71 72

Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 67. Lacan: Das Seminar. Buch II, 104. Vgl. Lacan: Das Seminar. Buch II, 105. Vgl. Green: Le discours vivant, 139.

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Ulrike Kadi

Orbach zufolge ist es dem Patienten schließlich gelungen, bei einem Operateur Verständnis für seine Lage zu finden und sich beide Beine amputieren zu lassen.73 Die von Spinoza wie von Lacan aus unterschiedlichen Motiven vertretene Vorsicht gegenüber den Affekten kannte der Operateur offensichtlich nicht.

73

Vgl. Orbach: Bodies, 29.

Arno Böhler

Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze Wissen wir, was das Medium »Körper« kann?

I. Spinoza: Der Denker absoluter Immanenz Für Deleuze ist Spinoza der Prinz der Philosophie, weil es ihm als Erstem gelungen ist, die Substanz gänzlich von der Idee der Immanenz her zu denken. »Wer sich ganz und gar dessen bewußt war, dass die Immanenz nur sich selber immanent und damit eine Ebene ist, die von den Bewegungen des Unendlichen durchlaufen wird, angefüllt mit den intensiven Ordinaten – ist Spinoza. Darum ist er auch der Erste unter den Philosophen.«1 Wenn Spinoza im Ersten Teil seiner Ethik Substanz als etwas definiert, »was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müßte« (1d3, E 5), dann ist es offenkundig die Idee dieses In-sich-selbst-seins, von der her Spinoza das auslegt, was er unter Substanz versteht. Nicht die Rückführung aller Modi und Attribute auf eine einzige Substanz macht das charakteristische Moment aus, das ihn, Spinoza, für Deleuze zum Fleisch gewordenen »Christus der Philosophen«2 macht, sondern die Bestimmung der Substanz vom quod in se est her, von der Idee reiner Immanenz, die sich in ihrer Inständigkeit in sich selbst gänzlich selbst genügt. Nicht die Immanenz ist es, die sich auf die Substanz und die Modi bei Spinoza bezieht, im Gegenteil, die spinozistischen Begriffe von Substanz und Modi sind es, die sich auf die Immanenzebene als ihre Voraussetzung beziehen. Diese Ebene präsentiert uns ihre beiden Seiten, die Ausdehnung und das Denken, oder, genauer, ihre beiden Potenzen, Seinspotenz und Denkpotenz. Spinoza – das ist der Taumel der Immanenz […].3

1

Gilles Deleuze: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 2000, 57. »Man möchte sagen, die Immanenzebene sei zugleich das, was gedacht werden muss, und das, was nicht gedacht werden kann. […] Was nicht gedacht werden kann und doch gedacht werden muss, wurde ein einziges Mal gedacht, wie Christus ein einziges Mal Fleisch geworden ist, um für dieses Mal die Möglichkeit des Unmöglichen aufzuzeigen. Daher ist Spinoza auch der Christus der Philosophen, und die größten Philosophen sind Apostel, die diesem Mysterium näher oder ferne stehen. Spinoza, das unendliche Philosophen-Werden.« (Deleuze: Was ist Philosophie, 68–69) 3 Deleuze: Was ist Philosophie, 57. 2

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Arno Böhler

Die Idee von Immanenz ist für ihn also kein konstitutives Wesensprädikat von Substanz, sondern gerade umgekehrt. »Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur« (1d3, E 4). Einzig und allein das, was in sich selbst die Kraft besitzt, sich durch sich selbst zu konzipieren und folglich gänzlich aus sich selbst heraus auszudrücken (exprimit4), eignet sich dafür, Substanz genannt zu werden.5 Ganz im Sinne der antiken Philosophie entspricht der ousía (»Substanz«) folglich derjenige Bewegungsmodus, den die Griechen phýsis nannten: die Bewegung eines aus sich selbst heraus rollenden Rades, die Ereignis wird, wenn etwa eine Blume aus ihrem eigenen Sperma und Licht (phōs) heraus aufgeht, indem sie am eigenen Leib die Natur ihres Blumensamens figurativ zum Ausdruck bringt und damit an etwas, nämlich an der Blume selbst, dinghaft zur Schau stellt, ihre immanentes Wesen also ek-phantisch6 demonstriert. Seit Aristoteles wurde diese Bewegungsform bekanntlich vom technischen Hervorbringen und pathischen Erleiden von Dingen begrifflich unterschieden, da in diesen beiden Bewegungsmodi etwas gerade nicht aus sich selbst heraus konstruiert, sondern von etwas anderem (technisch) ins Sein hervorgebracht wird – ein Bettgestell wird nicht von einem anderen Bettgestell, sondern von einem Menschen hergestellt –, bzw. etwas von etwas anderem im eigenen Dasein (pathisch) affiziert wird. Und so kann auch Spinoza ganz klassisch Substanz weiter definieren als dasjenige, dessen selbstimmanente Konzeption nicht der Konzeption eines anderen äußeren Dings bedarf, um in sich selbst ek-sistent, das heißt aus-drücklich zu sein. »Per substantiam intelligo id, […] cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.« (1d3, E 4) Substanz ist per Definition das, was von nichts anderem äußerlich abhängt und folglich ist sie als eine Entität zu bestimmen, die den Grund ihrer Existenz gänzlich in sich selbst und gerade nicht in einer anderen besitzt, wie es bei endlichen Modi

4 »Zuerst und vor allem drückt sich die Substanz in ihren Attributen aus, und jedes Attribut drückt ein Wesen aus. Sodann aber drücken sich die Attribute ihrerseits aus: sie drücken sich in den von ihnen abhängigen Modi aus, und jeder Modus drückt eine Modifikation aus. Wir werden sehen, daß die erste Ebene als die einer eigentlichen Konstitution, fast einer Genealogie des Wesens der Substanz verstanden werden muss.« (Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München 1993, 18) Vgl. dazu vor allem die folgenden Stellen in Spinozas Ethik: »aeternam et infinitam essentiam exprimit« (1d6, E 6), sowie »aeternam et infinitam certam essentiam exprimit«, »aeternitatem, et infinitatem exprimunt«, »realitatem sive esse substantiae exprimit« (1p10s, E 20). 5 Vgl. Deleuze: Spinoza Ausdruck, 17–25. 6 Zur ek-phantischen Präsenz vgl. Dieter Mersch: »Negative Präsenz«, in: Arno Böhler; Susanne Granzer (Hg.): Ereignis Denken. Wien 2009, 107–114.

Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze

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der Fall ist.7 Als ein solches, sich selbst immanentes Leben,8 ist sie, wie Spinoza gleich in der ersten Definition seiner Ethik expliziert, notwendigerweise auch causa sui. Denn: »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« (1d1, E 5) Insofern Spinoza das, was ihm Substanz heißt, in einem mehrfältigen Sinne von der Idee reiner Immanenz her bestimmt, insofern, und nur insofern, gebührt ihm für Deleuze das Prädikat, der Erste und Künftigste unter den Philosophen gewesen zu sein. »Er hat die ›beste‹, das heißt reinste Immanenzebene gezeigt, errichtet, gedacht, diejenige, die sich nicht dem Transzendenten preisgibt und nichts vom Transzendenten zurückgibt, diejenige, die am wenigsten Illusionen, schlechte Gefühle und irrige Wahrnehmungen erregt.«9

1. Spinoza: Der Lebensphilosoph Deleuze hat die philosophische Bedeutung dieses Gedankens zwei Monate vor seinem Tod in seinem letzten literarischen Vermächtnis Die Immanenz: Ein Leben…10 noch einmal emphatisch hervorgehoben. Schon die auffällige Interpunktion des Titels – Die Immanenz wird durch zwei Doppelpunkte (quasi definitorisch) mit einem Leben in Beziehung gesetzt, das seinerseits mit drei Auslassungspunkten in einer indefiniten, unendlich ergänzbaren Reihe endet –, weist eindringlich darauf hin, dass die spinozistische Idee einer reinen, absoluten Immanenzebene für Deleuze nur dann in ihrer wesenhaften Bedeutung erschlossen wird, wenn sie definitiv als dasjenige verstanden wird, was im Zuge eines Lebens jedes Mal wieder von Neuem ereignet/Ereignis geworden sein wird – Ein Leben. Und zwar insofern es selbst als Er-eignis einer Immanenzebene Ereignis/ereignet wird. Weil Immanenz nur im Zuge des Lebens eines 7 »Dasjenige Ding heißt in seiner Gattung endlich, das von einem anderen derselben Natur begrenzt werden kann.« (1d2, E 5) 8 »›Man möchte sagen, die reine Immanenz sei Ein Leben und nichts anderes. Sie ist nicht Immanenz im Leben, vielmehr ist sie als Immanentes, das in nichts ist, selbst ein Leben. Ein Leben ist die Immanenz der Immanenz, die absolute Immanenz. Es ist vollkommenes Vermögen, vollkommene Glückseligkeit.‹ […] Ein Leben manifestiert sich in den Ereignissen, die einem Individuum zustoßen und es – vielleicht nur unmerklich – vom Weg abkommen lassen oder es sogar aus der Bahn werfen.« (Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt a. M./New York 1998, 108, und Gilles Deleuze: Die Immanenz: ein Leben, in: Friedrich Balke; Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München 1996, 29–33, 30) 9 Deleuze: Was ist Philosophie, 69. 10 Gilles Deleuze: »Die Immanenz: ein Leben …«, in: Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München 1996, 29–33.

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Lebens stattfindet, sie also nur im Er-eignis eines Lebens selbst aus-drücklich wird, daher lässt sie sich für Deleuze niemals vor dem Leben eines konkreten Lebens in ihrer Eigenheit und Eignung bestimmen. Definiert sie sich doch einzig und allein in, durch und aus der Art und Weise heraus, wie ein Leben tatsächlich gelebt, erlebt, ereignet, eräugt,11 sprich Ereignis worden sein wird. Spinoza, der Denker der Immanenz. Dieser Ehrentitel ist für Deleuze folglich alles andere als ein Titel für das Denken eines Denkers, der bloß die leblose Geometrisierung und schematisierende Mathematisierung eines univoken Seins gelehrt hätte.12 Für Deleuze ist er vielmehr ein mit Bergson und Nietzsche in einer Reihe und Linie stehender Philosoph des Lebens! Wobei der Terminus Leben in diesem philosophischen Kontext nichts anderes bedeutet als das Moment des Ereignis-Werdens der Immanenzebene selbst: Indem sie sich selbst als immanente Ursache ihrer selbst in sich selbst äußert, wird die Immanenzebene in diesem, ihrem Er-eignis, sich selbst dynamisch allererst zu eigen, das heißt lebendig zugeeignet. René Schérer hat den ereignishaften Zusammenhang von Immanenz und Leben, in dem das eine Moment, die Immanenz, das andere, ein Leben, definiert und umgekehrt, treffend auf den Punkt gebracht, wenn er in einer Ouvertüre zu Deleuze schreibt: »Spinoza benutzt gewöhnlich das lateinische Wort quatenus für den Ausdruck der Substanz (oder der Natur) durch die Modi. Jene sind die Substanz selbst, insofern sie ausgedrückt ist, das Sein, insofern es Ereignis, Modus oder Singularität ist. Der homo tantum ist ein Leben, insofern es ausgedrückt ist […]: ereignishafter Ausdruck der Natur, insofern sie Mensch ist.«13 Je mehr ein Leben im Sinne dieses spinozistischen quatenus gelassen wird, die selbstimmanente Logik seiner Natur im eigenen Leben zum Ausdruck zu 11 Zum Verhältnis von Ereignis und Eräugnis bei Martin Heidegger vgl. Michael Wetzel: »Das Ereignis zwischen Eräugnis und Bewägung«, in: Arno Böhler; Susanne Granzer (Hg.): Ereignis Denken. Wien 2009, 259–267. 12 Wenn Hegel Spinoza vorwarf, dass die geometrische Methode ungeeignet sei, die organische Selbstentfaltung des absoluten Begriffs zu demonstrieren, dann darum, weil Hegel die geometrische Methode von der Mathematik, und nicht, wie Spinoza selbst, von den Gemeinbegriffen her verstanden hat, die für Deleuze primär einen biologisch(chemischen) und keinen mathematischen Sinn haben. Sie beschreiben keine abstrakten idealen Figuren, sondern den regelmäßigen Ordnungszusammenhang der gesetzmäßigen Zusammensetzung verschiedener Teile unter einem Gemeinbegriff (notiones communes). »In diesem Sinne sind die Gemeinbegriffe mehr biologisch als mathematisch und bilden eine natürliche Geometrie, die uns die Einheit der Zusammensetzung der gesamten Natur und die Variationsmodi dieser Einheit verstehen läßt.« (Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin 1988, 98) 13 René Schérer: »Homo tantum. Das Unpersönliche: eine Politik«, in: Jean-Luc Nancy; René Schérer: Overtüren Texte zu Gilles Deleuze. Zürich/Berlin 2008, 12–13.

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bringen, umso mehr folgt und gehorcht es tatsächlich der Explikation seiner ihm inhärenten Wesensnatur. Man lebt dann ein Leben, das sich gleichsam als schlichte geometrische Folge der eigenen immanenten Essenz realisiert. Präindividuell singulär, als wäre man selbst ein partikulares Medium des Lebens selbst, das in uns selbst nach einen modalen Ausdruck seiner selbst verlangt. Schon Giorgio Agamben hat in seiner Hommage an Gilles Deleuze mit dem Titel »Die absolute Immanenz« auf die bemerkenswerte Fügung aufmerksam gemacht, dass der Begriff des Lebens sowohl im Zentrum des letzten Textes von Michel Foucault als auch von Gilles Deleuze gestanden hatte. Der Sinn dieser testamentarischen Fügung (in der Tat handelt es sich in beiden Fällen um eine Art Testament) erschöpft sich nicht in den geheimen Banden, die zwischen Freunden bestehen können. Er schließt die Formulierung eines Vermächtnisses ein, das sich unmissverständlich an die kommende Philosophie wendet. Wenn sie dieses Vermächtnis annehmen will, wird sie von jenem Begriff des Lebens ausgehen müssen, auf den die letzte Geste der Philosophen wies – zumindest ist das die Annahme, von der unsere Untersuchung ausgeht.14 Ein Leben als dynamisches Er-eignis einer reinen Immanenzebene denken lernen, die sich in sich selbst, aus sich selbst heraus und durch sich selbst immanent zum Ausdruck bringt, dieser Gedanke ist es, den uns Spinoza als Denker hinterlassen hat, um ihn als künftige Aufgabe der Philosophie zu bedenken. Ihn nachzudenken heißt für Agamben, heißt für Deleuze, im eigentlichsten Sinne Spinozist zu sein. Die Teilung dieser substantiellen Aufgabe eines künftigen Denkens der Immanenz stiftet erst jenes spinozistische Wir, mit dem Deleuze nicht umsonst sein kleines Spinoza-Büchlein Spinoza. Praktische Philosophie enden ließ, um den Text mit dem Hinweise auf ein Kommendes zu beschließen.

2. Spinoza und wir ›Spinoza und wir‹: diese Formel kann vieles meinen, unter anderem auch ›wir inmitten Spinozas‹. Den Versuch, Spinoza von der Mitte her wahrzunehmen und zu verstehen. Im Allgemeinen fängt man an mit dem ersten Prinzip eines Philosophen. Doch zählen das dritte, vierte oder das fünfte Prinzip genauso. Alle Welt kennt das erste Prinzip Spinozas: eine einzige Substanz für alle Attribute. Doch ebenso kennt man das dritte, vierte oder 14 Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin 1998, 79.

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fünfte Prinzip: eine einzige Natur für alle Körper, eine einzige Natur für alle Individuen, eine Natur, die selbst ein auf unendlich viele Weisen variierendes Individuum ist. Das ist nicht mehr die Affirmation einer einzigen Substanz, das ist die Aufdeckung eines gemeinsamen Plans der Immanenz.15 Spinoza von der Mitte her denken – wir in Spinoza, Spinoza in uns – mit dieser Aufgabe ist für Deleuze nichts anderes als die Einkehr des Denkens in die denkerische Aufdeckung eines von allen Körpern, Seelen und Individuen gemeinsam geteilten Immanenzplans gemeint. Er wird von allen Dingen expliziert – mehr oder weniger. Je nach ihrem Vermögensgrad, vom Ganzen der Welt affiziert zu werden und die Mannigfaltigkeit dieser Affektionen ihrer immanenten Wesennatur gemäß tätig zusammen setzen zu können – woraus die Quantität, Qualität und der Intensitätsgrad der Lust- und Unlustgefühle des jeweiligen Lebewesens folgt. Dieser Immanenz- oder Konsistenzplan ist kein Plan im Sinn eines Entwurfs im Geist, kein Projekt, Programm, sondern ein Plan im geometrischen Sinn, Schnitt, Überschneidung, Diagramm. Inmitten von Spinoza zu sein, heißt dann, an diesem modalen Plan zu arbeiten, beziehungsweise, sich auf diesem Plan anzusiedeln, was eine Lebensweise, eine Art zu leben, impliziert.16 Wieder betont Deleuze an dieser Stelle, dass das Er-eignis der Immanenz kein abstrakter Plan eines bloß mathematisch-geometrischen Kalküls, sondern der Vollzug einer konkreten Lebensweise ist, deren Performance im Modus der eigenen Existenz zum Ausdruck gebracht werden muss. Als ein allen Modi immanenter Plan ist er zwar jedem Modus selbst inhärent. Insofern er jedoch modalisierbar ist, ist der Immanenzplan eine allen Entitäten immanente Ebene, auf der sich ein Modus mehr oder weniger explizit ansiedeln kann, um den Modus des eigenen Lebens ausdrücklich von da her, und nicht von woanders her, zu vollziehen, zu stratifizieren, auszudrücken. Für Deleuze beginnt man immer mehr auf diese konkrete Art und Weise inmitten der Natur da zu sein, je mehr man bereit ist, all jene Modifikationen des Lebens im Da-sein zu entmachten, die das immanente Tätigkeitsvermögen (agendi potentia) eines Lebewesens reduzieren, indem sie es hemmen, seiner Wesensnatur ek-sistentiell Ausdruck zu verleihen. Im Gegenzug dazu muss man bereit sein, all jene Ausdrucksformen der Natur inmitten der Natur aktiv zu fördern, die dem selbstimmanenten Ausdruck des Immanenzplans der Natur in der Natur folgen und auf ihre Art und Weise dadurch selbsttätig

15 16

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 159. Ebd.

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zum Ausdruck verhelfen. »So findet sich die eigentliche ethische Frage mit der Frage der Methode verbunden: Wie erreichen wir es, aktiv zu sein?«17 Aktiv und frei ist für Spinoza ein Lebewesen paradoxerweise aber nur dann, wenn und solange es im Stande ist, als lebendige geometrische Folge seines eigenen immanenten Wesens ek-sistent zu werden. Nur unter dieser Bedingung lebt es in der Tat ein freies, sprich ungehemmtes Leben, das mit seiner Natur in Übereinstimmung steht und daher notwendigerweise ein freudiges Leben sein wird. Hingegen verliert ein endlicher Modus immer mehr die Eigenschaft, Er-eignis seiner immanenten Natur zu sein, je mehr er im Zuge seines Anwesens inmitten der Natur von äußeren Umständen daran gehindert wird, seiner immanenten Essenz existentiell Ausdruck zu verleihen. Ein solches, pathisch gehemmtes Lebewesen wird mit absoluter Notwendigkeit eine Vielzahl trübseliger Leidenschaften empfinden müssen. Es wird eine große Zahl passiver Affektionen erleiden, während ein endlicher Modus, der seiner immanenten Wesensnatur folgen und diese im eigenen Leben quasi automatisch zum Ausdruck bringen kann, mit absoluter Notwendigkeit eine große Zahl freudiger, aktiver Affektionen erleiden wird, die ihm wie von selbst das Gefühl der Freiheit und Stimmigkeit (Adäquatheit) des eigenen Lebens vermitteln werden. »Die große Frage, die sich in Bezug auf den endlichen existierenden Modus stellt, ist also die, ob er zu aktiven Affektionen gelangen wird, und wie. Diese Frage ist die im eigentlichen Sinn ›ethische‹ Frage.«18 Während ein schlechter Lebensmodus unsere Kraft, in uns, durch uns und aus uns selbst heraus inmitten der Natur tätig zu sein vergiftet, fördert und stimuliert ein guter Lebensmodus die immanente Ausdruckskraft eines Lebewesens. Befähigt sie einen endlichen Modus doch immer mehr, seine immanente Natur (natura naturans) inmitten der Natur (natura naturata) zur Ek-sistenz zu bringen. Ein falsches, inadäquates Leben modifiziert den Immanenzplan der Natur inmitten der Natur hingegen so, dass das Tätigkeitsvermögen der Lebewesen verringert, durchkreuzt, geschnitten, beschnitten, kurz gesagt verringert wird – wodurch es für Spinoza eben zu einer Vergiftung ihres Immanenzplans kommt. Diese inadäquaten Modifikationen der Natur inmitten der Natur außer Kraft zu setzen, indem sie im Zuge der Ausbildung der ersten und zweiten Erkenntnisart zunächst einmal rational verstanden und in der dritten Erkenntnisart schließlich in Hinblick auf existierende Einzeldinge intuitiv eingesehen und in Richtung auf eine Vermehrung von Freude und Verminderung von Trübsal vernünftig ausgerichtet, organisiert und letztlich adäquat modifiziert werden, ist die eigentlich (soteriologische) Intention von Spinozas Ethik. Unzweifelhaft trägt sie stark rationalistische Züge, insofern es die vernünftige 17 18

Deleuze: Spinoza Ausdruck, 194–195. Deleuze: Spinoza Ausdruck, 193.

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Organisation unserer Affekte ist, die uns methodisch gesehen eine Rückkehr zum Immanenzplan der Natur verspricht. Dennoch dürfen wir dabei nicht vergessen, dass diese, Spinozas Rationalität, von Anfang an so konzipiert ist, dass die vernünftige Organisation unseres Da-seins für ihn eine soteriologische Funktion erfüllt, insofern sie nichts anderem dient, als dem Immanenzplan der Natur inmitten der Natur existentiell zum Durchbruch zu verhelfen, indem die natura naturans von uns Menschen eben vernünftig eingesehen und die natura naturata allmählich zu einem adäquaten Ausdruck derselben modifiziert wird (1p29–1p31, E 63–67). Die spinozistische Vernunft ist daher bekanntlich weder etwas Widernatürliches, noch sind die Affekte im spinozistischen Sinne irrational. Sie ist vielmehr durch und durch als soteriologische Vernunft konzipiert – als menschliches Stratifikationsprinzip, das wir, wir Menschen, brauchen, um inadäquate Modifikationen der Natur inmitten der Natur als inadäquat erkennen und in Richtung auf eine adäquate Organisation unserer Affekte modalisieren zu lernen. Nicht »die Vernunft«, sondern die Natur der Vernunft, insofern sie uns als brauchbares Mittel zur Verfügung steht, uns mit dem Immanenzplan der Natur wieder zu versöhnen, ist das, was Spinoza an ihr schätzt.

II. Spinoza: Der Denker einer praktischen Philosophie Die Idee reiner Immanenz hat für Deleuze damit aber auch einen klar verortbaren Gegner bekommen, dem sich Spinozas Ethik ganz praktisch entgegensetzt, um ihm, seinem mächtigen Widersacher, ein für alle Mal seine Herrschaft zu entziehen: die Idee eines transzendenten Lebens, das unser immanentes Leben notwendigerweise zu einer großen Illusion erklären und über dasselbe damit zwangsläufig Trübsal verbreiten und irrige Wahrnehmungen predigen muss, insofern es naturgemäß gezwungen ist, die Immanenz unseres Lebens einem kommenden, einem inadäquaten, einem schlechten, weil durch und durch falschen Leben zu opfern, anstatt die Ewigkeit der Immanenz des Lebens im Zuge der Ausbildung der dritten Erkenntnisart intuitiv zu erkennen (2p41, E 183) und inmitten der Zeitlichkeit selbst freudvoll bejahen zu lernen (5p22–5p42, E 565–595)!19 Von daher gesehen ist es nur schlüssig, wenn Deleuze in seinem kleinen Spinoza-Büchlein Spinoza. Praktische Philosophie angesichts einer moralinsüchtig 19 Zum Akt der Re-Signation als die ein Leben bejahende Gegen-Zeichnung eines Lebens vgl. Arno Böhler: »Politiken der Re-Signation: Derrida – Adorno«, in: Eva L. Waniek; Erik M. Vogt (Hg.): Derrida & Adorno – Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule. Wien 2008, 167–188.

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gewordenen Menschheitsgeschichte die im ersten Anschein rein resignativ anmutende Feststellung tätigt: »Das Leben ist durch die Kategorien von Gut und Böse, Verstoß und Verdienst, Sünde und Erlösung vergiftet.«20 Spinoza ist für Deleuze jedoch kein, wie Nietzsche womöglich sagen würde, passiver (Kultur-) Nihilist. Haben wir doch schon gehört, dass er für Deleuze auch eine konkrete Lebensphilosophie konzipiert hat, die exakt darin besteht, »alles aufzuzeigen, was uns vom Leben trennt; alle die gegen das Leben gerichteten transzendenten Werte, die an die Bedingungen und Illusionen unseres Bewußtseins gebunden sind«.21 Diese schlechten Modifikationen des Lebens systematisch durchzudeklinieren und aufzudecken, um sie als solche, als schlechte Modifikationen des Lebens zu entlarven und schließlich zu dekonstruieren, das ist es, was Spinoza für Deleuze in seiner Ethik in der Tat gemacht hat. Er hat sein masterpiece nicht nur Ethik genannt. Seine Ethik ist in der Tat praktische Philosophie! – Und daher von seinen Leser/innen auch als solche zu behandeln: Philosophie einer praktischen Lebensform, die es handelnd zu ergreifen gilt, indem man sich tatsächlich gegen die Trias eines falschen Lebens zu wenden und aktiv aufzulehnen beginnt. Gegen den Modus eines Lebens, das sich im Namen einer Philosophie »des ›Gewissens/Bewußtsein‹, der ›Werte‹ und der ›trübsinnigen Leidenschaften‹«,22 das heißt im Namen einer dreifachen nihilistischen Anklage gegen das Leben inmitten der Natur seit langem schon kulturell zum Ausdruck gebracht hat; ja inzwischen sogar zum herrschenden Dispositiv über alle anderen Lebensformen aufgebläht und weltweit zur Herrschaft gebracht hat. Die Notwendigkeit der Bejahung einer immanenten Lebensweise, die sich in der dritten Erkenntnisart über die amor Dei intellectualis (5p32, E 576) mit dem Immanenzplan der Natur verbündet, um eine Nobilitierung aktiver, freudvoller Affekte auf den Weg zu bringen, impliziert für Deleuze zugleich die historische Notwendigkeit einer Kulturrevolution, die sich an der weltweiten Entmachtung eines falsch eingewöhnten, destruktiven Lebensmodus abarbeitet. Hier, in diesem gemeinsamen Kampf gegen einen selbstzerstörerischen Modus des Lebens, der im Namen eines transzendenten Lebens die Verneinung des Lebens predigt, liegen für Deleuze »die drei großen Ähnlichkeiten Spinozas mit Nietzsche«:23 – Beide haben sich gegen das Modell des Bewusstseins gewendet, um an seine Stelle das Modell der Körper zu setzen. In diesem Zusammenhang spricht

20 21 22 23

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 38. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 37–38. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27. Ebd.

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Deleuze von der »Entwertung des Bewusstseins (zugunsten des Denkens): Spinoza als Materialist«.24 Beide haben sich gegen das Modell der Moralität gewendet, um an seine Stelle eine Ethik jenseits von Gut und Böse zu setzen. In diesem Zusammenhang spricht Deleuze von der »Entwertung aller Werte, vor allem von Gut und Böse zugunsten von ›gut‹ und ›schlecht‹: Spinoza, der Immoralist«.25 Beide haben sich schließlich gegen das Modell einer Theologie trübsinniger Affekte gewendet, um an ihre Stelle den Gott reiner Immanenz, den Gott der Musen, der nichts als reine Freude ist, zu denken. In diesem Zusammenhang spricht Deleuze von der »Entwertung aller ›trübseliger Leidenschaften‹ (zugunsten der Lust): Spinoza der Atheist«.26 Damit ist jener dreifache, kulturrevolutionäre Schlag gegen die Trias eines falschen Lebens vollzogen, dessen »hit« von den meisten Menschen notwendigerweise noch lange als tragisch wird empfunden werden müssen, weil gerade das, wogegen sich diese Kulturrevolution wendet, bisher als die höchsten Werte der Menschheit überhaupt gedacht und empfunden worden sind: unser Bewusstsein von Freiheit, Moral und Gott. »Schon zu seinen Lebzeiten bezichtigte man Spinoza deswegen des Materialismus, der Immoralität und des Atheismus.«27

Was Spinozas Ethik von Anfang an zum Skandal gemacht hat und noch heute im besten Sinn des Wortes das Prädikat des Unzeitgemäßen verleiht, sind für Deleuze einzig und allein die praktischen Konsequenzen seiner Ethik. Und nur sie! – Nicht als akademisches Gedankenexperiment genommen vermochte und vermag seine Ethik alle Moralisten dieser Welt nachhaltig zu empören, sondern erst und nur in dem alles entscheidenden Moment, in dem das, wovon sie handelt, als Maxime des eigenen Handelns, Denkens und Fühlens praktisch zu fungieren beginnt.28 So wie der Jurastudent Raskolnikow in Verbrechen und

24

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27. Vgl. ebd., 27–32. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 32. Vgl. ebd., 32–36. 26 Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 36. Vgl. ebd., 36–41. 27 Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27. Nietzsche selbst beschreibt sein Verhältnis zu Spinoza in einer berühmt gewordenen Postkarte an seinen Freund Overbeck vom 30. Juli 1881 wie folgt: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, dass seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder […]: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse« (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. München/Berlin/New York 1967–1977 (= Kritische Studienausgabe, Bd. 6), 111). 28 Es genügt nicht, »den großen theoretischen Leitsatz des Spinozismus in Erinne25

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Strafe bei Dostojewskij nicht schon dadurch zum Verbrecher wurde, dass er seine Theorie über das Verbrechen in einem akademischen Journal veröffentlichte, sondern erst dadurch, dass er den Drang verspürte, mit seiner Theorie ernst zu machen, indem er sie in der Tat zum Stratifikanten seiner eigenen Lebensform machte und sich ihren Maximen gemäß handelnd zu verhalten begann,29 so nehmen wir nach Deleuze Spinozas Ethik erst dort von ihrer Mitte her wahr, wo wir uns handelnd in das hineinbegeben, wovon sie handelt: die Kultivierung aktiver Affekte im Zuge der Dekonstruktion lebensfeindlicher Instinkte, die sich in uns selbst eingewöhnt haben, aber auch im Sinne des Sturzes der auf sie gebauten und bauenden Institutionen eines selbstdestruktiven Todeskults, der ihnen Bestand und Macht gewährt.

III. Spinoza: Der Denker eines Theaters der Immanenz Wenn Michel Foucault in Le Nouvel Observateur über Differenz und Wiederholung gesagt hat, dass man dieses Buch von Deleuze so aufschlagen sollte, »wie man die Türen eines Theaters aufstößt, wenn das Rampenlicht aufleuchtet und der Vorhang sich hebt«,30 dann gilt diese Lektüreanweisung eben so sehr für jene parallel zu Differenz und Wiederholung erschienene Schrift von Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, und nicht minder für seine zweite Spinoza-Lektüre Spinoza. Praktische Philosophie. Spinozas Ethik ist für Deleuze eben auch als ein revolutionäres Drama zu lesen. Als eine subversive Bühne, auf der rhetorische Fragen verhandelt werden wie die, was ein Körper kann. Auf der er seine Opponenten imaginär sagen lässt: »Wenn jetzt jemand fragt […]« (1p10s, E 21), »Was mich angeht« (1p15s, E 33), »Nun werden sie sagen: […]« (3p2s, E 231). Szenische Formulierungen, die wir in den Scholien zuhauf finden und die aufgrund ihrer dramatischen Konzeption für Deleuze eindringlich darauf hinweisen, dass Spinozas Ethik eben auch theatral gelesen werden muss. Umfasst sie doch

rung zu rufen: dass es nur eine einzige Substanz gibt, […]. Es genügt nicht, aufzuzeigen, wie sich Pantheismus und Atheismus, indem sie die Existenz eines moralischen, schöpferischen und transzendenten Gottes verneinen, in dieser These kombinieren. Man muß vielmehr von den praktischen Thesen ausgehen, die den Spinozismus zum Skandal gemacht haben.« (Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27) 29 Vgl. dazu Arno Böhler: »Spielerische Versuchsanordnungen«, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 54/4 (2008), 81–90. 30 Michel Foucault: »Der Ariadnefaden ist gerissen«, in: Gilles Deleuze; Michel Foucault: Der Faden ist gerissen. Übersetzt von Walter Seitter und Ulrich Raulf. Berlin 1977, 8.

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zugleich das kontinuierliche Ganze der Propositionen, Demonstrationen und Corollarien, wie auch die großartige Bewegung der Begriffe und die diskontinuierliche Verkettung der Scholien, als ein Schleudern von Affekten und Implosionen, als eine Stoßserie. Buch V ist die extrem extensive Einheit, aber nur weil sie der am engsten zusammengezogene intensive Punkt ist: es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Begriff und Leben.31 Die intime Mechanik unserer Affektivität wird von Spinoza in seiner Ethik demnach nicht nur in abstrakten Allgemeinbegriffen philosophisch reflektiert, sondern in den Scholien auch auf singuläre Art und Weise emotional selbst vollzogen, aufgeführt, dramatisch exponiert, affektiv ausgestellt, zur Schau gestellt, theatral demonstriert, in actu fleischlich zur Darstellung gebracht.

1. Spinoza: Der Materialist Das alles entscheidende Beispiel für einen solchen eruptiven Gefühlsausbruch finden wir in der umfangreichen Anmerkung zum Lehrsatz 2 im Dritten Teil seiner Ethik. Ein Abschnitt, der bezeichnenderweise vom Ursprung und der Natur der Affekte handelt und Spinozas Körpermodell gegenüber dem klassischen Bewusstseinsmodell verteidigt, um nicht zu sagen, affektiv in Szene setzt (3p2s, E 227–237). Denn: »Wenn Spinoza sagt, wir wissen nicht einmal, was ein Körper kann, dann ist diese Formulierung fast ein Schlachtruf.«32 Sie, die anderen, gegen die Spinoza anschreibt, sie, die Bewusstseins- und Reflexionsphilosophen seiner Zeit, sie sprechen zwar ständig von Bewusstsein und vom Geist, und selbstverständlich auch von der angeblichen Macht der Seele, den Körper zu beherrschen. Sie tun dies aber, ohne sich auch nur einen Moment ernsthaft gefragt zu haben, was er, der Körper kann. Hierin liegt der Grund, »warum Spinoza in wahre Schreie ausbricht: ihr wißt nicht, wozu ihr im Guten wie im Schlechten fähig seid, ihr wißt nicht im Voraus, was ein Körper oder eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener Kombination vermag«.33 Ihr. Ihr anderen. Die ihr das Modell des Bewusstseins dem Modell der Körper vorzieht. Ihr. Ihr anderen. Die ihr in der Tat die wahren Antispinozisten seid, insofern ihr dem Gegenideal vollkommener Bewusstheit huldigt –, ihnen sagt Spinoza auf den Kopf zu: »Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand bestimmt; das heißt, die Erfahrung hat bislang niemanden darüber be31 32 33

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 168–169. Deleuze: Spinoza Ausdruck, 225. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 162.

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lehrt, was der Körper bloß nach den Gesetzen der Natur, insofern diese allein als körperlich angesehen wird, verrichten kann und was allein dadurch, dass er von dem Geist bestimmt wird.« (3p2s, E 229) Sie, die Bewusstseinsphilosophen und Reflexionsphilosophen seiner Zeit, ich darf ergänzen, auch die unserer Zeit, sie wissen nicht, was ein Körper kann. So lautet zumindest Spinozas Befund. Denn sie wissen im Vorhinein nicht, wie ein Körper gehandelt haben wird, wenn er in diese oder jene Situation gekommen sein wird. Für Deleuze bietet Spinoza den Bewusstseinsphilosophen damit ein neues Modell an: den Körper. Er bietet ihnen an, den Körper als Modell einzusetzen: ›Man weiß nicht, was der Körper alles vermag…‹ Diese Unwissenheitserklärung ist eine Provokation: wir sprechen vom Bewußtsein und seinen Beschlüssen, vom Willen und seinen Wirkungen, von tausend Mitteln, den Körper zu bewegen, den Körper und die Leidenschaften zu beherrschen – aber wir wissen nicht einmal, was der Körper alles vermag.34 In dieser Anmerkung hat Spinoza seine philosophischen Gegner unmittelbar im Visier, um ihnen, wie es Celan in seiner Büchner-Rede im Meridian ausdrückt, sein alles entscheidendes Gegenwort auf den Kopf zu zu sagen. Denn ihnen scheint im Vorhinein gewiss, »daß der Körper bloß auf Geheiß des Geistes bald sich bewegt, bald ruht und dass er sehr vieles verrichtet, was allein von dem Willen des Geistes und dessen Erfindungskunst abhängt. Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand bestimmt« (3p2s, E 229). Es ist die Thematisierung dieser opaken Wissenslücke des Geistes, die sich auftut, sobald der Geist mit dem Eigensinn der Körper konfrontiert wird, die Spinoza aus der Fassung zu bringen und in Rage zu versetzen scheint. Ihn, wie es Deleuze eben formuliert hatte, in wahre Schreie ausbrechen und selbst affektiv giftig werden lässt. Fast so, als wäre die sprachliche Bewusstwerdung dieses wunden Punkts für ihn nicht nur ein philosophisches Argument, sondern selbst das alles entscheidende Gift, das er seinen Opponenten in dieser Scholie buchstäblich entgegenschleudert, um es ihnen gegen den lang und weit herkommenden Irrtum ihrer Lehren von der kontrollierten Herrschaft des Bewusstseins, des freien Willens und eines trübsinnig richtenden Weltenlenkers als Pharmakon zu verabreichen. In der Hoffnung, ihrem moralischen Schwindel damit ein für alle Mal ethisch Einhalt zu gebieten. Hier, in dieser Anmerkung, in der es darum geht, unsere Körper unabhängig vom Geist sein zu lassen, ist Spinozas Ethik für Deleuze in der Tat zum konkreten Ort einer revolutionär philosophischen Bühne geworden, in der er am eigenen Leib selbst um jene affektive Katharsis ringt, die ihn, mit seines34

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27.

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gleichen, vom Gift jenes falschen Lebens zu befreien trachtet, das seine Gegner seit alters her versprüht haben, indem sie die Herrschaft des Geists über den Körper verkündet hatten. Diese Stelle ist für Deleuze ein beredtes Zeugnis für die dramatische Rhetorik, der sich Spinoza in seiner Ethik bedient, um mit ihrer Hilfe das abzuschaffen, wovon er spricht:35 die Abwehr passiver Leidenschaften, mit dem Ziel, den Anteil an aktiven Affekten im Gemüt zu vermehren. Unter anderem eben auch im eigenen Gemüt, das sich hier entlädt.36 Kein geringes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass dieses Anliegen für Spinoza einer radikalen Umwertung der bisherigen Wertschätzungen des Lebens insgesamt gleichkommt, insofern sich Ethik, insoweit sie bislang meistens mit Moral verwechselt wurde, sich bestens auf das Umgekehrte, die Förderung trübsinniger Eigenschaften, verstanden hatte.

2. Spinoza: Der Alchemist Spinozas Ethik als praktische Philosophie behandeln lernen, heißt für Deleuze folglich, in der Tat mit der Entgiftung jenes kulturellen Erbes zu beginnen, das uns allen, dem einen mehr, dem anderen weniger, in den Schlund gekrochen ist und uns daher nicht mehr nur von außen, sondern auch von innen her zersetzt und vergiftet. Trennt uns die Lehre von der Herrschaft des Geistes über den Körper in der Tat doch von dem, was unsere Körper von sich aus zu tun vermöchten, wenn sie rein nur gelassen würden, ihrer eigenen immanenten Ordnung dynamisch zu folgen, um sie aktiv zum Ausdruck zu bringen. Wie das Gemüt von giftigen Leidenschaften reinigen, wenn sie uns inzwischen von außen und innen gleichzeitig affizieren? Wie eine anders geartete kulturelle Praxis initiieren, die uns der gängigen selbstdestruktiven Praxis der 35 Vgl. dazu Jacques Derrida und Friedrich Kittler: Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin 2000. 36 Da für Spinoza bekanntlich nichts in der Natur geschieht, »was ihr selbst als Fehler angerechnet werden könnte, denn die Natur ist immer dieselbe, und was sie auszeichnet, ihre Wirkungsmacht, ist überall ein und dasselbe« (3praef, E 221), darum folgt jedes einzelne Gefühl, auch dieser eruptive Zornesausbruch in Spinozas Körper selbst, für ihn mit absoluter geometrischer Notwendigkeit aus der ewigen Gesetzmäßigkeit seiner Natur, insofern er sich in einem endlichen Modus zum Ausdruck bringt, der sich in diesem Fall ganz konkret von der Rachsucht Gottes zu befreien trachtet. Gerade weil das Gemüt kein Ort irrationaler Gefühle, sondern selbst Ausdruck einer immanenten Logik und Mechanik des Fühlens ist, die vernünftig organisiert werden kann – weh spricht vergeh, doch alles Lust will Ewigkeit –, kann Spinoza von der Natur und den Kräften der Affekte eben nach derselben geometrisch rationalen Methode handeln, wie er in anderen Teilen der Ethik von Gott und der Seele gehandelt hatte (3praef, E 221).

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moralischen Trias des Lebens gegenüber immunisiert, so dass wir schließlich, durch die Verabreichung eines geeigneten Gegengifts, von ihr nicht, oder kaum mehr, affiziert werden können? Das und nur das sind für Deleuze die zentralen ethischen Fragen der spinozistischen Ethik aus der Sichtweise endlicher Modi. Und das, was Spinoza nach Deleuze als Gegenwort an die Stelle jener Trias eines falschen Lebens zu setzen trachtete, ist nichts anderes als das schlichte, ja naiv anmutende Leben eines Körpers, der schlafwandelnd in sich selber ruht und nichts anderem folgt und damit zum Ausdruck bringt, als eben die Physio-Logie seiner eigenen immanenten Physis. Spinoza schreibt: Allein ich habe schon darauf hingewiesen, daß sie gar nicht wissen, was der Körper kann, oder was sich aus der Betrachtung allein seiner Natur herleiten läßt, ja dass sie selbst erfahren, dass allein nach den Gesetzen der Natur vieles geschieht, von dem sie niemals geglaubt hätten, es könne ohne Anleitung des Geistes geschehen, z. B. was Nachtwandler im Schlafe tun, worüber sie sich dann im wachen Zustand wundern. Es sei noch hinzugefügt, daß gerade der Bau des menschlichen Körpers in seiner Kunstfertigkeit alles weit übertrifft, was menschliche Kunst je gebaut hat, ganz davon zu schweigen, daß ich oben erwiesen habe, daß aus der Natur, unter welchem Attribut auch immer betrachtet, unendliches vieles folgt. (3p2s, E 231) Der schlafwandlerisch (hellwach) fungierende Körper operiert offenkundig auf einer prä-individuellen Ebene, die ihn koordiniert durch den Raum bewegt, ohne dass er selbst ein ausdrückliches Wissen davon hätte, was und wie er das tut, was er in der Tat zu tun faktisch im Stande ist, während er »sich selbst« blindlings, und doch zielsicher, durch den Raum bewegt. – Gleich den Puppen in Kleists Marionettentheater, oder neuerdings den Satelliten gesteuerten Autos, die den Koordinaten ihres Navigationssystems blindlings und gerade darum in der Regel zielsicher folgen, ohne dass die so bewegten Individuen selbst Kenntnis davon hätten, was mit ihnen geschieht und wie ihnen geschieht, während sie ihr Ziel erreichen. – Alles Beispiele subjektloser Tätigkeiten, in denen ein Körper in der Tat von der ihm immanenten Struktur eines Verweisungsgefüges medial bewegt wird, ohne dass er, der bewegte Körper, selbst von jenem bewegenden Prinzip Kenntnis besitzen würde, dem er in der Tat selbstimmanent folgt. Es handelt sich bei diesen Beispielen für Deleuze offenkundig um den Nachweis, »daß der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und daß ebenso das Denken das Bewußtseins übersteigt, das man von ihm hat«.37 Die Tatsache des Bewusstseins ist zwar erstaunlich, aber der Leib ist, wie Nietz37

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 28.

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sche in spinozistischer Manier formuliert hat, ein noch weit erstaunlicherer Gedanke!38 Denn noch weit verwunderlicher als die bewusst gesteuerte Bewegung eines Körpers ist doch die Tatsache, dass die Natur auf natürliche Art und Weise unbewusst, das heißt ganz ohne die Lenkung durch ein bewusstes Subjekt, indem sie einfach ihren immanenten Gesetzen folgt, quasi automatisch Himmel und Erde, unseren menschlichen Körper und vieles andere mehr zum Vorschein bringen konnte, ohne ein kommandierendes Subjekt und Bewusstsein, das hinter diesen natürlichen Operationen planmäßig teleologisch am Werk gewesen wäre. Und diese von der Natur selbst erschaffenen Körper übertreffen doch eben bei weitem die Komplexität von allem, was menschliche Kunst je gebaut hat. Trotz dieser Evidenz ist sich Spinoza gewahr, dass gerade diese Theorie bei seinen Gegnern auf heftigen Widerstand stoßen wird. Auch werden sie wohl sagen, allein den Gesetzen der Natur, insofern sie nur als körperlich angesehen wird, könnten nicht die Ursachen von Gebäuden, Gemälden und anderen Dingen dieser Art, die allein aus menschlicher Kunst entstehen, entnommen werden, und der menschliche Körper wäre doch nie imstande, eine Kirche zu erbauen, ohne dazu von dem Geist bestimmt und angeleitet zu werden. (3p2s, E 231) Die obigen Beispiele beweisen jedoch zur Genüge, dass die Natur von sich aus Dinge hervorzubringen vermag, die der technischen Hervorbringung des Menschen unendlich überlegen ist. Offenkundig ist es der Ausblick auf die große Vernunft des Leibes, die in der Natur quasi ganz von selbst auf natürliche Art und Weise operativ am Werk ist, die Spinoza zu der rhetorischen Frage drängte: »Wissen wir, was ein Körper vermag?« – Sie, diese Frage, ist das cutting edge, an dem seine Ethik in der Tat bissig, giftig, spaltend und zersetzend wird. In ihr wird der alles entscheidende Unterschied zwischen ihm und seinen Gegnern eingeführt: ein Entweder-oder, ein Entscheid, der die wahren Spinozisten von den Nicht-Spinozisten unterscheidbar gemacht haben wird.

3. Spinoza: Der Geliebte Liebende Deleuze in Spinoza. Spinoza in Deleuze, das heißt für Deleuze also auch, die Leser seiner Ethik als geometrische Fluchtlinien, Flächen und Körper einer affektiv-rationalen Übertragung lesen lernen, in der es zu einer immanenten, seriellen Übertragung und modalen Aus-ein-ander-setzung der in eine solche doppelbödige Lektüre involvierten Existenzmodi mit Spinoza kommt. 38

Vgl. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 27–28.

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Viele Kommentatoren liebten Spinoza so sehr, daß sie ihn mit einem Windhauch verglichen, wenn sie von ihm sprachen. Und in der Tat gibt es keinen anderen Vergleich als den Wind. Aber handelt es sich um den großen ruhigen Wind, von dem Belbos als Philosoph spricht? Oder gar um den Wirbelwind, die Hexenjagd, von der der ›Fixer‹ redet, der Nicht-Philosoph par excellence […]?39 Wir haben die Antwort von Deleuze schon gehört. Es handelt sich bei seiner Ethik um beides. Um eine Ethik, die sich sowohl an Philosophen als auch an Nicht-Philosophen wendet. Daher muss auch die Antwort, wer Spinozist ist, für Deleuze zwiespältig ausfallen: Denn manchmal ist Spinozist sicherlich derjenige, der ›über‹ Spinoza, über Spinozas Begriffe, arbeitet, vorausgesetzt, er tut es mit genügend Anerkennung und Bewunderung. Doch auch der, der als Nicht-Philosoph von Spinoza einen Affekt empfängt, ein Bündel an Affekten, eine kinetische Bestimmung, einen Anstoß, und so aus Spinoza eine Begegnung und eine Liebe macht. Es macht den einzigartigen Charakter Spinozas aus, daß er, Philosoph der Philosophen (im Gegensatz zu Sokrates reklamiert er nur Philosophie …), den Philosophen lehrt, kein Philosoph zu werden. Die beiden, Philosoph und Nicht-Philosoph, vereinigen sich zu einem einzigen und gleichen Wesen in Buch V, das keineswegs das schwierigste, doch das schnellste ist, dasjenige mit einer unendlichen Geschwindigkeit.40 Deleuze fordert also eine doppelte Lektüre von Spinozas Ethik. Sie muss, soll sie von ihrer Mitte her gelesen und verstanden werden, sowohl dem rationalen als auch dem affektiven Anspruch der spinozistischen Ethik gerecht werden und zwingt uns damit Formulierungen auf wie »Deleuze in Spinoza. Spinoza in Deleuze.« »Wir in Spinoza. Spinoza in uns.« »Ich in Spinoza, Spinoza in mir.«. Zusätzlich zur Erkenntnis Spinozas in Gemeinbegriffen (notiones communes) – in welchen sich für Deleuze keine abstrakt mathematische Ordnung, sondern weit eher ein (biochemischer) Ordnungszusammenhang von Körpern ausdrückt41 – kann es bei der Lektüre seiner Ethik aber auch zu einer unmittelbar intuitiven und unvorbereiteten Begegnung kommen;

39

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 168. Ebd. 41 »Die Gemeinbegriffe (2p37–2p40, E 173ff.) werden nicht so genannt, weil sie allen Geistern gemeinsam sind, sondern zuerst, weil sie etwas vergegenwärtigen, was den Körpern gemeinsam ist: sei es allen Körpern (Ausdehnung, Bewegung und Ruhe), sei es gewissen Körpern (mindestens zwei, meiner und ein anderer).« (Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 94) 40

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so wie ein Nicht-Philosoph oder auch jemand, der gar keine Kultur hat, eine plötzliche Erleuchtung, einen ›Blitz‹ empfangen könnte. Es ist, als ob man sich als Spinozist entdeckte, man kommt mitten in Spinoza an, wird angezogen, ins System oder in die Komposition hineingerissen. Wenn Nietzsche schreibt: ›Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt!… Ich kannte Spinoza fast nicht: dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹…‹, spricht er nicht nur als Philosoph, vielleicht gerade nicht als Philosoph.42 Spinoza von der Mitte her lesen, heißt daher auch, sich von ihm affizieren und emotional bewegen lassen. Eine solche immanente Lektüre seiner Ethik von ihrer affektiv-rationalen Mitte her wird für Deleuze zwangsläufig eine zwiespältige Lektüre gewesen sein müssen. Muss sie doch durch eine doppelbödige Lesart hindurch, die seine Ansprüche auf der Ebene der ersten und zweiten Erkenntnisart einerseits rational überprüft, sich andererseits aber auch in eine affektive Nähe und Distanz zu Spinoza begibt, um seine Intensitätsausbrüche in den Scholien in ihrer affektiven Wirkkraft und Rhetorizität auch emotional verstehen zu lernen. Ein so strenger Philosophiehistoriker wie Victor Delbos war von diesem Zug frappiert: die Doppelrolle Spinozas, einmal als sehr ausgeartetes äußeres Modell, aber genauso als geheime innere Triebkraft. Die doppelte Lektüre Spinozas, einerseits systematisch, auf der Suche nach der Idee des Ganzen und der Einheit ihrer Teile, andererseits aber, gleichzeitig, die affektive Lektüre, ohne Idee des Ganzen, in die man hineingerissen oder gestellt wird, in Bewegung oder Ruhe versetzt, heftig bewegt oder beruhigt entsprechend der Geschwindigkeit dieses oder jenes Teils.43 Bei einer solchen doppelbödigen Lektüre, Wir in Spinoza, Spinoza in uns, steht also nicht nur die intellektuelle Erörterung der rational argumentierbaren Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit seiner geometrischen Demonstrationen, Beweise und Ableitungen auf dem Spiel – und in der Folge die daraus erschlossenen Normen, Maximen und Regeln für eine ethische Lebensweise –, sondern zumindest eben so sehr die Achtsamkeit und singuläre Sorgfalt in Hinblick auf die »eigene« affektive Resonanz, die im Zuge einer solchen doppelbödigen Lektüre, ich in Spinoza, Spinoza in mir, bei der Lektüre untergründig in Gang kommt und damit subversiv emotional mit im Spiel ist. Eine immanente Lektüre wird in ihrer Zwiespältigkeit daher immer schon beides zumal gewesen sein: Ethik im rational-argumentativen, aber auch Ethik im psychoanalytischen Sinne – wenn wir darunter ganz undogmatisch die

42 43

Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 167. Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, 167 f.

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Achtsamkeit und Sorgfalt eines mental begabten Körpers in Bezug auf die Mechanik des eigenen Fühlens verstehen. Psychoanalyse, also nicht als ödipale Schule einer familiären Topik des Un/Bewussten, sondern als eine Affektenoder Berührungslehre, in der die Frage nach den Affekten unter anderem auch »phänomenologisch« aus der Perspektive eines Individuums heraus gestellt wird, das selbst emotional bewegt wird und das sich daher selbst pathisch zu fühlen und auf empfindliche Art und Weise sinnlich in Empfang zu nehmen gelernt hat. In einer solchen psycho-phänomenologischen Betrachtungsart unseres Thymos geht es dann aber nicht mehr nur um den Allgemeinbegriff von Affektivität – so, als würde das Gemüt völlig unabhängig von der eigenen »originären« Erfahrung affektiver Übertragungsvorgänge gänzlich außerhalb von uns selbst stattfinden –, sondern auch um die Falsifizierung einer wissenschaftlichen Affektenlehre am Phänomen der »eigenen«, leibhaftigen Erfahrung von Affektivität, in der sie uns selbst, in Lust- und Unlustgefühlen, emotional anschaulich (also intuitiv) gegeben ist. Auf der Ebene der dritten Erkenntnisart kann diese intuitive Ebene des Gemüts, in der es uns fungierend im Akt des Fühlens selbst originär gegeben ist, nicht mehr einfach übergangen werden, indem das eigene Gefühl dem stoischen Ideal einer apathischen, dem Ideal der Objektivität verpflichteten Wissenschaftlichkeit einfach idealtypisch geopfert wird. Ganz im Gegenteil muss eine Affektenlehre aus der Perspektive der dritten Erkenntnisart von der Position eines von Affekten selbst betroffenen Einzeldings her betrachtet werden. Von jemandem also, der oder die als res particularis selbst in einem pathischen Verhältnis zu dem steht, wovon Spinozas Affektenlehre handelt, und der oder die daher aus der in Affektionen gegebenen »first person position«, und sei diese im Sinne von Deleuze auch durch und durch prä-individuell konfiguriert, einen originär-intuitiven Zugang zu dem besitzt, wovon eine solche Lehre handelt. Nicht nur als theoretisch akademischer Zuschauer, sondern auch als aisthetisch handelnder Akteur von Affekten ist die Affektenlehre von Spinoza selbst in den Scholien konzipiert. Denn aus einem formal-stilistischen Gesichtspunkt betrachtet erlaubt sich Spinoza in den Scholien selbst, seiner Affektivität Luft zu verschaffen und eine ethische Bühne zu bereiten, die seinem Gemüt Gelegenheit gibt, sich sprachlich zu artikulieren und auszusprechen. Ein theatReales44 Format, bei dem es Spinoza allerdings weniger um das unkontrollierte Ausagieren »privater« Affekte und Stimmungslagen geht, als vielmehr um das Ereignis-Werden jener immanenten Dynamik des Thymos selbst, in der er sich selbst jener philosophischen Katharis unterzieht, aktive Affektionen der Freude in ihm zu fördern und passive 44 Zum Terminus »theatReal« vgl. Arno Böhler: »TheatReales Denken«, in: Arno Böhler; Susanne Granzer (Hg.): Ereignis Denken. Wien 2009, 11–31.

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Affektionen der Trübsal zu verringern. Denn selbst in den Intensitätsausbrüchen seines Gemüts wird sich die geometrische Verfassung des Gemüts insgesamt in einem partikulären Existenzmodus leidenschaftlich widerspiegeln müssen, insofern auch die Dramaturgie der »privaten« Gefühle mit absoluter Notwendigkeit der natürlichen Dynamik der Affekte insgesamt folgen, wie er sie in seiner Affektenlehre nach Gemeinbegriffen selbst darlegt hat. Mithin muß auch die Weise ein und dieselbe sein, in der die Natur eines jeden Dinges, von welcher Art es auch sein mag, zu begreifen ist, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur. Also folgen die Affekte des Hasses, des Zorns, des Neides usw., in sich betrachtet, aus derselben Notwendigkeit und internen Beschaffenheit der Natur wie andere Einzeldinge auch. […] Die Natur und die Kräfte der Affekte und die Macht des Geistes über sie werde ich deshalb nach derselben Methode behandeln, nach der ich in den vorigen Teilen von Gott und dem Geist gehandelt habe, und ich werde menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper. (3praef, E 221) Sie, Spinozas Ethik, zu wiederholen, indem sie nicht nur kopiert, sondern im Zuge ihrer Wiederholung iterativ modelliert wird, um sie, ganz im kabbalistischen Sinne, im eigenen Existenzmodus modal weiterzutreiben und weiterzuschreiben, ist die Hinsicht, von der her und unter der Deleuze seine eigene Spinoza-Lektüre in Differenz und Wiederholung eigenständig vorangetrieben hatte, und zwar parallel zum Erscheinen seiner ausgiebigen Spinoza-Lektüre Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Pierre Macherey hat daher zu Recht betont, dass Deleuze Spinoza bei seiner Lektüre gedanklich vorausgehen wollte, nicht um ihn getreu und sorgfältig zu rezipieren, sondern zu dynamisieren und als Sprengkapsel einer erst noch im Kommen begriffenen höheren Kultur zu lesen.

TEIL III Spinozas dritte Erkenntnisart: Von der Liebe zu Gott zur intellektuellen Anschauung

Wolfgang Bartuschat

Zur Rolle der dritten Erkenntnisart in Spinozas Konzeption der Ethica

I. Der Ort der scientia intuitiva innerhalb der Ethica Die dritte Erkenntnisart, die Spinoza scientia intuitiva nennt, welche Rolle spielt sie in Spinozas Konzeption der Ethica? Sie nimmt in diesem Werk einen nur geringen Raum ein, wird eigentlich nur in dessen Fünften Teil thematisch und dort auch nur in der zweiten Hälfte ab Lehrsatz 21. Diese Hälfte leitet Spinoza mit einer irritierenden Bemerkung ein. Nachdem er alles erledigt habe, was unser gegenwärtiges Leben angeht (»quae praesentem hanc vitam spectant«, 5p20s, E 562), gäbe es noch einiges mehr zu sagen. Das könnte so aussehen, als ginge es bei der jetzt zu thematisierenden scientia intuitiva nicht um unser gegenwärtiges Leben, wie es Spinoza im Verlauf der Ethica bislang beschrieben hat. Ich möchte in diesem Vortrag zeigen, dass ein solcher Eindruck falsch wäre, dass die scientia intuitiva in ihrem Erkenntnisanspruch vielmehr an dieses Leben und damit an die auf dieser Basis entwickelte Theorie menschlichen Erkennens gebunden bleibt. Zur Erläuterung dieser These muss die dritte Erkenntnisart in das Konzept der Ethica eingeordnet werden. Die scientia intuitiva ist ihrem Objekt nach Gotteserkenntnis und ihrem Subjekt nach eine Erkenntnisart des menschlichen Geistes. Vom Zweiten Teil der Ethica an hat Spinoza von diesem Geist gehandelt. Er ist es, der Spinoza allein interessiert und der deshalb zum zentralen Gegenstand dieses Werkes wird, obschon aus dem obersten Prinzip von allem, der im Ersten Teil entfalteten Natur Gottes, natürlich nicht nur der menschliche Geist, sondern unendlich vieles folgt (1p16, E 41). Den Geist bestimmt Spinoza als Idee (idea, 2p11, E 120), und zwar als Idee des Körpers (2p13, E 125), die repräsentiert, was im Körper abläuft, und den menschlichen Geist (mens humana) bestimmt er in dessen Fähigkeit wahrzunehmen in Relation zur Verfassung seines Körpers (ejus corpus, 2p14, E 138). Dass der Mensch Geist ist, folgt daraus, dass er denkt; dass Gegenstand des menschlichen Geistes der menschliche Körper ist, folgt daraus, dass wir einen Körper, der vielfach affiziert wird, empfinden; dass nicht noch etwas anderes Gegenstand des menschlichen Geistes ist, folgt daraus, dass wir außer Körpern und Modi des Denkens nichts wahrnehmen. Diese drei Grundannahmen formuliert Spinoza in drei Axiomen (den Axiomen 2, 4 und 5 des Zweiten Teils), das heißt in nicht beweisbaren Annahmen, die man auch empirische Tatbestände nennen kann.

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Aus Gott, aus dem alles, was ist, folgt, folgen sie ganz gewiss nicht. Was aus der im Ersten Teil thematisierten Struktur Gottes folgt, sind rein formale Bestimmungen; es sind Dinge, die Spinoza Modi nennt und die inhaltlich nicht weiter bestimmt werden, weil eine inhaltliche Bestimmung der Dinge aus einer Analyse der Natur Gottes im Ersten Teil gar nicht gegeben werden kann. Selbst was nicht aus Gott folgt, sondern die Weise angibt, in der etwas aus ihm folgt, also die Attribute Gottes, kann im Ersten Teil keine inhaltliche Bestimmung erfahren. Die Einführung der Attribute als cogitatio und extensio geschieht bekanntlich erst im Zweiten Teil, das heißt auf der Basis zuvor eingeführter Axiome unseres Denkens (homo cogitat) und unserer Körperlichkeit (nos corpus quoddam sentimus), also im Hinblick auf empirische Tatbestände, die in ihrer essentiellen Verschiedenheit zu erklären des Rückgriffs auf essentiell verschiedene Attribute bedarf. Ich übergehe hier Spinozas Begründung dieser essentiellen Verschiedenheit und seine sich darauf stützende These eines nicht-kausalen Bezugs von Geist und Körper, die die Theorie von Attributen, die nicht aufeinander zurückführbar sind, zur Folge hat, und konstatiere nur, dass Spinoza für die Eröffnung seiner Erkenntnistheorie als erstes zeigt, dass das wirkliche Sein (actuale esse) des menschlichen Geistes in dessen Singularität (und allein um diese konkrete Wirklichkeit und nicht um ein Wunschgebilde von Geist geht es Spinoza) die Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges ausmacht (2p11, E 121), und in einem zweiten Schritt darlegt, dass dieses Einzelding der vom Geist wahrgenommene wirklich existierende Körper ist (2p13, E 125). Nun sagt Spinoza in der Mitte des Fünften Teils, wo er anhebt, die scientia intuitiva zu mobilisieren, es sei an der Zeit, den Geist ohne Beziehung auf den Körper (sine relatione ad corpus) zu betrachten, besser formuliert, so würde ich gerne lesen, ohne Beziehung auf die Dauer des Körpers (»sine relatione ad durationem corporis«, 5p20s, E 562).1 Und das scheint alle bisherigen Bedingungen menschlichen Erkennens über den Haufen zu werfen, zumindest Abschied zu nehmen von der Theorie eines wirklich existierenden Geistes und damit von der Konstitution, die uns Menschen ausmacht. So hat man gedeutet, das sei hinzugefügter Anhang, der sich aus anderen Quellen speist, aus altjüdischer Mystik etwa, die zeige, wie sich unsere Endlichkeit abstreifen lasse und wir so etwas wie eine Vereinigung mit Gott erlangen können. Das ist dann konträr zum Geist eines dem Mechanismus verpflichteten Rationalismus, der ein endliches Ding aus der Relation zu es umgreifenden anderen Dingen und damit aus dem Geflecht innerweltliche Kausalrelationen zu begreifen sucht. Hält man an dieser Form des Rationalismus konsequent fest, muss ein Trans1 Vgl. meine Korrektur des lateinischen Textes in meiner Ausgabe der Ethica (5p20s, E 562).

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zendieren dieser Dimension Unfug sein (prominent geäußert von Jonathan Bennett in seinem viel zitierten Spinoza-Buch2). Andererseits haben die von Jacobis Spinoza-Buch angestoßenen Deutschen Idealisten in der scientia intuitiva ein der absoluten Spekulation würdiges Element gesehen, das ein bloß endliches Denken und die daran geknüpfte Erkenntnis des bloßen Verstandes und damit die Philosophie Kants zu überbieten vermag. Es erhebe das erkennende Subjekt zur Göttlichkeit und bringe in deren Unendlichkeit alle Momente unserer Endlichkeit zum Verschwinden. Die beiden zuerst genannten Deutungen, ob nun in bloß geistesgeschichtlicher Orientierung hermeneutisch wohlwollend3 oder ob in Vorentscheidung für einen feldtheoretischen Physikalismus vernichtend, bestreiten die interne Kohärenz der Ethica. Aber auch die letztgenannte Interpretation, stamme sie nun von Fichte, Schelling oder Hegel,4 verfolgt eine Perspektive, die der Grundidee der Ethica nicht gerecht wird. Das möchte ich jetzt mit einer Interpretation der Ethica zeigen, die die dort entwickelte Theorie der scientia intuitiva einschließlich der mit ihr verbundenen Theorie der Ewigkeit des menschlichen Geistes5 an die Endlichkeit menschlichen Erkennens bindet und darin eher auf die Theorie Kants als auf die der Deutschen Idealisten verweist.

II. Die scientia intuitiva im Rahmen der Erkenntnisarten Spinoza nennt die scientia intuitiva die dritte Erkenntnisart, weil es neben ihr noch zwei andere gibt, die er imaginatio und ratio nennt. Sie ist aber nicht nur eine weitere dritte, sondern auch die höchste. Das liegt an ihrem Gegenstand, der Gott ist. Da Gott das Prinzip von allem ist, darf man annehmen, dass ihn zu erkennen die höchste Form von Erkenntnis ist. Die beiden anderen Formen von Erkenntnis haben nicht Gott zum Gegenstand, sondern die Dinge, 2

Jonathan Bennett: A Study of Spinoza’s Ethics. Indianapolis 1984. Unüberholt immer noch Harry Austryn Wolfson: The Philosophy of Spinoza. 2 Bde. Cambridge 1934. 4 Vgl. zu Fichte und Schelling unter einem bestimmten Aspekt, zu Hegel grundsätzlich meine Aufsätze: Wolfgang Bartuschat: »Spinoza et le dernier Fichte«, in: André Tosel et al. (Hg.): Spinoza au XIXe siècle. Paris 2007, 99–107; ders.: »Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling«, in: Hans-Martin Pawlowski et al. (Hg.): Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie. Stuttgart 1989, 153–175; ders.: »Nur hinein, nicht heraus. Hegel über Spinoza«, in: Dietmar H. Heidemann; Christian Krijnen (Hg.): Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 2007, 101–115. 5 Wichtige Arbeiten hierzu sind: Pierre-François Moreau: Spinoza. L’expérience et l’éternité. Paris 1994, und Robert Schnepf: »Spinozas Theorie des ewigen Teils des endlichen Geistes«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 88 (2006), 189–215. 3

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die aus Gott folgen, also die Modi. Nun gibt es zwei Typen von Modi, nämlich endliche (1p24–29, E 57–65) und unendliche (1p21–23, E 51–55), und ihnen korrelieren die beiden anderen Erkenntnisarten, die imaginatio den endlichen (2p14–31, E 139–167), die ratio den unendlichen (2p37–44, E 173–193). Auch das Subjekt des Erkennens ist ein Modus. Gott erkennt nicht, nur ein Modus hat einen Verstand. Ein unendlicher Verstand kommt nicht Gott, sondern einem unendlichen Modus zu. Dieser erkennt, anders als ein endlicher Modus, all das, was ist, in dem, wie es ist. Seine Erkenntnis ist prinzipiell adäquat. Ein endlicher Modus, also der Mensch, hat einen solchen Verstand nicht. Alle drei Erkenntnisarten sind aber, und daran zweifelt Spinoza überhaupt nicht, Möglichkeiten des Menschen, also auch die scientia intuitiva (2p45–47, E 193–197), die folglich dem endlichen Verstand möglich ist.6 Der Fünfte Teil entwickelt die Bedingungen, unter denen sie ihm in seiner Endlichkeit möglich ist. Die erste grundlegende Bestimmung des endlichen menschlichen Geistes, die Spinoza nie aufgibt, ist die, Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges zu sein (2p11, E 121), das der menschliche Körper im Kontext von anderen, ihn umgebenden Körpern ist. Daraus folgert Spinoza unmittelbar, dass die ursprüngliche Erkenntnisweise des Menschen die der imaginatio ist (2p17s, E 143), das heißt die eines bloßen Vorstellens, in dem der Mensch den Körper gemäß eines Affiziertwerdens perzipiert, das die universelle Verflechtung, in der ein Körper zu unendlich vielen anderen steht, ausblendet und deshalb zu einer nur partialen Erkenntnis gelangt. Eine solche ausschnitthafte Erkenntnis, relativ auf die Lebenswelt und die dort sich etablierenden Gewohnheiten des Einzelnen, ist inadäquat. Die Chance des Menschen, zu einer adäquaten Erkenntnis zu gelangen, besteht nicht darin, die Partialität zunehmend zu verringern und zu einer Erkenntnis universeller Zusammenhänge zu gelangen, sondern darin, etwas zu erfassen, was im Teil nicht anders als im Ganzen ist (2p38, E 173). Das ist die sich universell durchhaltende Gesetzlichkeit eines Allgemeinen, anders formuliert, es sind allgemeine Strukturen, die Spinoza unendliche Modi nennt, expliziert zum Beispiel an Gesetzen von Ruhe und Bewegung, die allen Körpern gemeinsam sind. Die Erkenntnis solcher Strukturen ist die Domäne der zweiten Erkenntnisart, der ratio; sie verbürgt eine adäquate Erkenntnis. Angesichts der Unausweichlichkeit menschlicher Partialerkenntnis, die inadäquat ist, ist sie nicht Totalitätserkenntnis, sondern Strukturerkenntnis – eine Totalitätserkenntnis ist der an Endlichkeit gebundenen menschlichen Rationalität grundsätzlich verschlossen, das wusste unter den Rationalisten nicht erst Kant, sondern schon Spinoza.

6 Vgl. des Näheren Wolfgang Bartuschat: »Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza«, in: Tijdschrift voor Filosofie 54 (1992), 492–521.

Zur Rolle der dritten Erkenntnisart in Spinozas Konzeption der Ethica

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Gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist indes nicht nur eine dort sich manifestierende allgemeine Gesetzlichkeit, sondern auch Gott, aber anders als diese, nämlich als die Ursache dessen, was sich unter dieser Gesetzlichkeit ereignet. Gesetze von Ruhe und Bewegung sind nicht Ursache ruhender und sich bewegender Körper; sie beschreiben sie in deren Veränderungen unter einem allgemeinen Gesichtspunkt. Gott ist hingegen die Ursache von Dingen und zwar nicht nur von deren Totalität en bloc, sondern auch von jedem Einzelnen. Ihn als die Ursache von Einzelnem zu erkennen, ist das, was die scientia intuitiva auszeichnet: Einzelnes also nicht von anderem Einzelnen her gemäß eines Affiziertwerdens (imaginatio) zu erkennen und auch nicht von einer allgemeinen Gesetzlichkeit her, der jedes Einzelne unterliegt (ratio), sondern von Gott her und darin unter einer Form von Kausalität, die Spinoza von der innerweltlichen Kausalität zwischen den Dingen strikt unterscheidet. In seiner lateinischen Terminologie hat Spinoza hier durchgängig zwischen einem Verursachtsein ab aliquo (von einem her) und einem Verursachtsein per aliquod (durch etwas) unterschieden. Die drei Erkenntnisarten stellt Spinoza in der Anmerkung 2 zu Lehrsatz 40 des Zweiten Teils tabellarisch zusammen. Dabei kann er sich, was die imaginatio und die ratio angeht, auf das in diesem Teil schon Entwickelte beziehen, während er für die scientia intuitiva auf ein im folgenden zu Zeigendes verweist (»ut in sequentibus ostendam«, 2p40s2, E 182). Wichtig ist dabei zu sehen, dass Spinoza auf etwas verweist, das er noch in diesem Teil der Ethica entwickeln wird, und damit ausdrücklich macht, dass die Möglichkeit auch der scientia intuitiva an den im Zweiten Teil beschriebenen endlichen Geist in dessen tatsächlichen Existieren gebunden bleibt. Lehrsatz 45 lautet: »Jede Idee [unaquaeque idea] eines wirklich existierenden Körpers […] schließt notwendigerweise eine ewige und unendliche Essenz Gottes in sich« (2p45, E 193). In jeder Idee, welcher auch immer und wie inadäquat sie sein mag, ist eine Essenz Gottes, also Gott unter einem Aspekt seiner Wesentlichkeit und das heißt er als causa, enthalten. Lehrsatz 47 folgert daraus lapidar: »Der menschliche Geist hat eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes« (2p47, E 195). Und diesen Lehrsatz beweist Spinoza schlicht aus dem Tatbestand, dass der Mensch Ideen hat, aus denen er sich selbst, den eigenen Körper und äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt, Ideen also, von denen Spinoza gezeigt hat, dass sie inadäquat sind. Damit hat Spinoza zur Möglichkeit der scientia intuitiva eigentlich alles gesagt. Er hat sie über seine Theorie einer immanenten Kausalität Gottes aus dem In-sein Gottes in jeder Idee gefolgert. Gleichwohl, etwas Entscheidendes fehlt noch. Spinoza hat im Zweiten Teil lediglich eine Typologie von Erkenntnisarten entwickelt, aber nicht hinreichend die Perspektive des menschlichen Geistes eingenommen und deshalb auch nicht gefragt, wie denn der

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Mensch von einer Erkenntnisart zur anderen übergehen kann, anders gewendet, wie er sich aus dem Befangensein in der Inadäquatheit imaginativen Erkennens befreien kann. Es wird nicht hinreichend deutlich, inwiefern das Haben (habere) der Erkenntnis Gottes mehr enthält als die ontologische Voraussetzung eines In-seins Gottes in den Ideen, die der Mensch hat. Spinoza macht hier nicht deutlich, inwiefern dieses In-sein darüber hinaus auch etwas für den Menschen sein kann, er also eine Erkenntnis Gottes im strengen Sinn »hat«.

III. Die scientia intuitiva im Rahmen der Affekte Das An-sich zu einem Für-sich zu machen, wenn die hegelsche Terminologie einmal gestattet ist, kann nun Spinoza zufolge nicht aus einer Analyse bloß des Erkennens verständlich gemacht werden. Hierfür bedarf es eines anderen Schrittes, der dann mit dem Dritten Teil der Ethica einsetzt, nämlich der Analyse dessen, was den Menschen in seinem Agieren tatsächlich bewegt – und das ist nicht sein Erkennen, sondern sein conatus, der conatus in suo esse perseverandi, das Streben, das eigene Sein zu erhalten, das die wirkliche Essenz eines Einzeldinges und damit auch des Menschen ausmacht (3p7, E 239). Aus dem conatus leitet Spinoza das Gefüge der menschlichen Affektivität her, dem der Mensch zwangsläufig unterworfen ist und zwar so, dass er, der imaginatio folgend, in ihm weitgehend fremdbestimmt ist, also gerade nicht realisiert, worauf er seiner Natur nach aus ist: sich selbst zu erhalten. Hat die adäquate Erkenntnis, sei es die der ratio, sei es die der scientia intuitiva, keine Kraft, die Affekte zu kontrollieren, das heißt sie vernünftig zu durchdringen, dann hat sie auch keine Chance, von sich her den Menschen in dessen Agieren zu leiten; sie bliebe eine ontologische Möglichkeit, die der Mensch in seinem faktischen Streben zwangsläufig liegen ließe. Das heißt: das adäquate Erkennen muss selbst eine emotionale Komponente haben, damit der Mensch es für sein Handeln übernimmt, und sie muss stärker sein als die der imaginativ bedingten Affekte, damit er es dauerhaft übernimmt und im Ganzen seines Lebens von ihm sich leiten lässt. Das Erkennen muss dem Menschen Freude bereiten und zwar eine solche, die nicht gefährdet ist, in Trauer umzuschlagen. Genau das leistet die scientia intuitiva, nicht aber schon die ratio. Die ratio ist eine Instanz der Beurteilung der Affekte, die aus einer Theorie der Affekte und insbesondere des allgemeinen Gefüges, in dem Affekte zueinander stehen, Affekte miteinander vergleicht und hinsichtlich ihres Beitrags zu einer gelingenden Selbsterhaltung richtig einzuschätzen vermag. Aus der Theorie, die sie gibt, vermag die ratio jedoch zu folgern, dass eine gute Theorie zu haben sel-

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ber gut ist,7 anders gewendet, dass ein adäquates Erkennen der Selbsterhaltung dient. Wer sich von der ratio leiten lässt, wird also darauf aus sein, sein Erkennen zu verbessern. Dies legt Spinoza in den Lehrsätzen 19–28 des Vierten Teils dar. Jeder verlangt nach dem, was er für gut hält. Der Vernünftige weiß, dass richtiges Erkennen gut ist. Er strebt also danach, in rechter Weise zu erkennen (intelligere). Strebt er danach, sich selbst zu erhalten und nicht nach etwas anderem, dann strebt er nicht danach, mit Hilfe der Vernunft etwas anderes zu erkennen, sondern danach, die Vernunft selbst in sich zu stabilisieren, das heißt aus dem conatus perseverandi einen conatus intelligendi zu machen. Ein solcher conatus erfüllt sich in der Erkenntnis Gottes, formuliert in Lehrsatz 28: »Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes und die höchste Tugend des Geistes, Gott zu erkennen« (4p28, E 421). Damit ist Spinoza in der Argumentationsabfolge der Ethica noch einmal bei der scientia intuitiva angelangt, jetzt aber nicht über eine Typologie der Erkenntnisarten, sondern über den menschlichen conatus. Doch fehlt immer noch etwas. Denn Spinoza hat nicht wirklich aus dem conatus heraus argumentiert.8 Mit der Erkenntnis Gottes als dem höchsten Gut der Menschen sei, so folgert er, ein die Menschen Verbindendes gefunden. Denn im Unterschied zu allen innerweltlichen Gütern nimmt mit diesem Gut ein Mensch dem anderen nichts weg. An ihm, so formuliert es Lehrsatz 36, können sich alle Menschen gleichermaßen erfreuen (»aeque gaudere possunt«, 4p36, E 434), was Spinoza aber so beweist, dass dieses Gut von allen gleichermaßen besessen werden kann (ab omnibus possideri potest, 4p36dem, E 436). Das Argument, das den Beweis trägt, ist der im Zweiten Teil dargelegte Tatbestand, dass die Essenz Gottes in jeder Idee ist und deshalb jedem Menschen, der eine Idee hat, zugänglich ist. Das heißt, Spinoza argumentiert, das aktive »gaudere possunt« durch das passive »possideri potest« ersetzend, von oben herab, von Gott her, der in jeder Idee ist, nicht aber von unter her, vom Individuum und dessen conatus intelligendi her. Die in Anspruch genommene Gemeinsamkeit der Menschen ist eine im adäquaten Erkennen gelegene bloße Möglichkeit, die noch nicht mit der Faktizität des Strebens in Einklang gebracht ist. Sie stützt sich auf eine abstrakt bleibende Allgemeinheit, die die Domäne der ratio ist, die zweifellos etwas Wahres erfasst, die aber keine hinreichende Motivationskraft hat, den individuellen conatus auf diese Wahrheit hin zu dirigieren.

7 Vgl. Reiner Wiehl: Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. Göttingen 1983. 8 Vgl. Wolfgang Bartuschat: »Die Theorie des Guten im 4. Teil der ›Ethik‹«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Weise dargestellt. Berlin 2006, 237–250.

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Deshalb nimmt Spinoza, nachdem er alles schon erreicht zu haben scheint, im weiteren Verlauf erneut die Perspektive des faktischen Strebens der Menschen ein. Er schiebt nicht nur anmerkungsweise eine Politik-Theorie ein (4p37s2, E 443–447), die ihre Basis nicht im adäquaten Erkennen haben kann, sondern redet erneut vom menschlichen Körper (4p38, E 447), von Freude am Essen und Trinken, an Sport und grüner Vegetation (4p45s, E 459), alles sehr innerweltlich. Und im Hinblick darauf kommt wiederum die ratio zur Geltung, die zeigt, was mit Gründen als gut, nämlich selbsterhaltungsförderlich, und was als schlecht, nämlich selbsterhaltungswidrig, bezeichnet werden kann (4p39 ff., E 449 ff.). Deutlich wird dabei, dass der Vernünftige im Hinblick auf seine Mitmenschen strategisch verfahren muss, also gerade nicht der reinen Vernunft folgend, bis hin zur Charakterisierung des freien Menschen am Ende des Vierten Teils (4p67 ff., E 495 ff.), dessen Freiheit sich in einem klugen Kalkül erfüllt. Nicht zufällig steht das Ganze einschließlich des Lobgesangs auf die Erkenntnis Gottes als dem Höchsten unseres Strebens im Vierten Teil unter dem Titel »Von menschlicher Knechtschaft«. Von menschlicher Freiheit handelt erst der Fünfte Teil, und dort ist die scientia intuitiva zu Hause.

IV. Die scientia intuitiva als Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis Frei ist der Definition 7 des Ersten Teils zufolge das Ding, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird, eine Definition, die klarerweise Gott erfüllt. In ihrem ersten Element kann sie natürlich nicht für den Menschen gelten, der zufälligerweise und nicht notwendigerweise existiert, wohl aber in ihrem zweiten Element, dass er nämlich allein von sich her zum Handeln bestimmt wird. Und hier greift die scientia intuitiva. Um das zu erweisen, hebt Spinoza mitnichten die Bedingungen auf, unter denen alles menschliche Erkennen in seiner Endlichkeit steht. Diese Bedingungen sind: 1. der Mensch erkennt nur, wenn und solange er einen Körper hat, also als idea corporis actu existentis; 2. die Erkenntnis bestimmt das Handeln des Menschen nur, wenn sie an das Prinzip gebunden wird, das alles Handeln bestimmt, an den conatus perseverandi, an ein Streben, das das eigene Sein gegen Äußeres zu erhalten trachtet. Beide Bestimmungen treffen nicht auf Gott zu. Er hat keinen Körper (und damit keinen Geist), und er strebt nicht, weil er kein Äußeres hat. So etwas wie Angleichung an Gott oder gar Einswerden mit ihm kann mit der Figur der scientia intuitiva also nicht verbunden werden. Was mit ihr verbunden ist, ist allein ein radikaler Perspektivenwechsel, den der Mensch selbst vornimmt. Er bedeutet 1., dass der Mensch sich in seinem Geistsein und damit in seinem Erkennen, in dem er Körperliches reprä-

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sentiert, nicht von dem Affektionszusammenhang seines Körpers her versteht, also nicht als eine Instanz, die wie in der imaginatio bald so, bald anders erkennt, und auch nicht als eine Instanz, die wie in der ratio diesen Zusammenhang nach allgemeinen Gesichtspunkten ordnet, sondern als eine Instanz, die das eigene Erkennen aus seiner wahren Ursache, nämlich aus Gott, erkennt; und er bedeutet 2., dass der Mensch seinen conatus nicht von dem her versteht, wogegen er angeht, sondern als seine ihm selbst zukommende Essenz. Dieser Perspektivenwechsel geht ein in Spinozas berühmt gewordene Formel »sub specie aeternitatis«, unter einem Aspekt von Ewigkeit, unter dem etwas zu erkennen ist. Seine besondere Pointe hat er darin, dass nicht nur die Dinge unter von Gott sich herleitenden allgemeinen Strukturen zu erkennen sind (dann sagt Spinoza »sub quadam aeternitatis specie«, 2p44c2, E 190), sondern gerade das erkennende Subjekt selbst im Status des eigenen Erkennens aus der Ewigkeit Gottes. Da nun aus Ewigem nichts Zeitliches folgt, sondern nur Ewiges, begreift der menschliche Geist, wenn er sich aus Gott als seiner Ursache begreift, das heißt sich als dessen Effekt, selbst als ewig; er begreift, dass ihm in seiner Zeitlichkeit etwas Ewiges zukommt. Steht die Ewigkeit des menschlichen Geistes unter der Bedingung, dass er erkennt, dann ist der Mensch nur ewig, solange er erkennt, und da er nur erkennt, solange er einen Körper hat, ist der Mensch mit seinem Geist ewig nur in diesem Leben. Etwas Ewiges ist auch in jedem Körper, wenn dieser denn ein Modus des göttlichen Attributs Ausdehnung ist, nur hat der arme Körper für sich selbst nichts davon, weil er nicht denkt und damit seinem Attribut nur unterliegt, ohne aus dem Tatbestand, dass es seine Ursache ist, etwas für sich selbst zu gewinnen. Anders verhält es sich mit dem Geist, der nicht nur Körperliches repräsentiert, sondern auch auf sich reflektiert und darin etwas als etwas erkennen kann, folglich auch Gott als Ursache des eigenen Geistseins, das heißt des eigenen Erkennens. Auch die scientia intuitiva ist also die Erkenntnis von etwas aus seiner Ursache und damit der Rationalität verpflichtet. Sie hat nichts mit einer Unmittelbarkeit des Anschauens, ihrem Namen zum Trotz, zu tun. Da in ihr Gott nicht in abstrakter Weise erkannt wird, sondern als Ursache des erkennenden Subjekts in dessen Einzelheit, ist mit der Gotteserkenntnis immer auch und in eins mit ihr eine Selbsterkenntnis verbunden. Diese Erkenntnis, in der das Subjekt sich selbst in seinem Erkennen erkennt, ist gemäß der Komplexität der vielen Erkenntnisakte, die das weltbezogene Subjekt ausübt, ein Prozess, in dem der Mensch in seinem Erkennen zunehmend sich seiner selbst und darin zugleich Gottes bewusst wird: melius sui et Dei conscius est (in dieser Reihenfolge!), wie es in 5p31s (E 574) heißt. Weil das Individuum in der intuitiven Erkenntnis eine Steigerung seines Erkennens erfährt, ist mit ihm, wie generell mit aller Steigerung der eigenen potentia, so hat die Theorie der Affekte

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gezeigt, Freude verbunden, eine Freude, in der zwei Momente verknüpft sind, nämlich unter Begleitung der Idee dessen, der den Erkenntnisakt ausübt, also von einem selbst (laetitia concomitante idea sui) und zugleich unter Begleitung der Idee Gottes als Ursache dieser Freude (concomitante idea Dei tanquam causa), so formuliert im nächsten Lehrsatz (5p32, E 577) einschließlich seines Beweises. Und da wir, hier mobilisiert Spinoza wiederum seine Affektenlehre, dasjenige, was wir als Ursache einer Freude ansehen, lieben, entspringt dieser Erkenntnisart eine Liebe, die Gott zum Gegenstand hat und die, weil sie sich allein dem adäquaten Erkennen verdankt, rein geistig ist: amor Dei intellectualis (5p32c, E 576). Sie ist im Unterschied zu allen Formen von Liebe, die sich auf innerweltliche Dinge als Ursache von Freude richten, in sich stabil und kann, weil sie auf die wahre Ursache von Freude bezogen ist und nicht nur auf eine, die dafür gehalten wird, nicht in ihr Gegenteil umschlagen. Sie ist aller Fluktuation der Affekte überlegen und verschafft dem Menschen jene Selbstzufriedenheit, die sein Glück und seine Freiheit ausmacht. Damit ist vom individuellen Akt des Erkennens her offenbar auch ein persönliches Element in den Begriff Gottes hineingekommen, von dem es sogar heißt, dass er die Menschen liebe, wenn auch nur unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass sie ihn lieben (5p36, E 579 ff.), er also nur die liebt, die intellektuell etwas drauf haben – ein wohl nicht christlicher Gedanke. Und in der Tat, die Natur im Ganzen in ihrer unverbrüchlichen Notwendigkeit kann nicht Gegenstand menschlicher Liebe sein, selbst wenn man Gott als ihren ihr immanenten Organisator annimmt – es ergäbe im Unterschied zur Gottesliebe (amor Dei, 5p32c, E 576) bestenfalls einen amor erga Deum (5p16, E 554), im Rückgriff auf ein »erga« von Spinoza für die Charakterisierung der Liebe zu Gott immer dann vorgebracht, wenn er auf die Kraft der ratio verweist, und das ist eine Liebe, in der, gleichsam als amor fati, Gott dem Menschen noch äußerlich bleibt. Wie dem auch sei, hervorgehoben sei zum Schluss, dass mit Lehrsatz 36, der die enge Verknüpfung von Gott und individuellem menschlichen Geist in den Blick bringt und darin auch von unten her, von dem endlichen Geist her, zeigt, dass dieser ohne Gott weder sein noch begriffen werden kann, dass mit diesem Lehrsatz die Ethica keineswegs an ihr Ende gelangt ist. Spinoza erörtert vielmehr wieder den menschlichen Körper in dessen Komplexität (5p39, E 585 ff.) und spricht von dem Ewigen im Geist als von einem Teil des Geistes, der unterschiedlich groß sein kann, also quantifizierbar ist (5p40, E 589). Und das ist nur konsequent, denn der noch so intelligenzstarke menschliche Geist ist nicht in Gott aufgegangen, in dem er den Abschluss seines Weges gefunden hätte. Spinoza hat nur einen Aspekt an ihm aufgezeigt, an dem festzuhalten dem Menschen eine Selbstzufriedenheit gewährt, die es ihm erlaubt, die Bedeutsamkeit all der ihn bewegenden Weltereignisse, die er nicht unter die

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Gotteserkenntnis bringen kann, in einer Weise zu deuten, die sich ihm erst in dieser Erkenntnisart erschließt. Spinoza behauptet auch nicht, dass in der Gestaltung des menschlichen Lebens, auch des zwischenmenschlichen Lebens, die scientia intuitiva eine größere Kraft habe als die ratio – im Gegenteil, die Gebote der ratio behalten ihre uneingeschränkte Gültigkeit (5p41, E 591). Er behauptet aber, dass der Mensch in der Gotteserkenntnis auf dem richtigen Weg ist, dass es nämlich für ihn nichts besseres gibt als sich an adäquater Erkenntnis zu orientieren und dass, allen Widrigkeiten zum Trotz, an ihr unbedingt festzuhalten ist. Und genau dafür, dass an ihr in unbedingter Weise festzuhalten ist, hat die scientia intuitiva eine größere Kraft als die ratio, weil in ihr der Mensch in seiner Individualität betroffen ist und er sich selbst als ein Wesen begreifen kann, das nicht nur adäquat erkennt, sondern dessen Sein sich im adäquaten Erkennen erfüllt. Die scientia intuitiva verdrängt nicht die menschliche Rationalität, sondern stabilisiert sie. Sie bringt den Menschen nicht an ein Ende, sondern auf einen Weg, der unabschließbar ist. Er gibt dem Menschen unbeschadet dessen, dass er sich durch Gott begriffen hat, die Möglichkeit, die Weltereignisse, diesseits eines Anspruchs, sie insgesamt aus Gott begreifen zu können, im Horizont einer Gotteserkenntnis zu betrachten und damit unter einem Aspekt, der hinreichend offen ist für die Kontingenz, in der diese Ereignisse gerade auftreten. So macht der in der Ethica greifende Perspektivendualismus,9 dem auch die scientia intuitiva verpflichtet ist, selbst im Schlussstein dieses Werkes deutlich, dass das in ihr entfaltete System nicht von ihrem obersten Prinzip her, dem Absoluten, deduktiv entfaltet wird, dass dieses Prinzip, allen dogmatischen Behauptungen zum Trotz, im Hinblick auf die menschliche Weltorientierung vielmehr einen, mit Kant gesprochen, regulativen Charakter hat.

9 Von mir erstmals entwickelt in: Wolfgang Bartuschat: »Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974), 132– 145; ausführlich dann in: ders.: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992.

Violetta L. Waibel

Philosophieren als Weg des Denkens Anmerkungen zu Spinoza und Fichte mit einem Exkurs zu Hölderlin

I. Spinozas Weg zur Erlangung der Macht der Vernunft und der Freiheit Spinoza verspricht mit dem philosophischen System seiner Ethica Ordine Geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta einen Lebensweg, der einer langen Praxis der Erkenntnis und der Umsetzung ihrer Einsichten bedarf. Der Lohn eines anhaltenden Studiums des Menschen, der Lebensbedingungen der inneren, seelisch affektiven Natur, der Gegebenheiten der äußeren Natur und ferner der vertieften Erkenntnis der Interaktionen dieser Bedingungsparameter sind Zufriedenheit und Glückseligkeit. Dieses Ziel der Glückseligkeit und eines guten Lebens erlaubt, Spinozas Theorie eudaimonistischen Ethikkonzeptionen zuzurechnen. Kant wird derlei Ethikansätze aus kritikimmanenten Gründen bekanntlich zu einer bloßen Glückswürdigkeit herabstimmen. Die utilitaristisch orientierten, auf wechselseitige Nützlichkeit der Menschen sich bescheidenden Ethiken wird Kant durch eine auf einer reinen Gesinnung der Vernunft begründeten Moralphilosophie überbieten. Auf eine reine, moralische Gesinnung der Vernunft kommt es Spinoza unmittelbar nicht an. Der Vernunft erkennt er dennoch eine große Verantwortung für den Menschen zu. Vom Weisen, der seinem Weg folgt, sagt Spinoza am Ende seiner Ethik, er sei »nahezu ruhigen Gemüts; sich seiner selbst, Gottes und der Dinge nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewußt, hört er niemals auf zu sein, sondern genießt immer wahren inneren Frieden«. Der Weg dorthin sei schwer zu finden. Die Ethik beschließt er mit den Worten: »Und natürlich muß das, was so selten gefunden wird, schwer sein. Wenn das Heil einfach daläge und ohne große Anstrengung gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß fast jeder es fahren läßt? Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten.«1 Das Pochen auf eine tiefe, lange Reife der Erkenntnis macht Spinoza zum Geistesverwandten Platons, der bekanntlich in der Politeia die Reife des zur Wahrheit gekommenen Denkens des Dialektikers in ein Alter von wenigstens 50 Jahren verlegte.2 Hätten freilich Spinoza oder auch Fichte auf ihr 1

5p42s, E 595. Zur Wegmetapher vgl. ferner 3praef, E 219 und 5praef, E 527. Platon spricht über den langen Weg der Dialektiker im Sechsten Buch der Politeia (504b), wenn er Sokrates zur Hindeutung auf die Idee des Guten ansetzen lässt und 2

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50. Lebensjahr warten müssen, die Nachwelt wäre um diese Philosophien ärmer, da der eine im 45. (Spinoza, 1732–1777), der andere im 52. Lebensjahr (Fichte, 1762–1814) starb. Ob 50 oder weniger Jahre des anhaltenden Nachdenkens, Philosophieren scheint allemal und immer ein Weg zu sein, der auf langfristigere Konzepte angelegt ist. Spinoza macht den langen Erkenntnisweg aus der inneren Notwendigkeit, einen therapeutischen Weg zur Verbesserung des Menschen anbieten zu können, zum Gegenstand seiner Konzeption. Friedrich Nietzsche entdeckte nach eigenem Bekunden und mit merklicher Genugtuung einen Spinoza, der den Erkenntnistrieb zum stärksten und mächtigsten aller Affekte gemacht habe. Voller Verwunderung, aber auch Bewunderung und Begeisterung erkennt er in Spinoza einen Vorgänger seines eigenen Denkens im 17. Jahrhundert. Dass Nietzsche Spinozas Ethik im Original studiert hat, ist kaum wahrscheinlich. Spinozas Denken lernte er zunächst durch das Buch Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) des Freundes Paul Rée kennen. Eine intensivere Beschäftigung Nietzsches mit Spinozas Lehre erfolgt durch die Lektüre des zweiten Bandes von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, in dem Spinozas Leben und Werk sehr ausführlich behandelt werden.3 Nietzsche schreibt am 30. Juli 1881 euphorisch an Franz Overbeck: hier von einer makrotera perihodos die Rede ist, also einem »längeren/größeren Herumweg«. Dieser könne im gegenwärtigen Gespräch der Politeia nicht begangen werden, deshalb bringt Sokrates die Reihe an Gleichnissen vor, deren erstes das Sonnengleichnis ist. (Vergleiche auch Politeia 435d, wo ebenfalls von einem längeren Weg die Rede ist, der momentan nicht beschritten werden könne.). Im Siebten Buch der Politeia (540a–b) heißt es ferner, dass im Alter von fünfzig Jahren die auserwählten Dialektiker, die sich bis dahin in der Erziehung und im Staat bewährt haben, zum höchsten Lerngegenstand geführt werden sollen: »Haben sie aber fünfzig erreicht, dann muß man, die sich gut gehalten und überall vorzüglich gezeigt hatten in Geschäften und Wissenschaften, endlich zum Ziel führen und sie nötigen, das Auge der Seele aufwärtsrichtend in das allen Licht Bringende hineinzuschauen, und wenn sie das Gute selbst gesehen haben, dieses als Urbild gebrauchend, den Staat, ihre Mitbürger und sich selbst ihr übriges Leben hindurch in Ordnung zu halten« (Platon: Politeia, in ders.: Werke in 8 Bänden. Griechisch und deutsch, hg. von Gunther Eigler, Bd. 4. Darmstadt 1990, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). Eine ähnliche Altersangabe ist bei Aristoteles zu finden, wenn er in der Rhetorik schreibt, dass die Seele des Menschen ihre Blüte im Alter von 49 Jahren erreiche (Aristoteles: Rhetorik II, 14, 1390b6). Eine gute Übersicht zu dieser Thematik des langen Weges hin zum reifen Denken bietet Thomas A. Szlezák: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Berlin/ New York, 24–32 (»Der Verzicht der Gesprächspartner auf den längeren Weg und Glaukons Bitte um eine Skizze der Dialektik«). Ich danke Alfred Dunshirn sehr herzlich bei der Hilfe für die Auffindung der wichtigsten Stellen. 3 Vgl. Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. 2 Bde., Bd.1, Teilband. 1: Descartes und seine Schule. Zweiter Theil. Descartes Schule. Geulinx, Malebranche, Baruch Spinoza. 2. völlig überarbeitete Auflage. Heidelberg 1965. Nietzsche bat Franz

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Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: […] Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit – ; die Zwecke – ; die sittliche Weltordnung – ; das Unegoistische – ; das Böse – ; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit.4 Nietzsches These, Spinoza habe die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt gemacht, klingt provozierend. Zu fragen ist, ob sie die Sache im Kern trifft. Dass die Erkenntnis für Spinoza ein mächtiges Instrument der erfolgreichen Lebensbewältigung und Lebensstrategie ist, kann dem nicht entgehen, der sich auf Spinozas Ethik wirklich einlässt. Es ist tatsächlich die Erkenntnis, für deren Anstrengung – mit Hegel möchte man fast sagen, für deren Begriffsarbeit – die Zufriedenheit und Glückseligkeit der Lohn ist. Dafür ist ein lang sich hinziehender Weg des Denkens und der Selbsterforschung von Spinoza vorgesehen. Overbeck mit einer Postkarte vom 8. Juli 1881, ihm den Band aus der Bibliothek oder Lesegesellschaft Basel nach Sils Maria zu senden. Vgl. Friedrich Nietzsche am 8. Juli 1881 an Franz Overbeck (mit dem falschen Poststempel »Sils Egd. 8 VI 1881«), in ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe (im Folgenden KGB mit Angabe der Abteilung in römischen und des Bandes in arabischen Ziffern, gefolgt von der Seitenzahl). Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abt. 3, Bd. 1: Friedrich Nietzsche. Briefe: Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin/New York 1981, 100 f. mit dem betreffenden Eintrag im Kommentar- und Erläuterungsband in Nietzsche: KGA III/7, 117 f. – Dass Nietzsche den Band Fischers aus der zweiten überarbeiteten Auflage benutzte, bestätigen Andreas Rupschus und Werner Stegmaier in ihrem Artikel, »›Inconsequenz Spinoza’s‹? Adolf Trendelenburg als Quelle von Nietzsches Spinoza-Kritik in Jenseits von Gut und Böse 13«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 28 (2009), 299–308, 304, Fn. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza und einer Analyse des Exzerpts von Kuno Fischers Darstellung Spinozas vgl. Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin/New York 1984, 49–59. Vgl. ferner Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsche. Berlin/New York 1996, 190–193 sowie 46–51. Die Studie von William Stefan Wurzer: Nietzsche und Spinoza. Freiburg im Breisgau (Dissertationsdruck) 1974, beleuchtet die Rezeption Spinozas seit Nietzsches philosophischen Anfängen. 4 Friedrich Nietzsche am 30. Juli 1881 an Franz Overbeck, in ders.: Briefwechsel, KGB III/1, 111.

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Darf aber Nietzsche zurecht von der Erkenntnis als dem mächtigsten Affekt sprechen? Nietzsche will erkannt haben, dass Spinozas »Gesamttendenz gleich der [s]einen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen«. Warum also spricht Nietzsche in pointierender Überspitzung von Spinozas stärkstem Affekt der Erkenntnis? Man muss nicht erst bei Kuno Fischer, Nietzsches Autor, durch den er Spinoza entdeckt hat, nachsehen, um zu wissen, dass die Erkenntnis für Spinoza wirklich ein Affekt ist, wenigstens in einer gewissen Hinsicht. Jeder Affekt ist für Spinoza die Modifikation eines Triebes, oder genauer eines Triebes mit Bewusstsein, also ein Begierde. Es gibt kein Handeln des Menschen, und Denken und Erkennen ist ein Handeln, ein aktives Tun, das nicht Begierde wäre. Begierde ist und bezeichnet hier nichts anderes als die Äußerungsform der Wirkungsmacht des Menschen, zu der alle Affekte zählen, die nützlich oder schädlich sind, wozu aber auch die Begierde des Denkens und Erkennens gehört. Die Begierde ist neben der Freude und der Trauer einer der drei Grundaffekte (3d4e, E 341). Spinoza schreibt seine Ethik in der tiefen, aufklärerischen Überzeugung, dass die Erkenntnis geschult und der Mensch über sich aufgeklärt werden müsse, weil das menschliche Leben in einem hohen Maß von Ohnmacht gegenüber den in der Welt herrschenden Kräften der Natur, vor allem der affektiven Natur, bestimmt sei. Diese Ohnmacht bemänteln die Menschen mit Anmaßung, weil sie sich als selbstbestimmt sehen wollen, indem sie sich Freiheit in ihren Handlungen zuschreiben, weil sie über Erkenntnis verfügen. Die Erkenntnis kann Spinoza zufolge aber niemals unmittelbar das Chaos der Triebe, Affekte und unberechenbaren Leidenschaften, die das menschliche Dasein befallen und nachhaltig heimsuchen können, beherrschen. Es gibt die vermeintliche Freiheit also nicht. Es gibt aber auch nicht das Gute und das Böse in der Welt. Diese Prädizierungen sind Setzungen des menschlichen Geistes, die in zutreffenderer Weise als das Nützliche und Schädliche in den Handlungen des Menschen bezeichnet werden. Nietzsche erkennt sich darin als Geistesverwandten Spinozas. Dennoch entschließt sich Spinoza, die herkömmliche Sprechweise der Einteilungen in Gut und Böse unter der Voraussetzung beizubehalten, dass sie mit Rücksicht auf den ausgesprochenen Vorbehalt benutzt werden (4praef, E 379). Spinoza hat einen indirekten Weg entdeckt, die vielfältig erfahrene Ohnmacht zu mindern oder gar in eine positive Wirkungsmacht zu verwandeln. Die Erkenntnis ist nämlich selbst eine Begierde, weil sie eine die Wirkungsmacht steigernde aktive Freude auslöst, hervorgebracht durch die Tatkraft des Denkens. Im Gegensatz zu den aktiven Freuden des Denkens stehen die sogenannten passiven Freuden, passiv deshalb, weil sie lebenspotenzierende Freuden sind, die einem widerfahren.

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Die aktivste Form des Denkens ist die der dritten Erkenntnisart, die scientia intuitiva. Diese ist nicht verfügbar ohne die zweite Erkenntnisart. Deren Aufgabe als adäquate Erkenntnis ist die Erforschung von tatsächlichen Ursachen und die Aufdeckung der dem bloßen Wahrnehmen verborgenen Zusammenhänge der Dinge in der menschlichen körperlichen und seelischen, wie auch in der äußeren Natur. Diese adäquate Erkenntnis ist aber nicht möglich ohne eine genau hinsehende, sinnliche Daten auffassende inadäquate Erkenntnis, die das Erfahrungsmaterial für die weitere Erkenntnisverarbeitung aufsammelt. Spinozas zweite und dritte Erkenntnisart sind Streben, sind Begierde nach Wissen, die in essentieller Weise auf der Erfahrungserkenntnis der ersten Erkenntnisart aufruhen und von ihr getragen werden. Doch wozu bedarf es einer so fremden, und in manchen Zügen schwer verstehbaren Erkenntnisart, die sich scientia intuitiva oder Liebe zu Gott nennt? Reicht nicht die adäquate zweite Erkenntnisart hin, die, cum grano salis, als Vorläufer der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis angesehen werden darf? Für Spinozas Konzeption der Ethik bildet sie den Gipfel dessen, was der Mensch durch Erkenntnis erreichen kann. Direkt oder indirekt haben die Nachkantianer diese Erkenntnisart aufgenommen und auf ihre Weise systematisch fortgedacht. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, inwieweit die dritte Erkenntnisart in verständlicher Weise rekonstruiert werden kann. Eine weitere Frage ist, in welcher Weise die scientia intuitiva und der amor Dei intellectualis Vorbild für die nachkantischen Idealisten werden konnten. Ein Exkurs zu Hölderlin skizziert dessen ästhetisch poetologischen Gebrauch einer intellectualen Anschauung in Nähe und Differenz zu Spinozas Erkenntnisart. Überdies wird gezeigt, dass Fichte, der anfänglich selbst mit einer intellektuellen Anschauung für das Wissen vom Absoluten operierte, Spinozas metaphorischen Gebrauch des Sehens, wie dieser es in der Ethik der scientia intuitiva zuschreibt, für das absolute Einsehen der Wissenschaftslehre systematisch fruchtbar macht.

II. Die Macht der Vernunft in der Zeit und die Wesenserkenntnis außer der Zeit In der zweiten Anmerkung zum LS 40 des Zweiten Teils gibt Spinoza einige Hinweise darauf, wie die scientia intuitiva, die intuitive Erkenntnis, von den beiden anderen Erkenntnisarten, der inadäquat genannten Erkenntnis von Sinneswahrnehmungen und Affekten und der adäquat genannten rationalen Erkenntnis von notiones communes, also von allgemeinen Wahrheiten und gesetzmäßigen Tatsachen, abzugrenzen sei (2p40s2, E 181/183). Er schreibt dort:

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Außer diesen beiden Gattungen von Erkenntnis gibt es, wie ich im folgenden zeigen werde, noch eine dritte Gattung, die wir intuitive Erkenntnis nennen wollen. Und diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute Gottes ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen. (2p40s2, E 183) Das Beispiel, das Spinoza anführt, um näherhin zu erläutern, wie er diese dritte Erkenntnisart bestimmt sieht, scheint eher verwirrend und wenig geeignet zu sein, den Unterschied der zweiten von der dritten Erkenntnisart Spinozas deutlich werden zu lassen. Gleichwohl will ich mich auf das Beispiel einlassen, weil ich glaube, dass es durchaus ein Stück weiterhelfen kann, die dritte Erkenntnisart zu verstehen. Das Beispiel Spinozas, das um des Zusammenhangs willen ausführlich zitiert sei, lautet: Ich will dies alles an einem Beispiel erläutern. Es sind drei Zahlen gegeben, zu denen man eine vierte finden möge, die sich zu der dritten verhält wie die zweite zu der ersten. Kaufleute multiplizieren ohne Zögern die zweite mit der dritten und dividieren das Produkt durch die erste, und dies, weil sie entweder noch nicht vergessen haben, was sie von ihren Lehrern ohne irgendeinen Beweis gehört haben, oder weil sie es oft bei ganz einfachen Zahlen herausgefunden haben, oder endlich kraft des Beweises von Lehrsatz 19 im 7. Buch des Euklid, nämlich aus der gemeinsamen Eigenschaft von Proportionalzahlen. Bei ganz einfachen Zahlen ist freilich nichts davon erforderlich. Sind z. B. die Zahlen 1, 2 und 3 gegeben, gibt es niemanden, der nicht sieht, daß 6 die vierte Proportionalzahl ist, und das sehen wir viel klarer, weil wir gerade diese Zahl, die vierte, allein aus dem Verhältnis der ersten zur zweiten Zahl, das wir mit einem Blick sehen, erschließen. (2p40s2, E 183) Die gesetzmäßige Erkenntnis der Zahlenproportionen des von Spinoza angeführten Beispiels ist die mathematisch exakte Berechnung der Zahlenproportion unter Hinzuziehung der allgemeinen mathematischen Proportionsgesetze, denen dieses Beispiel folgt. Spinoza verweist hier auf das Siebte Buch von Euklid, wo dieser die Proposition von vier Zahlen a : b = c : d behandelt. Sind für a, b, c die Zahlen 1, 2 und 3 gegeben, so gebe es keinen, der Spinoza zufolge nicht sehe, wofür d stehe, nämlich für die Zahl 6. Die Aufgabe des Beispiels ist zu zeigen, dass und wie ein Fortschreiten stattfinde »von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute Gottes ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen«. Die Einsicht in »die Essenz gewisser Attribute Gottes« (2p40s2, E 183) bedeutet im gegebenen Fall offenkundig, die mathematische Gesetzmäßigkeit zu kennen, die Euklid in mustergültiger Weise in seinen Elementen zur Dar-

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stellung gebracht hat.5 Bemerkenswerter Weise spricht Spinoza hier bei dem Übergang zu der »adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen« von einem »Sehen« und nicht von der mathematischen Operation des Rechnens unter Bezugnahme auf die notwendigen Umstellungsregeln, wie dies dann nötig wäre, wenn die Zahlen weniger übersichtlich wären. Was ist nun die Essenz gewisser Attribute Gottes und was ist die Essenz von Dingen, muss man sich fragen? Hinsichtlich der Erkenntnis des Wesens Gottes behauptet Spinoza: »Der menschliche Geist hat eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes.« (2p47, E 195) Mit mehreren Verweisen auf zuvor erläuterte Lehrsätze behauptet Spinoza in seinem Beweis dazu: »Der menschliche Geist hat Ideen […], aus denen er […] seinen eigenen Körper und […] äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt; mithin hat er […] eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes. W.z.b.w.« (2p47d, E 195) In der Anmerkung ist zu lesen, dass hieraus ersichtlich sei, daß Gottes unendliche Essenz und seine Ewigkeit jedermann bekannt sind. Und weil alles in Gott ist und durch Gott begriffen wird, folgt, daß wir aus dieser Kenntnis [Gottes] sehr viele Dinge ableiten können, die wir adäquat erkennen, mithin jene dritte Erkenntnisgattung bilden können […] und von deren Vorzüglichkeit und Nutzen wir im 5. Teil zu sprechen haben werden. (2p47s, E 195) Unter der Essenz gewisser Attribute Gottes sind offenkundig die Gesetzmäßigkeiten der Natur gemäß der res extensa und der res cogitans durch Allgemeinbegriffe zu verstehen, die der Mensch als »wirklich existierend« wahrnehmen und erkennen kann. Mit den allgemeinen Naturgesetzen, also der Essenz der Attribute Gottes, was immer dies zu Spinozas Zeit im Einzelnen bedeutet hat, wird adäquate Erkenntnis gewonnen. Dass wir heute einen anderen, weit differenzierteren und reflektierteren Begriff von den Naturgesetzen haben, als Spinoza es in seiner Zeit haben konnte, kann hier vernachlässigt werden, da Spinoza sich nicht auf einzelne Allgemeinbegriffe der Natur näherhin einlässt. Spinoza streicht im Beweis zu Lehrsatz 47 heraus, dass Voraussetzung für die Erkenntnis der Essenz ist, Ideen vom Selbst, vom Körper des Selbst und von anderen, äußeren Körpern zu haben, die es in der richtigen Beziehung untereinander zu erfassen gilt. Die Erkenntnis der Essenz von Dingen bezeichnet einzelne adäquate Erkenntnisse von Dingen und Sachzusammenhängen. Sofern nun aber diese Erkenntnisse »in Gott […] und durch Gott begriffen« wer5 Das Proportionsgesetz findet sich in der Ausgabe von Euklid: Die Elemente Bücher I bis XIII. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Clemens Thaer, mit einem Vorwort versehen von W. Trageser. Frankfurt am Main 1997 (= Oswalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 235), im Siebten Buch, § 19 (L. 17), 153–154.

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den (2p47s, E 195), ist damit der Schritt zur dritten Erkenntnisart vollzogen.6 Diese dritte Erkenntnisart ist darin begründet, dass die Substanz oder Gott immanente Ursache, wenn auch nicht transiente oder übergehende kausale Ursache aller Dinge in der Welt ist. »Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.« (1p18, E 49) Spinoza versteht die causa transiens als causa efficiens oder Kausalursache. Damit steht die kausalmechanische Verkettung von Ursachen und Wirkungen in der Welt im Blick. Die immanente Ursache stellt hingegen ein intellektuelles Verhältnis von Gott und den Dingen dar, wie der Beweis zum Lehrsatz 18 zu erkennen gibt: »Alles, was ist, ist in Gott und muß durch Gott begriffen werden« (1p18d, E 49). Die Essenz der Dinge mit intuitivem Wissen zu erfassen, ruht, wie Spinoza mehrfach deutlich macht, auf der zweiten, diese aber auf der ersten Erkenntnisart auf. Das intuitive Erfassen der Zahlenproportionen schreibt er den Personen zu, die viel mit Zahlen umgehen, seien es nun Kaufleute, Mathematiker, Lehrer von Profession. Eine Person, die mit einer Sache viel befasst ist, im gegebenen Fall sind dies Zahlen, muss nicht zwingend den – mit Kant zu sprechen – diskursiven Verstand bemühen, der die Gesetze und die bereits aufgedeckten und eingesehenen intrinsischen Zusammenhänge explizit abrufen muss, um die Gesetze dann auch anzuwenden. Ein wenig Geübter fängt an, nach den erforderlichen Regeln Schritt für Schritt zu rechnen, der Zahlenakrobat sieht die Proportion, wie Spinoza ausdrücklich sagt, mit einem Blick. Und zwar deshalb, weil sein Verstand so vertraut ist mit den Rechenoperationen, dass er nicht mehr jeden Schritt einzeln durchlaufen muss, sondern dank des gespeicherten Wissens auf verkürzten Wegen des Denkens an sein Ziel gelangt. Dieses Sehen auf einen Blick ist es offenkundig, das für Spinoza ein gewichtiges Moment der scientia intuitiva ausmacht. Die scientia intuitiva ist also nicht eine diffuse, bald besser bald schlechter treffende Gefühlsäußerung, gesteuert durch glückliche Zufälle und Umstände. Vielmehr ist sie Wissen, basie6 Eine kurze, übersichtliche Einführung in Spinozas Erkenntnistheorie und eine Erklärung der nicht eben leicht zu verstehenden dritten Erkenntnisart gibt Wolfgang Bartuschat in seinem Buch Baruch de Spinoza. München 1996, 84–104. Bartuschat betont jedoch, dass Spinozas Verweis auf Euklids Zahlenproportionen wenig geeignet sei, »die Struktur der intuitiven Erkenntnis in ihrer praktischen Bedeutsamkeit für das menschliche Leben zu verdeutlichen, weil menschliche Weltorientierung eine komplexe Angelegenheit ist, die nichts mit der Simplizität gegebener einfacher Zahlen zu tun hat« (Bartuschat: Spinoza, 102). – Christof Ellsiepen hält fest: »Die Scientia Intuitiva ist nichts anderes als eine Einsicht in jenen Zusammenhang, der in der Wesensrelation von Gott und Einzeldingen seine beiden Pole hat.« (Christof Ellsiepen: »Die Erkenntnisarten (2p38–2p47)«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik. Berlin 2006 (= Klassiker Auslegen, Bd. 31), 133–150, 145) Ellsiepen gibt eine hilfreiche Übersicht über die wichtigsten Interpretationen von Spinozas Erkenntnisarten in der Forschung.

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rend auf langbewährter Übung, die ein intuitiv wissendes Erfassen ermöglicht. Alles Wissen aber bedarf der Tätigkeiten des Geistes, der inadäquaten ersten empirischen Erfahrung und Wahrnehmung sowie der adäquaten Erkenntnisse von Ursachen und Zusammenhängen nach der zweiten Erkenntnis. Daraus erwächst das von Spinoza angesprochene Moment der Intuition der scientia intuitiva, das Erfassen des Wesentlichen mit einem Blick. Spinozas intuitive Erkenntnis setzt einen langen und in vielen Einzelmomenten durchgestalteten Umgang mit der Sache voraus, die schließlich als Wissen intuitiv erkannt werden kann.7 Mit dem, was Intuition im umgangssprachlichen Gebrauch bedeutet, hat dies sehr wenig zu tun. Näherhin betrachtet zeigt sich, dass Spinoza dem amor Dei, der Liebe zu Gott, zwei Weisen zuschreibt, Dinge zu begreifen. Die eine Weise ist bezogen auf unsere gegenwärtige Existenz, die andere ist bezogen auf einen Aspekt der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, der gleichwohl dem endlichen, menschlichen Geist zu denken möglich ist. Die Darstellung dieser beiden Aspekte erfährt mit dem Lehrsatz 20 eine Teilung, wo Spinoza am Ende einer längeren Anmerkung darauf hinweist, er habe nun, mit Lehrsatz 20, »alles erledigt, was unser gegenwärtiges Leben angeht. […] Es ist also an der Zeit, zu dem überzugehen, was den Geist ohne Beziehung auf die Dauer des Körpers betrifft.« (5p20s, E 563) Im daran anschließenden Gang der Ausführungen des Ewigkeitsaspekts des amor Dei intellectualis bemerkt Spinoza im Hinblick auf diesen Sachverhalt in Lehrsatz 29: »Dinge werden von uns in zwei Weisen als wirklich begriffen: entweder insofern wir sie als existierend in Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Raum begreifen oder insofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend begreifen.« (5p29s, E 573) Der erste Aspekt der Liebe zu Gott bezieht das Gefühl der aktiven Freude ein, die durch wahre Einsicht und wahre Erkenntnis gewährt wird, während der zweite Aspekt der Liebe zu Gott nur mehr auf der intellektuellen Einsicht des Geistes beruht und im eigentlichen Sinne die dritte Erkenntnisart, den amor Dei intellectualis, darstellt.8 Die Erkenntnis unter einem Aspekt von Ewigkeit ist zweifelsohne die vollkommenste Form der Erkenntnis, die Spinoza zufolge dem menschlichen Geist 7

Bartuschat betont das qualitative Moment der Selbsttätigkeit, das der intuitiven Erkenntnis zukommt: »Im intuitiven Erkennen wird der Mensch nicht mehr von einer Affektion bestimmt, die ihm von außen gegeben wird und im Hinblick auf die er begehrt. […] Er ist darin in einem Zustand (constitutio), der durch ihn selbst bestimmt ist und der darin konsequenterweise zu einem Begehren führt, das diesem Bestimmtsein unterliegt.« (Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, 335) 8 Diese Differenz streicht Wolfgang Bartuschat in seinem Beitrag »Zur Rolle der dritten Erkenntnisart in Spinozas Konzeption der Ethica« im vorliegenden Band heraus (189–199).

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möglich ist, denn sie ist »notwendigerweise Erkenntnis von Gott und weiß, daß er in Gott ist und durch Gott begriffen wird« (5p30, E 573). Die schwächere Form der Liebe zu Gott, die offenkundig eine Vorstufe zur dritten Erkenntnisart darstellt, wird im Fünften Teil der Ethik bis Lehrsatz 20 behandelt. In den Lehrsätzen 15 bis 20 wird die Erkenntnis in Beziehung auf die Liebe zu Gott betrachtet, die aber noch nicht ausdrücklich als intellektuelle Liebe zu Gott bezeichnet wird. Im Fünften Teil der Ethik zeigt Spinoza, worin die Macht der Vernunft im Umgang mit den Affekten liegt. Damit wird gegenüber dem Vierten Teil der Ethik, der von der menschlichen Knechtschaft gegenüber den Trieben, Leidenschaften und Affekten handelte, erwiesen, dass es einen Weg gibt, die allgemein übliche Ohnmacht des Menschen gegenüber den Affekten in eine tatsächliche Freiheit der Vernunft zu verwandeln. Die Erforschung der Natur der Wahrnehmungen und der Affektionen des Körpers und der Leidenschaften der ersten Erkenntnisart geschieht dadurch, dass die komplexen Ereignisse affektiven Geschehens in Einzelmomente zerlegt und auf ihre versteckten Zusammenhänge befragt werden. Dank dieser Erforschung durch die zweite Erkenntnisart verlieren die Ideen der ersten Erkenntnisart ihre anfängliche Undurchdringlichkeit und Undurchsichtigkeit. Eine klare, nachvollziehbare Ordnung entwickelt sich vor dem geistigen Auge. So wird eine immer dichtere und höhere Ordnung und Verkettung der Dinge und ihrer Ideen im Geist erlangt, wie der erste Lehrsatz des Fünften Teils der Ethik rekapituliert: »Gerade so wie sich Gedanken und Ideen von Dingen im Geist ordnen und verketten, so ordnen und verketten sich, genau entsprechend, die Affektionen des Körpers oder die Vorstellungsbilder von Dingen im Körper.« (5p1, E 535) Spinoza hat ein großes Vertrauen in die ordnende und einsehende Kraft des Verstandes. Affekte und unliebsame Leidenschaften bedrängen zwar auf eine unmittelbare Weise den darauf unvorbereiteten und den wenig nachdenkenden Menschen. Auf lange Sicht gesehen hat aber der die Ordnung der Dinge erkennende Mensch eine gute Aussicht, dass diejenigen Affekte, die der Vernunft entspringen, also die Freude, die mit der Erkenntnis einhergeht sowie die Liebe zu Gott, die zugleich Liebe zur Ordnung der Natur ist, dass also diese aktiven Wirkungsmächte stärker sind als die passiven Leidenschaften. So betont Spinoza in Lehrsatz 10: »Solange wir nicht von Affekten bedrängt werden, die unserer Natur entgegengesetzt sind, steht es in unserer Gewalt, die Affektionen des Körpers gemäß einer Ordnung zu ordnen und zu verketten, die dem Verstand gemäß ist.« (5p10, E 547) In der Anmerkung zu Lehrsatz 10 des Fünften Teils der Ethik führt er aus: Kraft dieser Gewalt, die Affektionen des Körpers richtig zu ordnen und zu verketten, können wir es dahin bringen, daß wir nicht so leicht mit schlech-

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ten Affekten affiziert werden. Denn es ist (nach Lehrsatz 7 dieses Teils) eine größere Kraft erforderlich, um solche Affekte zu hemmen, die gemäß einer dem Verstand gemäßen Ordnung geordnet und verkettet sind, als solche, die ungewiß und unstet sind. Das Beste also, was wir tun können, solange wir nicht eine vollkommene Erkenntnis unserer Affekte haben, ist ein richtiges Prinzip, d. h. sichere Regeln, für unsere Lebensführung zu konzipieren, diese unserem Gedächtnis einzuprägen und sie beständig auf die besonderen Fälle, die im Leben häufig vorkommen, anzuwenden, damit so unsere Vorstellungskraft weitgehend von ihnen affiziert wird und sie uns jederzeit zur Verfügung stehen. (5p10s, E 547/549) Ein hohes Maß an Einsicht der Vernunft ist dann gewonnen, wenn »alle Vorstellungsbilder von Dingen, auf die Idee Gottes bezogen werden« (5p14, E 555). Mit der Einsicht des Verstandes in die Regeln der Lebensklugheit sowie der klaren und deutlichen Erkenntnis der Affekte verknüpft sich für Spinoza das, was er mit Lehrsatz 15 nicht mehr nur Einsicht in die Idee Gottes, sondern Liebe zu Gott nennt (5p15, E 555). Die Liebe zu Gott oder der Natur ist für Spinoza eine aktive Kraft und Freude. Bereits in Lehrsatz 7 des Fünften Teils der Ethik hält Spinoza fest, dass diejenigen Affekte, die der Vernunft entspringen, langfristig gesehen die mächtigsten Affekte sind. Daher hat die Vernunfteinsicht bei guter Übung der ordnenden Erkenntnis auch die Kraft, die übrigen passiven Affekte, seien sie lebenssteigernd oder lebensmindernd, letztlich zu bestimmen: »Affekte, die der Vernunft entspringen oder von ihr hervorgebracht werden, sind, trägt man der Zeit Rechnung, mächtiger als Affekte, die sich auf Einzeldinge beziehen, die wir als abwesend betrachten.« (5p7, E 543) Spinoza will offenkundig zum Ausdruck bringen, dass ein unmittelbares Begehren, das sich als Begehren immer auf einen Mangel, eine abwesende Sache bezieht, durch Vernunfteinsicht zur Beruhigung und zur Ruhe gebracht werden kann. Die klare Durchsichtigkeit und Einsicht in das zuvor unmittelbar Begehrte ist unter dem Aspekt der Zeit und einer längerfristigen Einsicht stärker als das in unverstandener Weise sich artikulierende, den Körper instantan affizierende Begehren. Die Liebe zu Gott oder zur Natur, die affektiv als aktive Freude in endlicher Zeit erlebt wird, lässt sich im Rahmen von Spinozas Ethik-Konzept als rationale Technik der optimierten Lebensführung verstehen und übersetzen, die sich auf das Gute im Sinne des für das Leben am meisten Nützlichen fokussiert. Obwohl Spinoza explizit die Weltordnung nicht nach Kriterien der Zweckmäßigkeit interpretiert – und schon gar nicht nach Kriterien der Zweckmäßigkeit, die für den Menschen eingerichtet sind – plädiert er implizit doch deutlich für einen klugen, also zweckrationalen Umgang mit der vorgefundenen Ordnung der Welt. Diese Lebensklugheit ist dann am besten beherrschbar und

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umsetzbar, wenn der eigene Lebensentwurf von einer Liebe zu Gott, das heißt, einer Liebe zur Natur und dem Leben getragen ist. »Diese Liebe zu Gott ist das höchste Gut, nach dem wir nach dem Gebot der Vernunft verlangen können« (5p20d, E 559). Am Ende einer längeren Anmerkung zu Lehrsatz 20 des Fünften Teils der Ethik erklärt Spinoza, dass er nun alles über die Heilmittel für das gegenwärtige Leben gesagt habe, denn es sei »alles erledigt, was unser gegenwärtiges Leben angeht« (5p20s, E 563). Er meint damit die Heilmittel, die die unnützen und daher schlechten Affekte, die das gegenwärtige Leben in seiner Potenz mindern, in lebenssteigernde Energien der Freude und der Liebe verwandeln. Fünf Punkte sind es, die »die Macht des Geistes über die Affekte« möglich machen. Sie liegt 1. »in der Erkenntnis selbst der Affekte« 2. »darin, daß er die Affekte von dem Gedanken einer äußeren Ursache, die wir verworren vorstellen, trennt« 3. »in der Zeit, die es macht, daß die Affektionen, die auf Dinge, die wir einsehen, bezogen sind, diejenigen Affektionen überwinden, die auf Dinge bezogen sind, die wir in verworrener oder verstümmelter Weise auffassen« 4. »in der großen Zahl von Ursachen, von denen Affektionen, die auf gemeinsame Eigenschaften von Dingen oder auf Gott bezogen sind, genährt werden« 5. »in der Ordnung schließlich, in der der Geist seine Affekte ordnen und verketten kann« (5p20s, E 561). Der Weg, den Spinoza als Lebenstechnik anbietet, schließt die Einsicht ein, dass kurzfristige Ziele und Begierden zugunsten von längerfristigen Zielen und umfassenderen Plänen aufgeschoben werden. Freud wird das Triebaufschub nennen. Spinoza kündigt an, dass er nun zu dem übergehen werde, »was den Geist ohne Beziehung auf die Dauer des Körpers« betreffe (5p20s, E 563). Der nachfolgende Lehrsatz betont jedoch sogleich, dass dies Tun des Geistes ohne Beziehung auf die Dauer des Körpers vom Geist nie anders, denn innerhalb der Dauer des Körpers und stets auf ihn bezogen vorgestellt werden könne (5p21, E 565). Zum Denken bedarf es des Körpers, auch wenn die Bedingungen endlichen Daseins für die nun in Frage stehende Wesenserkenntnis außer Acht gelassen werden. Es geht im Folgenden um die scientia intuitiva oder die intellektuelle Liebe zu Gott, sofern sie metaphysischer und ewiger, das heißt außerzeitlicher Natur ist. Nach meinem Verständnis spricht Spinoza hier nicht der in der Philosophietradition behandelten Problematik der ewigen Existenz der Seele das Wort. Deshalb betont er auch so nachdrücklich gegen Descartes,

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dass es keine andere als die erste Substanz Gottes oder der Natur gebe, und der menschliche Geist keine eigene Substanz für sich reklamieren könne (2p10, E 117; 2p13s, E 125 f.). In der Anmerkung zu Lehrsatz 29 hält Spinoza fest, dass der Mensch Dinge in zwei Weisen begreift: »Dinge werden von uns in zwei Weisen als wirklich begriffen: entweder insofern wir sie als existierend in Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Raum begreifen oder insofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend begreifen.« (5p29s, E 573) Das Begreifen des letzteren schließt einen Aspekt der Ewigkeit und damit die Idee der Essenz Gottes ein. Der Geist kann Spinoza zufolge die ewigen Gesetze der Natur einsehen und partizipiert so an der ewigen Liebe Gottes oder der Natur. Freilich spricht Spinoza auch von den »Augen des Geistes« (5p23s, E 567) und deutet damit eine mystische Dimension der Einsichten in die ewige Liebe Gottes an, der ich hier nicht weiter nachgehen will. In der Essenz Gottes die Essenz der Dinge erkennen, heißt, den Blick für das Wesentliche zu entwickeln, das ein gutes Leben ausmacht. Der Unwissende lebt umhergetrieben, der Wissende hingegen findet mittels der dritten Erkenntnisart zu Zufriedenheit und Glückseligkeit, oder wie Spinoza im letzten Lehrsatz der Ethik betont: »Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern genau Tugend; noch haben wir eine innere Freude an ihr, weil wir unsere sinnlichen Lüste hemmen; sondern umgekehrt, weil wir an ihr eine innere Freude haben, können wir unsere sinnlichen Lüste hemmen.« (5p42, E 593)

III. Von der scientia intuitiva zur intellektuellen Anschauung Dass die intellektuale Anschauung der Tübinger Stiftler Hölderlin, Hegel und Schelling, schließlich auch diejenige von Fichte in einem systematischen Zusammenhang zum amor Dei intellectualis Spinozas stehen könnte, wurde gelegentlich in der Forschung als These formuliert.9 Ein genauer Blick auf Spi-

9 Manfred Frank: »›Intellektuale Anschauung‹. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis«, in: Ernst Behler; Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn 1987, 96–126; John Neubauer: »Intellektuelle, intellektuale und ästhetische Anschauung. Zur Entstehung der romantischen Kunstauffassung«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 46 (1972), 294–319; Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986 (= Deutscher Idealismus, Bd. 10); Xavier Tilliette: »Erste Fichte-Rezeption.

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nozas ganzen Weg der Erkenntnis zeigt, wie sehr gerade Spinoza, Fichte und Hegel darin Geistesverwandte sind, dass ihre Philosophien einen anhaltenden Denkweg einfordern, der nicht bloß intuitives Anschauen darstellt, sondern in hohem Maße Erkenntnis und Begriffsarbeit fordert. Fichtes eigentümlicher Denkweg ist es, viele Male die Wissenschaftslehre neu zu durchdenken, vorzutragen, niederzuschreiben. Sein Denkweg fordert, die Wissenschaftslehre niemals mit verkrusteten, fixierten, toten Buchstaben vorzutragen, sondern ihren Geist als den immer gleichen Geist immer neu zu gestalten. Für die früheren und mittleren Fassungen der Wissenschaftslehre Fichtes spielt die intellektuelle Anschauung eine herausragende Rolle. Im Spätwerk geht Fichte dazu über, die intellektuelle Anschauung in ein geistiges Sehen umzuschreiben. Das Sehen des Sehens in der Fassung der Wissenschaftslehre von 1811 wird in diesem Beitrag näherhin untersucht werden als ein Weg, Spinozas scientia intuitiva neu durchdacht zu haben. Fichte ist der Denker, der anders als Hegel dem Moment des Uneinholbaren durch das spekulative Denken einen wichtigen Raum gibt. Das ist ein Aspekt, der sich in Spinozas scientia intuitiva unausgesprochen darin ausdrückt, dass im Terminus der dritten Erkenntnisart dem höchsten Wissen ein intuitives Moment zur Seite tritt, das von Spinoza keine tiefergehende Reflexion erfährt. Wie genau sich Fichte mit Spinozas dritter Erkenntnisart auseinandergesetzt hat, muss gänzlich offen bleiben. Eine systematische Untersuchung zeigt jedoch, dass Fichte in seinen späteren Wissenschaftslehren dem Spannungsverhältnis von Intuition und Evidenziierung zum spekulativen Wissen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Hegel kennt in der Phänomenologie des Geistes eine absolute Anschauung, die entfernt an Spinozas scientia intuitiva gemahnt. Doch entschied sich Hegel schon in der Phänomenologie dazu, ans Ende des Denkweges, der die Gestalten der Erfahrung des Bewusstseins durchläuft, das absolute Wissen zu setzen, das durch ausdauernde Begriffsarbeit erlangt wird, und das das Tor zur Wissenschaft der Logik öffnet. Sieht man in diesem absoluten Wissen als Gipfel der Erfahrungen des Bewusstseins eine Gestalt, die die scientia intuitiva Spinozas ablöst, so zeichnet sich darin eine Konzeption ab, die die Liebe zu Gott aufhebt im Aspekt der Vorherrschaft der Intellektualität des Wissens. Hölderlin spricht in seinen theoretischen, philosophischen und poetologischen Arbeiten von einer intellectualen oder intellektuellen Anschauung, die mit guten Gründen systematisch an Spinozas scientia intuitiva zurückgebunden werden kann. Er ist es, der Spinozas Konzeption durch ein ästhetisches Konzept fortdenkt und fortschreibt, indem er besonders nachdrücklich AfMit besonderer Berücksichtigung der intellektuellen Anschauung«, in: Klaus Hammacher (Hg.): Der Transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hamburg 1981 (= Schriften zur Transzendentalphilosophie, Bd. 1), 532–534.

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fekt und Rationalität in einen wechselseitig befruchtenden Dialog bringt. Hält Fichte dem höchsten Wissen das intuitive Moment des Sehens offen, so schließt Hölderlin in das höchste Wissen auch den Affekt mit ein. Für Kant sind die intellektuelle Anschauung, die Anschauung also, die zugleich anschaut und erkennt, aber auch der davon unterschiedene intuitive Verstand, der im Allgemeinen das Besondere erkennt, bekanntlich Erkenntnisformen, die dem menschlichen diskursiven Verstand nicht zugänglich sind, weil dieser auf das Zusammenwirken der zwei für ihn voneinander verschiedenen Erkenntnisquellen Anschauung und Begriff angewiesen ist, die er durch Synthesis zu einer Erkenntnis formt.10 Kant dienen die Erkenntnisformen der intellektuellen Anschauung und des intuitiven Verstandes in kritischer Absicht dazu, die tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Erkennens deutlich zu machen. Um so verwunderlicher muss es scheinen, dass Reinhold, Fichte, Hölderlin, Schelling, Hegel, Hardenberg/Novalis, Schlegel von einer intellektuellen oder intellectualen Anschauung je verschieden, aber in deutlich affirmativer Weise sprechen und damit offen die Kantische Grenzziehung ignorieren. Jeder dieser Autoren lässt seine Leser freilich mit dem Rätsel zurück, was nun genau unter der intellektuellen Anschauung und ihren Modifikationen zu verstehen sei. Wenn es nun richtig ist, dass die scientia intuitiva Spinozas ein Wissen ist, das lange, wissende Erfahrung mit einer Sache erfordert und im Durchgang durch das Wissbare zuletzt auch ein Gespür für das Wesen der Dinge bereit hält, dann ist dies, mit Hegel zu sprechen, ein Wissen durch die Arbeit des Begriffs, sofern es sich um die wissende Erarbeitung der Detailkenntnisse handelt. Intuition, Anschauung ist in diesem komplexen Vorgang dann die Funktion, die aus dem Angebot des Vielen, das gewusst ist, dasjenige auswählt, das im Hinblick auf ein gesetztes Ziel für das Wesentliche angesehen wird. Betont sei, dass Spinoza diesen Punkt nicht reflektiert, sondern nur andeutet durch seinen Hinweis auf das, was jedermann sehe, wenn er beispielsweise Zahlenproportionen vor Augen habe (2p40s2, E 183).

10 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden nach der A-Auflage von 1781 und der B-Auflage von 1787 zitiert als KrV). Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Hamburg 1998, zur Intellektuellen Anschauung KrV B 148 f.; A286 ff./B342 ff., neben einer Reihe anderer Stellen. In den berühmten Paragraphen 76 und 77 der Kritik der Urteilskraft grenzt Kant das menschliche Vermögen nicht nur gegen die intellektuelle Anschauung ab (§ 76), sondern auch gegen den intuitiven Verstand (§ 77), um zu zeigen, dass es dem menschlichen Verstand nicht möglich ist, die Einheit von Kausalmechanismus und Zweckmäßigkeit zu erkennen. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (mit Seitenverweisen auf die Originalausgabe von 1799). Herausgegeben von Karl Vorländer, unveränderter Nachdruck. Hamburg 1974, § 76, 339 ff. und § 77, 346 ff.

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Dass es solche kognitiven Prozesse gibt, das lässt sich durch viele Beispiele belegen. Aber weder Spinozas Sprache über die scientia intuitiva, noch die dialektischen Aufhebungsprozesse, die Hegel thematisiert und auf die ich hier nur anspiele, ohne sie im Einzelnen darzustellen, bezeichnen die dabei ablaufenden Prozesse im Bewusstsein in all ihren Phasen. Ihr Weg der Philosophie scheint jedenfalls genau diesen Sachverhalt anzuzeigen und ihre Erfahrung mit dem ›Auf dem Weg Sein‹ hat auch ihre philosophischen Konzeptionen bestimmt. Neurologen, etwa Antonio Damasio, der Spinozas Theorie der körperlichen Emotionen und der geistig bewusstseinsförmigen Gefühle in seinem Buch Der Spinoza-Effekt große Beachtung schenkt, behaupten, dass Menschen, deren Gehirnareale für Emotionen und bestimmte Gefühle zerstört sind, auch nicht mehr fähig sind, Entscheidungen zu treffen. Gefühle sind für Entscheidungen deshalb so nötig, weil sie in der quasi rechnerisch mathematischen Gleichförmigkeit von Datenansammlungen die Instanzen darstellen, die die Daten gewichten und bewerten und so bessere und schlechtere Optionen unterscheiden können. Die Gefühle unterstützen das Denken, um in bestimmten Situationen eine möglichst optimale Entscheidung herbeizuführen.11 In Spinozas höchster Erkenntnisform haben Gefühle sub specie aeternitatis keinen Ort mehr. Man kann sagen, sie sind in dieser Erkenntnisart jedoch im besten Sinne Hegels aufgehoben, da dieser Erkenntnis die erste und zweite Erkenntnisart notwendig vorausgehen muss. Nun spricht Spinoza freilich nicht von Entscheidungskompetenzen, die der erwirbt, der auf einem langen Weg geduldiger Erkenntnisarbeit die dritte Erkenntnisart erlangt. Gleichwohl ist die dritte Erkenntnisart die Erkenntnisform, die Zufriedenheit und Glückseligkeit verspricht, also dem Autor zufolge eine optimale Lebensform darstellt, die einem nicht eben so irgendwie zufällt, sondern die erworben werden muss und kann. Wenigstens die Vorform der dritten Erkenntnis umschließt Bewusstseinsprozesse, die mit heutigen Zugangsweisen und mit den heutigen Mitteln der Erforschung von Emotionen

11 Vgl. Antonio R. Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Berlin 2005. Damasio schließt aus der Untersuchung von Patienten, die Schädigungen in den Regionen des Gehirns erfahren haben, die soziale Gefühle verarbeiten, deren kognitive Fähigkeiten aber erhalten blieben, und die nach der Schädigung erhebliche Probleme bei Entscheidungsfindungen aufweisen, die sie vorher nicht hatten, auf die generelle Wichtigkeit von Gefühlen und Emotionen für die Entscheidungsfähigkeit des Menschen. Von dem Problem berichtete Damasio bereits in seiner Schrift mit dem etwas irreführenden Titel Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Aus dem Englischen von Hainer Kober. München 1997 am Beispiel des berühmt gewordenen Falles von Phineas P. Gage, dem nach einer Hirnverletzung zwar seine kognitiven Kompetenzen weitgehend erhalten blieben, der aber seine sozialen Kompetenzen in dramatischer Weise eingebüßt hat.

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und Gefühlen begrifflich leichter fassbar sind, als dies im 17., 18. oder auch noch im 19. Jahrhundert möglich gewesen sein dürfte. Spinozas intuitive Erkenntnis (scientia intuitiva), die abgesichert ist durch die lange Übung im Umgang mit der ersten inadäquaten und der zweiten adäquaten Erkenntnis, gibt Spielraum dafür, dass sie, in ein modernes Verständnis übersetzt, als eine klare und umfassende Erkenntnis von Zusammenhängen verstanden werden kann, die auf ihrem langen Weg ein entwickeltes Gefühl für das Wesentliche ihrer Entscheidungen ausbildet. Vielleicht hat Spinoza davon eine Ahnung oder auch ein tieferes Wissen gehabt. Entscheidungstheoretiker von heute verstehen Entscheidung als ein Geschehen, das einerseits sehr viel mit Wissen und Detailkenntnissen zu tun hat, die man erwerben muss, andererseits aber, wenn das ausgearbeitete Detailwissen vorhanden ist, braucht die Entscheidung Erfahrungskompetenzen, die auf Gefühlen beruhen. Das Wesen der Dinge zu erkennen, heißt, sich auf den Weg der dritten Erkenntnisart begeben zu haben. Dies fordert, dass alles Denken und Tun als Ausdruck des conatus oder Lebenstriebes verstanden wird. Dazu zählen die lebensbejahenden und daher die Lebenskraft steigernden unmittelbaren Affekte ebenso wie die die Lebenskraft mindernden Affekte. Hinzukommt derjenige Lebenstrieb, der Freude an der Erkenntnis ist.12 Es ist gefordert, seine Affekte zu kennen, ihre Ursachen klar zu erkennen, die Ordnung der Affekte und ihrer Ursachen untereinander zu durchschauen. Die klare Sicht auf die Affekte und auf die mit ihnen verknüpften Ideen gibt dem Geist die Macht, das Streben nach kurzsichtigen Freuden, von denen abzusehen ist, dass sie in Leiden umschlagen, abzuschwächen zugunsten weitsichtigerer Freuden. Die Erkenntnis wirkt auf die Affekte dadurch regulierend, dass diese nicht von einem rationalen und abstrakten Sollen beherrscht werden, sondern von einem durch rationale Einsicht gewonnenen mächtigeren Lebenstrieb. Für Spinoza gilt allgemein: »Je fähiger, verglichen mit anderen, ein Körper ist, vieles auf einmal zu tun oder zu erleiden, desto fähiger ist, verglichen mit anderen, sein Geist, vieles auf einmal wahrzunehmen; und je mehr die Tätigkeiten eines Körpers von ihm allein abhängen und je weniger andere Köper bei seinem Tätigsein mitwirken, desto fähiger ist sein Geist zu deutlicher Einsicht.« (2p13s, E 127) 12

Fichtes Theorie der Triebe in der allgemeinen praktischen Wissenschaftslehre der Grundlage von 1795, besonders aber im System der Sittenlehre von 1798 dürfte sehr wesentlich durch den Rückgriff auf Spinozas Trieblehre im Dritten Teil der Ethik konzipiert worden sein. Ob Hölderlin Fichtes Schrift von 1798 noch studiert hat, ist durch kein direktes Zeugnis belegt, sollte aber bei einer Untersuchung von Hölderlins impliziter Theorie der Gefühle und des Bildungstriebs in der späten Dichtung in Betracht gezogen werden. Zum Zusammenhang von Fichtes mit Spinozas Triebtheorie vgl. Violetta L. Waibel: »One Drive and two Modes of Acting: Cognition and Volition«, in: Philosophy Today. Fichte’s System of Ethics 52 (2008), 309–318.

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Mit der Forderung, sowohl mit seinen Gefühlen als auch mit dem Geist eine vertiefte Bekanntschaft zu entwickeln, hat sich Hölderlin offenkundig seit etwa 1798 auseinandergesetzt. Ein Exkurs zum Begriff einer intellectualen Anschauung soll die implizite, von Spinoza nicht beabsichtigte, ästhetische Dimension freilegen, die Hölderlin mit der scientia intuitiva verbindet.

IV. Exkurs zu Hölderlin: Die »Metapher einer intellectualen Anschauung« In Hölderlins Poetologie spielt die intellektuelle Anschauung eine wichtige Rolle. Das Lyrische, Epische und Tragische versteht Hölderlin in seinen Kernbedeutungen als Metaphern eines Gefühls, einer großen Bestrebung und einer intellektuellen Anschauung. In seinem Fragment Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht … schreibt er zum Tragischen Gedicht: »Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht, ist in seiner Bedeutung idealisch. Es ist die Metapher einer intellectuellen Anschauung.«13 Hölderlin führt dann, die Eingangspassage seines Textes wiederholend und interpretierend, näherhin aus: Das tragische, in seinem äußeren Scheine, heroische Gedicht ist, seinem Grundtone nach, idealisch, und allen Werken dieser Art muß Eine intellectuale Anschauung zum Grunde liegen welche keine andere seyn kann, als jene Einigkeit mit allem, was lebt, die zwar von dem beschränkteren Gemüthe nicht gefühlt, die in seinen höchsten Bestrebungen nur geahndet, aber vom Geiste erkannt werden kann […].14 Wenn Hölderlin das tragische Gedicht durch die Metapher einer intellektuellen Anschauung zu fassen sucht, so steht ihm mit dem Tragischen zunächst die Tragödie Sophokleischer Provenienz vor Augen, die er mit seinem Tragödienprojekt Der Tod des Empedokles zu erneuern suchte. Den Terminus Gedicht verwendet er hier für jede Dichtungsgattung. Hölderlin spricht dem tragischen Gedicht eine Einigkeit zu, die, wie er ausdrücklich betont, erkannt wird vom Geist, und zwar in intellektueller Anschauung. Dem einfachen Gemüt ist diese verschlossen. Das Denken aber, das sich noch nicht zum Geist erhoben hat, sich aber zu höchsten Bestrebungen

13 Friedrich Hölderlin: »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe (im Folgenden mit der Bandangabe in römischen Zahlen zitiert als MA). Hg. von Michael Knaupp, 3 Bde. München/Wien 1992. Hier: MA II, 102–107, 102. 14 Hölderlin: »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«, MA II, 102– 107, 104.

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bestimmt, könne, wie er ausführt, eine Ahnung von dem bekommen, was der Geist intellektuell anschaut und dadurch auch erkennen kann. Es wird eine Einigkeit behauptet mit allem, was lebt, die vom Geist in intellektueller Anschauung erkannt wird. Zurecht fragt man sich, was das genauer heißen mag. Die Einigkeit mit allem, was lebt, fordert Erfahrung und Kenntnis der Welt, aber auch einen Selbstbezug, damit die Einigkeit mit der Welt eine solche ist, die der erkennende Geist sich zugeeignet hat, sodass er selbst ein Teil dieser Einigkeit ist. Es verbindet sich in Hölderlins intellektueller Anschauung des dichterischen Geistes Erkennen, Fühlen und Selbsterkenntnis in einer Weise, die in systematischer Nähe zu Spinozas scientia intuitiva zu sehen ist.15 Es ist offenkundig so, dass Hölderlin mit der Metapher der intellektuellen Anschauung, die sich am Vorbild von Spinozas scientia intuitiva orientiert, eine ästhetische Erkenntnisform im Blick hat und damit Spinozas Vorbild abwandelt. Zwar hat Spinoza selbst keine Theorie der Ästhetik geschrieben, doch nicht nur Hölderlin, sondern auch andere Leser entdeckten eine ästhetische Dimension der scientia intuitiva und machten sie für ihre eigenen Theorie fruchtbar. Schelling ist mit der für seine Philosophie der Kunst so wichtigen intellectualen Anschauung zu nennen.16 Später war es Gilles Deleuze, der die ästhetische und rhetorische Dimension der Ethik freigelegt und herausgearbeitet hat.17 Die »intellectuale Anschauung« ist Hölderlin zufolge ein herausragendes Merkmal des tragischen Gedichts. Doch man darf wohl schließen, dass sie auch für jede andere echte Dichtung zutrifft, da die Vollendung einer jeden Dichtungsgattung stets in der Mischung aller und der Auszeichnung besonderer Merkmale liegt. Hölderlin konstatiert:

15 Vgl. dazu Stefan Büttner: »Immanenz und Selbstbezug der künstlerischen Form. Skizze zum Verhältnis von Hölderlin und Spinoza«, in: Martin Bollacher, Thomas Kisser und Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästhetik, Würzburg 2010, 203-214; Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des ›Hyperion‹. Tübingen 1990, sowie Margarethe Wegenast: »Zu Hölderlins Spinoza-Lektüre und Kritik der Subjektphilosophie«, in: Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 459–475. 16 Vgl. die Vorlesungen von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß). Erstmals vorgetragen zu Jena im Winter 1802 bis 1803, wiederholt 1804 und 1805 in Würzburg, in: ders.: Ausgewählte Schriften in 6 Bänden. Hg. von Manfred Frank, Bd. 2: Schriften 1801–1803. Frankfurt am Main 1985, 181 ff. 17 Vgl. Anne Sauvagnargues: »Spinoza-Lektüren – ein Beitrag zur Ästhetik von Deleuze«, in: Martin Bollacher, Thomas Kisser und Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur, Kunst und Ästhetik, Würzburg 2010, 247–262; vgl. ferner den Beitrag von Arno Böhler im vorliegenden Band, »Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze. Wissen wir, was das Medium Körper kann?«, 167–186.

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Der tragische Dichter thut wohl, den lyrischen, der lyrische den epischen, der epische den tragischen zu studiren. Denn im tragischen liegt die Vollendung des epischen, im lyrischen die Vollendung des tragischen, im epischen die Vollendung des lyrischen. Denn wenn schon die Vollendung von allen ein vermischter Ausdruck von allen ist, so ist doch eine der drei Seiten in jedem die hervorstechendste.18 Offenkundig steht dem Dichter Hölderlin mit der Rede von der »Metapher« für das Ganze eines lyrischen, epischen oder tragischen Gedichtes der Ausdruck, die Verdichtung, die Konzentration auf das Wesentliche der Darstellung in besonderer Weise als Aufgabe vor Augen. Hölderlins Rede von der Metapher einer »intellectualen Anschauung«, in der sich der philosophische Gehalt, die Bedeutung der Tragödie konzentriert, erinnert nicht zufällig an Spinozas scientia intuitiva und den mit ihr verknüpften amor Dei intellectualis, zumal Hölderlin Spinozas Ethik mangels guter Übersetzungen und dank seiner lateinischen Sprachkompetenz im Original, also in lateinischer Sprache, gelesen haben muss. Ein zentrales Zeugnis dafür, dass Hölderlin bei der Ausformung der für seine Konzeption relevanten »intellectualen Anschauung« auch Spinoza im Blick hat, ist der Vierte seiner Frankfurter Aphorismen, in dem er schreibt: »Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben.«19 Die hier 18

Hölderlin: »Der tragische Dichter …«, MA II, 110. Hölderlin: »Frankfurter Aphorismen (vierter Aphorismus)«, MA II, 57–61, 59. Zur Datierung der »Frankfurter Aphorismen«, vgl. MA III, 389. Im Kommentar der MA zu diesem Aphorismus wird auf die Parallele zu Spinozas Ethik hingewiesen. Ferner wird auf eine Stelle in Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Mendelssohn. Breslau 1785, 29 (zu ergänzen ist: in der Auflage von Jacobis Spinoza-Briefen von 1789, 39/40) aufmerksam gemacht, wo Jacobi Spinozas Bild in der Wiedergabe des Gespräches mit Lessing für seine eigene, über Spinoza hinaus gehende Philosophie für sich reklamiert. Überdies hat MA zufolge auch Schelling dieses Bild verwendet in der Vorrede zu seiner Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), in: ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 1: 1794-1800, 39–134, 45 und 75, Anmerkung, (vgl. MA III, 390). Vgl. hierzu ferner Margarethe Wegenast, die den Zusammenhang von Spinoza und Schelling untersucht: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion«. Tübingen 1990, 68/69. Hölderlins Frankfurter Aphorismus wird in die Überlegungen hier nicht einbezogen. Der Text von Hölderlins »Frankfurter Aphorismus« lautet insgesamt: »Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Diß ist auch die höchste Poësie, in der auch das unpoëtische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poëtisch 19

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angesprochene »ewige Heiterkeit«, die »Gottesfreude« sei, weisen auf Spinozas amor Dei intellectualis hin, mit dem Spinoza Zufriedenheit, Heiterkeit und Glückseligkeit in Aussicht stellt. Bemerkenswerter Weise spricht Hölderlin in demselben Satz überdies davon, dass »ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben« sei. Das durch und durch organisierte Gefühl, reflektiert durch die Kraft des Verstandes, ist der philosophische Weg, den Spinoza mit seiner Ethik konzipiert, und der durch eine anhaltende Reflexion auf die Affektionen und Perzeptionen der ersten Erkenntnisart sich zu den Einsichten der adäquaten zweiten, schließlich zur dritten Erkenntnisart emporarbeitet. Die Bedeutung dieser Zusammenhänge und Filiationen mit der Konzeption Spinozas und ihre Umdeutungen durch Hölderlins Tragödienkonzeption kann hier nur angedeutet werden. Auch der Beginn von Hölderlins Aphorismus zeugt von einer direkten Auseinandersetzung mit der Ethik Spinozas, wenn er schreibt: »Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet.« Die entsprechende Quelle im Lehrsatz 43 des Zweiten Teils von Spinozas Ethik lautet: »Ferner, was kann es geben, das klarer und gewisser wäre, um als Norm der Wahrheit zu dienen, als eine wahre Idee? Wahrlich, wie das Licht sich selbst und die Finsternis deutlich macht, so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Falschen.«20 Bekanntlich hat Hölderlin schon 1795 in seinem Text Urtheil und Seyn erstmals, wenn auch in sehr thetischer Form, von einer »intellectualen Anschauung« gesprochen, die dem »Seyn schlechthin« zugeordnet wird.21 Hier kommt der »intellectualen Anschauung« zunächst eine theoretische Begründungsfunktion zu. Doch bald schon wird der »intellectualen Anschauung« eine tragende Rolle in ästhetischer Hinsicht zugesprochen. Hölderlin, wie auch Schelling in seiner Philosophie der Kunst hat Spinozas dritte Erkenntnisart aufgenommen, verwandelt und in eine ästhetische Dimension gehoben.

wird. Aber hiezu ist schneller Begriff am nöthigsten. Wie kannst Du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weist, was an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben.« (Hölderlin: »Frankfurter Aphorismen (vierter Aphorismus)«, MA II, 59) 20 »Deinde quid idea vera clarius et certius dari potest, quod norma sit veritatis? Sane sicut lux seipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est.« (2p43s, E 186/187) 21 Vgl. Hölderlin: »Seyn, Urtheil, Modalität, (»Urtheil und Seyn«)«, MA II, 49–50, 49.

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Die in der Forschung bekannte These, dass die intellektuelle Anschauung der Poetologie Hölderlins eine systematische Nähe zu Spinozas dritter Erkenntnisart verrät, wird durch den Aphorismus und seine offenkundige Nähe zu Spinoza bestätigt. Spinozas dritte Erkenntnisart ist nur im Durchlaufen eines langen Denkweges zu erlangen, der sich zunächst dem tiefgreifenden Erfassen der ersten, sinnlichen und zweiten, gesetzmäßig rationalen Erkenntnis bemächtigen muss, um sich zur dritten zu läutern und zu ihr empor zu steigen. Wer in der dritten Erkenntnis zu denken vermag, der kann das Wesen der Dinge erkennen. Das Wesen der Dinge soll offenkundig auch der Geist des Dichters mit der intellectualen Anschauung erkennen. Anders als Spinoza sieht Hölderlin aber nicht explizit einen langen Weg des Denkens und Dichtens vor. Hölderlin betont vielmehr stets das qualitative Moment eines ganzen Tuns durch den Dichter. Ein Beispiel aus der Musikpraxis mag verdeutlichen, was in der Kunst intuitives Wissen bedeuten kann. Der Dirigent oder der Instrumentalist, der eine Oper oder eine Symphonie zum ersten Mal dirigiert, darin seinen Part spielt, wird wohlweislich die Partitur oder den Auszug auf seinem Pult liegen haben. Der Dirigent oder Musiker, der diese Werke x-mal dirigiert und spielt, wird nur mehr kurze Blicke auf die Partitur oder den Auszug werfen, da die Musik buchstäblich in seinen Geist, seinen Körper, seine Finger hineingewachsen ist, wenn diese metaphorische Sprache hier erlaubt ist. Ein ES ist es, das mitwirkt beim Dirigieren und beim Spielen in ihm. Im schlechten Fall ist das Es mechanisch gewordene und verhärtete Gewohnheit eines Tuns. Ist aber der Geist ganz bei sich und ganz bei der Sache, so stellt sich ein, was sich für Spinoza im amor Dei intellectualis einstellt. Spinoza entwickelt diese Erkenntnisart in seinem metaphysischen Rahmen. Eine Phänomenologie des geistigen Geschehens zu entfalten stand weder in seiner Möglichkeit noch in seiner Absicht. An ihr aber versuchen sich die Nachkantianer und eben auch Hölderlin mit seiner Verfahrungsweise des poetischen Geistes. Wer wie im beschriebenen Fall mit einem Werk verwachsen ist, der braucht nicht mehr Note für Note zu lesen, der kann in das Werk hineinhören, ihm unerwartete Interpretationen ablauschen, aus einer oft gehörten Sache ein ganz neues Erlebnis machen. Aus dieser Perspektive wäre Hölderlins Poetologie noch einmal zu untersuchen. Hölderlin hat Spinozas scientia intuitiva, die dritte intuitive Erkenntnis Spinozas in eine ästhetische Erkenntnis verwandelt. Es muss hier in diesem Rahmen bei diesen Andeutungen sein bewenden haben, denn mit Hölderlins Metapher der intellektuellen Anschauung verknüpft sich seine gesamte Tragödientheorie und Poetologie, die in bedeutenden Texten ihre Darlegung gefunden haben. Dass sich Dichter und Philosophen vor und nach der Jahrhundertwende um 1800 mit großem Interesse einer Erkenntnisart zugewandt haben, die systematisch an Spinozas dritte Erkenntnisart anschließt,

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kann kaum verwundern. Fichte ist es nun, der mit seinem Spätwerk Wissenschaftslehren schreibt, die an ästhetische Techniken erinnern. Dem gilt es nun, sich zuzuwenden.

V. Fichte und das Sehen des Sehens in der Wissenschaftslehre 1811 Das richtige Denken, die Einsicht der Vernunft muss mit der scientia intuitiva zur Gewohnheit, zur Vertrautheit und inneren Orientierung werden. Fichte hat genau diese Erfahrung, die auch bestimmten Formen künstlerischer Arbeit innewohnt, in besonderer Weise praktiziert. Er hat viele Male die Wissenschaftslehre immer wieder neu geschrieben. Er hat nach seinem Verständnis viele Jahre immer wieder an dem gleichen Problem gearbeitet, der Ausarbeitung der Wissenschaftslehre, aber er hat seine grundlegende Fragestellung Semester für Semester je neu und je anders aufgerollt. Er hat es sich zu einer Arbeitsmaxime gemacht, nicht die ausgearbeiteten Patterns der sprachlichen Gestaltung wieder zu verwenden. Wie ganz neu sollte die Wissenschaftslehre entwickelt werden. Sich in fixierten, leer gelaufenen Sprachformen zu artikulieren, tote Buchstaben, Worte und Sätze zu verwenden, war dasjenige, das in jedem Fall vermieden werden musste.22 Die sprachliche Durchgestaltung der konstruierenden Denkwege war eine unmitttelbare Arbeit der Spontaneitätsleistung. Mit dieser Haltung des Philosophierens erinnert Fichte an diejenigen modernen Künstler, die das scheinbar Gleiche auf eine immer neue Weise an einem neuen Werk ausführen. Zu denken ist an Maler wie Claude Monet, Mark Rothko, Jackson Pollock, Joan Mitchell und viele andere, an deren Werkgruppen zu bestimmten Motiven zu zeigen wäre, wie sich die Bilder in ihrer Gestaltung entlang der Zeitfolge sowohl in wichtigen Parametern wiederholen als auch in Form und Gestalt fortentwickeln. Das, was in diesen Prozessen der sich wiederholenden Differenz abläuft, ist an keinem Kunstwerk und an keiner Wissenschaftslehre im Einzelnen abzulesen. Das Tun des immer Gleichen, sofern es ein aktives WievonNeuemBeginnen ist und nicht ein mechanisches Wiederholen von abgesetzten Tätigkeiten, ist die dynamisierte Fortentwicklung, von der ich denke, dass sie es ist, die 22 Diese Intention artikuliert sich besonders deutlich in Fichtes Vorlesungen zum Thema über Geist und Buchstabe in der Philosophie, gehalten im Sommer 1794. Ein Teil davon ist wegen eines Streits mit Schiller Jahre später erschienen. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Zitiert als GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl). Hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Hier: GA I 6, 333–361 sowie die Vorlesungsmanuskripte zum Thema unter verschiedenen Titeln, in Fichte: GA II 3, 293–342.

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den Blick auf das Wesentliche einer Sache freigibt, von der Spinoza im Hinblick auf die scientia intuitiva spricht. Das Tun der scientia intuitiva ist und bleibt, auch wenn Spinoza darüber nicht reflektiert, zu einem Teil im Dunkeln nicht bewusster Setzungen, während ein anderer Teil des Tuns die setzende Aktivität der begrifflichen Ausarbeitung und Präzisierung darstellt. Seit der ersten gedruckten Fassung der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 setzt sich Fichte mit Spinoza auseinander. Er liest Spinoza in der ersten Phase als einen Denker, der vom Sein oder der Substanz statt vom Ich seinen Ausgang nimmt, was in Fichtes Augen der falsche Ansatz ist. In der Wissenschaftslehre von 1811 nähert Fichte sich auf markante Weise Spinoza an. Die Wissenschaftslehre nimmt den Ausgang vom Sein, das Fichte mehrfach ausdrücklich und emphatisch an Spinozas Substanz (Sein) als einer immanenten Ursache zurückbindet, die zugleich als Gott begriffen wird. Fichte notiert in der Wissenschaftslehre 1811: »Es giebt keine bessere [sic] als das System des Spinoza: damit [besteht] ein gemeinschaftl[icher]. Standpunkt; sodann ein wesentlicher Gegensatz.« 23 Während Spinoza mit dem Faktum des Seins den Anfang der Philosophie setzte und es dabei geblieben ist, wird die Wissenschaftslehre das Faktum des Seins genetisch einsichtig machen: »Das absolute Seyn selbst ist es, das durch sich selbst sich ausspricht in diesem Denken. […] am Anfange, wie Sp[inoza]. [müssen wir] jedem anmuthen die unmittelbare Evidenz: /.«24 In dem Sein der Wissenschaftslehre ist unverbrüchliche Wahrheit verankert, mithin auch ein Äquivalent zu Spinozas adäquatem Wissen gegeben. Wo dem Menschen das reine Licht der Wahrheit nicht, oder noch nicht in genetischer Konstruktion erscheint, fungiert Wahrheit, auf die der Erkennende sich immer irgendwie bezieht, als ein vorläufig geltendes Postulat. Die vorläufige Wahrheit gilt es, durchsichtig und zu gewusster Wahrheit zu machen. Trotz der erkennbaren Nähe zu Spinoza in manchen Details ist in der späteren Wissenschaftslehre, so auch in der Wissenschaftslehre von 1811, ebenso ein deutlicher Abstand zu Spinozas Konzeption gegeben. Das Sein, genauer das reine Sein der späten Wissenschaftslehre ist Instanz und Prinzip des Wissens, das die Gültigkeit von Wahrheit und Gesetzlichkeit alles Sehens und Einsehens zu garantieren hat. Da aber reines Wissen nicht sein kann, ohne dass etwas gewusst wird, so erscheint in diesem Wissensprin23 Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre 1811 (im Folgenden zitiert als WL 1811), in: ders.: Späte wissenschaftliche Vorlesungen II. Frommann-holzboog Studientexte. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 1–234 (= Fichte: Nachgelassene Schriften 1810– 1812. Hg. von Reinhard Lauth, Erich Fuchs, Peter K. Schneider und Ives Radrizzani, GA II 12. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 137–299). Hier: Fichte: WL 1811, 34; GA II 12, 163. 24 Fichte: WL 1811, 36; GA II 12, 165; vgl. ferner Fichte WL 1811, 38, 46; GA II, 12, 165 f., 171.

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zip nachgeordnet auch das Sein der Dinge in der (ausgedehnten) Welt. Fichte macht explizit deutlich, dass im Werden des Bewusstseins alle Anschauungen, alle Begriffe notwendig ihren Ausgang, ihre erste Prägung von den konkreten Dingen nehmen. Erst nachträglich lässt sich eine zweite bloß intelligible Welt bilden, die stets in einem analogischen Verhältnis zu der sinnlichen, ersten Welt steht.25 Galt 1794/95 Fichtes eigentliche Aufmerksamkeit der Konstruktion des Systems der Freiheit, mithin all jenen Kräften der Subjektivität, die die Spontaneität, Setzungsleistungen, Aneignungsleistungen des Subjekts ins Werk setzten, so erweist sich 1811 der Tatendrang der Subjektivität geradezu gezähmt. Im Ausgang vom Sein ist es das Werden des Lichts und der Erscheinung, das den Gang der Wissenschaftslehre bestimmt. Das Sein überformt hier den Ausgang vom Ich oder Subjekt, das Licht ist zugleich Ausdruck und Distanznahme von der subjektiven Vernunft. Mit der ausdrücklichen Erscheinungslehre des absoluten Seins oder Gottes und der überdies daran sich anschließenden Erscheinungslehre der endlichen Erscheinung wird in der Wissenschaftslehre von 1811 der sinnlichen Natur des Menschen weit mehr Rechnung getragen als in vorigen Fassungen. Die genetische Einsicht, Fichtes methodische Selbstreflexion und Selbstdurchdringung des Geistes setzt dort ein, wo das Bewusstsein zuerst unmittelbar und unreflektiert seinen zu deduzierenden Gehalt sieht, denkt und repräsentiert. Im zunächst Sichtbaren die unsichtbaren Anteile des Sehens aufzudecken, ist die entscheidende Triebfeder dieser genetischen Konstruktion. So kann es nicht überraschen, dass die Freiheit und Tatkraft des Subjekts im Gang dieser Selbstaufklärung sich selbst erst spät entdeckt und reflektiert. Auch dann noch ist sie nicht eine Freiheit des Aufbruchs, sondern eine Freiheit, die sich hingibt ans Sehen, an das, was sich macht als Wahrheit, eine Freiheit, die sich macht als Sein und Gesetz und selbst nicht Freiheit ist, solange sie sich als absolute Freiheit nicht ergreift.26 Fichte entwickelt nun in der Wissenschaftslehre 1811 eine Konstruktion des intellektuell zu nennenden Sehens, das sich in Schemata verdichtet, die geeignet erscheinen, den Prozess des intuitiven Wissens als solchen durchsichtig zu machen, der bei Spinoza für den Gebrauch der Lebensoptimierung in Anspruch genommen wird, als solcher aber nicht selbst reflektiert und als Phänomen begriffen ist. Der Weg, den Fichte nachzeichnet, ist die wieder und wieder ausgeführte Durchdringung des Seins, das, wissensgesättigt, zur expliziten, wissenden Erscheinung kommt.

25 26

Vgl. Fichte: WL 1811, 20; GA II 12, 154. Vgl. Fichte: WL 1811, 87–89; GA II 12, 199–201.

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VI. Die fünf Schemata des Sehens Die setzende Spontaneität des Subjekts ist insbesondere dort im Spiel, wo das auf die Einzelheit seines spontanen Sehens gerichtete Beobachter-Ich die Strukturen seines Verallgemeinerns entdeckt und sich sowohl als die Instanz des damit einhergehenden Schematisierens erkennt, als auch die Schemate in ihrer notwendigen Struktur zu bestimmen weiß. Wenn hier Schemata so bedeutend zum Tragen kommen, so referiert dies auf Kants Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft, ist aber zugleich auch weit von dessen Schematismus entfernt. Mehr noch als 1794/95 wird 1811 die produktive Kraft des Sehens, Bildproduzierens und Einbildens herausgestellt. Die Schemata sind somit die allgemeinen, hochkomplexen Bildstrukturen der besonderen, einzelnen Anschauungen der tätigen Reflexionsleistung des Subjekts, die Unsichtbares sichtbar macht. Die Schemata, die Fichte in Betracht zieht, sind weit komplexere Gebilde als es die Kantischen, den Kategorien korrespondierenden, reinen sinnlichen Schemata sind. Fünf Schemata sind es, die Fichte entwickelt und die vorsichtig in eine gewisse Parallele zur Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre gesetzt werden dürfen. Das erste Schema dient der Explikation der Identität des Seins und seiner Erscheinung und nimmt das Problem des ersten Grundsatzes von 1794/95 auf höherer Ebene wieder auf. Die unmittelbare Erscheinung von Gott ist absolute Erscheinung und insofern ein »Bild, von diesem ersten Bildseyn«. Ferner ist »die Erscheinung schlechtweg durch ihr Seyn an Gott sein Lebendiges Bild, Leben seines Bildes«.27 Das zweite und das dritte der insgesamt fünf Schemata sind die am ausführlichsten bedachten Gegenstände dieser Fassung der Wissenschaftslehre28 und

27 Fichte: WL 1811, 64 und 65; GA II 12, 184; vgl. ferner ebenda, 67, 69, 75, 95; GA II 12, 186, 187, 191, 205. Wolfgang Bartuschat untersucht in seinem Beitrag »Spinoza et le dernier Fichte«, in: Spinoza au XIXe siècle. Hg. von André Toesel, Pierre-François Moreau und Jean Salem, Paris 2007 (= Série Philosophie, Bd. 15), 99–107, Fichtes Rückwendung zu Spinozas Konzeption des Absoluten am Beispiel der Wissenschaftslehre von 1812. Bartuschat sieht eine systematische Nähe zwischen Spinozas scientia intuitiva, die zugleich Selbsterkenntnis und Erkenntnis von Gott ist, und Fichtes Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Erscheinung, auch wenn nicht erwiesen ist, dass Fichte der scientia intuitiva Spinozas ein genaueres Studium gewidmet hat. 28 Ein erster Untersuchungsgang führt zu Schema 2 (Fichte: WL 1811, 65; GA II 12, 184), dann ist von der Verdopplung des Schema 2 als Schema die Rede (Fichte: WL 1811, 82–91; GA II 12, 195–202). Mit dem Schema als Schema, kommt das Thema der sich selbst begreifenden Freiheit des Denkens, Begreifens, Wissens auf, das in dem gefundenen Prinzip der Freiheit gipfelt, das nun ausdrücklich Schema 3 genannt wird (Fichte: WL 1811, 202; GA II 12, 278). Dieser gesamte Weg vom Schema als Schema (Fichte: WL

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dienen der Analyse sowohl der Identitätssetzung des Seyns Gottes und seiner Erscheinung im Bilde als auch der damit notwendig einhergehenden Trennung und Spaltung und ihren mannigfachen Aspekten der Binnendifferenzierungen. Mit dem Aktivsein von Schema 2 erblaßt, wie Fichte sagt, das Sein in Schema 1.29 Die lebendige Aktivität ist dort, wo der Akt des Vollziehens aktuell stattfindet. Erscheinung ist Leben, aber das Leben des Schema 2 ist nicht absolutes Leben, sondern Leben des Bildes. Es ist das Hervorbringen von Leben, das an einem Produkt, dem Bild, erscheint. Das Vollzogene, das Produkt geworden ist, in dem Fall der Gehalt des Schema 1, wird abgelegt, erblaßt daher, um durch die Reproduktion des Erinnerns synthetisch in den Folgeschritt integriert zu werden. Schema 2 faßt Fichte in die Kurzformel der »Erscheinung der Erscheinung«.30 Aus dem Schema muss die Identität mit dem Ursein oder Gott ebenso erklärlich werden, als das Prinzip der Spaltung deutlich werden muss. Eine wesentliche Spaltung liegt in der Differenz von vollzogener, sich selbst durchsichtiger Erkenntnis und dem durch die unsichtbar gebliebenen Momente stets gegebenen Mehr eines jeden Erkenntnisgegenstandes. Fichte spricht von einer Spaltung der Erscheinung der Erscheinung oder eben des Wissens in eine Unendlichkeit und eine Fünffachheit, die sich wechselseitig bedingen und durchdringen. Die Unendlichkeit umgreift das Unbestimmbare und das Unbestimmte, das mit dem Erscheinen des Urseins oder Gottes thematisiert ist. Die Fünffachheit ist Chiffre für die nach Regeln des Denkens vollziehbare Bestimmbarkeit und Bestimmtheit des Erscheinens. Wo etwas erscheint, und sei es das Absolute, das Sein oder Gott, wird etwas begriffen, erfasst, und also bestimmt. Aber wo Erscheinung ist, da ist immer auch das vorläufig oder für immer Unbegriffene, Unbestimmte, Unbestimmbare, von dem die Erscheinung das Bild ist. Die Fünffachheit ist Resultat dieses komplexen Sichdurchdringens von Begreifen und Nichtbegreifen, von Identitäten, die in Wahrheit nur zu einem Teil Identitäten sind, weil immer auch eine Differenz zwischen Bild und Urbild, Erscheinen und dem Wovonerscheinen, also dem Sein besteht. Die hier auftretende Fünffachheit konstituiert sich als synthetische Einheit (1) der unterscheidbaren Momente, nämlich dem subjektiven Vermögen, die Erscheinung zu fassen, die formale Möglichkeit ist (2) und dem wirklichen Vollzug (3), ferner dem erscheinenden Gegenstand, wie er ist (4) und wie er sein soll (5). Wesentlich ist dabei nicht das Auflisten der willkürlich nummerierbaren Momente, sondern ihre im Begreifen sich konstituierenden wech1811, 82; GA II 12, 195) bis hin zum Prinzip der Freiheit (Fichte: WL 1811, 202; GA II 12, 278) ist nach meinem Verständnis also dem Genetisieren des Schema 3 gewidmet. 29 Vgl. Fichte: WL 1811, 65; GA II 12, 184. 30 Fichte: WL 1811, 70; GA II 12, 188.

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selweise sich bestimmenden Zusammenhänge und Unterscheidungen. Dies nennt Fichte die Entfaltung der genetischen Einsicht in die Erscheinung der Erscheinung. Für die Frage nach der Freiheitskonzeption der späteren Wissenschaftslehre ist von nicht zu überschätzender Bedeutung, daß Fichte das Vollziehen von Schema 2 zwar als eine bildende Kraft des Geistes versteht, zugleich aber sieht, daß das Vollziehen dieses Schemas ein Akt der Freiheit ist, der sich noch nicht ausdrücklich als Freiheit weiß. Dies zu durchdringen ist Aufgabe des Schemas 3.31 Das dritte Schema hebt die Fünffachheit auf eine höhere Ebene, wodurch sie gewissermaßen verdoppelt wird. Ist die eine Ebene das Sein des Schemas, so ist die andere das Schema als Schema, oder eben das mit ausdrücklicher Freiheit begriffene Schema.32 Der unmittelbare Ausdruck der Selbsttätigkeit und Freiheit, das unmittelbare Sein der Erscheinung, erfasst durch ein Schema, verdankt sich der absoluten Freiheit, die als Faktizität erscheint. Diese schematische Faktizität gilt es, ihrerseits genetisch durchsichtig zu machen und das Schema als Schema zu fassen. Am Rande erwähnt Fichte, dass die Fünffachheit aus diesem und weiteren Gründen fünf mal, also als Fünfundzwanzigfachheit zur Erscheinung zu bringen ist.33 Erst sehr spät im Gang der Untersuchung begreift Fichte das Schema 3 als dasjenige, das das Prinzip der Freiheit ausdrücklich fasst: es ist ein freies Princip, welches die Erscheinung bilden kann, u. soll, und das, wenn es etwa sein Vermögen vollzieht, sie bilden wird; aber durch sein blosses Seyn ist es durchaus kein unmittelbares Bild von ihr. Das unmittelbare Bild hat sie nur in ihrem Vermögen, durchaus ohne faktische Realität: das Princip kann drum durch sein blosses Seyn nur etwa genannt werden Schema 3. [,] Bild vom Bilde der Erscheinung, u. ist von diesem Bilde durchaus geschieden.34 Will man das zweite Schema in Beziehung zur Wissenschaftslehre von 1794/95 setzen, so lässt es sich als Konstruktion von Anschauung und Vorstellung begreifen, mit der die Selbstkonstruktion des subjektiven Produktions- und Sehvermögens einhergeht. Vormals nannte Fichte dies die Konstruktion der Ein31

Vgl. Fichte: WL 1811, 67; GA II 12, 185/186. Fichte unterscheidet häufig das unmittelbare Schema vom Schema als Schema, versäumt es aber, durchgängig die Unterscheidung von Schema 2 und Schema 3 explizit zu treffen, wie dies in Fichte: WL 1811, 67; GA II 12, 86 und dann erst wieder in Fichte: WL 1811, 202; GA II 12, 278 zu finden ist (vgl. ferner Fichte: WL 1811, 82–91; GA II 12, 195–202). 33 Vgl. Fichte: WL 1811, 91; GA II 12, 202. 34 Fichte: WL 1811, 202; GA II 12, 278; vgl. Fichte: WL 1811, 211; GA II 12, 284. 32

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bildungskraft durch Einbildungskraft. Das Schema 3 entspräche dann 1794/95 der Einführung der Intentionalität durch den Begriff des Strebens, durch den sozusagen das Prinzip der Freiheit, das ausdrückliche, gerichtete Wollen eines Handelns thematisch wurde.35 Das Schema 4 bildet sich durch die Erscheinung des Prinzips, das zugleich das Prinzip von Anschauung und Reflexion ist. Das Schema 4 nennt Fichte daher das Schema der Reflexibilität des Prinzips.36 Der Untersuchungsgang zur Reflexibilität ist sehr knapp, aber für das angemessene Verständnis des Prinzips des Ich oder der Freiheit von großer Wichtigkeit. Wie die Erscheinung selbst nur durch ein Wechselverhältnis von unmittelbar vollzogener Freiheit und notwendiger Bestimmtheit möglich ist, so ist das Prinzip der Freiheit der eminente Ausdruck der freien Wahl, des aktiven Tuns und Wollens. Doch jedes Tun und Wollen ist gebunden an den Freiraum, den die Sache selbst gewährt. Fichte spricht daher von dem Sehen des Prinzips, das in dieser Hinsicht nicht bloß die eine Form der Freiheit darstellt, sondern eine Mannigfaltigkeit individueller Formen und Möglichkeiten in sich schließt. Das konkrete Tun der Freiheit versteht sich somit zum Teil als ein Handeln, das aus dem Unbestimmten und Unendlichen schöpft, zum Teil aber auch als ein Handeln, das situationsbedingt auf die endliche Bestimmtheit einer Sache zu sehen hat.37 Das Sehen und Umgreifen dieser Synthese des Prinzips (Schema 3) und der Reflexibilität des Prinzips (Schema 4) lässt nun ein weiteres Schema hervortreten, nämlich das Schema 5. Da das Princip in seiner Freiheit reflexibel ist, so geht dieses Sehen zunächst auf diese Reflexibilität, und [das] P[rincip] bricht sich an ihr; dies ist der erste Faktor dieses ganzen Sehens, u. es ist Schema V. Resultat: das Princip wird von ihm nicht gesehen als Eins, sondern als ein unbedingt mannigfaltiges von Principien; und nur ein Theil dieser in dem gesehenen Objekte zerstreuten Principheit wird unmittelbar erblikt als Eins, Individuum, Ich.38

35 Die Fünffachheit wird im Schema 3 mit den Buchstaben a, b – c, d – e belegt. Das a steht für die reine absolute Einheit des Sehens (Fichte: WL 1811, 177, 180; GA II 12, 261, 263), b und c bezeichnen die getrennten Prinzipien Sein und Ich (Fichte: WL 1811, 183; GA II 12, 265), d und e stehen für Mannigfaltigkeit der Reihung des Sehens in der Sukzession der Zeit und die zur Einheit zusammengehaltene Unendlichkeit in ein Sehen (Fichte: WL 1811, 181; GA II 12, 264). Das Schema 1 bezeichnet die Einheit und Schema 2 die Trennung der vorausgehenden dualen Einheit (Fichte: WL 1811, 64–67; GA II 12, 183–186). Beide Schemata zusammen werden mehrfach zu einer vorläufigen Dreifachheit zusammengefasst. 36 Vgl. Fichte: WL 1811, 211–212; GA II 12, 284/285. 37 Vgl. Fichte: WL 1811, 212–213; GA II 12, 285/286. 38 Fichte: WL 1811, 214; GA II 12, 286.

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Das Schema 5 ist notwendig als Schema für die Anschauung der zuvor aufgestellten Reflexibilität. Schema vier und fünf zählen bereits zur Lehre der Erscheinung der Erscheinung, die Fichte auch als erweitertes Sehen eines Sehens des Sehens, als ein Bewusstsein des Bewusstseins begreift.39 Ob nun Fichtes Theorem des Sehens des Sehens wesentlich durch Spinozas stärksten Affekt, den Affekt der Erkenntnis angeregt ist, oder sich aus anderen Quellen speist, mag offen bleiben. Eine starke systematische Affinität besteht in jedem Fall und diese sollte hier aufgezeigt werden. Die scientia intuitiva soll jeder erlangen, der nach dem Vorbild Spinozas ein zufriedenes Leben führen will. Das Sehen des Sehens Fichtes zu begreifen und damit einen Begriff von der impliziten Technik des intuitiven Sehens zu erhalten, ist ein hochreflexiver Prozess, das Begreifliche und Unbegreifliche einzuholen. Diese Reflexion ist die alleinige Sache des Philosophen und desjenigen, der zur höchsten Freiheit Fichtescher Provenienz gelangen will. Freiheit heißt hier, lichtes Bewusstsein, Selbstdurchsichtigkeit, einen anschauenden Begriff von dem Sein des Absoluten oder Gott und dem reinen Ich zu haben. Aber Freiheit heißt auch, anders als bei Spinoza, bei allem Sehen und Wissen ein explizites Wissen von der zuletzt doch noch zurück bleibenden Unbegreiflichkeit des Seins oder Gottes zu erlangen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Fichte und Spinoza besteht besonders darin, dass für Spinoza die explizite Einbindung der Achtsamkeit auf Affekte und deren im Reflektieren gewonnene Bewältigung in die scientia intuitiva mittelbar eingeht. Bei Fichte zeigt sich dies nicht in der Weise, obwohl deutlich ist, wie sehr er etwa im System der Sittenlehre von 1798 bereits eine durchgearbeitetere Triebtheorie entwickelt, in der einige Affekte bedacht und berücksichtigt werden. Falls das Konzept der scientia intuitiva Spinozas für Fichte relevant war, dann als entscheidende Anregung zu eigenem Denken. So aber, dass gewissermaßen eine Umkehrung stattfindet. Spinoza nimmt den metaphysisch-ontologischen Ausgang von der Substanz, um im Durchgang durch die Teilbereiche seines Systems, der Gotteslehre, der Erkenntnistheorie, der Affektenlehre, der Lehre von der Knechtschaft des Menschen schließlich zur Macht der Vernunft und zur scientia intuitiva als dem Endpunkt des Systems hinzuführen. Der Endpunkt des Systems von Spinoza fällt in der Sache zusammen mit dem zu einer Totalität gekommenen Wissen von einem Ganzen. Diese Totalität ist nicht ein Allwissen, sondern ein Wissen von Gott, der Welt und dem Selbst in seinem inneren Zusammenhang. Dies ist der Punkt, an dem der Fortgeschrittene auf seinem Lebensweg zur Zufriedenheit gelangt ist. Fichte konzentriert sich hingegen in den späten Wissenschaftslehren immer

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Vgl. Fichte: WL 1811, 182; GA II 12, 265.

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mehr und immer stringenter auf das Erfassen dieser letzten höchsten Spitze der Erkenntnis, dem Sein, das sich als Wissen in die Erscheinung entäußert, in der die scientia intuitiva des Spinoza sichtbar unsichtbar hindurchscheint.

Andreas Arndt

»Enthüllung der Substanz« Hegels Begriff und Spinozas dritte Erkenntnisart

»Die im letzten Buch enthaltene Exposition der Substanz, welche zum Begriff überführt, ist […] die einzige und wahrhafte Widerlegung des Spinozismus. Sie ist die Enthüllung der Substanz, und diese ist die Genesis des Begriffs«.1 Hegels Aussage am Anfang der Begriffslogik, die auf die Wesenslogik zurückblickt, identifiziert dort den Spinozismus als den Startpunkt der Entwicklung des Begriffs. Ohne Spinozismus kein Begriff – aber nur, wenn der Spinozismus auf bestimmte Weise aufgefasst und negiert wird. Spinozas Philosophie dient dabei zum Exempel immanenter Kritik: Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst angreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht. Die einzige Widerlegung des Spinozismus kann daher nur darin bestehen, daß sein Standpunkt zuerst als wesentlich und notwendig anerkannt werde, daß aber zweitens dieser Standpunkt aus sich selbst auf den höheren gehoben werde.2 Es ist dies eine der wenigen und deshalb auch immer wieder gern zitierten Stellen, wo Hegel über sein Verfahren der Kritik anderer philosophischer Positionen Auskunft gibt. Im Folgenden möchte ich zunächst dieses Verfahren etwas näher beleuchten (I). Sodann möchte ich, auch im Rückgriff auf die frühere Kritik Hegels an Spinoza, Hegels Einwände näher beleuchten (II). Und schließlich möchte ich fragen, was Hegels Kritik, die Spinoza einen äußerlichen Verstandesbegriff der Substanz vorwirft, im Blick auf Spinozas dritte Erkenntnisart bedeutet (III).

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Akademieausgabe. Hamburg 1968 ff. (im Folgenden GW mit Bandangabe). Hier: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die Subjektive Logik (1816), GW 12, 15. 2 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die Subjektive Logik (1816), GW 12, 15.

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I. »Enthüllung der Substanz« – dieser Ausdruck findet eine bemerkenswerte Parallele in Hegels Vorrede zur zweiten Auflage der Enzyklopädie (1827), wo es im Blick auf die »Gestaltung der Idee« bei Platon und Aristoteles heißt, sie sei »der Erinnerung unendlich würdiger, auch darum, weil die Enthüllung derselben durch Aneignung an unsere Gedankenbildung unmittelbar nicht nur ein Verstehen derselben, sondern ein Fortschreiten der Wissenschaft selbst ist«.3 Mit der Trias »Enthüllen«, »Verstehen« und »Fortschreiten« kommt ersichtlich der traditionelle Zusammenhang von Hermeneutik und Kritik ins Spiel.4 Der Fortschritt zum Begriff, der sich aus der »Enthüllung« der spinozistischen Substanz ergibt, ist offenbar das Ergebnis eines vergleichbaren Prozesses der Aneignung. Dieser Prozess selbst hat indessen bei Hegel keinen Ort im System. Hermeneutik und Kritik, lange Zeit ein selbstverständlicher Teil der Logik, finden bei Hegel weder in der Wissenschaft der Logik noch in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften einen Platz. Und auch die Philologie, die am Ende des 18. Jahrhunderts mit Friedrich August Wolf ihren Autonomieanspruch angemeldet hatte und sich als Enzyklopädie eine systematische wissenschaftliche Form zu geben suchte,5 findet in Hegels Enzyklopädie keine Heimat. Gleichwohl stellt das »Enthüllen«, das mehr ist als nur ein bloßes Verstehen, der Sache nach die Einheit von Verstehen und doktrinaler Kritik dar. Es kann auch kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Hegel sich dessen sowie der besonderen Bedeutung des Enthüllens in der hermeneutischen Tradition im Unterschied zum bloßen Verstehen bewusst war. Zu enthüllen ist der verborgene Schriftsinn, der sensus mysticus bzw. spiritualis im Unterschied vom sensus literalis, dem buchstäblichen Schriftsinn. Für Hegel gilt jedoch auch hier, dass alles aus dem verschlossenen Gotte herausgeholt wird und kein Geheimnis zurückbleibt. Der verborgene Sinn ist der begrifflich-spekulative, wie er im Kontext der Vorrede zur Enzyklopädie (1827) unter Verweis auf Franz von Baader

3 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, 18. 4 Vgl. Andreas Arndt: »Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung«, in: Manfred Beetz; Giuseppe Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln u. a. 2000, 211–236. 5 Vgl. August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Herausgegeben von Ernst Bratuscheck. Leipzig 1877 (basierend auf Vorlesungen des Schleiermacher-Schülers Boeckh zwischen 1809 und 1865), 37 ff. Wolf hielt zuerst 1786 in Halle Vorlesungen über »Enzyklopädie und Methodologie der Studien des Alterthums«, das heißt klassische Philologie. Vgl. Hellmut Flashar; Karlfried Gründer; Axel Horstmann (Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Göttingen 1979.

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deutlich macht, der auch aus trüberen Gestaltungen, wie etwa der Gnosis Jakob Böhmes, den wissenschaftlichen Gehalt freigelegt habe. Der Grund, der ein solches Verfahren ermöglicht, liegt für Hegel in dem, was er die Arbeit des Begriffs nennt. Diese ist, folgt man der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, einerseits »die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte«,6 in welcher der Geist die Formen und Gestalten des Bewusstseins herausbringe, andererseits die Aneignung dieser Formen durch und für den Geist, um darin zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen.7 Letzteres geschehe dadurch, dass sich das besondere Individuum das »bereits erworbene Eigentum« des allgemeinen Geistes aneigne und »in Besitz« nehme,8 wodurch der allgemeine Geist, welcher die Substanz des Individuums ist, sich »Selbstbewußtsein gibt, oder […] Werden und Reflexion in sich«.9 Dies ist nun genau das, was in dem bekannten Diktum aus der »Vorrede« zur Phänomenologie gefordert wird, dass es nämlich darauf ankomme, »das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«.10 Das absolut vermittelte Sein, mit dem die Phänomenologie beschließe, sei, so heißt es dort, »substantieller Inhalt, der ebenso unmittelbar Eigentum des Ichs, selbstisch oder der Begriff ist«.11 Hiermit geht die Phänomenologie in die Wissenschaft der Logik über; diese ist das Reich der Wahrheit, »wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist«.12 Die »Enthüllung der Substanz« ist nach dieser Seite identisch mit ihrem Subjektwerden, und im einheimischen Reich der Wahrheit, in der Logik, vollzieht sich dieser Vorgang noch einmal auf der kategorialen Ebene bis hin zur Vollendung des Begriffs. Spinozas Philosophie dient daher nicht nur, wie es zunächst schien, zum ausgezeichneten Exempel immanenter Kritik, vielmehr ist, im Blick auf die Phänomenologie des Geistes, die ganze Wissenschaft der Logik auch als eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Spinoza anzusehen, und es ist keineswegs abwegig, schon im Anfang der Seinslogik »eine versteckte Polemik gegen Spinoza« erkennen zu wollen, wie Vesa Oittinen dies getan hat.13

6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1988, 23; GW 9, 25. 7 Vgl. Andreas Arndt: »›Die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte‹. Anmerkungen zur historischen Perspektive in der ›Phänomenologie des Geistes‹«, in: Synthesis Philosophica 22 (2007), 9–17. 8 Hegel: Phänomenologie, 23; GW 9, 25. 9 Ebd. 10 Hegel: Phänomenologie, 14; GW 9, 18. 11 Hegel: Phänomenologie, 29; GW 9, 30. 12 Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 34. 13 Es müssten, so Oittinen, »schon im substantiellen Grund des Seins Elemente« zu

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Es bestätigt sich hier, was Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gesagt haben soll, dass nämlich »das Denken, der Geist, sich auf den Standpunkt des Spinozismus gestellt haben muß«:14 »Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein«.15 Die Philosophie überhaupt wäre demnach nichts anderes als die Enthüllung der Substanz, das heißt deren bestimmte Negation, um in ihr Subjektivität und Freiheit aufzuweisen und auf den Begriff zu bringen. Historisch gesehen handelt es sich dabei um die kritische Aneignung und begriffliche Fortbildung der Resultate der Arbeit des Weltgeistes. In vielleicht sogar bewusster Anlehnung an August Boeckhs hermeneutische Programmformel »Erkennen des Erkannten« heißt es in der bereits zitierten Vorrede zur 2. Auflage der Enzyklopädie, »das Factum der Philosophie« sei »die schon zubereitete Erkenntniß«, die zuerst im Sinne des Nachvollzugs und dann im Sinne des Beurteilens nachzudenken sei.16 Der Begriff sei »das Verstehen seiner selbst und der begrifflosen Gestalt«, und dieses »Verstehen seiner selbst« vollziehe sich in der Selbstentwicklung des Begriffs; die »Beurtheilung aus dem Begriff« sei daher auch nicht ein äußerliches Urteilen über etwas, sondern »ein Urtheilen […] als ein Mitfortschreiten«.17 In dieser Bewegung fungiere der Begriff, gemäß Spinozas Diktum, als index sui et falsi (Ep. 286).

finden sein, »die die Konstitution der Subjektivität möglich machen« (Vesa Oittinen: Spinozistische Dialektik. Frankfurt/M u. a. 1994, 173). 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 104; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe (im Folgenden TWA), Bd. 20. Frankfurt/M 1970, 165. 15 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 165. 16 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, 7. – An anderer Stelle spricht Hegel von dem »reiche[n] Inhalt, den Jahrhunderte und Jahrtausende der erkennenden Thätigkeit vor sich gebracht haben«; dieser sei nicht »etwas Historisches, das nur andere besessen, und für uns ein Vergangenes, nur eine Beschäftigung zur Kenntniß des Gedächtnisses und für den Scharfsinn des Kritisirens der Erzählungen, nicht für die Erkenntniß des Geistes und das Interesse der Wahrheit wäre« (Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, 15). 17 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, 18.

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II. Wenn Hegel damit den Wahrheitsobjektivismus Spinozas18 auf den ersten Blick auch zu teilen scheint, so lehnt er diesen dennoch ab, sofern er eben Objektivismus ist. Im Abschnitt über die Wirklichkeit der Wesenslogik macht Hegel deutlich, dass Spinoza in der äußerlichen Reflexion und damit in einem Verstandesdenken verhaftet bleibe, das sich auf objektiv Gegebenes beziehe. Das Erkennen sei bei Spinoza »die äußerliche Reflexion, welche das, was als Endliches erscheint […] nicht aus der Substanz begreift und ableitet, sondern als ein äußerlicher Verstand tätig ist, die Bestimmungen als gegebene aufnimmt und sie auf das Absolute zurückführt, nicht aber von diesem ihre Anfänge hernimmt«.19 Zum anderen werde »das Eine Absolute nur von der äußerlichen Reflexion, einem Modus, unter jenen beiden Bestimmungen [des Seins und des Denkens, A.A.], das eine Mal als eine Totalität von Vorstellungen, das andere Mal als eine Totalität von Dingen und deren Veränderungen betrachtet«.20 Sowohl in der Erkenntnis des Endlichen als auch in der Erkenntnis des Absoluten selbst bleibt für Hegel das Absolute ein Ansich, auf das hin die endlichen Dinge und die Modi zurückbezogen, aber aus dem sie nicht hergeleitet werden. Wiewohl alles in der einen Substanz oder dem Absoluten gedacht wird, wird es doch immer nur in diese hinein, aber nicht aus ihr heraus gedacht. In der hegelschen Theoriesprache ausgedrückt: sie bleibt für uns ein Ansich, in das wir zwar alles hineinlegen können, das aber doch so etwas wie ein verschlossener Gott bleibt, aus dem wir nichts herausholen können.21 Die Aufgabe besteht demnach darin, die Substanz oder das Absolute als ein Anundfürsichsein zu denken, also – um noch einmal an die Vorrede zur Phänomenologie zu erinnern – sie ebensosehr als Substanz (Ansichsein) wie als Subjekt (Fürsichsein) zu denken.22 Wenn die Enthüllung der Substanz, wie wir annehmen dürfen, nichts anderes ist als das Aufschließen des Absoluten, dann handelt es sich freilich nicht um einen Vorgang, bei dem – wie es etwa Karl Marx gegenüber der hegel-

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Vgl. Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002, 72. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), GW 11, 376. 20 Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), GW 11, 377. 21 Vgl. Hegels Notiz zum § 465 der Enzyklopädie (1817) in Hegel: GW 13, 517: »Alles heraus aus dem Verschlossenen Gotte«. 22 So Johannes Heinrichs: Die Logik der ›Phänomenologie des Geistes‹. Bonn 1974, 50. – Vgl. zur Diskussion insgesamt Wilhelm Lütterfels: »Hegels Identitätsthese von der Substanz als Subjekt und die dialektische Selbstauflösung begrifflicher Bestimmungen«, in: Synthesis Philosophica 22 (2007), 59–85. 19

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schen Dialektik beanspruchte – ein Kern aus der Hülle geborgen wird.23 Dies hieße, das Absolute wiederum durch eine äußere Reflexion zu verobjektivieren als etwas, das in der Substanz verschlossen liegt. Das Enthüllen bedeutet vielmehr die Preisgabe einer solchen Vorstellung, welche die Natur des Absoluten verbirgt. Gefordert ist nicht ein Wechsel der Perspektive, denn dann bliebe das Absolute Gegenstand einer äußeren Reflexion, sondern ein Umdenken, bei dem das Unterscheiden an der Substanz und das Zurückführen der Unterschiede in deren Identität als Bewegung der Substanz selbst gedeutet werden kann. Mit anderen Worten: es geht um die Aufhebung der äußerlichen in die immanente Reflexion des Absoluten selbst. Die Substanz enthüllt sich als Bewegung, deren Moment unsere Reflexion selbst ist. Hegel entwickelt diesen Gedanken in einer Art Kurzkommentar zu der Anmerkung zu Lehrsatz VII des Zweiten Teils der Ethik. Bei Spinoza heißt es, »daß, was auch immer von einem unendlichen Verstand als eine Essenz der Substanz ausmachend wahrgenommen werden kann, nur zu einer einzigen Substanz gehört, […] die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird« (2p7s, E 111). Dies ist für Hegel, wie bereits zitiert, eine äußere Reflexion, welche das Absolute unter dieser oder jener Hinsicht betrachtet. Es sei demnach die äußere Reflexion, »welche jenen Unterschied macht«, und sie sei es auch, »die ihn in die absolute Identität zurückführt und versenkt«.24 Entscheidend sei, dass diese »ganze Bewegung […] außer dem Absoluten« vorgehe: »Zwar ist dieses selbst auch das Denken, und sofern [ist] diese Bewegung nur im Absoluten; aber wie bemerkt, ist sie im Absoluten nur als Einheit mit der Ausdehnung, somit nicht als diese Bewegung, welche wesentlich auch das Moment der Entgegensetzung ist.« Zusammengefasst: Das Absolute Spinozas sei »nur die unbewegte Identität«, und der Unterschied, der durch Attribut und Modus ins Spiel komme, werde »nur als verschwindend, nicht als werdend« aufgefasst, »so daß hiermit auch jenes Verschwinden seinen positiven Anfang nur von außen nimmt«. An diesen Ausführungen Hegels ist zweierlei besonders hervorzuheben. Zum einen ist das Absolute als etwas zu denken, das Unterschied und Identität vereinigt; die bekannte, zuerst in der Differenzschrift gebrauchte Programmformel der »Identität der Identität und der Nichtidentität« steht hier im Hintergrund.25 Zum zweiten pointiert Hegel die Bewegung gegenüber der unbeweg23 »Bei Hegel steht die Dialektik auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationalen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« (Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Berlin 1968 (= Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd.23), 27) 24 Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), GW 11, 377; auch die folgenden Zitate. 25 »Das Absolute selbst aber ist […] die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einsseyn ist zugleich in ihm.« (Hegel: Jenaer kritische Schriften, GW 4, 64)

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ten Identität, und zwar näher die Bewegung als Werden, weil nur von dorther die Einheit der Unterschiede in der Substanz – ihr Verschwinden – sich als Selbstbewegung der Substanz bzw. des Absoluten verstehen lasse. Beides zusammen genommen bedeutet, dass die Identität, in welcher Identität und Entgegensetzung gleichermaßen vereinigt sind, nicht als etwas Fixes, den Momenten bzw. Relaten Voraus- oder Zugrundeliegendes sein kann, wie zum Beispiel ein absolutes Sein oder die (intellektuelle) Anschauung einer relationslosen Identität. Die Identität ist vielmehr nur in der Bewegung als Werden, und diese Bewegung ist die Einheit, aus der und in der die Entgegengesetzten verstanden werden müssen. Dieter Henrich hat diesen Sachverhalt im Blick auf Hegels Differenz zu Hölderlin so formuliert, »daß die Relata in der Entgegensetzung zwar aus einem Ganzen verstanden werden müssen, daß dieses Ganze ihnen aber nicht vorausgeht als Sein oder als intellektuelle Anschauung, – sondern daß es nur der entwickelte Begriff der Relation selber ist«.26 Die Verdinglichung der Substanz, welche sie durch die äußerliche Reflexion erleidet, wird dadurch überwunden, dass sie verflüssigt wird. Hierfür steht – worauf Henrich sich ja bezieht – seit der späten Frankfurter Zeit das Konzept des Lebens. Leben bezeichnet diejenige Bewegung, in der ein Prozess zu sich selber kommt, wie es dann geschieht, wenn die Substanz sich als Subjekt zu erfassen beginnt. In der Phänomenologie des Geistes ist daher das Selbstbewusstsein mit dem Leben konnotiert, und dieses ist »das Anderssein, als ein Sein, oder als unterscheidendes Moment«, aber zugleich auch »die Einheit seiner selbst mit diesem Unterschiede«.27 Die Bewegung, um die es hier also geht – das Werden als Werden zu sich oder als Leben –, ist derjenige Prozess, in dem der (dialektische) Widerspruch eine Verlaufsform findet. Spinozas Begriff der Substanz enthält aus Hegels Sicht einen solchen Widerspruch, der im Subjektwerden der Substanz zu entwickeln ist. Dies deutet sich bereits in der Differenzschrift an, wenn es heißt, in »Spinoza’s Begriff der Substanz, die als Ursache und Bewirktes, als Begriff und Seyn zugleich, erklärt wird«, seien »die Entgegengesetzten in einen Widerspruch vereinigt«.28 Mangelhaft daran ist nach Hegels damaliger Auffassung vor allem, dass Spinoza mit einer Definition beginne, das heißt dass er in der Weise der äußeren Reflexion einen Grundsatz an die Spitze stelle; »wenn aber« – so fügt Hegel hinzu – »die Vernunft von der Subjektivität des Reflektirens sich gereinigt hat, so kann auch jene Einfalt

26 Dieter Henrich: »Hegel und Hölderlin«, in: ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt/M 1971, 9–40, 36. 27 Hegel: Phänomenologie, 121; GW 9, 104. – Vgl. Andreas Arndt: »Leben«, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Herausgegeben von Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke. Hamburg 2009, 95–101. 28 Hegel: Jenaer kritische Schriften, GW 4, 24.

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Spinoza’s, welche die Philosophie mit der Philosophie selbst anfängt, und die Vernunft gleich unmittelbar mit einer Antinomie auftreten läßt, gehörig geschätzt werden«.29 Die Wissenschaft der Logik kann als die begriffliche Realisierung dieses Programms angesehen werden, das Spinoza noch »naiv« verfolgt hatte. Während die Phänomenologie des Geistes das Subjektwerden der Substanz im erscheinenden Wissen nachzeichnet, welches sich die Resultate der Arbeit der Weltgeschichte aneignet, beginnt die Logik auf dem Standpunkt des Sich-Denkens des reinen Denkens und damit desjenigen Wissens, welches Resultat der Phänomenologie ist. Hier fängt die Philosophie mit ihr selbst an, indem sie sich selbst als Werden bestimmt. Wie immer man den Anfang der Logik auch von Vorgriffen auf Reflexionskategorien freihalten mag und muss, in der anfänglichen Trias von Sein, Nichts und Werden ist an sich der (dialektische) Widerspruch und seine Lösung in der Selbstbewegung des Absoluten bereits vorhanden. Mit dieser Trias wird bereits im Anfang die Verdinglichung eines substantiellen Seins überwunden und der Weg des Werdens des Absoluten zu sich betreten. Die Enthüllung der Substanz beginnt bereits dort, und sie ist nichts anderes als das Werden oder die Entwicklung der reinen Gedankenbestimmungen bis hin zur Selbsterfassung des Begriffs.

III. Hegels Enthüllungsgeschichte ist damit aber noch nicht zu Ende. Blicken wir noch einmal zurück: Die Phänomenologie des Geistes erzählt die Geschichte der Aneignung der Substanz, wodurch sie zum Schluss – ich zitiere nochmals – »ebenso unmittelbar Eigentum des Ichs, selbstisch oder der Begriff ist«.30 Die Wissenschaft der Logik entwickelt dieses Eigentum im Sich-Denken des Denkens als reine Gedankenbestimmungen bis hin zum Begriff. In diese Geschichte fällt die wesenslogische Enthüllung der Substanz. Aber auch der Begriff muss sich noch einmal in seinem Werden zu sich als Begriff erfassen, und dies geschieht, indem die Form seiner logischen Selbstbewegung als Methode reflektiert wird. Die Methode ist für Hegel »als der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl Subjektive als Objektive, zum Gegenstand habende Begriff, somit als das reine Entsprechen des Begriffs und seiner Realität, als eine Existenz, die er selbst ist, hervorgegangen«.31 Sie sei »sowohl die Art und 29

Hegel: Jenaer kritische Schriften, GW 4, 24. Hegel: Phänomenologie, 29; GW 9, 30. 31 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 238. 30

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Weise des Erkennens, des subjektiv sich wissenden Begriffs, als die objektive Art und Weise oder vielmehr die Substantialität der Dinge«.32 Anders gesagt: Die absolute Methode ist ebensosehr Substantialität wie Subjektivität. Sie ist Subjektivität als das begriffliche Wissen um das Werden des Begriffs als solchen im reinen Denken. Und sie ist Substantialität, weil dem so begriffenen Begriff allein objektive Realität zukommt, das heißt die »Dinge« nicht nur dem Begriff entsprechen, sondern selbst begrifflicher Natur sind und sich in eine prozessierende Relationalität auflösen.33 Nicht anders als in der Phänomenologie des Geistes, wo das besondere Individuum das allgemeine Eigentum des Geistes in Besitz nimmt und ihm dadurch erst zum Bewusstsein seiner selbst verhilft, fällt die begriffliche Reflexion des Begriffs, wie Hegel ausdrücklich betont, »in unser Wissen«.34 Der Begriff begreift sich nur in unserem, dem endlichen menschlichen Denken, und es gibt für Hegel keine Hypostase eines höheren Bewusstseins oder bewussten Subjekts jenseits der endlichen menschlichen Subjekte. Es ist die Tätigkeit der besonderen Individuen als Momenten der allgemeinen Individualität, worin der Geist zum Bewusstsein seiner selbst kommt. In unserem Wissen bezieht sich der Begriff auf sich selbst; er ist für dieses Wissen »nicht nur als Gegenstand, sondern als dessen eigenes, subjektives Tun […], als das Instrument und Mittel der erkennenden Tätigkeit, von ihr unterschieden, aber als deren eigene Wesenheit«.35 Das heißt: Der Begriff ist zwar von unserer erkennenden Tätigkeit unterschieden, diese aber ist selbst begrifflicher Natur. Anders gesagt: Der Begriff denkt nicht den Begriff, aber wir denken den Begriff mit begrifflichen Mitteln und dadurch bezieht er sich rein auf sich selbst. Für Spinoza gilt dies nur für den Begriff der Substanz selbst; diese ist – nach der dritten Definition des Ersten Teils der Ethik – »was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, d. h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müßte« (1d3, E 5). Alles andere ist, Spinozas Definition des Modus gemäß, dasjenige, »was in einem andern ist, durch das es auch begriffen wird« (1d5, E 5). Wenn wir daher, nach Lehrsatz 24 des Fünften Teils, Gott um so mehr erkennen, je mehr wir die einzelnen Dinge erkennen (5p24, E 569), so erkennen wir Gott nicht aus den einzelnen Dingen oder in ihnen. Diese Erkenntnis ist weder erfah-

32 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 238. 33 Vgl. Christian Iber: Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik. Berlin und New York 1990. 34 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 238. 35 Ebd.

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rungsmäßig noch aus Allgemeinbegriffen gewonnen, wie in den ersten beiden Erkenntnisarten, sondern gehört der dritten Erkenntnisart, dem intuitiven Wissen, an, welches »von der adäquaten Idee gewisser Attribute Gottes weiter zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen« schreitet (5p25d, E 569). Anknüpfend an die Interpretation Konrad Cramers, die er auf dem Schleiermacher-Kongress 1999 vorgetragen hat, ist dies so zu verstehen, dass Gott als Ursache der Einzeldinge in ihrer Singularität angesehen wird.36 In dieser Art der Erkenntnis werden wir, wie Spinoza sich ausdrückt, von zweierlei Ideen »begleitet«, nämlich der Idee der Seele selbst und der Idee Gottes als der Ursache (5p32d, E 577). Hieraus entspringt der amor Dei intellectualis, der nun aber nicht bedeutet, dass im menschliche Geist Gott selbst sich vollständig durchsichtig wird, wie es bei Hegel der Fall ist. Zwar ist, nach dem 36. Lehrsatz des Fünften Teils, der amor Dei intellectualis als Liebe des Geistes zu Gott »genau die Liebe Gottes, mit der Gott sich selbst liebt«, aber nur mit einer wesentlichen Einschränkung, nämlich »nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er durch die unter einem Aspekt von Ewigkeit betrachtete Essenz des menschlichen Geistes ausgedrückt werden kann« (5p36, E 579 f.). Dass die intellektuelle Liebe zu Gott zugleich Selbstliebe Gottes ist, ergibt sich daraus, dass der menschliche Geist auch seine Ursache in Gott hat und in Gott ist, aber daraus folgt eben nicht, dass die Selbstbeziehung Gottes vollständig in den menschlichen Geist fallen könnte, wie Hegel es annimmt. In seinem Leibniz-Buch (1837) hat Ludwig Feuerbach, damals noch erst in den Anfängen seiner Hegel-Kritik, Spinoza als den »Erlöser der Vernunft der neuern Zeit« gefeiert, weil er eine »in der christlichen Zeit vergessne Kategorie: die Beziehung des Gegenstandes auf sich selbst« wieder zur Anschauung gebracht habe.37 Der Charakter seiner Philosophie sei daher der »der reinsten und erhabensten Objektivität«.38 Aus Spinozas Sicht gilt dies nur für den menschlichen Geist, sofern er in der intellektuellen Liebe zu Gott zwar in Gott ist und an dessen Selbstliebe teilhat, mit ihr aber nicht schlechthin identisch ist, so dass ein Moment der Äußerlichkeit bzw. Objektivität bleibt. Hegel zielt 36 Vgl. Konrad Cramer: »›Anschauung des Universums‹. Schleiermacher und Spinoza«, in: Ulrich Barth; Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre ›Reden über die Religion‹. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999. Berlin und New York 2000, 118–141, hier bes. 138. 37 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer, Bd. 3: Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosphie. Berlin 1984, 179. – Hierauf macht Oittinen: Spinozistische Dialektik, 201, aufmerksam. 38 Feuerbach: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosphie, 307.

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genau auf diesen Punkt, wenn er Spinozas Substanz als verschlossenes Ansich einer äußerlichen Reflexion kritisiert. Im Gegenzug ist freilich zu fragen, ob es Hegel tatsächlich gelingt, die Äußerlichkeit so zu beseitigen, wie es sein Kritikprogramm erforderte. Ich möchte hierzu noch einen kurzen Blick auf die absolute Idee werden. Sie hat Hegel zufolge ihr Dasein nur in der Natur und dem Geist; in der Natur als »vollkommene äußerliche Objektivität«, im Geist als subjektive Existenz der Idee; der Geist ist »nur als Zurückkommen aus der Natur«,39 das heißt er ist »Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist«.40 Diese reale Vermittlung von Natur und Geist ist unhintergehbar. Die absolute Form – die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell, wie es in der Logik heißt.41 Sie beruht auf der Möglichkeit des Geistes, »von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst [zu] abstrahieren«.42 Was Hegel im Paragraphen 382 der Enzyklopädie sagt, korrespondiert in der Begriffslogik mit der Aussage in dem Kapitel über die absolute Idee, diese sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjektivität eingeschlossen«.43 Die Idee als absolute Methode ist daher die allgemeine Form des theoretischen und praktischen Verhaltens im Verhältnis von Natur und Geist. Hegel ist dabei der Überzeugung, dass in den realen Verhältnissen, wie sie in der Philosophie der Natur und des Geistes thematisiert werden, die idealen Formbestimmtheiten des Erkennens und Handelns sich wiederfinden lassen. Die absolute Idee als absolute Methode ist »die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen«.44 Ob dies aufgeht, kann aus vielerlei Gründen bezweifelt werden, die sich nicht nur auf die Schwierigkeiten der Entäußerung der Idee in die Natur beziehen, in welcher sich bewähren müsste, dass nicht nur alles in das Absolute hinein zu denken, sondern auch aus ihm heraus zu denken ist. Hegel selbst hat die angestrebte Bewährung des

39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie (1830). Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Berlin 1966, § 381, 313. 40 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 384, 314. 41 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 25. 42 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 382, 314. 43 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 253. 44 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 238.

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Logischen im Realen postuliert, aber nicht wirklich geleistet; dafür bleibt die Durchführung des Systems im Ganzen zu sehr bloß Grundriss und Projekt. Im Sinne Hegels entschieden ist die causa Spinoza damit noch nicht.

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Was heißt ›Anschauung des Universums‹? Beobachtungen zum Verhältnis von Schleiermacher und Spinoza

Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt und sah zu, wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.1 Direkt im Anschluss an diese Eloge gibt Schleiermacher das Motto seiner Religionstheorie kund: »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion«.2 Statt ›Universum‹ kann auch ›Eins und Alles‹, ›Weltgeist‹, ›das Unendliche‹ oder seltener ›Gott‹ gesagt werden. Was also liegt näher, als Schleiermachers Zentralbestimmung des religiösen Aktes, Anschauen des Universums, mit seiner Spinoza-Verehrung in Verbindung zu bringen? Spinozismus war seit Lessings spätem Bekenntnis und der von Jacobi und Mendelssohn darüber entfachten Kontroverse eines der großen Gesprächsthemen der intellektuellen Elite der 80er und 90er Jahre.3 Über diesen Vermittlungsweg erhielt auch Schleiermacher Kunde von dem großen niederländischen Philosophen, den wir im Allgemeinen dem rationalistischen Flügel der Aufklärung zurechnen, der im ausgehenden 18. Jahrhundert jedoch eher als religiöser Denker faszinierte, weil er eine ganz neue Art der Apperzeption

1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Werke werden im Regelfall nach folgender Ausgabe wiedergegeben: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans Joachim Birkner u. a. Berlin/New York 1980 ff. Im Folgenden zitiert als KGA mit Bandangabe. Hier: Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: ders.: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Hg. von Günter Meckenstock, KGA I/2. Berlin/New York 1984, 185–326. Die Zitate werden nach der am Rande abgedruckten Originalpaginierung belegt, hier: 54 f. 2 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 55. 3 Vgl. Ulrich Barth: »Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen«, in: Klaus M. Kodalle; Martin Ohst (Hg.): Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Würzburg 1999, 101–123.

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des Göttlichen eröffnete. In solcher Perspektive hat ihn auch Schleiermacher wahrgenommen und ihm bereits fünf Jahre vor Erscheinen der Reden drei Studien gewidmet, sie allerdings nicht in den Druck gegeben. Doch davon gleich mehr. Neuprotestantismus und liberale Theologie taten sich schwer damit, dass ihr zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts verklärtes Vorbild in seiner Jugend überzeugter Spinozist gewesen sein soll. Darum drängte man diese Facette seines Werks lieber in den Hintergrund,4 eine Strategie, die sich bis in neuere Darstellungen der Theologiegeschichte hinein verfolgen lässt. Doch die 1984 erstmals erschienene vollständige Edition der Jugendmanuskripte Schleiermachers5 lässt an der tiefen Wirkung Spinozas auf den jungen Hauslehrer und preußischen Pfarrkandidaten keinerlei Zweifel. Der eigenartige Verlauf der Rezeptionsgeschichte wird allerdings begreiflich, wenn man die damalige Quellenlage bezüglich beider Textkomplexe berücksichtigt. 1799 erstmals publiziert, wurden die Reden 1806 in stark überarbeiteter Fassung neu aufgelegt; 1821 erschien eine nochmals revidierte und mit Anmerkungen versehene Version; auf ihr basiert die vierte Auflage von 1831 – die letzte der von Schleiermacher selbst besorgten.6 Sie war es, die postum Eingang in die Sämmtlichen Werke fand.7 Schon kurze Zeit nach der Wende zum 19. Jahrhundert waren die Reden also nicht mehr in ihrer Originalgestalt zugänglich. Das blieb auch weithin so,8 bis Rudolf Otto sie 1899 zum 100jährigen Jubiläum wieder veröffentlichte.9 Besagter Auflagenwechsel ist darum so bedeutsam, weil Schleiermacher zwar nicht die einstige Huldigung an Spinoza tilgte, wohl aber wichtige Elemente seiner Religionstheorie, für die jener Name ursprünglich stand. Hinzu kommt, dass die 1870 von Wilhelm Dilthey im Anhang seiner Schleiermacher-Biographie mitgeteilten Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers dessen Spinoza-Manuskripte nur teilweise wiedergaben,10 weil sie von untergeordneter Bedeutung zu sein schie4 Eine rühmliche Ausnahme bildet Theodor Camerer: Spinoza und Schleiermacher. Die kritische Lösung des von Spinoza hinterlassenen Problems. Stuttgart/Berlin 1903. 5 Vgl. Schleiermacher: Jugendschriften 1787-1796. Hg. von Günter Meckenstock, KGA I/1. Berlin/New York, 1983. 6 Vgl. Günter Meckenstock: »Historische Einführung«, KGA 1/12, VIII–LXIII. 7 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Sämtliche Werke. Abt. 1: Zur Theologie, Bd. 1. Berlin 1843, 133–460. 8 Eine Ausnahme bildet Georg Christian Bernhard Pünjer (Hg.): Friedrich Schleiermacher’s Reden über die Religion. Kritische Ausgabe. Braunschweig 1879. 9 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben und mit Übersichten und Vor- und Nachwort versehen von Rudolf Otto. Göttingen 1899. 10 Vgl. Günter Meckenstock: »Historische Einführung«, KGA 1/1, LXXX–LXXXIII.

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nen. So war auch von dieser Seite der Faden gerissen, der den Interpreten der Ursprungsgestalt der Reden die Frage nach deren Spinozismus als dringlich nahegelegt hätte. Es dauerte nahezu 200 Jahre, bis die Forschung auf der Basis der kritisch edierten Quellen besagte Aufgabe in Angriff nehmen konnte, und zwar mit fortschreitendem Erfolg.11 Für die Einschätzung des Gewichts jener Frage hängt alles an der Zuordnung der beiden Hauptkomplexe: der Spinoza-Manuskripte und der Erstausgabe der Reden. Darüber hinaus sind freilich auch die späteren Auflagen und deren werkgeschichtlicher Ort von Belang, weil sie die oben angedeutete Absatzbewegung dokumentieren und dadurch indirekt das Profil des Zurückgelassenen schärfen helfen. Drei Aspekte sind hier zu nennen. Erstens, während die Originalausgabe den anthropologischen bzw. geistphilosophischen Ort der Religion zunächst der Anschauung zugewiesen hatte und darauf gegründet dann auch dem Gefühl, verschob die Zweitauflage von 1806 ihn ausdrücklich in Richtung des Letzteren. Der Impuls dazu ging von Schellings Kritik am vorgetragenen Anschauungsbegriff aus. Schleiermacher macht sie sich insofern zu Eigen, als er Letzteren nun für den Bereich des Wissens reserviert. Die ihm ursprünglich zugewiesene Empfänglichkeit für das Universum geht an die Empfindungssphäre über, die ihrerseits nahe an das Gefühl heranrückt. Die Differenz beider Rezeptivitätsformen schlägt sich in der unterschiedlichen Bestimmtheit ihres Korrelats nieder. Das unmittelbare Einswerden mit dem Unendlichen im Gefühl bildet den stets gegenwärtigen Grund weltbezogener frommer Empfindungen. Letztere werden nun so gefasst, dass sie alles Erkennen und Handeln umgreifen. Damit verringert sich der 1799 scharf akzentuierte Abstand der Religion von Metaphysik und Ethik. Schleiermacher ist offenkundig bestrebt, das Ganze in eine Theorie des Geistes einzubauen, die den methodischen Kriterien des Systemgedankens genügt, der für ihn ab 1803 zunehmend an Bedeutung gewann.12 11 Vgl. Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794. Berlin/New York 1988; Julia A. Lamm: Schleiermachers Post-Kantian Spinozism. The Early Essays on Spinoza. Pennsylvania 1996; Andreas Arndt: »Schleiermachers Spinoza«, in: Henryk Pisarek; Manfred Walther (Hg.): Kontexte – Spinoza und die Geschichte der Philosophie. Wroclaw 2001, 203–220; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Reli.gionstheorie. Berlin/New York 2006. Zu letztgenannter Monographie vgl. Andreas Kubik: »Rezension zu Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva«, in: Theologische Literaturzeitung 133 (2008), Sp. 673–676. 12 Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 4, Nachdruck der 3. Auflage. Münster 1984, 538–542, 559–562; Friedrich Wilhelm Graf: »Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religions-

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Zweitens, nicht als Theologieprofessor, wohl aber als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften war Schleiermacher in Berlin befugt, philosophische Collegia zu halten. So las er auch regelmäßig über Dialektik,13 die erkenntnistheoretisch-metaphysische Grundlagendisziplin seines Denkens. In diesem Zusammenhang wurde ihm über die tastenden Andeutungen von 1806 hinaus klar, dass die einst unter dem Terminus ›Universum‹ vorgenommene Identifikation von Gottesgedanke und Weltbegriff philosophisch nicht zu halten ist. Denn beide verkörpern völlig verschiedene Formen von Einheit. Kurz und prägnant formuliert: »Gott = Einheit mit Ausschluß aller Gegensäze; Welt = Einheit mit Einschluß aller Gegensäze«.14 Nach Maßgabe der Prinzipienfunktion beider differenzieren sich auch die ihnen zugeordneten Bewusstseinsformen: Der Gottesgedanke steht für die Einheitsbasis sämtlicher Tätigkeiten des Geistes, die ihrerseits in der vorprädikativen Einheit des Gefühls zu mentaler Darstellung gelangt. Die im Weltbegriff enthaltene Totalitätsidee hingegen bildet das regulative Prinzip der auf systematische Vollständigkeit zielenden Wissenskonstruktion. Das Wissen selbst aber gelangt in der Anschauung, nun verstanden als Balance von begrifflich-intellektueller und sinnlich-rezeptiver Erkenntnisfunktion, zu seiner operationalen Vollendungsgestalt.15 Drittens, zur selben Zeit, als die dritte Auflage der Reden anstand (Sommer 1821), saß Schleiermacher bereits über zwei Jahre an der Ausarbeitung und Niederschrift seines Dogmatiklehrbuchs. Hier wird Religion erstmals als Sichschlechthin-abhängig-fühlen bzw. als absolutes oder reines Abhängigkeitsgefühl definiert.16 Diese Begriffsfassung hat jene der Urgestalt der Reden alsbald in den Hintergrund treten lassen und wurde geradewegs zum Markenzeichen seiner Religionstheorie insgesamt. Für die Einschätzung jener Formel ist aber wichtig zu sehen, dass Schleiermacher dazu nicht durch religionstheoretische begriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermachers ›Reden über die Religion‹«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75 (1978), 147–186. 13 Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik. Hg von Andreas Arndt, KGA II/10.1–2. Berlin und New York 2002. Schleiermacher hielt die Vorlesungen über Dialektik 1811, 1814/15, 1818/19, 1822, 1828, 1831, 1832/33. 14 Schleiermacher: Dialektik 1822, KGA II/10.1, 269. 15 Vgl. Ulrich Barth: »Der Letztbegründungsgang der ›Dialektik‹. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens«, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, 353–385; Wilhelm Gräb: »Religion als Praxis der Lebensdeutung. Zu Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, Religion und Theologie«, in: Roderich Barth; Claus-Dieter Osthövener; Arnulf von Scheliha (Hg.): Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Frankfurt a.M. 2005, 147–161. 16 Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Berlin/New York 1996, 12–19; Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion. Berlin/New York 2004, 542– 583.

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Überlegungen gedrängt wurde – auch wenn er sie hernach in solchen Bezügen eigenständig zu entfalten wusste –, sondern durch Letztbegründungsfragen der Philosophie. Auch hierüber gibt die Dialektik Auskunft, insbesondere wenn man deren Genese, die Entwürfe von 1811 und 1814, betrachtet. Zwei Probleme sind es, die Schleiermachers Denken vorantreiben. Das eine ist metaphysischer Art und betrifft das Gott/Welt-Verhältnis. Schleiermacher weiß sich noch immer der spinozanischen Einsicht verpflichtet, dass es kein Sein Gottes an sich oder außerhalb der Welt geben kann, sondern nur ein Sein Gottes in uns oder in den Dingen. Doch dieses In-sein muss zugleich als striktes Abhängigkeitsverhältnis gedacht werden. Seine These lautet: »abhängig« sein besagt soviel wie »eines transzendenten Grundes […] bedürftig« sein.17 Zu dieser Präzisierung des philosophischen Begriffs des Absoluten und seiner Begründungsfunktion sah er sich durch erkenntnistheoretische Überlegungen genötigt. Damit ist der andere Problemkreis berührt. Hier wird der Gottesgedanke eingeführt als Übereinstimmungsgarant der in allem realen Wissen beanspruchten Einheit von Denken und Sein. Letztere bildet nur dann keine leere Prätention, wenn sie sich »ableiten« lässt »aus der ursprünglichen Identität beider im Absoluten«, so dass sie sich als »abhängig von Einem höheren« erweist,18 das jenseits aller Gegensätze steht. Diese differenzlose Einheit ist aber nirgends anders gegeben als in der Einheit des Gefühls. Das Leben im Absoluten verdankt sich somit der Beziehung des Gefühls auf den in ihm repräsentierten »transzendentalen Grund«.19 Von diesen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Einsichten her war Schleiermacher gleichsam gezwungen, dem Religionsbegriff auch innerhalb der Theologie eine neue Fassung zuteil werden zu lassen. Die oben genannte Formel der Glaubenslehre von 1821/22 ist der erste Niederschlag dieser Neubestimmung, auf die ab 1822 dann auch alle Dialektik-Vorlesungen rekurrieren. Für die Drittauflage der Reden bedeutete dies, dass Schleiermacher alle Hände voll zu tun hatte, die Religionsauffassung des 1806 schon einmal überarbeiteten Jugendwerks mit der jetzt gewonnenen halbwegs kompatibel zu machen, ohne das Buch umgekehrt gänzlich umzuschreiben. Darum gibt er allen fünf Teilen »Anmerkungen« bei, die die stehen gebliebenen Abweichungen zurechtrücken sollen, wobei die gröbsten Anstößigkeiten als rhetorischer Überschwang abgetan werden – was deswegen merkwürdig anmutet, weil sich darunter auch Spitzensätze von einst befinden. Man kommt nicht umhin zu konstatieren, dass der frühe und der späte Schlei-

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Schleiermacher: Dialektik 1814, KGA II/10.1, 144 f. Schleiermacher: Dialektik 1811, KGA II/10.1, 44. 19 Schleiermacher: Dialektik 1814, KGA II/10.1, 142. Zum Begriff des transzendentalen Grundes vergleiche meine in Anm. 14 erwähnte Studie zu Schleiermachers Dialektik. 18

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ermacher unterschiedliche Religionstheorien vertreten haben, die sich zwar an einigen Stellen berühren, in der Grundanlage aber einander ausschließen. Alle drei, über einen Zeitraum von 15 Jahren erfolgten Selbstkorrekturen sind im Auge zu behalten, wenn man ermessen will, wie weit sich Schleiermacher von den spinozanischen Wurzeln der Erstgestalt seiner Religionstheorie entfernt hat. An einem Punkt ist er dem großen Vorbild – wie bereits erwähnt – treu geblieben, auch nachdem er den einstigen Begriff des Universums verabschiedet hatte, nämlich in der damit intendierten Verschränkung von Gottesgedanken und Weltidee. Sie besagt: Abhängigkeit von Gott und Zugehörigkeit zur Welt sind extensional äquivalente Begriffe, auch wenn sie intensional differieren. Es gibt kein Gegründetsein in Gott, ohne zugleich Teil der Welt zu sein und umgekehrt. Dieses zentrale Axiom bestimmt nicht nur – wie angedeutet – die metaphysischen Aussagen zum Gott/Welt-Verhältnis in der Dialektik, sondern auch die korrespondierenden dogmatischen Ausführungen der Glaubenslehre und hat hier zu einer erheblichen Modifikation der kirchlichen Schöpfungslehre geführt.

I. Die Spinoza-Manuskripte Der spinozanische Zuschnitt des frühen Religionsbegriffs ist damit freilich noch nicht erklärt. Er wird auch aus den Reden von 1799 allein nicht hinreichend deutlich – wie deren Rezeptionsgeschichte zeigt. Er tritt vielmehr erst dann hervor, wenn jene im Licht der 5 Jahre zuvor entstandenen SpinozaManuskripte gelesen werden. Sie sollen darum im Folgenden als Ausgangspunkt dienen. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die eingangs zitierte ›Angel der ganzen Rede‹ von 1799 gedanklich nachzuvollziehen. Abschließend gilt es, deren Relevanz für die religionsphilosophische Diskussion der Gegenwart zusammenzufassen. Jene Formel scheint mir kaum minder bedeutsam zu sein als die weit bekanntere Definition des Spätwerks. Schleiermachers erste Bekanntschaft mit Spinoza ergab sich zu Beginn seines Studiums in Halle, im Sommer 1787, als ihm Jacobis Spinoza-Briefe von 1785 unter die Finger kamen. Das Buch käuflich zu erwerben war er nicht imstande. Dem Vater teilte er brieflich mit, dass er Jacobis Ausführungen als ungenau und verwirrend empfunden habe.20 Darum legt er die ganze Sache wieder beiseite. Die nächste Begegnung erfolgte sechs Jahre später, im Winter 1793/94, während der Ausbildung am Gedike’schen Lehrerseminar zu Ber20 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher am 14.8.1787 an Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher, KGA V/1, 92. Vgl. auch Johann Gottlieb Adolph Schleiermacher am 17.5.1787 an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, KGA V/1, 79.

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lin.21 Von seinem Freund Carl Gustav von Brinckmann hatte er sich die 1789 erschienene zweite, erweiterte Auflage des Jacobi-Buchs geliehen. Die Arbeit daran erstreckte sich über ein halbes Jahr. Als Schleiermacher im April 1794 Brinckmann ankündigte, ihm die »Jakobischen Sachen«22 wieder zurückzugeben, benennt er als Grund, weshalb er sie so lange behielt, dass er »dabei förmlich den Spinoza studirt habe«.23 Das Resultat waren zwei längere Manuskripte über ihn. Das erste Manuskript »Spinozismus«24 umfasst zwei Teile: Zunächst schrieb Schleiermacher Jacobis 44 Paragraphen über Spinoza25 aus dessen Briefen an Mendelssohn von 1785 ab,26 sodann notierte er sich ihm charakteristisch erscheinende Stellen aus anderen Teilen des Buchs – wobei auch Erweiterungen der Zweitauflage Berücksichtigung fanden – und versah sie mit eigenen kürzeren Kommentaren.27 Das zweite Manuskript »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«28 wurde vermutlich in der Zeit zwischen der Niederschrift des ersten und des zweiten Teils des oben genannten Textes verfasst. Es handelt sich um systematische Erwägungen, die sich fast ausschließlich auf jene Jacobi’schen Paragraphen beziehen, aus denen Schleiermacher seine damaligen Spinoza-Kenntnisse bezog. Eine eigene Spinoza-Ausgabe gelangte erst wesentlich später in seinen Besitz (aber noch vor 1799, dem Erscheinungsjahr der Reden).29 Beide Manuskripte sind nicht leicht zu entschlüsseln. Die textinterpretatorische Schwierigkeit besteht darin, dass der Leser durchgängig fünf Ebenen unterscheiden und aufeinander beziehen muss: Erstens das Referat von Jacobis Spinoza-Darstellung, zweitens das Referat seiner damit verwobenen Spinoza-Kritik, drittens Schleiermachers Identifizierung der Textmissverständnisse Jacobis, viertens Schleiermachers Widerlegung von Jacobis expliziter Spinoza21 Vgl. Günter Meckenstock: »Historische Einführung«, KGA I/1, LXXV–LXXXIII; Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 2001, 62–68. 22 Gemeint sind dessen Spinoza- und Hume-Buch. 23 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Mitte April 1974 an Gustav v. Brinckmann, KGA V/1, 344. 24 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 511–558. 25 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Hg. von Klaus Hammacher, Irmgard-Maria Piske u. Marion Lauschke. Hamburg 2000, 89–110. 26 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 513–523. 27 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 525–558. 28 Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 559–582. 29 Ein drittes Manuskript aus der Zeit 1793/94 befasste sich ausschließlich mit Jacobi selbst: Schleiermacher: »Ueber dasjenige in Jakobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrift, und besonders über seine eigene Philosophie«, KGA I/1, 583–597.

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Kritik, und fünftens Schleiermachers eigene Sicht Spinozas. Bei jedem Satz muss der Leser sich darüber klar werden, auf welcher Ebene gerade diskutiert wird. Eine unzweideutige Entscheidung ist nicht in allen Fällen möglich. Das inhaltliche Fazit aus diesen Manuskripten verbleibt so gesehen in einer gewissen Vorläufigkeit. Man wird die einzelnen Äußerungen darum nicht überfrachten dürfen. Umgekehrt ist es heuristisch sinnvoll, sie auch danach zu gewichten, inwieweit sie zusammen mit späteren Quellen ein kohärentes Gesamtbild ergeben. Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass es Schleiermacher in jenen Manuskripten nicht nur um Spinozas eigene Lehre ging, sondern zugleich um deren Vergleich mit den Positionen von Leibniz und Kant. Ersterem stand er kritisch gegenüber, Letzterem hingegen mit großer Sympathie – jedenfalls was den Bereich der Erkenntnistheorie anbelangt, die er bereits während seiner Herrnhuter Ausbildungsphase in Barby mit anderen Seminaristen durchgearbeitet hatte. Das Studium bei Johann August Eberhard, dem Nachfolger Georg Friedrich Meiers, Vertreter der dritten Generation der Hallischen Schule und Antipoden Kants, scheint die Zustimmung zu dessen theoretischer Philosophie eher noch verstärkt zu haben.30 Aus jenen komparatistischen Betrachtungen ragen insbesondere die exkursartigen Überlegungen zum Personalitätsbegriff 31 und zum Individuationsprinzip32 hervor. Ich werde mich im Folgenden auf diejenigen Textpartien konzentrieren, die auf den religionsphilosophischen Standpunkt der Reden vorverweisen bzw. als solche gelesen werden können.33 Dabei sollen jene Aspekte als Leitfaden dienen, die sich aus Schleiermachers Bemühen ergeben, Spinoza und Kant, was das Verhältnis von Bedingtem und Unbedingtem anbelangt, trotz aller Differenzen der Vorgehensweise im Ergebnis einander anzunähern. Hier scheint mir – von jenen Exkursen abgesehen – die eigentlich konstruktive Dimension der beiden Manuskripte zu liegen. Bei ihrer Auswertung darf freilich nicht vergessen werden, dass wir uns nicht auf dem Boden eines zur Veröffentlichung bestimmten Textes bewegen, sondern noch in der Gedankenwerkstatt eines nachgerade Fünfundzwanzigjährigen. Beim Versuch, systematische Entsprechungen zwischen so verschiedenen Autoren ausfindig zu machen, müssen beide natürlich auch Federn lassen. Das Äquivalent zu Spinozas Begriff einer unendlichen Substanz erblickt Schleiermacher aufseiten Kants nicht in dessen vernunfttheoretischer Deduktion des 30 Vgl. Ulrich Barth: »Friedrich Schleiermacher (1768–1834)«, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Klassiker der Theologie. Bd. 2: Von Richard Simaon bis Karl Rahner, München 2005, 58–88, 59–63. 31 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 538–545. 32 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 546–554. 33 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus« und »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 511–582.

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Unbedingten, sondern, wenngleich unzureichend exponiert, in der ihr vorausliegenden Lehre vom Ding an sich. Er nimmt Kants methodischen Hinweis ganz ernst, dass es sich bei der Idee des Unbedingten nur um ein regulatives Prinzip handelt. Streng genommen führt der regressive Kettenschluss niemals auf ein letztes Sein, sondern bleibt selbst unabschließbar. Darum wird auch die Reihe des Bedingten an keiner Stelle verlassen, so dass man zu einer extramundanen Ursache gelänge. Wenn Kant gleichwohl »ein unbedingtes außer der Reihe« annehme und dies als »außerweltliches Ding« verstehe, dann widerspreche er den eigenen kritischen Restriktionen, die eine derartige Vergegenständlichung methodisch ausschließen. Schleiermacher erblickt in dieser Fassung des Gottesgedankens, soweit er innerhalb der theoretischen Philosophie34 entfaltet wird, darum einen »inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus«. Und nicht ohne Süffisanz fügt er hinzu: »Kant ist eigentlich in diesem Stück ein Spinozist«.35 Aussichtsreicher erscheint es ihm daher, von der Dingan-sich-Lehre her eine Brücke zu Spinozas unendlicher Substanz zu schlagen. Doch auch dieser Weg machte Eingriffe erforderlich. Fast zeitgleich geriet jenes Theorem bekanntlich in das Sperrfeuer der Fichte’schen Kritik. Ihr galt es als Ausdruck eines nicht zu Ende gedachten Idealismus, der seinerseits darum erst noch zu voller Konsequenz zu bringen sei. Auch Schleiermacher geht davon aus, dass es sich hier um eine ontologische Prämisse des Transzendentalismus handle, die freilich in umgekehrter Richtung zu verbessern sei. Eines haben sie freilich gemein: Für beide Kritiker besagt ›an sich‹ soviel wie ›an sich existierend‹. Der lateinische Wortlaut (sicuti sunt) schien dies zu belegen. Dass Kant gleichwohl an eine wesentliche schwächere Lesart gedacht haben könnte – im Sinne von ›als an sich seiend gedacht‹ –, kam ihnen nicht in den Sinn. Sie übersahen, dass Kant den Begriff ›Ding-ansich‹ nur aus methodischen Gründen eingeführt hatte, um den erkenntnistheoretischen Gegenbegriff ›Erscheinung‹ denken zu können,36 ohne irgendwelche ontologischen Absichten damit zu verfolgen. Letzteres trifft auch auf den Begriff ›Noumenon‹ zu, dem innerhalb der praktischen Philosophie dann allerdings erhebliche Begründungslasten aufgebürdet werden. Insofern beruht sowohl Fichtes wie Schleiermachers kritische Erinnerung an jenes Theorem auf einem produktiven Missverständnis.

34 Zu Kants Lehre vom höchsten Gut als Basis der Ethikotheologie hatte sich Schleiermacher bereits zuvor kritisch geäußert, vgl. Schleiermacher: »Über das höchste Gut«, KGA I/1, 81 ff.; »Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft«, KGA I/1, 129 ff.; »Freiheistsgespräch« KGA I/1, 135 ff. und »Über die Freiheit«, KGA I/1, 217 ff. 35 Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 570. 36 Vgl. Gerold Prauss: Erscheinung bei Kant. Ein Problem der »Kritik der reinen Vernunft«. Berlin 1971.

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Schleiermacher hielt jedenfalls die realistisch verstandene Ding-an-sich/ Erscheinungsrelation für einen möglichen Ausgangspunkt, aus Kant einen Begriff des Unbedingten herauszupräparieren, der mit dessen spinozanischer Fassung kompatibel wäre. Seine weiteren Überlegungen gelten darum dem Ziel, die impliziten Voraussetzungen jener Relation aufzuspüren und sie teils zu widerlegen, teils korrigierend fortzubilden. Das Hauptproblem erblickt Schleiermacher darin, dass Kant gemäß der Mannigfaltigkeit von Erscheinungen eine Vielzahl von Dingen an sich anzunehmen gezwungen sei, an keiner Stelle jedoch erkläre, wie aus der Kategorie An-sich-sein eine Mehrheit an sich seiender Dinge hervorgehe. Kants Theorie der Individuation von Erscheinungen kraft deren Raum-Zeit-Koordinatenbestimmtheit biete keinen Ersatz für das Fehlen eines ontologischen Individuationsprinzips. Der Gedanke ›Sein an sich‹ – so Schleiermacher – enthält an ihm selbst kein Prinzip von dessen Besonderung in mögliche Viele. Es ist per se vielmehr in sich einig verfasst. Ihm kommt – von der Vielheit des Seienden her betrachtet – eine kollektive Einheit zu, die weder mit generischer Allgemeinheit noch umgekehrt mit numerischer Identität verwechselt werden darf. Das der Sinnenwelt zugrunde liegende Ansich-sein muss darum als unteilbares Singulum gedacht werden. Demselben Einwand unterliegt auch der Pluralausdruck ›Noumena‹. Das mit ihm Gemeinte ist als Singularbegriff zu exponieren, im Sinne einer Einheit aller Noumena. Die so skizzierte Gegenposition bildet für Schleiermacher das Sprungbrett, um bezüglich des Verhältnisses von Bedingtem und Unbedingtem eine erste Entsprechung zwischen Kant und Spinoza aufzumachen: Kants »Welt der noumena ist grade auf eben die Art Ursache der Sinnenwelt, wie Spinozas unendliches Ding die Ursache der endlichen Dinge ist«.37 Anders formuliert: Kants Relation von An-sich-sein und Erscheinung wird parallelisiert mit Spinozas Differenz von Substanz und Modi. Damit können wir zu Schleiermachers Spinoza-Deutung übergehen. Die Eingriffe sind hier kaum minder gravierend. Der entscheidende Hinweis findet sich im systematischen Teil der Spinoza-Manuskripte. Schleiermacher räumt Spinoza ein, dass extensio und cogitatio Attribute des ens infinitum sind (2p1, E 103 ff.; 2p2, E 105), fügt indes die aus seiner Sicht entscheidende Frage hinzu: »woher weiß er aber, daß die absolute Ausdehnung und das absolute Denken die einzigen Attribute desselben sind? Antwort. Nur daher, weil wir von keinen andern Eigenschaften Vorstellungen haben können. Will das nicht eben so viel sagen, als: es ist alles für uns verloren, was nicht im Raum angeschaut und in der Zeit empfunden werden kann«.38 Die von Schleiermacher formulierte Frage und Antwort scheinen mir dreierlei zu besagen: 37 38

Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 570. Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 574 f.

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Erstens, die Auswahl der göttlichen Attribute Ausdehnung und Denken und die Beschränkung gerade auf diese zwei sind an der Kognitionsstruktur endlicher Wesen abgelesen, sofern uns Menschen Objekte auf keine andere Weise vorstellig werden können als in der Weise von Körpereigenschaften und Gedankenbestimmungen. In der Tat ist es auch für Spinoza »eine Differenz im Bereich der Modi, die die Differenzierung im Wesen Gottes erforderlich macht«.39 Zweitens, ist dieser Hinweis oder Kritikpunkt richtig, dann modifiziert sich für Schleiermacher auch generell der methodische Status von Ethik, Erster Teil. Letzterer kleidet sich zwar in das Gewand einer deduktiv-axiomatischen Theorie des Absoluten, doch in Wahrheit gehorcht sie einer hypothetisch-reduktiven Fragestellung. »Spinoza geht ebenfalls von dem allgemeinen Problem aus[,] das Unbedingte zu dem Bedingten zu finden«.40 Damit bewegt er sich aus der Sicht Schleiermachers auf derselben methodischen Ebene wie Kant. Der Unterschied beider betrifft allein die Richtung des Motivs. Während Kant nach dem Unbedingten im Interesse der Kritik fragt, nämlich um den Verstandesgebrauch auf den Bereich der Phänomene zu restringieren und dessen Funktionsweise vom Problem der heuristischen Einheit aller Erkenntnisse zu entlasten, geht es Spinoza hingegen um die Aufdeckung eines letzten Seinsund Wesensgrundes, um aus ihm die Verfasstheit des Endlichen zu begreifen. Drittens, Spinozas »Parallelismus mit Kant«41 wird nun auch auf den Status des Attributbegriffs ausgeweitet. Ist der unter erstens genannte erkenntnistheoretische Einwand richtig, die Beschränkung auf Ausdehnung und Denken sei am menschlichen Bewusstsein abgelesen, dann lassen sich, so Schleiermacher, Spinozas Attribute als Analogie zu Kants Anschauungsformen verstehen – wobei der innere Sinn als die allgemeine Sphäre des Setzens von Vorstellungen fungiert. Spinozas Substanz rückt einmal mehr in den Status des Kantischen Noumenon (als Einheit aller Noumena gedacht). Die behauptete Nachbarschaft von Kant und Spinoza verdankt sich einer kritisch-idealistischen Lesart der Attributenlehre.42 Alles, was uns unter den Formen des Bewusstseins erscheinen kann, lässt sich als Modifikation der göttlichen Substanz betrachten. Schleiermacher räumt allerdings ein, dass sich die von ihm vorgenommene Funktionalisierung des Absoluten und Subjektivierung der Attribute im Hinblick auf Spinoza nicht konsequent durchhalten lassen. Insofern bleiben in seiner konstruktiven Zusammenschau die Wahrheitsmomente des kantischen und des spinozanischen Systems gleichgewichtig verteilt. 39 40 41 42

Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, 38. Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 570. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 533. Vgl. Ellsiepen: Anschauung des Universums, 371.

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II. Die Reden Gehen wir nun zu den Reden über und suchen sie zunächst im Spiegel der Spinoza-Manuskripte zu beleuchten. Das maßgebliche Stichwort hatten Jacobis Briefe von 1785 geliefert. Sie stellten die These auf, hinsichtlich des Verstehens der zeitlichen Wirkungen der Substanz komme es darauf an, »das Mannigfaltige in dem Unendlichen anzuschauen«.43 Es war also Jacobi, der – eher nebenbei – den Begriff der Anschauung als Kategorie der epistemischen Zuordnung von Endlichem und Unendlichem in die Debatte warf. Schleiermacher, sich eben an Spinoza herantastend, fügt hinzu: »Mich haben nur diese Worte zuerst auf eine gewiße versinnlichende Ansicht geführt, welche das Spinozistische Verhältniß des Noumens zu den Phänomenen mit dem Kantischen fast zusammenschmilzt«.44 Zu einer ähnlichen Äußerung Jacobis wird bemerkt: »Mir ist bei dieser Stelle eine Versinnlichung des Verhältnißes des unendlichen zu den endlichen Dingen eingefallen«.45 Schleiermacher ist diesem Einfall dann aber doch nicht erlegen. Immerhin bestätigen beide Aussagen nicht nur die oben konstatierte Zusammenschau von Kant und Spinoza im Allgemeinen, sondern belegen einmal mehr, dass es der spinozanisch verstandene Kant war, der Schleiermacher dazu anregte, dessen Begriff der sinnlichen Anschauung durch eine spinozanische Tiefendimension zu ergänzen. Gemeint ist nicht Kants Begriff der intellektuellen Anschauung, der bekanntlich den Rahmen der transzendentalen Ästhetik sprengt, sondern eine an die Erscheinungsrelation geknüpfte und nur im Verbund mit ihr auftretende Anschauung höherer Ordnung. Man könnte den infrage stehenden Zusammenhang folgendermaßen präzisieren: Das in sich einige An-sich-sein der Dinge ist als solches kognitiv unzugänglich. Aber es vermag in und mit den sinnlichen Erscheinungen als deren Ursprung angeschaut zu werden. Das unendliche Noumenon in der Gestalt endlicher Phainomena anschauen – dieser aus der Synthese von Kant und Spinoza geborene Einfall scheint mir hinter der fünf Jahre später aufgestellten Formel ›Religion als Anschauung des Universums‹ zu stehen. Noch in den Spinoza-Manuskripten heißt es darum: Die Substanz unter ihren Attributen und deren Modi ›betrachten‹, besagt soviel wie, »das unendliche Ding in dem Inbegriff der endlichen Dinge anschauen«.46 Damit stehen wir vor der eingangs zitierten These der zweiten Rede von 1799.

43 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 526; vgl. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, 26. 44 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 526. 45 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 535. 46 Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 569.

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Deren Religionstheorie bestimmt das Wesen des religiösen Erlebens bekanntlich zweifach, einerseits als religiöse Anschauung, andererseits als religiöses Gefühl. Beide stehen jedoch nicht auf derselben Ebene, auch wenn Schleiermacher aus Letzterem in anderer Hinsicht ebenso weitreichende Konsequenzen zieht.47 Denn das religiöse Gefühl ist definiert als das Innesein des eigenen inneren Zustandes im Vollzug des religiösen Anschauens, baut also bereits auf diesem auf. Darum wird seine Analyse von Schleiermacher auch methodisch vorangestellt. Die Bestimmung des religiösen Anschauens wiederum setzt ihrerseits beim Begriff der sinnlichen Anschauung ein. Für Letzteren sind drei Momente konstitutiv: Sinnliche Anschauung geht auf Einzelnes,48 ist rezeptiv49 und erfolgt unmittelbar. Diese Momente unterscheiden sie von der Tätigkeit des Verstandes, der auf das Allgemeine geht, spontan operiert und nur vermittelst von Merkmalen begreift. Dieses erkenntnistheoretische Gerüst folgt im Wesentlichen Kant. Jene drei Momente verschwinden nicht, sondern werden nur gleichsam transponiert, wenn Schleiermacher nun auf die religiöse Anschauung zu sprechen kommt. Sie können schon deswegen nicht entfallen, weil Letztere niemals instantan auftritt, sondern sich immer an konkreten Wahrnehmungen entzündet. Mit besagtem Überschritt eröffnet sich aber eine ganz neue Betrachtungsweise: Religion ist das Gewahren des Unendlichen im Endlichen und umgekehrt. In dieser Hinsicht hat der Ausgang von der sinnlichen Anschauung die Funktion, den vorprädikativen Charakter religiösen Erlebens sicherzustellen und damit dessen grundsätzliche Verschiedenheit vom Letztbegründungsdenken der Metaphysik festzuschreiben. Jene Differenz innerhalb der Anschauung hat nun aber eine Entsprechung im Gegenständlichen. Gemeint ist die Differenz von Universum und Darstellung des Universums. Die religiöse Anschauung betrachtet nicht das Unendliche selbst, sondern dessen Darstellungen im Endlichen. Ersteres als solches, seiner »Natur und Substanz« nach,50 bleibt ihr unzugänglich. Dies ist gerade die kritische Pointe des Ausgangs vom transzendentalidealistischen Begriff der sinnlichen Anschauung und seiner partiellen Übertragung auf die Struktur religiöser Anschauung. Von allem An-sich-sein wird abgesehen, hier wie dort. Umso mehr Gewicht fällt dann aber auf den Begriff der Darstellung. Seine Verwendung in diesem Zusammenhang darf nicht verwechselt werden mit dessen kulturphilosophischer oder kommunikationstheoretischer Fassung, die Schlei47 Vgl. Ulrich Barth: »Die Religionstheorie der Reden. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm«, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, 259–289; ders: »Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts«, in: Theologische Rundschau 66 (2001), 408–461. 48 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 58. 49 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 55. 50 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 56.

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ermacher später vorzugsweise in der Philosophischen Ethik entfalten sollte, die sich beide aber auch schon in den Reden finden. Der für die Struktur der religiösen Anschauung relevante Darstellungsbegriff zeichnet sich durch eine doppelte Relation aus. Die Relate sind beides Mal Unendliches und Endliches. Doch die Relation selbst wird einerseits als dynamisches Verhältnis, andererseits als Teil/Ganzes-Beziehung gekennzeichnet.51 Ersteres besagt: In allem Endlichen manifestieren sich »Handlungen« des Universums. Aus seinen »unmittelbaren Einflüssen«52 haben alle Dinge ihr »abgesondertes Dasein« und ihr »Wesen«,53 wie sehr sie auch im zeitlichen Wandel ihres kontingenten Vermittlungszusammenhangs mit anderem Endlichen durch eben dieses bestimmt sein mögen. Letzteres hingegen besagt: Alles Einzelne hat als Darstellung des Universums Anteil an dessen »Totalität«, das heißt »Einheit in der Vielheit«,54 wobei mit Letzterer hier eine unendliche Vielheit gemeint ist. Das Ganze manifestiert sich niemals anders als in den von ihm umgriffenen Teilen. Und das Einzelne wiederum ist, was es ist, nur vermöge seiner »Stelle im Universum«.55 Die besondere Pointe besteht nun darin, dass Schleiermacher beide Strukturmerkmale der Darstellungsrelation, das dynamische Verhältnis wie die Teil/ Ganzes-Beziehung, miteinander verschränkt. »Jede unendliche Kraft, die sich erst in ihren Darstellungen theilt und sondert, offenbart sich auch in eigenthümlichen und verschiedenen Gestalten«.56 Die Beziehung zwischen dem unendlichen Ganzen und seinen individuierten Teilen erweist sich zugleich als das Verhältnis einer in »ununterbrochene[r] Tätigkeit« begriffenen Grundkraft zu deren endlichen Erscheinungen.57 Das systematische Motiv für jene Verschränkung dürfte darin zu sehen sein, dass allein vermöge ihrer die dem Universum zukommende absolute Einheit auch als erfüllte Einheit und in diesem Sinne als unendliche Totalität gedacht werden kann. Schleiermacher hat die erkenntnistheoretische Position der Reden bekanntlich als die eines »höhern Realismus« bezeichnet – im Sinne einer Versöhnung von idealistischem und realistischem Denken. Die idealistische Komponente verschafft sich darin Geltung, dass ein phänomenalistisch akzentuierter Anschauungsbegriff die methodische Ausgangsbasis bildet, das realistische »Gegengewicht«58 hinge-

51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Ellsiepen: Anschaung des Universums, 352 ff. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 50. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 56. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 128. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 5. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 241. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 56. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 54.

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gen kommt über das gegenständliche Korrelat der religiösen Anschauung zum Zug. Letzteres ist aber im Sinne des eben Dargelegten zu verstehen. Das besagt: Nicht der Begriff ›Universum‹ selbst, sondern der Begriff ›Darstellung des Universums‹ bezeichnet die ontologische Grundlage von Schleiermachers früher Religionstheorie. Deren systematische Pointe besteht darin, dass beide Seiten des religiösen Verhältnisses, nämlich ›Anschauung des Unendlichen im Endlichen‹ und ›Darstellung des Unendlichen im Endlichen‹, durch die strukturelle Korrespondenz von Anschauung und Darstellung miteinander vermittelt und aufeinander abgestimmt sind, so dass Religion als Korrelationsgestalt beider gleichsam in einer Subjekt/Objekt-Einheit zu stehen kommt.

III. Anschauung des Universums Unmittelbar nach Erwähnung des Begriffs ›höherer Realismus‹ fällt der Name Spinoza.59 Es ist deshalb davon auszugehen, dass Schleiermachers SpinozaBild in gewisser Weise das Muster zu jenem Theoriearrangement abgab. Noch vor Erscheinen der Reden jedenfalls gelangte der junge Charité-Prediger – wie erwähnt – in den Besitz eines eigenen Exemplars der Ethica. Dilthey rechnet mit einem zweiten Spinoza-Studium im Zeitraum 1796–1799, nun nicht mehr nach Jacobis Auszügen, sondern anhand des Originals.60 Wie intensiv diese Lektüre war, lässt sich nicht mehr überprüfen. Immerhin bieten die Reden reichlich Anhaltspunkte, hinter deren Spitzenaussagen, soweit sie den Sachverhalt ›Anschauung des Universums‹ betreffen, spinozanische Theoreme zu vermuten sind. Ich beschränke mich hier auf die wichtigsten. (a) Schleiermacher definiert die Seinsweise des Universums nach dessen Verhältnis zum Endlichen als ununterbrochene Tätigkeit. Vor dem Hintergrund der altprotestantischen Schöpfungslehre könnte man dabei an die Begriffe »creatio continua« oder »conservatio mundi« denken. Dies sind in der Glaubenslehre dann auch in der Tat die einschlägigen Referenten. In den Reden gibt es darauf indes keinerlei Hinweise. So ist eher anzunehmen, dass die spinozanische Wesensbestimmung Gottes im Sinne von unbedingter Kausalität als Vorbild diente, die am angemessensten mit »Produktivität« zu übersetzen ist.61 (b) Schleiermacher geht davon aus, dass im Lichte des Universums alles Einzelne und Beschränkte Teil des unendlichen Ganzen ist und dieses Ganze 59

Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 54. Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Hg. von Martin Redeker, Bd. 1.1, 3. Aufl. Berlin 1970, 335. 61 Bartuschat: Theorie des Menschen, 37 und 40. 60

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umgekehrt nur in seinen endlichen Manifestationen greifbar wird. Diese Zuordnung scheint an Spinozas Bestimmung des Verhältnisses von unendlichen und endlichen Modi anzuknüpfen. Der Ausdruck ›unendlicher Modus‹ bezeichnet den Inbegriff der jeweiligen Folgen aus den Attributen der göttlichen Substanz. Es handelt sich bei diesem Term somit um einen Totalitätsbegriff. Immer geht es um ein »Ganzes von Vielem«.62 ›Endliche Modi‹ sind demgegenüber alle nicht notwendig existierenden Einzeldinge, die jenen unendlichen Modi ihre kategoriale Bestimmbarkeit verdanken und insofern der absoluten Substanz nur mittelbar inhärieren. So kommt dem Verhältnis der beiden Arten von Modi gleichsam eine »ontologische Scharnierfunktion« zwischen Unendlichem und Endlichem zu.63 (c) Konrad Cramer hat wiederholt Einspruch gegen die pantheistische Verwertung Spinozas erhoben,64 wie sie nach Lessings spätem Bekenntnis unter jungen Intellektuellen der Goethe-Zeit Mode wurde. Seiner Auffassung nach kann aus der Immanenz aller Dinge in Gott nicht umgekehrt auf die Immanenz Gottes in allen Dingen geschlossen werden. Dieser Einwand scheint mir berechtigt zu sein, sofern man dem logischen Gehalt der Propositionen 1–14 des Ersten Teils der Ethik folgt. Eine Immanenz Gottes in den Dingen widerspräche in der Tat diametral dem Gedanken der Unteilbarkeit der unendlichen Substanz. Cramers strikte Asymmetriethese verliert jedoch dann an Plausibilität, wenn man von 1p16c1 (E 41) ausgeht, wonach Gott die wirkende Ursache aller Dinge ist, und die Ergänzung in 1p18 (E 49) hinzunimmt, die dieses Bedingen dahingehend präzisiert, dass Gott die immanente und keineswegs nur eine transzendente Ursache aller Dinge ist. Auf diesen Begriff der causa immanens dürfte sich Schleiermacher stützen, wenn er von den unmittelbaren Einflüssen des Universums auf alles Endliche spricht. (d) Wir hatten gesehen, dass nicht der Begriff des Universums, sondern die Struktur ›Darstellung des Universums‹ das ontologische Fundament von Schleiermachers Religionstheorie bildet. Dies mag auf den ersten Blick als fundamentale Abweichung von Spinoza anmuten. Bei näherer Betrachtung scheint

62

Bartuschat: Theorie des Menschen, 41. Ellsiepen: Anschauung des Universums, 222. 64 Vgl. Konrad Cramer: »Kritische Bemerkungen über einige Formen der Spinozainterpretation«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 31 (1977), 527–544; ders.: »Über die Voraussetzungen von Spinozas Beweis der Einzigkeit der Substanz«, in: Neue Hefte für Philosophie 12 (1977), 1–8; ders.: »Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit«, in: Dieter Henrich (Hg.): All-Einheit. Stuttgart 1985, 151–179; ders.: »›Anschauung des Universums‹. Schleiermacher und Spinoza«, in: Ulrich Barth; Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999. Berlin/New York 2000 (= Schleiermacher-Archiv, Bd. 19), 118–141. 63

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jedoch eine Entsprechung zu dem vorzuliegen, was die Identitätsthese von 2p7 (E 13) – wonach die Ordnung der Vorstellungen und die Ordnung der Dinge dieselbe sei – rückblickend für das Prinzipienensemble von Ethik, Erster Teil, besagt. Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, so ergibt sich, dass die Erkenntnis des in Gott Gegründetseins aller Dinge auch für Spinoza nicht aus dem bloßen Begriff der göttlichen Substanz gewonnen werden kann, sondern allein aus dem logischen Raum,65 der durch die Terme Substanz – Attribute – unendliche Modi – endliche Modi gebildet wird. Schleiermachers Kunstgriff besteht darin, dass er die deduktive Abfolge dieser Prinzipien in ein Gefüge koordinierter Aufbaumomente dessen überführt, was er als ›Darstellung des Universums‹ bezeichnet. (e) Kontrovers wird die Frage beurteilt, ob Schleiermachers ›Anschauung des Universums‹ ein Abkömmling von Spinozas dritter Erkenntnisart, der ›Scientia Intuitiva‹, bildet. Die Ethica unterscheidet drei Gattungen der Erkenntnis. Die erste verkörpert die Imaginatio; sie ist lediglich ausschnitthaft und mangels rationaler Formen niemals adäquat. Die zweite ist die Ratio; sie begreift die Eigenschaften der Dinge aus den Gesetzmäßigkeiten der unendlichen Modi, ist aber dennoch nicht Totalitätserkenntnis, sondern Strukturerkenntnis und als solche notwendig wahr. Letztgenannte Eigenschaft kommt auch der dritten Erkenntnisart zu. Sie geht wohl von formalen Vorstellungen der göttlichen Attribute aus, zielt jedoch nicht auf Strukturerkenntnis, sondern auf die Erkenntnis des Einzelnen als solchen, und zwar hinsichtlich seines Gegründetseins in Gott, gemäß dem Grundsatz, dass aus der göttlichen Natur als wesenhafter Produktivität Unendliches auf unendliche Weise folgt. Genau dieser Zusammenhang legt es nahe, in ihr ein Äquivalent von Schleiermachers Bestimmung der religiösen Anschauung zu sehen, die ebenfalls das Einzelne als Darstellung der unendlichen Tätigkeit des Universums zum Inhalt hat.66 Gegen eine solche Parallelisierung spricht, dass Spinozas dritte Erkenntnisart nichts mit mystischer Schau zu tun hat, sondern echte Erkenntnis ist.67 Man wird diesen Einwand umgekehrt aber auch nicht überbewerten dürfen, da Spinoza selbst sie mit affektiven Komponenten versieht – wenn auch in einem anderen Sinn. Denn sie gilt ihm als Ursprung der verstandesmäßigen Liebe zu Gott und damit der höchsten Zufriedenheit des Geistes. »An Allem, was wir nach der dritten Art der Erkenntnis erkennen [intelligimus], erfreuen wir uns, und zwar begleitet von der Vorstellung Gottes als Ursache«.68 Auch der Um-

65 Den Ausdruck ›logischer Raum‹ habe ich John McDowell entlehnt (space of reasons). 66 Vgl. Ellsiepen: Anschauung des Universums, 89–139, 255–271, 350–381. 67 Vgl. Bartuschat: Theorie des Menschen, 119–123, 338–345. 68 5p32, E 576; deutsche Übersetzungen hier und im Folgenden zitiert nach: Ba-

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stand, dass die dritte Erkenntnisart aus der zweiten, der Strukturerkenntnis der Dinge, hervorgehen kann, ist kein echter Gegeneinwand; denn auch Schleiermacher sagt, dass die religiöse Anschauung der Natur dann ihr Maximum erreicht, wenn sie sich an »Gesetze[n] entzündet, die alles umfassen, das Größte und das Kleinste, die Weltensysteme und das Stäubchen, welches unstet in der Luft umherflattert«.69 Man wird meines Erachtens obigen Streitpunkt solange nicht entscheiden können, als nicht geklärt ist, was Spinoza mit ›intuitiv‹ meint, wenn er die dritte Erkenntnisart als ›Scientia Intuitiva‹ bezeichnet. Diese Frage aber lässt sich nicht allein auf der Basis der Ethica beantworten. (f) Es gibt aber weitere Entsprechungen, die sich noch unterhalb jenes Spezialproblems bewegen. Da wäre zunächst an Spinozas Begriff ›Ausdruck‹ (exprimere, exprimi) zu erinnern. Gilles Deleuze hat diesen Themenkomplex in das Zentrum seiner Spinoza-Deutung gerückt und weitreichende Annahmen damit verbunden.70 Die Not des Interpreten besteht darin, dass Spinoza jenen Begriff an keiner Stelle definiert, aber an zentralen Stellen von ihm Gebrauch macht. So heißt es in 1p19dem, Attribute Gottes seien solche Bestimmungen, die das, was zur göttlichen Substanz gehört, ausdrücken. Hier bedeutet ›Ausdruck‹ soviel wie die Anzeige desjenigen Sachgehaltes der absoluten Substanz, der die Dimensionen ihrer unendlichen Ursächlichkeit absteckt.71 Schwieriger wird es, wenn Spinoza die Ausdrucksrelation auf das Verhältnis von Attributen und Modi bezieht. »Die besonderen Dinge sind nichts als […] Modi der Attribute Gottes, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden«.72 Dieses »auf bestimmte Weise ausgedrückt werden« geht offensichtlich über den Tatbestand der bloßen Zugehörigkeit zu einer unendlichen Konsequenzenmenge hinaus. Generell kann gesagt werden: Jede Äußerung der unendlichen Substanz, sei es im Sinne des unbestimmten oder des bestimmten Bedingtseins durch diese, ist zugleich deren Ausdruck. Schleiermacher scheint mit dem absolutheitstheoretischen Begriff von ›Darstellung‹ genau diesen Sachverhalt im Auge zu haben. (g) Auch ohne den Begriff der Scientia Intuitiva zu bemühen, kann Spinoza auf die Betrachtung der Dinge nach ihrem Gegründetsein in Gott zu sprechen kommen. Geht es nur allgemein um die Einnahme einer solchen Perspektive, ruch de Spinoza: Opera – Werke. Hg. von Konrad Blumenstock, lateinisch und deutsch, 4 Bde., Bd. 2: Tractatus de intellectus emendatione, Ethica – Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes, Ethik. Darmstadt 1967, hier 543. 69 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 82. 70 Vgl. Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Übersetzt von Ulrich J. Schneider. München 1993. 71 Vgl. Ellsiepen: Anschauung des Universums, 32–37. 72 1p25c, E 56; deutsche Übersetzung nach Spinoza: Werke. Edition Blumenstock, 129.

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wird diese als Erkenntnis ›sub specie aeternitatis‹ bezeichnet, ist hingegen an die rationale Form solcher Betrachtungen gedacht, wird sie als Erkenntnis ›sub quadam aeternitatis specie‹ gekennzeichnet. Statt ›cognoscere‹ können auch weichere Vokabeln gebraucht werden, wie ›percipere‹, ›contemplari‹ oder ›considerare‹. Derartige Betrachtungen sind keineswegs müßig. Denn der menschliche Geist kann sich auf keine andere Weise seiner eigenen In-GottGegründetheit und Ewigkeit versichern, als indem er die Dinge in der Welt unter deren Ewigkeitsaspekt betrachtet. Hier drängt sich nochmals der Vergleich mit den Reden auf. Spinozas ›considerare sub specie aeternitatis‹ ist nicht weit von Schleiermachers ›Anschauung des Unendlichen im Endlichen‹ entfernt. Die Nähe ist vielleicht noch größer als im Fall der ›Scientia Intuitiva‹. Zudem gehören auch für Schleiermacher die religiöse Anschauung des Menschen und die religiöse Anschauung der Natur eng zusammen. Allerdings ist die Umkehrung der spinozanischen Reihenfolge nicht zu übersehen. Nach Schleiermacher ist es »das Gemüt eigentlich, worauf die Religion hinsieht und woher sie Anschauungen der Welt nimmt; im inneren Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch das innre wird erst das äußre verständlich«. Dass damit aber keinem Akosmismus des Geistes das Wort geredet wird, macht gleich der Fortgang des Zitats deutlich. Denn »auch das Gemüt muß, wenn es Religion erzeugen und nähren soll, in einer Welt angeschaut werden«.73 Bezieht man den unter (f) dargelegten Sachverhalt in das eben Gesagte ein, dann zeigt sich sogar eine strukturelle Verwandtschaft zwischen beiden Konzepten: Die Zusammengehörigkeit von ›exprimere‹ und ›considerare‹ bei Spinoza entspricht aufs Genaueste der Zusammengehörigkeit von ›Darstellen‹ und ›Anschauen‹ bei Schleiermacher. Hier wie dort bilden beide Momente eine korrelative Einheit. Nimmt man die aufgeführten Punkte zusammen, dann wird begreiflich, warum Schleiermacher und seine pantheistisch gesonnenen Zeitgenossen Spinoza trotz des hochgradig rationalen Zuschnitts seines Systems als religiösen Denker verstanden haben. Das von ihm entworfene All-Einheits-Modell erschien ihnen als religiös weitaus ergiebiger als der kirchlich-orthodoxe Glaube an einen extramundanen Schöpfergott. Angesichts jenes Gehalts verschlug es wenig, dass Spinoza selbst seine Weltsicht nicht explizit als eine religiöse bezeichnete. Der Religionsbegriff war spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so weit, dass man darunter auch Gedankenformationen subsumieren konnte, die weit über seine traditionellen dogmatischen Fassungen hinausgingen.

73 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 87 f. Bemerkenswert, wenn auch im Sinne unserer Interpretation nicht aus dem Rahmen fallend, ist die Wendung »Religion erzeugen«. Sie bestätigt, dass – wie noch zu zeigen sein wird – der vielerorts überbetonte Passivitätsaspekt in der Tat nicht für die Funktionsweise des religiösen Bewusstseins im Ganzen repräsentativ ist.

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IV. Die Struktur der religiösen Anschauung An einer Stelle ist freilich – im Hinblick auf Schleiermacher – noch eine Frage offen. Sie betrifft das Verhältnis von sinnlicher und religiöser Anschauung. Die Reden rekonstruieren Letztere zunächst nach dem Muster Ersterer.74 Dieses Moment soll vor allem die strukturelle Differenz zur Denktätigkeit unterstreichen. Aus ihm erklären sich auch die zahlreichen Affektionsmetaphern, die für manche Leser fast die Hauptsache ausmachen. Doch dann wird jene Beschreibungsebene verlassen. Nun wird der Unterschied zwischen beiden Anschauungsarten betont. Religion hat es nicht mit einzelnen Sinnesdaten zu tun, sondern mit dem Universum. Der Ausgang von der sinnlichen Anschauung diente nur als Analogie. Aber die Betonung des Abstands beider ist auch nicht das letzte Wort. Vielmehr baut die Anschauung des Universums auf der empirischen Wahrnehmung auf. Religion sucht das Unendliche nicht hinter den Wolken, sondern unter den Gegebenheiten von Natur, Menschenwelt und Geschichte. Religiöse Anschauung ist in der sinnlichen Anschauung fundiert und übersteigt sie zugleich. Durch Erstere wird eine konkrete »Erscheinung« oder »Begebenheit« zu einem »Bilde des Universums«.75 Es handelt sich um eine Staffelung innerhalb der Anschauung als ganzer. Diese drei Zuordnungen: Analogie, Differenz und Staffelung, sind es, die den Begriff der religiösen Anschauung so kompliziert machen, weil Schleiermacher alle drei in ihrer Unterschiedenheit wie Zusammengehörigkeit gleichermaßen festgehalten wissen will. So spitzt sich die Textrekonstruktion auf die Frage zu: Was eigentlich ist das Affizierende im Fall der religiösen Anschauung? Die Frage lässt sich nicht mit einem eindeutigen Hinweis beantworten. Denn das Affizierende ist offenkundig duplizitär verfasst. Nach der Seite der sinnlichen Anschauung handelt es sich um Begebenheiten der alltäglichen Erfahrungswelt. Dem religiösen Bezugsobjekt nach kommen Letztere hingegen als Wirkungen, Einflüsse oder Bekundungen des Universums zu stehen. Das Affizierende im Fall des religiösen Anschauens ist bereits eine synthetische Größe. Schleiermacher ist aber weit davon entfernt, deren Vorkommnis einfach als gegeben zu postulieren. Vielmehr ist die Anschauung an ihrem Zustandekommen selbst beteiligt: Sie will das Universum »in« seinen Handlungen und Darstellungen »andächtig belauschen«76 und umgekehrt »in« allem Einzelnen und Beschränkten das Universum »sehen«.77 Das Affizierende verdankt seinen syn74

Vgl. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 55, 58. Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 74. Rudolf Otto bemerkt dazu treffend: »Dieser Satz ist der Schlüssel zu Schleiermachers Gedanken vom Erleben des Ewigen.« (Schleiermacher: Reden über die Religion, hg. Rudolf Otto, 43) 76 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 50. 77 Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 51. 75

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thetischen Charakter somit der Synthesistätigkeit des Hinblicks. Deren Resultat ist ein doppeltes, invers verfasstes In-sein: Einerseits das In-sein des Unendlichen im Endlichen, andererseits das In-sein des Endlichen im Unendlichen. Beide sind nicht wie bei Spinoza ontologisch vorgegebene, sondern von der religiösen Anschauung selbst produzierte Immanenzverhältnisse. In jenem doppelten In-sein gelangt – neben der Darstellungstätigkeit des Universums – zugleich die Eigentätigkeit der religiösen Anschauung zum Ausdruck. Schleiermacher ist sich des aktiven Beitrags derselben wohl bewusst. Seine Frage war allein die: Wie weit reicht dieses produktive Moment? Denn am höheren Realismus der dargelegten Gesamtposition sollte keineswegs gerüttelt werden. An zwei Stellen der Reden hat er jene religionsphilosophisch hochsensible Frage – wie mir scheint – unmissverständlich beantwortet. Die eine lautet: »alles Einzelne und Beschränkte als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion«.78 Durch das ›hinnehmen‹ wird der rezeptive Aspekt gekennzeichnet, durch das doppelte ›als‹ hingegen das produktive Moment. Die andere Stelle bekräftigt diesen Befund: »Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion«.79 Das ›vorstellen‹ ist bezüglich der Alternative, spontan oder rezeptiv, neutral; der Empfänglichkeitsaspekt wird allein durch den Verweis auf das Handeln Gottes bzw. des Universums indiziert. Das ›als‹ indes entspricht dem des vorigen Zitats. Beide Stellen sind deswegen so wichtig, weil sie die Art jenes produktiven Moments genauer zu bestimmen erlauben.80 Der aktive Beitrag der religiösen Anschauung hat nichts zu tun mit absoluter Erzeugung oder reiner Spontaneität. Er besteht vielmehr in einer Auslegungs- oder Deutungsleistung. In Anlehnung an Martin Heideggers Begriff des ›apophantischen Als‹ könnte man im Hinblick auf die Struktur der religiösen Anschauung von einem ›hermeneutischen Als‹ sprechen. Wenn das Endliche als Darstellung des 78

Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 56; Hervorhebungen vom Ver-

fasser. 79

Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 57; Hervorhebungen vom Ver-

fasser. 80 Schleiermacher kann das ›als‹ des religiösen Anschauens sogar auf das Gewahren des Universums selbst beziehen, und zwar auf beide Seiten seiner metaphysischen Grundstruktur: Zum einen auf die quantitätslogische Struktur: Religion hat, wer das Universum »anschaut als Eins und Alles« (Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 128; Hervorhebungen vom Verfasser), zum andern auf dessen Produktionsstruktur: »In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen« (Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 129; Hervorhebungen vom Verfasser). Die letztere Gleichung (›anschauen‹ = ›setzen als‹) ist wohl Schleiermachers stärkste Formulierung für die konstruktive Komponente seines religiösen Anschauungsbegriffs.

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Unendlichen hingenommen wird oder das Unendliche als im Endlichen anwesend erfahren wird, werden nicht einfach Tatsachen zur Kenntnis genommen, sondern in solchem Verstehen wird Endliches als Zeichen des Unendlichen aufgefasst. Derartige Semiosen vollziehen sich nicht von selbst, sondern sind das Produkt einer mentalen Aktivität. Das produktive Moment des religiösen Bewusstseins besteht darin, dass dieses die Wirklichkeit nicht einfach hinnimmt, wie sie ist, sondern einem Deutungsvorgang unterzieht, der ihr eine Bedeutsamkeit eigener Art zumisst. Jene vermeintlichen Fakta sind immer schon hochgradig deutungsimprägniert. Solche Auslegungsoperation kann durch unterschiedliche Begriffe näher bestimmt werden: Betrachtung der Welt als Schöpfung Gottes (traditionelle Dogmatik), Betrachtung der Dinge sub specie aeternitatis (Spinoza) oder Betrachtung des Endlichen im Licht des Unendlichen (Schleiermacher). In allen drei Fällen jedoch handelt es sich um Deutungsvorgänge. Religion ist – was immer sie sonst sein mag – eine Form menschlicher Deutungskultur. All ihren Vollzügen ist strukturell gemein, dass es sich jeweils um Sinndeutung handelt – nicht als ob Sinn überhaupt erst durch sie gestiftet würde, sondern dergestalt, dass eine ganz spezifische Sinnperspektive eröffnet wird: Die Sinnbezüge der Alltagserfahrung werden in den Horizont einer Unbedingtheitsdimension von Sinn gerückt.81 Der Deutungscharakter von Religion manifestiert sich in einer ganzen Reihe formaler Momente. Sie lassen sich samt und sonders anhand der hermeneutischen Als-Struktur namhaft machen. Diese besagt zunächst, dass dem religiösen Bewusstsein eine reflexive Komponente eignet. In ihm erfolgt eine Distanznahme zu den umgebenden Dingen und Ereignissen, die allererst Raum schafft für Zuschreibungen irgendwelcher Art. Sie besagt sodann, dass derartige Verstehensleistungen grundsätzlich einen interpretativen Charakter haben. Das jeweils Gegebene wird nicht in der Eigenbestimmtheit seines konkreten Soseins thematisch, sondern lediglich nach einem bestimmten Aspekt, aus einer spezifischen Perspektive, unter einem besonderen Gesichtspunkt. Letzteres wiederum besagt, dass derartige Deutungsprozesse immer subjektiver Art sind. Denn sie resultieren aus Akten eigenen Stellungnehmens und bleiben an diese gebunden, selbst wenn sie im intersubjektiven Kommunikationszusammenhang auf Resonanz oder Zustimmung stoßen. Und sie besagt schließlich, dass religiöse Sinndeutung notwendigerweise reduktiven Charakter (im epistemologischen Sinne) besitzt. Neben ihr vollziehen sich andere Formen der Weltauslegung wie die politische, rechtliche, ökonomische, naturwissen81 Vgl. Ulrich Barth: »Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung«, in: ders.: Religion in der Moderne. Tübingen 2003, 3–27. Für nähere Konkretionen vgl. Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002.

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schaftliche oder ästhetische. Sie alle gehorchen einer je spezifischen Logik und lassen sich darum nicht ohne weiteres aufeinander projizieren. Solche Konkurrenz muss aber nicht zwangsläufig eliminativer Art sein, denn jene unterschiedlichen Deutungen können einander auch ergänzen. Dafür ist allerdings nichts dringlicher als kognitive Bescheidenheit – das selbstkritische Wissen um die Begrenztheit der jeweiligen Perspektive. Schleiermachers Reden sind ihrer theoretischen Struktur nach nicht globalistisch angelegt, als käme es dem religiösen Bewusstsein zu, allen übrigen Formen der Welteinstellung den Platz anzuweisen oder gar mit dem Anspruch aufzutreten, deren Grundlagen zu verwalten. Stattdessen begnügen sie sich, Argumente dafür aufzubieten, dass Religion als selbständiges Phänomen, als »eigne Provinz im Gemüte«82 ernst genommen wird – eine unter den kulturellen Bedingungen der Moderne, wie mir scheint, alternativlose Position. Die beiden wichtigsten Abgrenzungen werden gegenüber Moral und Metaphysik vorgenommen. Ob bezüglich Letzterer des Guten etwas zuviel getan wurde, darf indes gefragt werden. Wir hatten eingangs darauf hingewiesen, dass Schleiermacher ab der zweiten Auflage der Reden den Anschauungsbegriff gewaltig depotenzierte, aber gleichwohl bis zur Dialektik wissenstheoretisch daran festhielt, dass Anschauung mehr ist als nur sinnliche Rezeptivität, sondern auch die intellektuellen Funktionen des Bewusstseins umgreift. Entfaltet hat er diesen szientifischen Anschauungsbegriff nirgends. Es bleibt vielmehr bei der thetischen Behauptung. Nun ist es müßig, über die Wahl von Begriffen zu streiten, sie sind entweder zweckmäßig gebildet oder nicht. Für die Erstauflage der Reden wird man indes sagen müssen, dass Schleiermacher die Leistung der religiösen Anschauung in ihrer Opposition zu jeglicher Metaphysik gewaltig überfrachtete. Gerade der Anschluss an Spinoza, dessen rationale Weltsicht er in die Religion integrieren wollte, macht dies überdeutlich. Die kantianisierenden Untertöne tun ein Übriges. Es ist schlechterdings nicht zu sehen, wie die begrifflichen Mittel, mit denen seine frühe Religionstheorie arbeitet, sich aus der Struktur der Anschauung, sei es der sinnlichen oder der religiösen, ableiten ließen. Strittig ist nicht der Sachverhalt, dass auch psychische Tätigkeiten vorbegrifflicher Art konstruktive oder produktive Komponenten enthalten können. Dies hat die neuere Wahrnehmungs- und Emotionspsychologie eindrucksvoll gezeigt. Rudolf Otto hat sie an der Funktion des Gefühls religionspsychologisch aufgewiesen. Problematisch ist vielmehr die Zuweisung hochtheoretischer Gedankenformen. Schleiermachers Beschreibung des religiösen Anschauens lebt von Kategorien, die sie zwar an ihm exemplifiziert, aber nicht wirklich aus ihm gewinnt. Einheit, Allheit, Totalität, Unendlichkeit, Universum – all dies sind 82

Schleiermacher: Reden über die Religion, KGA I/2, 37.

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und bleiben Vernunftideen. Darüber vermag auch eine noch so geniale Apologetik der Selbstständigkeit von Religion nicht hinwegzutäuschen. Die Reden gründen in einer Metaphysik des Absoluten, ob sie es zugeben oder nicht, und würden ohne dieses Fundament gedanklich kollabieren. So wird man das religionstheoretisch Zukunftsweisende von Schleiermachers Ansatz nicht in dem Anspruch erblicken können, Religion ohne Anleihen bei der Metaphysik ganz aus der ›Anschauung des Universums‹ begründet zu haben, sondern in dem Umstand, dass deren detaillierte Analyse zur Freilegung dessen führte, was wir als die Deutungsstruktur von Religion bezeichnet haben. Das modernisierungstheoretische, kulturwissenschaftliche und theologische Innovationspotential dieser Einsicht wird von jenem methodischen Vorbehalt nur partiell tangiert.

TEIL IV Spinoza und die Debatten um den Spinozismus

Karl Ameriks

»ob die bloß scheinbare Person möglich ist« Spinoza, Kant, Jacobi und Schleiermacher

Die frühen privaten Aufzeichnungen Schleiermachers zu Spinoza (1793/94)1 sind einzigartig wegen der Art und Weise, in der sie eine höchst wohlwollende Rezeption des Spinozismus mit einer ausführlichen Würdigung der komplexen Kritik Kants an der rationalen Psychologie vereinen. Wenngleich Schleiermacher sich, Kants kritischer Doktrin der absoluten Freiheit wegen, in einer Reihe nur wenig zuvor verfasster Aufsätze äußerst negativ über ihn äußert, macht er im Rahmen seiner Ausführungen zum Spinozismus Ressourcen innerhalb Kants kritischer Lehre des Selbst ausfindig, die ihm einen neuen Weg erschließen, sich Jacobis zum Widerspruch reizenden Hinweis auf positive Verknüpfungen zwischen Spinoza und dem kritischen Idealismus zu eigen zu machen. Und obgleich ich im Folgenden dafür argumentieren werde, dass letzten Endes Kants Nähe zu Spinoza nicht so ausgeprägt ist, wie Schleiermacher dies gerne sähe, soll damit nicht die Stellung dieser eindrucksvollen Ausführungen als idealer Ausgangspunkt für eine aktuelle Einschätzung der Beziehung ihrer beider Philosophien bestritten werden.

I. Ein erster Blick auf Reaktionen auf Spinoza Trotz Kants (seit den frühen 1760ern) unausgesetzter Verpflichtung gegenüber dem moralischen Begriff der Person als eines absolut freien Individuums kann sein letztendlicher theoretischer Standpunkt in Bezug auf das individuelle Selbst wie auch den An-sich-Charakter der Dinge im Allgemeinen als eine zutiefst verunsichernde Form von Agnostizismus hinsichtlich dessen inhaltlicher Bestimmung erscheinen: Dort ist »Etwas«, aber wir können durchaus nicht bestimmen, was es ist. Ein eindrucksvoller Ausdruck dieser Auffassung findet sich in der ersten Auflage der Paralogismen:

1 Friedrich Schleiermacher: »Spinozismus« und »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, in: ders.: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe (im Folgenden zitiert als KGA mit Bandangabe). Hg. von Hans-Joachim Birkner et al., 1. Abteilung, Bd. 1: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Jugendschriften 1787−1796. Hg. von Günter Meckenstock, KGA I/1. Berlin/New York 1983, 511−558 und 559−582.

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[S]o könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so affiziert, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken sein […] Demnach ist selbst durch die eingeräumte Einfachheit der Natur die menschliche Seele von der Materie, wenn man sie (wie man soll) bloß als Erscheinung betrachtet, in Ansehung des Substrati derselben gar nicht hinreichend unterschieden.2 Diese Darstellung lässt sich mit einer von Schleiermacher zitierten Passage bei Jacobi vergleichen, in der vollständige Verzweiflung über eine in gewisser Weise ähnliche Sichtweise zum Ausdruck kommt: Wir glauben nur, daß wir aus Zorn, Liebe, Großmuth, oder aus vernünftigem Entschluß handeln. Lauter Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das, was uns bewegt ein Etwas, das von alle dem nichts weiß […].3 Genau genommen diskutiert Jacobi an dieser Stelle Spinoza und nicht Kant; aber diese Abgrenzung wäre für Jacobi von nicht allzu großer Bedeutung, da er sich andernorts (worauf Schleiermacher hinweist) dafür ausspricht, Spinozas Auffassung unserer selbst als endlicher Modi, bewegt durch ein zugrunde liegendes »Etwas«, als der kantischen Konzeption äußerst verwandt zu betrachten, der zufolge wir, als menschliche Wesen, bloße raumzeitliche Phänomene sind, deren Grund in etwas An-sich-Seiendem liegt. In der Darstellung seiner eigenen Position greift Schleiermacher diesen Vergleich auf und stellt die Beziehung zwischen Spinozas allumfassender unendlicher Substanz und den durch sie begründeten endlichen und empirischen Modi (insbesondere den menschlichen Wesen) ausdrücklich auf eine Ebene mit derjenigen zwischen Kants Reich der Dinge an sich und den hierin begründeten raumzeitlichen Erscheinungen, so dass »das Spinozistische Verhältniß des Noumens zu den Phänomenen mit dem Kantischen fast zusammenschmilzt«.4 Auf diese Weise verfolgen Jacobi wie auch Schleiermacher jeweils einen einheitlich strukturierten Zugang zu Spinoza und Kant, sprich: einen solchen, der 2 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1998 (im Folgenden wie üblich nach der ersten und zweiten Auflage mit A und B bezeichnet), hier A 358 f.; zitiert in: Jacqueline Mariña: Transformation of the Self in the Thought of Friedrich Schleiermacher. Oxford 2008, 98 f. 3 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. 2. vermehrte Auflage. Breslau 1789, 29. Zitiert nach: Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 528. Während Schleiermacher die Betonung auf »weiß« legt, unterstreicht Jacobi das Wort »glauben«. 4 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 526.

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davon ausgeht, dass, auf einer fundamentalen deskriptiven Ebene, diese beiden als einander Ähnliche verstanden werden sollten − wenngleich, auf einer evaluativen Ebene, Jacobi letztendlich das Ziel verfolgt, beide Positionen zu kritisieren und hinter sich zu lassen, während Schleiermacher, im Ganzen besehen, darauf abzielt, beide zu verteidigen und zu würdigen.5 Im Gegensatz zu diesen Weisen der einheitlichen Reaktion und Interpretation ist es ebenfalls möglich, hier eine uneinheitliche Position einzunehmen: eine, die von Beginn an − deskriptiv wie evaluativ − Nachdruck auf eine Unterscheidung dieser beiden Ansätze legt. So kritisiert beispielsweise Reinhold in der ursprünglichen Fassung seiner Briefe über die kantische Philosophie Spinoza in massiver Weise als Pantheisten, Atheisten und Fatalisten6 und verhöhnt jeglichen Vergleich Spinozas mit Kant als den eines »Halbdenkers«,7 während er Kants libertären Theismus ebenso preist wie dessen Auffassung, dass »jenes als Geist gedachtes Etwas für uns ein unbekanntes Etwas = x ist«8 − eine offensichtliche Bezugnahme auf den berühmten Ausspruch der Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden schlicht: Kritik): »dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket«.9 Auf der anderen Seite gibt es Leser, wie zum Beispiel Hegel, die Kants Theorie des Selbst gegenüber derjenigen Spinozas mit 5 Beide Philosophen beziehen sich jedoch auch von der jeweils anderen Seite auf Spinoza und Kant: So rühmt beispielsweise Jacobi Kant und Spinoza für ihr Drängen auf eine Entscheidung zwischen Determinismus und Libertarianismus, während Schleiermacher Spinoza wie Kant dafür kritisiert, dass sie in zu dogmatischer Weise auf ihrem Wissen über die Eigenschaften Gottes beharren (vgl. Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA I/1, 574). 6 Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Briefe über die kantische Philosophie, in: Der Teutsche Merkur (3) 1786, 99–141, 132. 7 Reinhold: Briefe, in: Der Teutsche Merkur (1) 1787, 117−142, 137. Sowie Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften. Bd. 2/1: Briefe über die kantische Philosophie. Erster Band. Neu herausgegeben von Martin Bondeli. Basel 2007, 133. An diesem Punkt pflichtet Kant Reinhold eindeutig bei, wenn er im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik ergänzend bemerkt: »durch diese [Kritik der Vernunft] kann nun allein dem Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben […] selbst die Wurzeln abgeschnitten werden« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXIV) Andernorts, beispielsweise in seinen »Reflexionen zur Metaphysik«, findet sich eine ähnliche Liste von Gegnern: »Scepticism. Idealism. Spinozism. ebenso auch des Materialism, praedeterminism.« (Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. (im Folgenden zitiert als AA mit Bandangabe), Bd. 18, Reflexion 6317, 628). 8 Reinhold: Briefe, in: Der Teutsche Merkur (3) 1787, 67−88, 78. Diese Passage findet sich nur in der ersten Ausgabe der Briefe, nicht aber in der oben angeführten ausgezeichneten kritischen Neuherausgabe, welche die revidierte und wesentlich längere zweite Fassung wiedergibt. 9 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 346; »dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket […] = x« − dieser Absatz bleibt auch in B 404 erhalten.

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der Begründung kritisieren, Kant bleibe in allzu mysteriöser und dogmatischer Weise der Annahme endlicher Individuen mit Eigenschaften an sich verpflichtet, die wir nicht theoretisch bestimmen können. Schleiermachers Ausführungen sind insofern dem Geist einer solcherart verfassten hegelschen Kritik verwandt, als er sagt, das kantische System sei zum Teil geprägt durch einen »inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus«.10 Er ist sich also vollständig darüber im Klaren, dass Kant (wie auch Bayle und Hume in ihrer Kritik an Spinoza, durch die Kant ebenfalls beeinflusst worden sein mag11) der traditionellen Sichtweise verhaftet bleibt, der zufolge unsere individuellen endlichen Selbste, wie immer sie auch geartet sein mögen, nicht verstanden werden sollten als Modi der Eigenschaften der einzigen Substanz und allumfassenden Realität Gottes. Seine Auffassung, Kants anti-spinozistisches Festhalten am endlichen Selbst sei eine Verfehlung, die nicht nur unbegründet, sondern zudem »unvereinbar« sei mit dem Besten am Kritischen System, ist bemerkenswert und bezeichnend. Solcherart schlussfolgernd sieht Schleiermacher sich weiterhin als einen Advokaten dessen, was er als den eigentlichen und höheren Sinn des transzendentalen Idealismus erachtet.12 Das heißt, er ist der Ansicht, dass − in Anbetracht Kants eigener idealistischer Folgerung, nach der all die endlichen Gegenstände unserer Erfahrung nicht aus sich selbst heraus existieren können, sondern etwas bedürfen, das ihnen zugrunde liegt − ein sich selbst angemessen verstehender Kantianer dem Monismus gegenüber zumindest aufgeschlossen bleiben müsste. Einer der Gründe, aus denen Schleiermacher einen solchen Interpretationsansatz für lohnenswert erachtet haben mag, ist darin zu finden, dass er − wie auch jeder andere in der unmittelbaren Folgezeit der Kritik − im Zeichen der reinholdschen Darstellung Kants stand und daher sehr empfänglich war für Reinholds wiederholten − und misslichen − Vergleich der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich einerseits mit der fundamentalen Unterscheidung zwischen Form und Stoff andererseits.13 Ist ein solcher Ver-

10 Schleiermacher: »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA. I.1, 570. Vgl. Richard Brandt: The Philosophy of Schleiermacher. New York 1941, 37. 11 Vgl. Michael Della Rocca: Spinoza. London/New York 2008, 279 f., sowie Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 533. 12 Vgl. zum Beispiel Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 557: »zu Vernunftsbegriffen erhoben«. Meine Annahme hier ist, dass Schleiermachers Auffassung, derzufolge Kants Philosophie konsequenterweise mit ›Vernunft‹ in einem anspruchsvollen Sinne befasst sein muss, bedeutungsvoller ist als seine Neigung, Jacobis einflussreicher, aber fragwürdiger Behauptung zuzustimmen, jeglicher Gebrauch der Kategorie der Kausalität zwecks Bezugnahme auf etwas jenseits der Erfahrung Liegendes stünde in Widerspruch mit dem transzendentalen Idealismus. 13 Schleiermacher (vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 527) bezieht sich

Person bei Spinoza, Kant, Jacobi und Schleiermacher

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gleich erst einmal akzeptiert, so ist damit der Weg frei gemacht, das begründende Verhältnis zwischen Dingen an sich und Erscheinungen als ein solches wie das der ontologisch internen Beziehung zu verstehen, das in der Bindung einer zufälligen oder subjektiven »Form« an die ihr zugrunde liegenden Substanz oder den »Stoff« eines von ihr nicht unterschiedenen Seins besteht, anstatt als, möglicherweise, eines der ontologisch externen Beziehung, das in einer rein (das heißt, nicht-raumzeitlichen) kausalen, oder: »wirklich begründenden«, Beziehung zwischen einem Ding und den von ihm unterschiedenen Wirkungen bestehen kann. Schleiermacher erkennt den Umstand an, dass, sobald man den kritischen Idealismus in einer solchen, dem Monismus gegenüber aufgeschlossenen und der Vorstellung von unbekannten Gründen einzelner, konkreter Handlungen Raum gewährenden Weise interpretiert, dies zu Schwierigkeiten im Verständnis unseres eigenen Selbst und dessen Wirksamkeit führen kann; was er jedoch zurückweist, ist Jacobis drastische Deutung dieser Schwierigkeiten. Seiner Ansicht nach will Jacobi − in der oben zitierten Passage, in der von »lauter Wahn« die Rede ist − nahe legen, einen verborgenen Grund für das Selbst zu postulieren, hieße soviel wie zugleich zu unterstellen, dieses entbehre jeglicher eigentlicher Wirksamkeit. Auf diese Behauptung antwortet Schleiermacher unverzüglich: Hier ist nun der eigentliche Punkt, wo ich glaube, daß Jakobi den Spinoza nicht mag verstanden haben […] ich begreife nicht warum das denkende Vermögen nicht auch unter die wirkenden Ursachen gehören kann […] Das Unendliche Ding bringt die endlichen Dinge […] hervor […] nur in so fern sie alle zum ewigen unwandelbaren Daseyn gehören […] Wie kann er [Jacobi] sagen, der Erfinder der Uhr habe die Uhr nicht erfunden?14 Diese Entgegnung Schleiermachers ist nun insofern von Verdienst, als Kritiker des nezessitaristischen Monismus Spinozas zuweilen den Fehler begehen davon auszugehen, diese starke Version des Determinismus müsse zugleich unseren Status als Handelnde insgesamt zunichte machen (den Umstand also, dass wir überhaupt Wirkungen erzielen, seien wir nun die freie, alleinige oder letzte Quelle dieser Wirkungen oder nicht), und insbesondere insoweit, als Jacobi dazu neigt, in dramatischer Weise von Spinozas Determinismus als einer auf Reinholds grundlegende Konzeption des »Vorstellungsvermögens«. Reinholds Betonung der Begriffe Form und Materie – als zweierlei Triebe innerhalb des grundlegenden Vorstellungsvermögens unterscheidende – war von fragwürdigem Einfluss auf die Bemühungen Schillers und anderer, Kant zu begreifen. Vgl. Karl Ameriks: Kant and the Fate of Autonomy. Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy. Cambridge 2000, Kap. 2. 14 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 528 f.

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Weise des ›Nihilismus‹ zu sprechen, der endliche Individuen sich in Nichts auflösen lasse. Gleichwohl ist Schleiermachers Entgegnung auf den konkreten Ausspruch Jacobis über »lauter Wahn« ein wenig vorschnell, da diese Äußerung sich als ein Kommentar über dasjenige lesen lässt, was uns letztlich bewegt − »im Grunde das, was uns bewegt« − und die Wirkungen innerhalb unseres Lebens hervorruft. Sprich: Jacobi mag den Spinozisten zugestehen, ebenfalls Ereignisse innerhalb unser selbst anzunehmen − wie beispielsweise Gedanken über Uhren −, die wirkliche und direkte Ursachen von unterschiedlichsten Ereignissen sind, wobei diese Annahme vereinbar bleibt mit ihrem Festhalten an der Auffassung, es gebe dort etwas jenseits unserer endlichen Beschaffenheit, das der letztlich originäre Grund dieser Wirkungen und dessen Bestimmungskraft gar von absoluter Notwendigkeit sei. Die Lehre der Spinozisten kann demnach als eine solche verstanden werden, die zwar einerseits noch immer besagt, dass wir tatsächlich in einer Weise in »lauter Wahn« befangen waren, nämlich insofern, als wir bislang über diesen bestimmten Gesichtspunkt − unseren Status als letzte Ursachen also − anderen Glaubens waren, während dies jedoch andererseits nicht zu der Annahme führen muss, der Spinozismus behaupte, die Wirksamkeit unseres Tuns insgesamt sei »Wahn« − kein menschliches Wesen also habe je eine Uhr erfunden. Zusammengefasst bedeutet dies: Während Schleiermacher mit Recht betonen kann, dass, sogar innerhalb des spinozistischen Monismus, endliche Dinge, die keine Substanzen sind (namentlich: unsere phänomenalen mentalen und physischen Verfasstheiten), nichtsdestoweniger eine wesentliche Rolle in der Reihe endlicher Wirkungen spielen können, kann Jacobi mit ebensolchem Recht betonen, dass, innerhalb Spinozas System des nezessitaristischen Monismus, die Rolle eines jeden endlichen Individuums unweigerlich von eher zweitrangiger Natur zu sein hat; denn in dem Maße, in dem ein solches Individuum wirksam ist, kann seine Wirksamkeit, auf dieser Ebene, immer nur eine verursachte, nicht aber eine unverursachte Ursächlichkeit sein. Trotz ihrer anderweitigen Differenzen ist also die Gegnerschaft zum nezessitaristischen Monismus ein Punkt, über den Kant, im Unterschied zu Schleiermacher, mit Jacobi in der Tat übereinstimmen kann15 − auch wenn Jacobi seinerseits es versäumt haben mag, diesen Gesichtspunkt zu würdigen. 15 Es ist allgemein anerkannt, dass (trotz all des Grams, den dies Mendelssohn bereitet hat) Kant in seinem Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientiren?« (1786) grundsätzlich mit Mendelssohn gegen Jacobi insoweit übereinstimmt, als er betont, dass seine Kritik antritt, die Vernunft (obschon die reine praktische Vernunft) als im Gegensatz zum »bloßen« Glauben stehende zu verteidigen und zu rechtfertigen. Es trifft allerdings ebenso zu, dass Kant selbst sich hier als gegen Spinoza argumentierend versteht (wenigstens gegen einen Spinoza nach der Interpretation Jacobis), denn er erklärt es zur Aufgabe der kritischen Philosophie, solche Ansprüche zurückzuweisen, die

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Schleiermacher verfolgt das Thema der Verursachung hier nicht weiter, da er selbst sogar vom Nezessitarismus unbehelligt bleibt, solange dieser nicht mit zusätzlichen Annahmen einhergeht, die besagen, wir seien buchstäblich ohnmächtig oder stünden dauerhaft unter Zwang. Am bedeutsamsten ist hier der Umstand, dass Schleiermacher, trotz all seiner offenkundigen Differenzen zu Kant, weiterhin Wege ausfindig zu machen bemüht ist, entlang derer eine »konsistente« Entwicklung der kantischen Philosophie schließlich doch noch innerhalb eines breit gefassten spinozistischen Rahmens zum Erfolg geführt werden kann. Es ist diese Stelle, an der nicht Freiheit zum primären Diskussionspunkt wird, sondern die Frage, ob das Selbst, frei oder nicht frei, mehr ist als ein bloßes »Akzidens«. Die mehr als bloß abhängige Natur unseres endlichen Denkens ist der zentrale Punkt, den Kant in der ersten Auflage seiner Erwiderung auf die zwischen seiner eigenen und der Philosophie Spinozas hergestellten Verbindungen herausstreicht. In seinem Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientiren?« von 1786 behauptet er: Es ist kaum zu begreifen, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spinozism finden konnten. [… Der] Spinozism spricht von Gedanken, die doch selbst denken, und also von einem Accidens, das doch zugleich für sich als Subject existirt: ein Begriff, der sich im menschlichen Verstande gar nicht findet und sich auch in ihn nicht bringen läßt.16 »den Spinozistischen Begriff von Gott als den einzigen mit allen Grundsätzen der Vernunft stimmigen« (Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, AA VIII, 143) setzen wollen. In einem Brief an Jacobi vom 30. August 1789 preist Kant Jacobi sogar dafür, dass dieser den »Syncretism des Spinozismus mit dem Deism in Herders Gott […] aufs gründlichste wiederlegt« (Immanuel Kant am 30. August 1789 an Friedrich Heinrich Jacobi, AA XI, 76) habe. Das bedeutet, Kant möchte in erster Linie jene kritisieren, die in irgendeiner Weise der Idee Vorschub leisten könnten, Spinozas Philosophie lasse Raum für echte moralische Zweckmäßigkeit. Aus ebendiesem Grund weist Kant an dieser Stelle auch wortgewandt Jacobis Wendung von der Vernunft zum Glauben zurück, indem er ihn anweist, »den Compas der Vernunft« nicht vorschnell über Bord zu werfen, das heißt: an der essentiellen Möglichkeit eines reinen Vernunftglaubens nicht vorbeizusegeln. In einem theoretischen Kontext ist es Spinozas Sichtweise, die Kant als erzdogmatisch erachtet: »Die Kritik beschneidet dem Dogmatism gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntniß übersinnlicher Gegenstände, und der Spinozism ist hierin so dogmatisch, daß er sogar mit dem Mathematiker in Ansehung der Strenge des Beweises wetteifert.« (Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, AA VIII, 143, Fußnote) In anderen Worten: »der Spinozism giebt aber vor, die Unmöglichkeit eines Wesens einzusehen, dessen Idee aus lauter reinen Verstandesbegriffen besteht« (Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, AA VIII, 143, Fußnote) − das heißt die Unmöglichkeit des theistischen Gottes −, während die kritische Philosophie lediglich argumentiert, dass wir keinen Einblick in die Möglichkeit eines solchen Objekts haben. 16 Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, AA VIII, 143, Fußnote.

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Da Kant in diesem höchst bedeutsamen Kontext gerade den Status der Subjektivität als den grundlegenden Unterschied seines eigenen zu dem System Spinozas heraushebt, ist es umso bemerkenswerter und verwunderlicher, dass Schleiermacher dennoch der Meinung ist, selbst in Hinblick auf dieses Thema könne eine Brücke zwischen dem transzendentalen Idealismus und dem Monismus Spinozas geschlagen werden. Das Zutrauen hierzu fußt größtenteils auf Schleiermachers ausnehmend scharfsichtiger Lektüre der kantischen Paralogismen. Bevor jedoch diese Lektüre (in Teil III) analysiert werden kann, müssen zunächst (in Teil II) einige weitere Aspekte der kantischen Sichtweise verdeutlicht werden.

II. Ein zweiter Blick auf die Erwiderungen Kants auf Spinoza Diese rasche Zurückweisung Kants einer jeglichen positiven Verbindung seines Systems zum Spinozismus könnte leicht als maßgebende akzeptiert werden, wäre nur unmittelbar klar, worin seine eigene Alternative zu dem besteht, was er als die Absurdität von »Gedanken, die doch selbst denken« auffasst.17 Auf den ersten Blick scheint Kants Ziel einfach darin zu bestehen, der Vorstellung solch offenkundig absurder »selbst denkender« Gedanken, die angeblich als eigenständige Subjekte existierten, die tatsächlichen Zuständen unseres Denkens gegenüberzustellen, die nicht für sich selbst existieren, sondern als Akzidenzen einer gewissen Substanz − namentlich eines »Ich, oder Er, oder Es (das Ding)«. Anstatt also davon zu reden, es gebe Gedanken, die »selbst dächten«, sollten wir sagen, dass es eine gewisse Substanz gibt, die, als Subjekt, denkt. Diesen Punkt einzuräumen, wäre indes für sich genommen noch keine hinreichende Grundlage, irgendeine Absurdität innerhalb des Spinozismus nachzuweisen. Im Unterschied zu Hume zielt Spinoza schwerlich darauf ab, einer etwaigen Metaphysik ohne Substanz das Wort zu reden − geschweige denn einer Ontologie bestehend aus Gedanken, die jeweils allein aus sich selbst heraus existieren. Zudem ist sich Kant ohne Frage bereits recht früh im Klaren über die spinozistische Strategie, zeigen zu wollen, dass, wenn irgendeine Substanz Gedanken denkt, diese Gott sein muss. Entgegen dieser Strategie, und in einem Schritt, den ich an anderer Stelle als das »Argument der Beschränkung« (»restraint argument«) bezeichnet habe, besteht der frühe Kant darauf, wir sollten in der Tat nicht annehmen, dass Handlungen wie die des endlichen Denkens so verstanden werden sollten, als seien hier ausschließlich Wahrheiten über Gott beteiligt.18 Vielmehr behauptet Kant, wir sollten glauben, dass 17 18

Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, AA VIII, 143, Fußnote. Vgl. Karl Ameriks: Interpreting Kant’s Critiques. Oxford 2003, 125. Und vgl. im

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Gott, mit all der Macht, die er besitzen mag, dennoch durch die Notwendigkeit »beschränkt« ist, den Dingen zuzugestehen, bestimmte Eigenschaften aus sich selbst heraus zu besitzen: Eigenschaften, die bereits »vor« einer jeglichen bestimmten Handlung Gottes in ihrem Wesen liegen, so dass − indes er auf diese Dinge einwirken und am Zustandekommen ihrer tatsächlichen Gedanken oder anderer Akzidenzen beteiligt sein mag − gesagt werden kann, in den Dingen selbst gebe es etwas, das es ihnen ermöglicht, diese Handlungen auch zu rezipieren. Nur auf diese Weise lässt sich, so Kant (in einer späteren Betrachtung), ein Sinn aus unserer Aussage gewinnen, diese Dinge nähmen gewisse Eigenschaften an, anstelle dass lediglich Gott neue Eigenschaften innerhalb seiner selbst annehmen würde: Man könte mit vielem Schein für den Spinosism sagen: wenn alle Kräfte und Vermögen einer von Gott geschaffenen und erhaltenen Substanz blos Gottliche Handlungen sind, wenn außer diesen sich von uns an ihnen nichts denken läßt, so könne man gar nicht einsehen, wie das Subiect derselben denn ausser Gott zu setzen sey. Dagegen aber, wenn wir an uns selbst wirkung und in ansehung anderer Dinge Gegenwirkung warnehmen, so ist wiederum nicht einzusehen, wie wir accidentia seyn sollten, welche niemals Subiecte des Handelns und Leidens sein können.19 Man beachte, dass Kants Argument an dieser Stelle auf eine allgemeine Weise formuliert ist, die über die spezifische spontane Natur des Denkens − wie immer diese Spontaneität aufgefasst werden mag − hinausgeht, denn es würde ebenfalls auf die passiven Aspekte unserer selbst zutreffen, wie zum Beispiel auf die uns eigene Form des Empfindungsvermögens. Daher heißt es bei ihm ebenfalls: Der »Mensch […] ist blos die Erscheinung eines Gottlichen Geschopfs. Sein Zustand des Handelns und Leidens ist Erscheinung und beruht auf ihm wie die Korper auf dem Raum.«20 Wenngleich dieses »Argument der

Besonderen Kant: »Metaphysik Herder« (1762−1764), AA XXVIII, 52. Diese Vorlesung stammt aus einer Periode Kants, in der dieser erst kurz zuvor von einer Version des Determinismus Abstand genommen hatte. Ich gehe davon aus, dass Kant auch dann noch bei dieser Argumentation bliebe, wenn eingeräumt würde, dass Gott existiert und jegliche Tatsachen über menschliche Subjekte ermöglicht. 19 Kant: »Bemerkungen Kants in seinem Handexemplar von Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie«, AA XVIII, Reflexion 6275 (1785−1788), 542. 20 Kant: »Reflexionen zur Metaphysik«, AA XVIII, Reflexion 6075 (1778–79), 440. Dieser Abschnitt beginnt folgendermaßen: »Gott hat den Menschen nicht unabhängigkeit von ihm (Gott) selbst, sondern von den Triebfedern der Sinnlichkeit […] gegeben. Die Handlungen derselben sind Erscheinungen […] der Raum nichts an sich selbst und kein Ding als göttliches Werk, sondern liegt in uns und kan auch nur in uns statt finden. Eben so das angenehme und dessen Unterscheidung vom Guten. Die Erscheinungen

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Beschränkung« von entscheidender Bedeutung für Kants Metaphysik als Ganzer zu sein scheint, wird es nicht im Detail ausgeführt; und es ist nicht leicht zu verstehen, wie es innerhalb eines neutralen argumentativen Kontextes als maßgeblicher Faktor begriffen werden kann. Insbesondere bleibt unklar, wie hiervon erwartet werden könnte, andere zu überzeugen, die, wie die Spinozisten, auf dem Standpunkt stehen, dass Gott, um Gott zu sein, alle Realität umfassen muss und folglich von »unserem« Sein und dessen Gedanken niemals »beschränkt« sein kann.21 In Spinozas Ethik findet sich eine Stelle von diesbezüglich unmittelbarer Bedeutung: Wenn wir daher sagen, die menschliche Seele nehme dieses oder jenes wahr, so sagen wir nichts anderes, als daß Gott, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch die Natur der menschlichen Seele erklärt wird oder sofern er die Wesenheit der menschlichen Seele ausmacht, diese oder jene Idee habe.22 Auch wenn diese Stelle von Kant nicht angeführt wird, ist ohne Zweifel ersichtlich, dass er mit ihrer Schlussfolgerung vertraut ist, denn an zahlreichen anderen Stellen erwähnt er, sein vorrangiges Problem mit dem Spinozismus sei die Behauptung, Gott »habe« buchstäblich unsere Gedanken.23 Hier ist allerdings zu bemerken, dass diesen Punkt zu betonen auch bedeutet, einzugestehen, dass die Hauptschwierigkeit mit dem Spinozismus nicht, wie zuvor, darin besteht, dass durch ihn endliche Gedanken entweder in absurde, frei flottierende Entitäten oder in selbständige Akzidenzen (das heißt Akzidenzen, die selbst Subjekte sind) verwandelt würden, sondern vielmehr darin, dass er sie (»uneingeschränkt«) zu Eigenschaften innerhalb Gottes (als Substanz) machen würde, anstatt zu Wirkungen innerhalb unser selbst als eigenständigen Substanzen. Weiterhin muss eingeräumt werden, dass die Weise, in der Spinoza diese Akzidenzen (namentlich die Zustände endlichen Denkens) als Gott innewohsind eigentlich nicht Geschopfe, also auch nicht der Mensch« (Kant: »Reflexionen zur Metaphysik«, AA XVIII, Reflexion 6057, 439 f.). Die Bedeutung der Reflexionen wird durch die Ähnlichkeit dieses Abschnittes zu einer Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft (1788) bestätigt (vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 102). 21 Vgl. Paul W. Franks: All or Nothing: Systematicity, Transcendental Arguments, and Skepticism in German Idealism. Cambridge 2005. 22 2p11c, E 60. Vgl. Stephen Nadler: Spinoza’s Heresy. Immortality and the Jewish Mind. Oxford 2001. Sowie Della Rocca: Spinoza, 105. 23 Vgl. beispielsweise (zu Spinozas »Egoismus« und »Enthusiasmus«, das heißt dessen dogmatischem Dogmatismus) Kant: »Metaphysik Herder«, AA XXVIII, 207; sowie ders.: »Reflexionen zur Metaphysik«, AA XVIII, Reflexion 6051 (1776−1779), 438; und ders.: »Vorlesungen über die philosophische Religionslehre« (1783/84), AA XXVIII, 1052.

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nende betrachtet, präziser, nämlich aus dem Blickwinkel der Schlüsselwendung »sofern«, verstanden werden muss. Obgleich dieser Absatz der Ethik schlussfolgert, dass Gott »diese oder jene Idee habe«, schreibt er diese Gedanken, oder Ideen, nicht Gott als solchem zu, »sofern er unendlich ist«, sondern lediglich »sofern er durch die menschliche Seele erklärt wird«, das heißt: bloß insofern, als wir allein von dem sprechen, was Wirkung und bloßer Teil des ens realissimum ist.24 Auf der Grundlage dieser Unterscheidung kann der Spinozist hervorheben, dass es sich hierbei nicht um eine Situation handelt, in der Gott unsere Gedanken an sich genommen hätte, ganz so, als wären sie fortan schlichtweg nicht die unseren, sondern die seinen. Die Wirklichkeit der Gedanken als endlicher Modi bleibt bestehen und mit ihnen auch die unsere als endlicher Glieder: Wir verfallen nicht in »lauter Wahn« – ganz wie der menschliche Erfinder einer Uhr eben der menschliche Erfinder einer Uhr bleibt, auch wenn diese Erfindung vorbestimmt ist.25 Was der Spinozist allerdings nicht unterstützt, ist die zusätzliche Behauptung, einige dieser Wirkungen könnten ihrerseits als Substanzen betrachtet werden (statt als auf besondere Weise organisierte Zusammenstellungen der Modi) − und zwar solcherart, dass die Eigenschaften des Denkens ausschließlich endlichen Dingen zugesprochen und keinesfalls als regelrechte Teile Gottes betrachtet werden sollten. Während Kant durchaus eine Art der begründenden Beziehung zwischen Substanzen und ihren Akzidenzen zugesteht − und nicht nur eine Beziehung der Inhärenz oder der Teile zum Ganzem −, besteht er darauf, dass diese immanente Begründung nicht von der gleichen Art ist wie diejenige der nichtimmanenten, die dort herrscht, wo eine Substanz auf eine andere, wirklich von ihr unterschiedene Substanz einwirkt.26 Es mag nun scheinen, als sei an dieser

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2p11c, E 60. Kant scheint diesen Punkt anzuerkennen, wenn er späterhin darüber spricht, auf welche Weise Gott, für Spinoza, nicht eine Summe, sondern eine Einheit ist, aus der die Dinge solcherart entspringen, dass die Umstände, eine Wirkung und ein Modus (eine Akzidenz) zu sein, zusammenfallen. Vgl. Immanuel Kant: »Metaphysik der Sitten Vigilantius« (1793), AA XXVII, 719: »der Spinozismus aber nahm an, daß diesem All der Dinge eine Einheit in Gott zum Grunde läge, daß die Dinge accidenzien wären, aus der Einheit der Substanz und Wirkungen der Gottheit«. Vgl. ebenfalls unten, Fußnote 26. 25 Siehe oben Fußnote 14. Wenn auch in diesem Zusammenhang unser Sein als ein Modus keine Illusion ist, so ist doch die Unabhängigkeit dieses Modus eine illusionäre. 26 Vgl. Kant: »Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll«, AA VIII, 224, Fußnote. Nachdem er Spinoza für dessen Umwandlung von Dependenz in Inhärenz getadelt hat, merkt Kant an: »Eine Substanz hat wohl außer ihrem Verhältnisse als Subject zu den Accidenzen (und deren Inhärenz) noch das Verhältniß zu eben denselben, als Ursache zu Wirkungen; aber jenes ist nicht mit dem letzteren einerlei.« (Kant: »Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden

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Stelle die Debatte in eine Sackgasse geraten: Spinozisten werden darauf beharren, dass der Begriff der Substanz solcherart definiert werden muss, dass er nur auf vollständig unabhängige Dinge zutrifft, während Kant und ihm Verwandte darauf bestehen werden, dass Substantialität und absolut unabhängige Existenz nicht notwendig auf diese Weise per definitionem verknüpft werden müssen. Wiederholt macht Kant dieses Anliegen einer Definition deutlich,27 aber ein solcher Zugang droht die philosophische Kernfrage auf einen bloßen Streit um Worte zu reduzieren und macht es erneut extrem schwierig, die Sache von einem Standpunkt aus zu beurteilen, der für diejenigen allgemeine Überzeugungskraft besitzt, die nicht bereits einer bestimmten Seite verpflichtet sind. Es gibt allerdings noch einen anderen Strang innerhalb von Kants Diskussion des Selbst − nämlich die einzig von Schleiermacher im Detail gewürdigten Betrachtungen der Paralogismen −, und diesen zu verfolgen, könnte zu einem fruchtbareren Vergleich mit der Position Spinozas führen.

III. Schleiermachers Interpretation der Paralogismen und ein dritter Blick auf Kants Erwiderungen auf Spinoza Eine Weise, hier erste Fortschritte zu machen, besteht darin, sich den offenkundigen Umstand in Erinnerung zu rufen, dass der direkteste Weg für Kant, seinen Widerstand gegenüber dem Spinozismus in Bezug auf die Substantialität des Selbst zu begründen, darin läge, sich auf ein cartesianisches oder leibnizianisches Argument stützen zu können: auf eine Argumentation, die zeigt, dass in den Ereignissen unseres endlichen Denkens selbst beschlossen liegt, dass wir die Substanzen sein müssen, denen allein Gedanken als Akzidenzen zugeschrieben werden sollten. Es gibt hier jedoch noch einen anderen wesentlichen, verblüffenden, und: ebenso offensichtlichen, Umstand − und zwar einen solchen, dem bemerkenswerter Weise Kant selbst, wann immer er etwaige Verbindungen seiner eigenen Sichtweise mit derjenigen Spinozas erörtert, keinerlei Aufmerksamkeit schenkt − nämlich den, dass die Kritik selbst, in dem soll«, AA VIII, 224, Fußnote). Spinoza scheint nur eine einzige Art von begründender Beziehung zulassen zu wollen, sodass der Umstand, etwas innezuwohnen, und derjenige, eine logische oder kausale Wirkung von etwas zu sein, in eins fallen. Diese Sichtweise geht mit merkwürdigen Konsequenzen einher: Zum Beispiel würde es, wie Della Rocca bemerkt, »seem that the chair inheres in or is a state of the carpenter« (Della Rocca: Spinoza, 69). 27 Vgl. etwa Kant, »Metaphysik L2« (1790/91), AA XXVIII, 563; sowie ders.: »Bemerkungen Kants in seinem Handexemplar von Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie«, AA XVIII, Reflexion 6275, 542; und ders.: »Philosophische Religionslehre nach Pölitz«, AA XXVIII, 1041.

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allerersten ihrer Paralogismen, darauf zu zielen scheint, Argumente für unsere Substantialität aufgrund des bloßen Phänomens des Habens von Gedanken direkt anzugreifen, anstatt sie zu verteidigen. Trotz der Offensichtlichkeit dieser Umstände wurde dieser Paralogismus immer wieder übersehen oder missverstanden.28 Nur sehr wenige Interpreten haben überhaupt von seiner direkten Bedeutung für die Frage der Beziehung zwischen Spinozas und Kants kritischer Position Notiz genommen,29 und sogar Schleiermacher legt keine direkte Betonung auf diesen speziellen Paralogismus. Was Schleiermacher ins Zentrum rückt, ist Kants kritische Diskussion des dritten Paralogismus, der sich mit der personalen Identität in der Zeit beschäftigt, obwohl in diesem Zusammenhang das Argument des ersten Paralogismus, und Kants kritische Diskussion desselben, offensichtlich von der größten Bedeutung ist, da es dieser Paralogismus ist, der ausdrücklich für die Substantialität des Selbst argumentiert. Glücklicherweise lassen sich Schleiermachers (höchstwahrscheinlich von seinem vorrangigen Interesse am »Flux-Phänomen« motivierte) detaillierte Bemerkungen zum dritten Paralogismus mühelos so erweitern, dass sie ebenso auf das Grundanliegen des ersten Paralogismus angewandt werden können − auch wenn sie schwerlich all das auszuschöpfen in der Lage sind, was über Kants extrem komplexe Haltung gegenüber der Thematik unserer Substantialität gesagt werden muss. Diese Diskussion Schleiermachers wurde hervorgerufen durch Jacobis Behauptung, Spinozas Position − und (hat man erst einmal akzeptiert, dass es zumindest eine tiefreichende Analogie zwischen der abgeleiteten Natur endlicher Modi in der Ethik und der abgeleiteten Natur von Raum und Zeit in der Kritik gibt) ebenfalls diejenige Kants − könne einen an den Punkt bringen, an dem »ich an meiner eignen Objektiven Personalität (das ist der wirklichen Identität meines Subjekts) zweifle«.30 Schleiermacher drückt dieses Ergebnis, unter Rückgriff auf Erwägungen zum dritten Paralogismus, sehr anschaulich aus:

28 Vgl. Karl Ameriks: Kant’s Theory of Mind. An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason. 2. Auflage. Oxford 2000 [1982], Kap. 2. 29 Eine Ausnahme findet sich, wie von Mariña (vgl. Mariña: Transformation, 96) und Franks (vgl. Paul W. Franks: All or Nothing. Systematicity, Transcendental Arguments, and Scepticism in German Idealism. Cambridge (Mass.) 2005, 95 f.) vermerkt, in einer Rezension von Herman Andreas Pistorius: »Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft v. Joh. Schultze, Königl Preuß. Hofprediger«, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 66/1 (1786), 92−123. 30 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. 2. Auflage. Breslau 1789, 337. Zitiert nach Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 538.

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Es fragt sich nun ob die bloß scheinbare Person möglich ist? Jakobi giebt das der Kantischen Behauptung daß ich zweifeln könne ob mein Bewußtseyn nicht fließend sei, mehr zu, als daß er es selbst behauptet.31 Das bedeutet: Ist eine »Person« einmal (wie von Kant hier vorgeschlagen) als ein vollständig durchgängiges Bewusstsein in der Zeit definiert, dann gibt es, auch wenn man sich subjektiv als ein und dasselbe Ding zu vielen verschiedenen Momenten bewusst zu sein scheint, dennoch keinen Weg, sei er empirisch oder nicht-empirisch, zu beweisen, dass dies auch wahrhaftig oder »objektiv« auf diese Momente zutrifft − ganz zu schweigen davon, dass es keine wesentlichen Sprünge zwischen den betrachteten Momenten gibt. Nun lässt sich »personale Identität« freilich so umdefinieren, dass sie einfach jedweden psychologischen Zugang gelten lässt, der für einen selbst, subjektiv gesehen, ausreichend beständig scheint; das aber würde lediglich heißen, den Gegenstand dieses klassischen rationalistischen Themengebietes zu wechseln. Kant, Jacobi und Schleiermacher gehen alle drei von der Voraussetzung aus, wir erfassten und akzeptierten eine Unterscheidung zwischen der Identität, die uns wahrhaftig und »objektiv« zukommt, und derjenigen Identität, die jedem einzelnen von uns für sich genommen subjektiv als solche erscheint. Sie scheinen ebenfalls alle anzuerkennen, dass, ist eine solche Unterscheidung erst einmal getroffen, es kein zweifelsfreies philosophisches Argument gibt, mit dem diese Lücke zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven sich schließen ließe. Insofern als die rationale Psychologie in Anspruch nimmt, eine Wissenschaft a priori zu sein, kann sie hier keinen Erfolg haben; und es ist gleichermaßen unklar, wie man auf rein empirischer Grundlage jemals cartesianische Sicherheit betreffs einzelner Momente von Identität sollte beanspruchen können. Es gilt allerdings zu beachten, dass jegliche Sorge einzig um die Sicherheit in Bezug auf zeitliche Kontinuität weit entfernt zu sein scheint von dem, was letztlich in der dramatischen Beunruhigung auf dem Spiel zu stehen scheint, ob man eine »bloß scheinbare Person« sei. Die tiefer reichende Sorge in diesem Fall ist sicherlich nicht bloß diejenige, ob man eine »Person« ist im technischen Sinne eines Wesens, das sich a priori über seine Identität in der Zeit sicher ist. Die wirklich tiefe Beunruhigung (die Schleiermacher als die zweite Hälfte des »doppelten Zweifels«, der hier entstehen kann, bezeichnet32) ist die, ob man in irgendeinem Moment überhaupt wirklich eine Person in einem substantiellen Sinne ist, anstatt im Gegensatz dazu bloß als eine solche zu erscheinen. Die 31

Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 539. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 541. Vgl. Mariña: Transformation. 74, die Manfred Franks »Einleitung« zitiert (vgl. Manfred Frank (Hg.): Friedrich Schleiermacher. Dialektik. Frankfurt 2001, 92). 32

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Kernfrage geht daher zurück auf die Frage des ersten Paralogismus, ob man, einfach als Ding mit Gedanken irgendeiner Art, überhaupt eine Substanz sein muss. Nur dann, wenn man bereits irgendeine Art bejahender Antwort auf diese Frage gelten lässt, kann man auch in schlüssiger Weise damit beginnen, sich über die weiteren Komplexitäten des zweiten und dritten Paralogismus den Kopf zu zerbrechen, das heißt darüber, ob die Einheit des Habens von komplexen Gedanken zu einem bestimmten Zeitpunkt zugleich zeigt, dass es ein und dieselbe Substanz ist, die jedem Teil eines solchen Gedankens unterliegt, und ob die augenscheinliche Kontinuität des Habens einer Reihe von Gedanken über die Zeit hinweg zeigt, dass es ein und dieselbe Substanz ist, die dieser Reihe unterliegt. Sicherlich: Es mag besonders einfach scheinen zu sehen, wie hier ein Problem entsteht, sobald man Fragen wie diese in einem transzendentalen idealistischen Zusammenhang aufwirft, da in diesem Kontext von Beginn an eine tiefe und grundlegenden Unterscheidung vorausgesetzt wird zwischen der Weise, in der Erscheinungen, und derjenigen, in der Dinge an sich charakterisiert werden. Einer der Punkte, den Schleiermacher und andere Interpreten33 herausgestellt haben, ist daher auch der Umstand, dass ein Kantianer nicht in konsequenter Weise darauf bestehen kann, wir wüssten genau, wie Phänomene und Noumena miteinander in Übereinstimmung gebracht werden könnten. Und dennoch: Auch wenn besondere Schwierigkeiten zugegeben werden, irgendwelche Beziehungen der Übereinstimmung festzusetzen, wenn Noumena mit im Spiel sind, sollte zugleich bedacht werden, dass diese Art der vertrauten Schwierigkeiten, die Schleiermacher hier thematisiert, für die Philosophie im Allgemeinen relevant sind. Sie könnten, zum Beispiel, ebenso in aktuellen Disputen darüber aufgeworfen werden, wie Begriffe unserer Alltagssprache mit den mysteriösen letzten Mikroentitäten der jüngsten Physik in Deckung zu bringen sind. Es ist daher nicht ausgemacht, dass hier für Kant selbst ein schwerwiegendes besonderes Problem entstehen muss − denn gerade er, unter allen Philosophen, ist kaum jemand, der starke Ansprüche erhebt auf ein Wissen jenseits des Bereichs sowohl unserer gewöhnlichen als auch der newtonschen Erfahrung. In der Tat argumentiert Kant explizit gegen die Annahme irgendeines Zugangs zu einer solchen exakten Übereinstimmung − wenngleich in einem selten zitierten Abschnitt (in seiner Entgegnung auf Eberhard, dem primären philosophischen Lehrer Schleiermachers): [E]s ist eine ganz mißverstandene Vorstellung von der Lehre von Gegenständen der Sinne, als bloßen Erscheinungen, denen man etwas Nicht-

33 Vgl. Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 548. Sowie Mariña: Transformation, 50.

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Sinnliches unterlegen muß, wenn man sich einbildet oder andern einzubilden sucht, hiedurch werde gemeint, das übersinnliche Substrat der Materie werde eben so nach seinen Monaden getheilt, wie ich die Materie selbst theile.34 Das Problem der »Übereinstimmung« stellt daher nicht so sehr einen Einwand gegen Kants eigene Sichtweise dar, sondern muss vielmehr als eine Überlegung verstanden werden, die er selbst gerade deshalb betont wissen möchte, um dogmatische und nicht-transzendentale Schlussfolgerungen darüber zu vermeiden, dass unser Erfassen der Erscheinungen, als zugängliche sinnliche Bestandteile von Raum und Zeit, uns ein sicheres Erfassen der »wirklichen Verbindungen« ermögliche, durch die Dinge an sich im Allgemeinen ausgezeichnet sind. Dieser Punkt für sich genommen muss nun allerdings nicht unbedingt zu irgendeiner ernsthaften Beunruhigung führen; er kann es schlicht erforderlich machen, dass wir zurückhaltend in Bezug auf jegliche Aussagen über etwas sind, das in keiner Weise in Begriffen unseres Empfindungsvermögens beschrieben ist. Auch wenn wir nicht genau wissen, welcher noumenalen Grundlage unsere Subjektivität entspricht: Solange zugestanden wird, dass es hier irgendein an sich seiendes »Etwas« gibt, braucht keine Rede davon zu sein, man hege wirkliche »Zweifel« daran, ob man überhaupt eine Substanz sei. Dieser Punkt wird auch von Schleiermacher selbst erfasst, wenn er an einer Stelle bemerkt, dass Jacobi zu weit geht mit seiner Implikation, ein Kantianer müsse wortwörtlich daran zweifeln, ob er eine Person sei. Schleiermacher beobachtet ganz richtig, dass es, um präzise zu sein, »vielmehr Unwissenheit«35 ist, die hier eine Rolle spielt; wobei »Wissen« in einem starken, nichts Geringeres denn theoretische Sicherheit verlangenden Sinne verstanden wird. Schleiermacher macht ebenfalls deutlich, dass er Kant selbst den Glauben daran zuschreibt, wir seien in der Tat Personen,36 weshalb, letzten Endes, die Situation für Kant nicht wirklich durch die Bezeichnung »lauter Wahn« oder als unser Getriebensein zum Zweifel beschrieben werden kann − einem Zweifel in dem Sinne, dass wir unseren Status als Personen für zweifelhaft hielten, anstatt als lediglich anzweifelbar in einem philosophisch-spekulativen Sinne. Zugleich beharrt Schleiermacher allerdings darauf, absolut keinen »positiven Grund« dafür ausmachen zu können, dass Kant, wie er es stets tut, an der Auffassung einer Vielzahl der Substanzen an sich festhält: »Einen posi34 Immanuel Kant: »Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll«, AA VIII, 209, Fußnote. Dieser Abschnitt wird zitiert in Karl Ameriks: Interpreting Kant’s Critiques. Oxford/New York 2003, 83. 35 Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 541. 36 Ebd.

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tiven Grund für die Mehrheit der Substanzen an sich dürft ihr [Kantianer] gar nicht anführen«.37 Ich verstehe das so, dass, für Schleiermacher, Kants Rekurs auf den Glauben in diesem Falle als ebenso unvermittelt und inakzeptabel erscheint wie Jacobis notorische Art und Weise des unregulierten Appells an einen Glauben im Sinne einer religiösen Offenbarung − ein Appell, dem Reinhold38 und dann auch Kant selbst eindringlich entgegentreten. Nichtsdestoweniger können Kantianer erwidern, dass der Gedanke, wir seien von anderen Substanzen unterschieden, keine unmittelbare Angelegenheit des Glaubens im Sinne der typischen umstrittenen ideologischen oder theologischen Doktrinen, mit denen Jacobi sich befasste, ist. Dieser Gedanke ist vielmehr der wirklich allgemein eingenommenen Standard-Einstellung aller gewöhnlichen Subjekte verwandt: einer Einstellung, der zugestanden werden kann, bis zum apodiktischen Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten. Abschließend lässt sich sagen: Der frühe Schleiermacher verbleibt letztlich in größerer Nähe zu Spinoza als zu Kant, da er desjenigen ermangelt, was die kritische Philosophie als eine Sache des gewöhnlichen, rationalen und hinreichenden Glaubens versteht − auch wenn dieses, technisch gesprochen, nicht als Wissen bezeichnet werden darf. Zum Mindesten wird hierdurch einmal mehr gezeigt, wie Spinozas Philosophie dadurch von bemerkenswertem Einfluss auf die deutsche Gedankenwelt war, dass sie jegliche Idealisten dazu herausforderte, sich erneut zu fragen, exakt welchen Grad an Autonomie sie dem endlichen Selbst als solchem zuzugestehen und wie weit sie tatsächlich zu gehen bereit wären in ihren Erwiderungen auf den radikalen Gedanken, wir seien niemals ursprüngliche Ursachen oder gar unabhängig existierende Subjekte.39

37

Schleiermacher: »Spinozismus«, KGA I/1, 549. Reinhold: Briefe, in: Der Teutsche Merkur (3) 1786, 99−141, 139−141. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787), B XL, Fußnote. 39 Der Autor ist den Teilnehmern der Tagung im Februar 2010 in Wien für ihre Diskussionsbeiträge zu diesen Themen sowie Kirsten Leuschner für die deutsche Übersetzung sehr zu Dank verpflichtet. 38

Thomas Kisser

Auf der Suche nach dem Anfang des Endlichen Schellings Auseinandersetzung mit Spinoza

Dies muß die Frucht einer universellen, den Menschen zur Natur zurückführenden Philosophie seyn, daß sie die heitere Betrachtung der Welt und der Menschen lehrt; daß sie lehrt, Handlungen und Dinge nicht in Bezug auf das Subjekt, sondern an sich selbst und in Bezug auf die Ordnung der Natur zu betrachten, in welcher nichts an sich selbst unvollkommen ist, sondern, wenn gleich in verschiedenen Graden, alles die unendliche Realität ausdrückt.1 Wir sagen z. B. ein Blinder ist des Gesichtes beraubt, weil wir ihn uns leicht als sehend vorstellen, mag nun unsere Vorstellung daher kommen, daß wir ihn mit anderen, die sehen, oder daß wir seinen gegenwärtigen Zustand mit seinem früheren, da er noch sah, vergleichen. Wenn wir diesen Mann auf diese Weise betrachten, entweder indem wir seine Natur mit der Natur der anderen oder mit seiner eigenen früheren vergleichen, dann meinen wir, daß das Gesicht zu seiner Natur gehört, und deshalb sagen wir, er sei des Gesichts beraubt. Aber sobald wir an Gottes Beschluß und seine Natur denken, können wir geradesowenig von jenem Mann sagen, er sei des Gesichtes beraubt, als wir dies von einem Stein sagen können, weil zu dieser Zeit das Gesicht so wenig ohne Widerspruch zu diesem Mann wie zu einem Stein gehört, weil eben zu diesem Mann nichts weiter gehört und nichts weiter sein eigen ist, als was der göttliche Verstand und Wille ihm beschieden hat.2 In den vorangestellten Zitaten zeigt sich eine grundlegende gemeinsame Intention Schellings und Spinozas. Es geht beiden um die Humanität, die sich einstellt, wenn der Blick sich von jeder Wunschvorstellung, Normativität und Urteilssucht löst, um zu sehen, was ist, ein Wort, das Schelling oft in Groß-

1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), in: ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Karl Friedrich August Schelling (im Folgenden zitiert als SW), I. Abteilung: Bde. 1–10 (= 1–10), II. Abteilung: Bde. 1–4 (= 11–14), Bd. 6. Stuttgart: 1860, 545. 2 Baruch de Spinoza am 28. Jan. 1665 an Willem van Blyenbergh, in: Baruch de Spinoza: Briefwechsel. Hg. von Manfred Walther. 3. Auflage. Hamburg 1986, 108. Vgl. dazu auch die Anmerkung zum § 305 in: Schelling: System (1804), SW 6, 543.

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buchstaben hervorhebt.3 Doch wie gelangt man zur Wirklichkeit jenseits aller subjektiven Befangenheiten? Diese Frage stellt sich immer auch spezifisch, und so muss sich auch das philosophische Denken selbst auf seine Befangenheiten hin kritisieren und davon frei machen. Unter dieser Fragestellung kann man sowohl Spinozas wie Schellings Denken betrachten, an dieser Frage aber wird sich auch die Kritik Schellings an Spinoza entzünden. Im Folgenden soll zunächst Schellings philosophische Entwicklung in den Jahren nach 1800 verfolgt werden, um sein Interesse an Spinoza in dieser Zeit zu verstehen,4 dann sollen die Nähe wie die Distanz Schellings zu Spinoza zwischen 1801 und 1809 analysiert und schließlich die Gründe gesucht werden, die Schelling zu seiner Kritik an Spinoza bewegen und ihn zugleich in seine Spätphilosophie führen.

I. Das Problem des Systemschlusses im System des transscendentalen Idealismus Nachdem Schelling seit etwa 1795 seine Naturphilosophie, die Konstruktion der Materie, der Dimensionen und des Organismus, in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften ausgearbeitet hat, entwirft er 1800 im System des transscendentalen Idealismus eine Konzeption der Subjektivität, die darauf aufbaut und eine neue Beziehung zwischen Natur und Geist stiften soll. Die Theorie der Subjektivität soll dabei als eine Beobachtung der Selbstkonstruktion des Subjektes funktionieren. Auch im Blick auf die Objektseite, in

3

Vgl. etwa Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems, in: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden zitiert als AA), Reihe I, Bd. 10. Stuttgart 2009, §§ 23 und 31, 125, 130; SW 4, 123, 128. 4 Seit der Schrift Vom Ich als Princip aller Philosophie (1795) ist Spinoza in der Philosophie Schellings präsent. In den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus (1795) taucht etwa der Begriff des Strebens im Sinne des conatus Spinozas im Herzen der Moralität auf und soll den kategorischen Imperativ mit einem naturalistischen Triebkonzept vermitteln. Vgl. dazu Annemarie Pieper: »›Ethik‹ à la ›Spinoza‹. Historisch-systematische Überlegungen zu einem Vorhaben des jungen Schelling«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 545–564. Auch in der Naturphilosophie vor 1800 ist Spinoza präsent als der »erste, der Geist und Materie als Eines […] ansah« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). Hg. von Manfred Durner, AA I 5. Stuttgart 1994, 76; SW 2, 20). Hier soll die weniger erforschte Identitätsphilosophie ab 1800 im Zentrum der Untersuchung stehen, nicht zuletzt um Kontinuität und Diskontinuität der Spinozakritik ab 1809 deutlich zu machen.

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der Naturphilosophie bzw. der Konstruktion der Materie, geht es Schelling um Selbstkonstruktion. Die Beobachtung der Selbstkonstruktion muss man von einem einfachen Konstruktionsgedanken unterscheiden. In der Beobachtung der Selbstkonstruktion soll nicht nur ein konsistenter Gedanke im Sinne eines Modells formuliert werden, sondern Wirklichkeit als Wirklichkeitstauglichkeit, als Möglichkeit und Vermögen zu erkennen und zu handeln, mit genetischer Notwendigkeit rekonstruiert werden. Für die Beobachtung der Selbstkonstruktion soll sich dabei eine Referenz zeigen, in der sich das Konstrukt bzw. das sich selbst Konstruierende als Wirklichkeit zeigt und so auch der Theorie selbst ihre Wirklichkeitsberührung gibt.5 Schellings Ausgangsposition im System von 1800 ist die These einer ursprünglichen und absoluten Einheit als Wesen von Wirklichkeit, die der Trennung in Subjekt und Objekt vorhergeht und zugrunde liegt und die in einer intellektuellen Anschauung eingesehen wird. Doch die in der intellektuellen Anschauung gewonnene Einsicht der Identität bleibt als solche noch unmittelbar und abstrakt, sie muss sich der Differenz aussetzen, um sich auch als Wahrheit der konkreten Welt zu zeigen und als Einheit wiederzugewinnen. Die eigentliche Herausforderung des Systemdenkens ist dieses Sich-Aussetzen in die Differenz und die Gewinnung von Wirklichkeit. Diese Suche gibt dem System seine Realisierungsdynamik. Daher kann die anfängliche Einsicht zunächst nur als Hypothese genommen werden, die durch einen zweiten Akt bestätigt werden muss. In diesem Systemschluss6 zeigt sich der Anfang des Denkens, die von Schelling selbst so charakterisierte subjektive intellektuelle Anschauung, auch als objektive intellektuelle Anschauung, als Anschauung der wirklichen Welt im Lichte des Prinzips.

5 Vgl. etwa die frühe Formulierung in der »Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur (Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre) (1797/98)«: »Jene Eigenschaft der Seele also, wodurch sie (einer SelbstAnschauung d. h.) einer unmittelbaren Erkenntniß fähig wird, ist die Duplicität ihrer Tendenz nach innen und nach außen. Indem diese beiden Tendenzen in ihr gleichsam sich durchdringen, entsteht ein Product, gleichsam eine reale Construction der Seele selbst.« (in: ders.: Allgemeine Übersicht (1797-1798) – An Heydenreich (1797) – Antwort auf Tittmann (1797) – Carus-Rezension (1798) – Offenbarung und Volksunterricht (1798) – Schlosser-Rezension (1798). Hg. von Wilhelm G. Jacobs und Walter Schieche, AA I 4. Stuttgart 1988, 107; SW 1, 380) sowie zur Konzeption der Materie: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). Hg. von Manfred Durner unter Mitwirkung von Walter Schieche, AA I, 5. Stuttgart 1994, 217 f.; SW 2, 223, und das ganze Kapitel »Grundsätze der Dynamik«. 6 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800). Hg. von Paul Ziche und Harald Korten, AA I 9. Stuttgart 2005, AA I 9,1, 43 f. und 328 f.; SW 3, 353 ff., 628 f.

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Schelling entfaltet die Differenz dabei als Differenz von Erkennen und Handeln, in die sich die ursprüngliche Subjekt-Objekt-Einheit trennt. Erkennen nimmt die Richtung vom Objekt auf das Subjekt und geht auf die Wirklichkeit der Welt, Handeln nimmt die Richtung vom Subjekt auf das Objekt und geht als Bewusstsein des Zweckes auf die Wirklichkeit des Subjekts. Wichtig ist dabei, eine Doppelung der Subjekt-Objekt-Struktur vorzunehmen. Denn wie sollte eine einfache und direkte Entgegensetzung von Subjekt und Objekt vermittelt werden? Tatsächlich müssen die Pole im Sinne eines Wiedereintritts der Differenz in die Differenz als subjektive Subjekt-Objekt-Einheit und als objektive Subjekt-Objekt-Einheit bestimmt werden, um die Möglichkeit ihrer Trennung wie ihrer Einheit zu schaffen. Stufenweise entwickelt das System von 1800 die Grundkompetenzen des Erkennens und des Handelns, um schließlich die ursprüngliche Einheit wiederzufinden.7 Wie lassen sich nun das objektive und konstative Moment des Erkennens und das subjektive und performative Moment des Handelns als Einheit begreifen und so die Identität des Menschen in der Welt verstehen? Tatsächlich ist im System von 1800 der Blick des Subjekts auf sich als Erkennendes nicht direkt vereinbar mit seinem Blick auf sich als Wollendes und Handelndes, der Analyse in Handeln und Erkennen entspricht keine direkte Synthese mehr. Während sich in der Sicht des Beobachters oder Philosophen eine Erscheinungslehre abzeichnet, in der sich die Zweiheit von Theorie und Praxis als Ausdrucksform des ungeschiedenen Einen ahnen lässt, kann dem Subjekt selbst die Einheit von Erkenntnis und Handlung nur in der Kunst deutlich werden. »Das Kunstwerk nur reflectirt mir, was sonst durch nichts reflectirt wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich sich schon getrennt hat.«8 Im inspirierten künstlerischen Akt vollendet sich das subjektive Subjekt-ObjektVerhältnis, das bewusste Handeln, die schöpferische Kraft, in das objektive Subjekt-Objekt, das Erkennen, die Erfahrung des Werkes als ein bewusstloses gnadenhaftes Gegebensein.9 Der anfänglichen subjektiven intellektuellen An-

7

Vgl. Schelling: System (1800), AA I 9,1, 29–32; SW 3, 339 ff. Schelling: System (1800), AA I 9,1, 325; SW 3, 625. 9 Vgl. Schelling: System (1800), AA I 9,1, 315; SW 3, 615. Die komplizierten Verhältnisse im Dritten Teil des Systems des transscendentalen Idealismus können hier nur angedeutet werden. Obwohl die Freiheit die praktische Struktur von Subjektivität als Handeln ausmacht, gehört sie eben auch der Welt als einem Ganzen zu, das als Ganzes jedoch einer inneren Notwendigkeit gehorcht, deren Erkenntnis wiederum allerdings die Freiheit vernichten würde: »Wenn nun aber jenes Absolute, welches überall nur sich offenbaren kann, in der Geschichte wirklich und vollständig sich geoffenbart hätte, oder jemals sich offenbarte, so wäre es eben damit um die Erscheinung der Freyheit geschehen. Diese vollkommene Offenbarung würde erfolgen, wenn das freye Handeln mit der Prädetermination vollständig zusammenträffe. Wäre aber je ein solches Zusammentref8

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schauung der absoluten Einheit tritt so im Kunstwerk eine objektive intellektuelle Anschauung zur Seite, beglaubigt die Erstere und schließt das System. Und so wird »nicht nur das erste Princip der Philosophie, […] sondern auch der ganze Mechanismus, den die Philosophie ableitet, und auf welchem sie selbst beruht, […] durch die ästhetische Production objectiv«.10 Doch diese Synthese bleibt offensichtlich in einem irreduziblen Maße kompensatorisch und symbolisch. So stellt sich die Frage, ob diese – von der Philosophie an das Kunstwerk delegierte – Darstellung von Einheit ausreicht, um die Zweiheit wieder in die ursprüngliche Einheit eintreten zu lassen? Denn wenn diese Einheit nur im besonderen Akt der Kunst sichtbar ist, stellt sich einerseits die Frage, ob sie überhaupt anders als im künstlerischen Akt als solchem sichtbar werden kann oder ob die Kunst nicht ein hermetischer Vollzug bleibt, von dem gar nicht klar wird, wie man von außen darüber sprechen kann.11 Und andererseits stellt sich fen, d. h. wäre die absolute Synthesis je vollständig entwickelt, so würden wir einsehen, daß alles, was durch Freyheit im Verlauf der Geschichte geschehen ist, in diesem ganzen gesetzmäßig war, und daß alle Handlungen, obgleich sie frey zu seyn schienen, doch nothwendig waren, eben um dieses Ganze hervorzubringen. Der Gegensatz zwischen der bewußten und der bewußtlosen Thätigkeit ist nothwendig ein unendlicher, denn wäre er je aufgehoben, so wäre auch die Erscheinung der Freyheit aufgehoben, welche einzig und allein auf ihm beruht.« (Schelling: AA I 9,1, 300; SW 3, 436) Daher die Notwendigkeit auf das Kunstwerk zu verweisen und ihm die Einheitsstiftung zu überlassen (vgl. Schelling: System (1800), AA I 9,1, 312–329; SW 3, 452–478). Man sieht auch hier das Problem beim Bewahren der konkreten Individualität gegenüber dem Ganzen. 10 Schelling: System (1800), AA I 9,1, 325 f.; SW 3, 625. Sicher muss man unterscheiden zwischen dem Standpunkt des Philosophen oder Theoriesprechers, desjenigen also, der beobachtet, und des sich konstruierenden Subjektes selbst. Doch dieses Verhältnis darf nicht zirkulär werden: Was im beobachteten, sich bildenden Subjekt nicht funktioniert, kann auch im beobachtenden Subjekt nicht in Anspruch genommen werden. Tatsächlich delegitimiert Schelling in den starken Formulierungen des 6. Hauptabschnittes des Systems des transscendentalen Idealismus die Philosophie in Hinsicht auf die Objektivität der intellektuellen Anschauung vollständig. 11 Offensichtlich hat Schelling nie recht verstanden, wie sehr die Frage der Mitteilungsfähigkeit der Kunst Hölderlin beschäftigte, der dabei aber nicht von einer philosophischen Deduktion oder Charakterisierung der Kunst ausging, sondern vom dichterischen Sprechen selbst, in dem er das eigentliche Paradigma von Mitteilung sah (vgl. etwa den Aufsatz von Paul Böckmann: »Sprache und Mythos in Hölderlins Dichten«, in: Hans Steffen (Hg.): Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Göttingen 1967, 7–30, wo Hölderlins Ode: »An unsre großen Dichter. Dichterberuf« (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Günther Mieth, 2 Bde., Bd. 1. München 1970, 228 u. 332–334) interpretiert wird.). Auch Hölderlins Übersetzungen und die »Anmerkungen zum Ödipus« von 1804, die Schelling laut eines Briefes vom 14. Juli 1804 an Hegel als Zeugnis von dessen »verkommnen geistigen Zustand« nahm, ist diesem Problem der Mitteilungsfähigkeit der Kunst als solcher gewidmet, denn auch in Bezug auf die Kunst hat man »unter Menschen, bei jedem Dinge, vor allem darauf zu sehen, daß es

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die Frage, ob die Philosophie ihre Legitimation, über die Wirklichkeit zu sprechen, in der Vermittlung durch die Kunst realisieren kann. Setzt sie, um die objektive Wirklichkeit der Kunst zu erkennen, damit nicht die Möglichkeit der Objektivität, die sie hier erst erwerben will, bei sich selbst schon voraus? In diesem Zirkel gelingt die Vermittlung des beobachteten und sich selbst konstruierenden Subjektes und des beobachtenden philosophischen Subjektes durch Schellings Konzeption der Kunst offensichtlich nicht.12 Hier muss tatsächlich ein neuer und höherer Standpunkt mit einbezogen werden, der implizit im System des transscendentalen Idealismus schon im Spiel ist.

II. Die Grundprinzipien des schellingschen Identitätssystems und das Interesse an Spinoza Schellings Identitätssystem zwischen 1801 und 1809 entwirft für diese Probleme – und in Reaktion darauf – einen neuen Rahmen. Die Darstellung meines Systems von 1801 beginnt, ebenso wie das System des transscendentalen Idealismus, mit einer direkten Einsicht in das Wesen der absoluten Identität.13 Diese etwas ist, d. h., daß es in dem Mittel (Moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist, daß die Art, wie es bedingt ist, bestimmt und gelehret werden kann« (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Günther Mieth, 2 Bde., Bd. 2. München 1970, 388–396, 388; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling am 14. Juli 1804 an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente. Hg. von Horst Fuhrmans, 3 Bde., Bd. 3. Bonn 1975, 94–96, 96). 12 Forschungsgeschichtlich nehmen wir in dieser Frage die Gegenposition zu Klaus Düsing ein, der – in mehreren Aufsätzen – vom Gelingen des Systems von 1800 ausgegangen war, um – konsequenterweise – Schellings Übergang zur Identitätsphilosophie auf den Einfluss Hegels zurückzuführen (vgl. u. a. Klaus Düsing: »Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena«, in: Dieter Henrich; Klaus Düsing (Hg.): Hegel in Jena. Bonn 1980, 25–44. Vgl. dazu den Forschungsüberblick von Harald Korten: »Vom Parallelismus von Natur- und Transzendentalphilosophie zur Identitätsphilosophie. Kontinuität oder Neuansatz in Schellings Philosophie? – Eine Problemskizze«, in: Hans Michael Baumgartner; Wilhelm G. Jacobs (Hg.): Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. StuttgartBad Canstatt 1996, 51–94, und vom Verf.: »Absolutheit und Relativität der Kunst. Über einige Aspekte in der Entwicklung Schellings vom System des transscendentalen Idealismus zum Identitätssystem und die Rolle des Spinozismus«, in: Martin Bollacher; Thomas Kisser; Manfred Walther (Hg.): Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Kunst, Literatur und Ästhetik. Würzburg 2010, 215–245. Die Problematik mit etwas anderem Akzent sieht zuletzt Mildred Galland-Szymkowiak: »›Un nouveau genre de verité‹ En quel sens l’art achève-t-il le Système de l’idéalisme transcendental?«, in: Archives de Philosophie 73 (2010), 467–483. 13 »Die einzige unbedingte Erkenntniß ist die der absoluten Identität.« (Schelling: Darstellung, AA I 10, § 7, 119; SW 4, 117)

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Einsicht ist jedoch kein Akt des Subjekts, sondern die Selbsteinsicht der absoluten Identität, die der Philosoph unter Abstraktion seiner Subjektivität vollzieht und sich so ins Absolute oder die Vernunft einsetzt. Vernunft als Selbsteinsicht der Identität ist das Vorher von Subjektivität und Objektivität, außerhalb dessen – wie Schelling in deutlichem Anklang an Spinozas Substanzbegriff formuliert – nichts und in dem alles ist.14 In dieser Fassung von Identität und Differenz kommt nun die Philosophie zu einem eigenen – nicht mehr geliehenen – Abschluss: »Absolutes Erkennen und absolutes Handeln sind ein und dasselbe, nur von verschiedenen Seiten angesehen.«15 Obwohl also Theorie und Praxis als unterschiedliche Potenzen durch die verschiedenen Richtungen zwischen Subjekt und Objekt unterschieden werden, kann die Vernunft diese Differenz integrieren. Die Einheit formuliert Schelling nahezu wörtlich mit Spinoza: »Für den, der in der Identität mit Gott ist, gibt es so wenig ein Gebot als eine Belohnung, sondern er handelt der inneren Nothwendigkeit seiner Natur gemäß.«16 Offenkundig ist die Nähe zum letzten Lehrsatz der Ethica, der die Glückseligkeit, beatitudo, nicht als Lohn der Tugend, praemium virtutis, sondern als die Tugend selbst, ipsa virtus (5p42, E 592), bestimmt und so jeden Tauschcharakter des rechten Handelns abweist. Schelling gelangt darüber hinaus zu einer Kritik des Gesetzes als moralischem Prinzip, da sich dieses »durch ein Sollen an[kündigt], d. h. es setzt die Möglichkeit von ihm abzuweichen, den Begriff des Guten neben dem Bösen voraus«. Anders als in einer Gesetzesmoral, die durch Differenz definiert ist, gilt in der wahren Moral absolute Einheit: »Wo […] absolute Freiheit ist, ist auch absolute Nothwendigkeit, derselbe also, welcher in der Identität mit Gott ist, handelt gleich diesem absolut frei und absolut nothwendig.«17 Während Handeln und Erkennen im System 1800 also nur symbolisch vermittelt wurden, finden wir jetzt eine reale – nicht nur praktische, sondern ontologische – Vermittlung durch und im Absoluten. Die Identität, in die Differenz gesetzt, zeigt die Nichtigkeit der Letzteren, die »wahre Philosophie [besteht] in dem Beweis, daß die absolute Identität (das Unendliche), nicht aus sich selbst herausgegangen seye, ein Satz, welchen von allen bisherigen Philosophen nur Spinoza erkannt hat«.18 14

Schelling: Darstellung, AA I 10, § 2, 117; SW 4, 115. Vgl. 1a1, E 6 und 1p15, E 30. Schelling: System (1804), § 304, SW 6, 540. Die Erläuterung dazu: »Der Unterschied, der zwischen dem Handeln und Erkennen gemacht wird, ist ein bloßer Unterschied der Potenz, d. h. ein unwesentlicher.« (Schelling: System (1804), § 304, SW 6, 540) 16 Schelling: System (1804), § 314, SW 6, 565. 17 Ebd. Und Schelling ergänzt: »Daß es ein in uns von der Erkenntniß unabhängiges Handeln gibt, oder daß ein solches geglaubt wird, dieß eben ist die erste Sünde.« (Schelling: System (1804), § 310, SW 6, 556) 18 Schelling: Darstellung, Erläuterung, AA I 10, § 14, 121; SW 4, 120. 15

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Man kann nun das Interesse Schellings an Spinoza verstehen. Ebenso wie in der Ethica Spinozas stiftet der richtige Anfang der Philosophie unmittelbar beim Absoluten eine mediale Einheit, die sich in der – auch von Schelling benutzten – konstruktiven Methode, dem mos geometricus, ausdrückt und die Schelling insbesondere gegen die Philosophie endlicher Subjektivität, wie sie seiner Ansicht nach von Fichte vertreten wird, ins Feld führt.19 Wie muss man dabei nun Differenz verstehen? Schelling unterscheidet zwischen der Qualität, die als ist immer eins ist, und der Quantität, die Vielheit zulässt. Differenz wird daher als quantitative Differenz im Gegensatz zur quantitativen Indifferenz eingeführt. Während auf dem Niveau des Ganzen Erkennen und Sein, Subjekt und Objekt, Affirmierendes und Affirmiertes, absolut eins sind und quantitative Indifferenz herrscht, verschieben sich unterhalb dieses Niveaus, das heißt in Ansehung von Quantitäten oder Teilen, die Grade von Subjektivität und Objektivität. Es kommt zu einer Nichtübereinstimmung – erkenntnistheoretisch formuliert – von subjektivem Begriff und objektiver Anschauung, die ein verzerrtes Bild der Welt ergibt. Nur für eine solche verendlichte und verendlichende Perspektive gibt es Endliches oder Einzelnes.20 Und obwohl oder gerade weil nichts außerhalb der Vernunft und der Identität ist, ist »die quantitative Differenz nur außerhalb der absoluten Identität möglich«.21 Mit anderen Worten, die quantitative Differenz hat als Teil keinen Teil an der in sich einheitlichen Beschaffenheit oder Qualität des ist, sondern erzeugt nur einen unwesentlichen Schein und verschleiert lediglich, dass wir uns immer schon im ist und nur im ist des Absoluten befinden und finden. Das Programm, die Identität als die Wahrheit der Differenz wieder zu finden, bedeutet nun, die Nichtigkeit der Differenz einzusehen und sich zur Einsicht in die Identität als wahrer Qualität der Wirklichkeit zu erheben. Während im System von 1800 die Untersuchung der Differenz sozusagen nachgab und nachging, um zur Identität des Subjekts zurückzufinden, werden jetzt offenbar keinerlei Konzessionen an die Differenz mehr gemacht. Doch bei aller Scheinhaftigkeit der Perspektivität müssen doch Betrachtungs- oder Erscheinungsweisen des Seins unterschieden werden, deren nicht realer Status 19 Vgl. dazu: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling am 3. Oktober 1801 an Johann Gottlieb Fichte, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe 1800–1802. Hg. von Thomas Kisser, AA III 2. Stuttgart 2010, AA III 2,1, 372–379. 20 »Es giebt kein einzelnes Seyn, oder einzelnes Ding an sich.« (Schelling: Darstellung, AA I 10, § 28, 127; SW 4, 125) Zur graduellen Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität vgl. Schelling: Darstellung, §§ 45 und 46, 138; SW 4, 136 f. Vgl. dazu auch den interessanten Brief Eschenmayers in: Schelling: AA III 2,1, 357 ff. 21 Schelling: Darstellung, AA I 10, § 25, Zus., 126; SW 4, 125. »Der Unterschied, der zwischen dem Handeln und Erkennen gemacht wird, ist ein bloßer Unterschied der Potenz, d. h. ein unwesentlicher.« (Schelling: System (1804), § 304, SW 6, 540)

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mit der Tradition – durch Spinoza vermittelt im Rückgriff auf Duns Scotus – durch den Terminus der bloß formalen oder modalen Distinktion bezeichnet wird.22 Das Absolute lässt sich grundsätzlich als absolute Affirmation verstehen und in Affirmiertes und Affirmierendes unterscheiden – Spinoza hatte von natura naturans und natura naturata gesprochen –, und diese Differenz tritt nun an die Stelle konventioneller und nominalistischer Annahmen über Einzelheit und Differenz. Als eigentümliche Differenz des Identitätssystems taucht damit ein Dreischritt auf, der als solcher auf Wirklichkeit referieren will und den Anspruch der Selbstkonstruktion des Beobachteten einlösen soll: Erst wo Affirmierendes, das heißt Ideales und Subjektives einerseits, und Affirmiertes, das heißt Reales und Objektives andererseits, sich jeweils für sich setzen, kann auch deren Einheit gesetzt werden.23 Beispielsweise gliedert sich die Natur in den Magnetismus, das heißt die Linienkraft, und in die Elektrizität, das heißt die Flächenkraft, die beide von der Struktur des Chemismus oder der Stofflichkeit des Körperlichen zur Einheit gebracht werden, was wiederum im lebendigen Organismus affirmiert wird bzw. sich selbst affirmiert. Mit der Kohäsionskraft im Magnetismus ist so das subjektive, sich auf sich beziehende Moment gesetzt, mit der Expansionskraft der Elektrizität das objektive, auf den Zusammenhang gehende Moment, die vom Chemismus als Totalität vereint werden, der im Organismus sein eigentliches Wesen findet.24 Doch damit ist kein realer Unterschied in der Natur gesetzt, die als ganzes ein Organismus ist, sondern eben nur ein formaler, ein Unterschied der Betrachtungsweise. Daran kann die Erkenntnis von Identität ansetzen, Wirklichkeit als Wirklichkeit des Absoluten zeigt sich in Ideen oder Potenzen.25 Ideen organisieren sich zwar in der Differenz, aber auch als Formen zugleich der Selbstorganisation und der Selbsterkenntnis. Ein Beispiel: Was ist das Wesentliche der Pflanze, als die unendliche Zeugung und Affirmation von sich selbst. Das Wesentliche der Pflanze ist also das All selbst in der unendlichen Zeugung von sich selbst angeschaut, und dieser Begriff, dieses Wesen des All, kraft dessen es sich selbst auf unendliche Weisen erzeugt, dieser Begriff wird zum Begriff der Pflanze erst durch Negation, d. h. nur dadurch, daß er nicht als Begriff des All angeschaut wird.26

22 23 24 25

Vgl. Schelling: Darstellung, AA I 10, § 30, Anm., 128 f.; SW 4, 127. Vgl. Schelling: Darstellung, AA I 10, § 50, 141 f.; SW 4, 139 f. Vgl. Schelling: Darstellung, AA I 10, § 110–112, 181 ff.; SW 4, 182 ff. Zweifellos ein Unterschied, den wir aber für unsere Zwecke vernachlässigen kön-

nen. 26

Schelling: System (1804), § 33, SW 6, 184.

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Tatsächlich erkennen wir also immer nur die Einheit von Affirmierendem und Affirmiertem – Erkenntnis ist ja als Übereinstimmung von Begriff und Anschauung eine Form der Einheit von Affirmierendem und Affirmiertem –, allerdings in Aspekten und an bestimmten Komplexen. Indem wir eine Eigenschaft des Alls nicht dem All selbst, sondern einem besonderen Komplex zusprechen, bilden wir eine Idee oder eine Potenz, die an sich allerdings Nichts ist. Heben wir die Negation oder die Referenz auf das Besondere auf, so erkennen wir das Absolute selbst, das sich zwar nur in Abschattungen zeigt, aber eben in der Negation der Negation erkannt werden kann. Dabei wird – anders als bei Hegel – die Negation nicht aufgehoben in einem Sinne, dass irgendetwas von ihr bleibt, sie wird lediglich in ihrer Nichtigkeit durchschaut.27 Im Falle der Ideen gelangen wir durch die Negation der Negation zu Einsichten über das All. Die Negation äußert sich allerdings auch in der anderen Richtung, in der sie völlige Nichtigkeit affirmiert. Im Falle von Erwartungshaltungen, die zu Wesensaussagen hochstilisiert werden, zeigt die Negation lediglich die Existenz eines Vorurteils an. Schelling nimmt wie Spinoza das Beispiel der Blindheit. Man sagt, einem Blinden fehle das Augenlicht, aber an sich oder im Lichte des Prinzips betrachtet ist der Blinde so vollkommen wie er nur sein kann. Nur weil wir einen abstrakten Begriff des Menschen bilden, zu dem die Fähigkeit zu sehen gehört, und diesen Begriff unreflektiert als Norm setzen, fällen wir dieses Urteil, bringen damit aber nichts anderes als eine subjektive Erwartung bzw. deren Enttäuschung zum Ausdruck.28 Dies gilt auch für die Wertung eines Geschehens als böse, das nur ein Produkt unserer endlichen Perspektive darstellt und an sich nichts ist. Die Moral als Einteilung in gut und böse selbst errichtet über diesem Subjektivismus nur noch den ideologischen Überbau.29

27

Vgl. etwa Schelling: System (1804), § 304, SW 6, 540 f.: »Die Besonderheit ist aber an den Dingen nicht eine Bestimmung des Wesens, sondern das, was nicht zum Wesen gehört, bloß auf Vergleichung, Entgegensetzung beruht. Diese Besonderheit an dem besondern Ding ist daher nicht als eine Aufhebung seiner Unendlichkeit zu denken, sondern vielmehr als das, was ihm fremd ist, das bloß Nichts an ihm ist. Jedes Ding seinem Wesen nach oder an sich betrachtet ist vielmehr ein actu Unendliches (eine Totalität in Bezug auf sich selbst), die Endlichkeit kommt ihm nicht an sich selbst zu, sondern bloß relativ oder in Vergleichung mit andern.« 28 Vgl. Schelling: System (1804), § 305, Anm., SW 6, 543, und Spinoza am 28. Januar 1665 an Willem van Blyenbergh, in: Baruch de Spinoza: Briefwechsel, 108. 29 Die ausführliche Abhandlung dieses Sachverhaltes in Bezug auf die gewöhnliche Moral findet sich in Schelling: System (1804), § 305, SW 6, 541 ff. In den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie heißt es: »Beraubung findet nur da statt, wo einem Ding genommen ist, was zu seinem Begriff gehört. Aber nach der absoluten Identität, die im All zwischen dem Begriff und der Existenz ist, kann zum Begriff eines Dings, sofern er enthalten ist im Begriff des All, nichts gehören, das nicht auch durch die Existenz des Dings ausgedrückt wäre.« (Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die

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Denn die Legitimität subjektiver Erwartungen erfolgt nur aus der Verselbstständigung einer formalistisch verstandenen Subjektivität, die leere Formen produziert, wie eben die Moral, und die immer schon gegebene Übereinstimmung von Subjekt und Objekt leugnet.30 Die Nichtung der eigenen Nichtigkeit als eines besonderen und endlichen Wesens mündet dagegen in die ethische Souveränität, denn in »der Seele als solcher« gibt es »keine Freiheit, sondern nur das Göttliche ist wahrhaft frei, und das Wesen der Seele, sofern es göttlich ist«.31 Und Schelling fügt hinzu: »Aber in dem Sinn gibt es dann auch kein Individuum.«32 Die endliche Realität kann so nur in einer Art instantaner Aufhebung verstanden werden: »Die Endlichkeit im eigenen Seyn der Dinge ist ein Abfall von Gott, aber ein Abfall, der unmittelbar zur Versöhnung wird.«33 Der Abfall vom Ganzen ist per se eine Entgegensetzung zum Ganzen. Das sich isolierende Subjekt sucht sein eigenes Sein, seine Selbstständigkeit in einem bloß vordergründigen Bewusstsein, das seinen wahren Ursprung vergessen hat und sich nur noch in Gegensätzen definiert, wie etwa dem von Gut und Böse. Wird dagegen Objektives und Subjektives in seiner Einheit eingesehen, ist die Vernunft selbst am Werk und erkennt in dem vermittelnden Dreischritt – Setzung des Subjektiven, Beziehung auf das Objektive, Einheit beider – wahre Wirklichkeit. Dieser Dreischritt bildet auch den Grundcharakter von Darstellung. Denn das Subjektive stellt – analog zur Kohäsion in der Natur – das selbstbezügliche identitätshafte Moment dar, das objektive – analog zur Expansion in der Natur – das umfassende Totalitätsmoment, und die Einheit der Totalität in der Identität ist die Darstellung: Darstellung ist daher der eigentliche Charakter von System. Diese Darstellung geschieht als Einbilden der Totalität in die Identität und erzeugt die Realisierungsdynamik des Systems, die das Subjekt zur Einheit mit der Welt führt.

Naturphilosophie, SW 7, 188) Und in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) heißt es: »Wenn ich aber ein Wesen in Vergleichung betrachte, so betrachte ich es nicht an sich selbst, d. h. nicht philosophisch.« (Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 431) 30 »Die Freiheit in ihrer Lossagung von der Nothwendigkeit, d. h. die Besonderheit im eigenen vom All abgetrennten Leben, ist nichts und kann nur Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit anschauen.« (Schelling: System (1804), § 307, SW 6, 552) 31 Schelling: System (1804), § 305, SW 6, 541. 32 Ebd. 33 Schelling: System (1804), § 315, SW 6, 566.

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III. Die Einheit von Körper und Geist in Spinozas Parallelismus der Attribute und ihr ethischer Sinn Spinoza eröffnet die Ethica mit der Abfolge von qualitativer Einheit auf der Ebene der Attribute und quantitativer oder numerischer Differenz in den Modi als vollständiger Disjunktion der Möglichkeiten, Differenz zu denken (1p4, E 10). Die als Qualitäten in sich identischen unveränderlichen Attribute Ausdehnung und Denken sind verschiedene, diversa, Ausdrucksformen der Substanz, die sich zu unterschiedenen, distincta, Einzelwesen, Körpern und Ideen von Körpern modifizieren. Dabei sind die verschiedenen Formen, die Attribute, nicht im eigentlichen Sinne unterschieden, distinkt. Sie drücken vielmehr denselben Sachgehalt der Substanz aus. Der menschliche Körper und der menschliche Geist sind daher ein und dasselbe Ding unter verschiedenen Betrachtungsweisen (2p7s, E 110). In dieser – als Parallelismus bezeichneten – Konzeption sucht Spinoza den cartesischen Dualismus von Körper und Geist zu überwinden. Das Konzept des menschlichen Körpers als distinktem Modus der Ausdehnung ist für die Spinozistische Philosophie daher von großer methodischer Bedeutung, denn es gibt der Ethica ihre konkrete Referenz. Nachdem die Notwendigkeit allen Geschehens aus dem Begriff der Substanz und ihrer Attribute abgeleitet und der Parallelismus von Denken und Ausdehnung in ganz allgemeiner Form gezeigt wurde, definiert der menschliche Körper bzw. dessen Idee, idea corporis oder mens, den eigentlichen Gegenstand wie auch Adressaten der Ethica: Die Erkenntnisfähigkeit und Affektstruktur des menschlichen Körpers, bzw. des Geistes als Idee des menschlichen Körpers (2p13, E 124). In der so genannten Körperlehre wird die Struktur des Attributes der Ausdehnung als Organisation von Korpuskeln entwickelt (2p13a1 ff., E 16 ff.). Ausgehend von den einfachsten Körpern, die sich in jeder Geschwindigkeits- oder Richtungsänderung neu definieren, steigert sich diese Organisation zu den komplexen und stabilen organischen Körpern, die als Zusammensetzungen von Zusammensetzungen verstanden werden und bildet schließlich den komplexesten Körper, das Universum insgesamt, das in sich eine unendliche Fähigkeit zur Veränderung integriert, als Ganzes jedoch ohne jede Veränderung auskommt. Der menschliche Körper als komplexer Körper, als Zusammensetzung von Zusammensetzungen, zeigt sich dabei als Fähigkeit, auf sehr vielfältige Weisen zu affizieren und affiziert zu werden (2p14, E 138) und bietet so im Attribut der Ausdehnung das Pendant eines Geistes, der viele Affektionen wahrzunehmen und viele Affekte und Erkenntnisse zu verarbeiten und hervorzubringen vermag. Noch der drittletzte Lehrsatz der Ethica zeigt mitten in der Darstellung des ewigen Teils der Seele, wie sehr Spinoza auf diesem Parallelismus insistiert. »Wer einen zu sehr vielen Dingen geschickten Körper hat, hat einen Geist, dessen größter Teil ewig

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ist.«34 Der menschliche Geist wiederum als quantitative Differenz zu anderen Individuen und zum Ganzen ist als die Idee dieses Körpers bestimmt, die selbst Ideen hervorbringt: Die Idee, die wir sind, erzeugt die Ideen, die wir haben. Während aber im göttlichen Intellekt alle Ideen vollständig sind und die Körperwelt adäquat abbilden, hat der menschliche Intellekt eine quantitative Beschränktheit und daher meist unvollständige und inadäquate Ideen. Die theoretische Durcharbeitung der Erkenntnistheorie und der Affektenlehre in den drei Erkenntnisgattungen ist nun nichts anderes als die deduktive Ausarbeitung dieser Kapazitäten. Die Begriffe conatus, actio, libertas, virtus, beatitudo bezeichnen dabei die Steigerung ein und des selben Sachverhaltes und meinen die gelungene Form der Selbstbestimmung, die ihre basale Form im In-sich-Sein hat, das bereits die Selbsterhaltung definiert: »Jedes Ding strebt, so viel an ihm liegt, in seinem Seyn zu verharren.«35 Das In-sich-Sein als Form des ist, das in den Modi sozusagen portioniert und im potenziellen Gegensatz zum In-sich-Sein der Selbsterhaltung anderer Modi auftaucht, bildet dabei die Basis sowohl der Vereinzelung als auch der möglichen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit in wahren Erkenntnissen und nützlichen Handlungen. Die Realisierungsdynamik der Ethica zeigt sich daher als Weg des Menschen zur wahren Erkenntnis und seelischen Stabilisierung. Er kann seine eigenen Zustände in der Lektüre der Affektenlehre, das heißt der genetischen Definitionen der Affekte (3affd, E 336–370), wiedererkennen und an deren Leitfaden die ursächlichen Zusam34 »Qui corpus ad plurima aptum habet, is mentem habet, cujus maximus pars est aeterna.« (5p39, E 584) Deutsche Übersetzungen hier und im Folgenden zitiert nach: Baruch de Spinoza: Opera – Werke. Hg. von Konrad Blumenstock, lateinisch und deutsch, 4 Bde., Bd. 2: Tractatus de intellectus emendatione, Ethica – Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes, Ethik. Darmstadt 1967, hier 551. 35 »Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.« (3p6, E 238) Deutsche Übersetzung nach Spinoza: Werke. Edition Blumenstock, 273. Offensichtlich wird hier die Bedingung formuliert, unter der der Sachverhalt der Selbsterhaltung stattfindet. Dabei gibt es keinen ersichtlichen Grund, von der wörtlichen Übersetzung des »quantum in se est« abzuweichen und, wie Bartuschat, »gemäß der ihm eigenen Natur« zu übersetzen. Tatsächlich wird mit dieser Übersetzung ein Wechsel in eine andere Kategorie vollzogen: Die Wieviel-Bestimmung, die Spinoza hier setzt und von der man fragen muss, in welchem Sinne sie gemeint ist, ist eine andere als die WasBestimmung durch die spezifische oder eigene Natur, von der Bartuschat spricht. Da das In-se-esse hier quantifiziert wird, aber kein extensives Quantum darstellt, muss man darin eine inextensive oder eine intensive Größe sehen, die als graduell charakterisierte Kraft als Voraussetzung der extensiven Größe, also der faktisch feststellbaren Selbsterhaltung, gesetzt werden muss. Deleuze vermisst allerdings die direkte Formulierung der intensiven Größe bei Spinoza (vgl. dazu Simon Duffy: The Logic of Expression. Quality, Quantity and Intensity in Spinoza, Hegel and Deleuze. Hampshire 2006, 113 ff. sowie die Kapitel vier und fünf).

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menhänge, die zu diesen Affekten führten, erforschen. Diese folgen als Gemeinbegriffe, notiones communes, aus der spezifischen Struktur des menschlichen Individuums. Hält man diese Begriffe der Affekte zusammen mit der Vorstellung eines freien Menschen (4p67–4p73, E 494–504), die den Sachverhalt des In-sich-Seins vorbildhaft entwirft, so vermag man damit als Kriterium Lehren für den Umgang mit seinen negativen Affekten zu ziehen und aus einer negativen Lebensdynamik in eine positive umzusteigen. Dieses an einem Idealbild orientierte Vorhaben zeigt die Bedeutung der Zweckhaftigkeit für das menschliche Leben. Wo sich die Erkenntnis einer Übereinstimmung von innerer und äußerer Wirklichkeit – und adäquate Erkenntnis ist immer die Erkenntnis einer Übereinstimmung – als spontanes Verstehen der individuellen Situation ergibt, können wir von der dritten Erkenntnisgattung sprechen, die jede Zweckhaftigkeit übersteigt und in reine sich selbst steigernde Lebenslust übergeht.36 Ethik funktioniert daher nicht als Herrschaft des Geistes über den Körper gemäß einem Gesetz und einer zu treffenden Wahl, sondern als Aktivierung von Körper und Geist gleichermaßen.37 Auch bei Spinoza finden wir eine Kritik des sich gegen die Welt definierenden Selbstbewusstseins und der damit verbundenen Befangenheit des Denkens als solchen: Die illusionäre Souveränität des Subjekts, die sich als willentliche Realisierung von Gesetzlichkeit bestimmt, steht tatsächlich immer am Ende der Ursachenkette und bleibt Bewirktes, worüber es sich nach Spinoza allerdings täuscht.38 So ergibt sich bei Spinoza die Forderung, die Subjektivität mitsamt der Willensfreiheit als bloßen Schein zu

36 Vgl. dazu vom Verfasser: »Die dritte Gattung der Erkenntnis und die vernünftige Liebe Gottes«, in: Michael Hampe; Robert Schnepf (Hg.): Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin 2006, 283–296. 37 Wie Gilles Deleuze formuliert, denkt Spinoza das Bewusstsein wie den Körper gleichermaßen nach dem Modell des Körpers (vgl. Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin 1988 (Paris 1981), 28). Die Bedeutung des Körpers für Spinozas Theorie macht in einer ähnlichen Einschätzung, aber mit anderer Wertung Jacobi klar, wenn er im Gespräch mit Lessing das Gespräch selbst spinozistisch charakterisiert: »Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit, nebst den Begriffen davon, und den Begriffen von diesen Begriffen«, ein Sachverhalt, der für Jacobi Fatalismus bedeutet (Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785). Hg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Hamburg 2000, 26). 38 Dabei folgt die Entwicklung der Normativität denselben Strukturen wie im Konzept des Ressentiments bei Nietzsche als Idealisierung der Ohnmacht. Vgl. etwa Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. München 1988, Aph. I,14, 281 ff.

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erkennen und diesen auf die wahre Wirklichkeit hin zu übersteigen, in der wir uns als intensives Moment eines Kontinuums von Kräften eben nicht primär: reflexiv begreifen, als eher: wirklich bewegen. Die Erkenntnis begleitet gemäß dem Parallelismus diese Selbstbewegung, sie formiert sich nicht nach dem traditionellen Bild des Geistes, sondern selbst als Form der Bewegung.39

IV. Spinozas Parallelismus und Schellings Subjekt-Objekt-Einheit An die Stelle einer Gesetzesmoral tritt bei Spinoza eine Konzeption des Menschen als Spontaneität und Potenz des Unendlichen, die sich im Rahmen des Parallelismus im menschlichen Geist wie im Körper gleichermaßen zeigt. Doch während Spinoza die Modifikation primär durch die körperliche Organisation denkt, die einen mentalen Ausdruck im Bewusstsein findet – den teleologischen Theorien wie den Theorien des freien Willens hält Spinoza vor, gar nicht zu wissen, »was der Körper vermöge«40 –, thematisiert Schelling mit der Verschobenheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses eine Beziehung von Materie und Geist, die bei Spinoza gerade ausgeschlossen wird.41 Die Attribute sind material identisch und formal absolut geschieden, es gibt keinerlei Verbindung zwischen ihnen. Systematisch gesehen macht gerade diese absolute Getrenntheit der Attribute bei Spinoza die Frage des Bewusstseins des Körpers bzw. die Einheit von Körper und Geist fragwürdig. Denn diese Übereinstimmung bleibt theoretisch vollständig von ihrem gemeinsamen Ursprung in der Substanz abhängig und steht damit in einer nachkantischen Perspektive unter Metaphysikverdacht. Schelling ergänzt nun die quantitative Differenz, die Spi-

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Vgl. dazu Gilles Deleuze: »Spinoza und wir«, in: ders.: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin 1988 (Paris 1981), 159–169 . 40 »quid corpus possit, nemo hucusque determinavit« (3p2s, E 228), deutsche Übersetzung nach Spinoza: Werke. Edition Blumenstock, 265. 41 Tatsächlich kann Schelling mit seiner Portionierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses an ein »Portionierungstheorem« Spinozas anschließen. Wie oben schon bemerkt, kann der menschliche Geist, da er nur ein Teil des göttlichen Geistes ist, die meisten Ideen nicht in vollständiger konstruktiver Geschlossenheit haben wie der göttliche Verstand, der eine vollständige Abbildung des Attributes des Denkens ist. Vor allem die erste Erkenntnisgattung, in der wir zwar Gegenstände wahrnehmen, aber keine wahre Ursachenkette bilden können, könnte man als Übergewicht des Objektiven über das Subjektive bestimmen, während die zweite Erkenntnisgattung über Allgemeinbegriffe vielleicht als Übergewicht des Subjektiven über das Objektive und die dritte Erkenntnisgattung als Einheit beider begriffen werden könnte. Aber damit ist die Beziehung zum Attribut der Ausdehnung oder zur Materie – um die es Schelling bei der Portionierung geht – nicht tangiert. Die Erkenntnisgattungen müssen vielmehr ebenso auf der Ebene der Ausdehnung als Körperaktivitäten verstanden werden.

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noza zum Zwecke der Individuation in den Attributen eingeführt hatte, um die epistemische Komponente des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, die »Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus«,42 um so die Möglichkeit von Differenz überhaupt zu begründen. Damit aber ersetzt er die parallelistische Organisation von Körper und Geist durch deren Wechselseitigkeit. Es ist nun diese Wechselseitigkeit von Subjektivität und Objektivität, die durch die Verschiebung des Subjekt-Objekt-Anteils in der Wirklichkeit sowohl die Individuen wie die großen Sachkomplexe der Wirklichkeit erzeugt: Natur als Überwiegen der Objektivität in der Subjekt-Objekt-Einheit und Geist als Überwiegen der Subjektivität darin. Man muss darin eine fundamentale Kritik an Spinoza erkennen, deren Konsequenzen Schelling selbst allerdings offensichtlich erst nach und nach klar werden. Schelling sieht in dem sozusagen einfachen, lediglich durch den gemeinsamen Ursprung in der Substanz garantierten Parallelismus keine tragfähige Möglichkeit, die Einheit von Geist und Körper zu denken. In ihr wird auch die schon erwähnte Verdoppelung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, das überhaupt dessen Einheitlichkeit ermöglicht, nicht platzierbar. Wie er 1833/34 in den Vorlesungen Zur neuern Geschichte der Philosophie kritisiert, hat Spinoza die Form des Denkens nicht genetisch aus dem Begriff des Seins entwickelt, sondern empirisch aufgerafft.43 Wie kommt Spinoza überhaupt dazu, über die körperliche Bestimmung hinaus eine Bestimmung des Denkens zu setzen, wenn diese – laut des Parallelismus – zugleich von jener vollständig erschöpft wird? Offensichtlich lässt sich der Sinn und Gewinn des Attributes Denken im Parallelismus gar nicht erkennen.44 Wir verbleiben 42 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809). Hg. von Thomas Buchheim. Hamburg 1997, 23; SW 7, 320. In seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34) wird Schelling dieses ganz abstrakte Folgeund Parallelverhältnis von Körper und Geist bei Spinoza explizieren und daher, weil die Natur ohne Geistanteil bleibt, die spinozasche Konzeption der Materie als rein geometrisch und mechanisch kritisieren (vgl. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), SW 10, 38 f.). 43 »Allein diese Ansicht ist eine dem Spinoza völlig fremde, und ob er gleich die Seele den Begriff des Körpers nennt, so hat er doch für die Existenz der Seele, so wie dafür, außer dem Ausgedehnten noch das unendliche Denken zu setzen, keinen andern Grund als die Erfahrung.« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), SW 10, 40) 44 Man kann darin eine Ausführung der Kritik Jacobis an der fatalistischen und sozusagen rein protokollhaften Funktion des Denkens erkennen. Siehe Fn. 36. In den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) kritisiert Schelling die »Untäthigkeit [der Attribute] gegeneinander, […] es kommt zwischen ihnen weder zum lebendigen Gegensatz noch zur lebendigen Durchdringung«, und charakterisiert dies als Folge der »bloßen Zusammenknüpfung der beiden Substanzen des Cartesius« (Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 443).

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so im Grunde auf der Ebene des Körperlichen und können uns der Einzelnheit gar nicht bewusst werden. Damit aber bleibt der ganze Sachverhalt der Modifikation schlicht gesetzt und nach dem Parallelismus von Seele und Leib bricht auch die Individuationstheorie zusammen. Dadurch dass Schelling die Natur oder Materie als Überwiegen der Objektivität definiert, vermag er sie in ein ursprüngliches Verhältnis zur Subjektivität bzw. zum Geist als Überwiegen des Subjektanteils der Wirklichkeit zu setzen. So versucht Schelling, das von der kantischen und fichteschen Philosophie erreichte transzendentale oder epistemologische Niveau in seinem System zu reproduzieren bzw. zu integrieren.45 Damit stehen wir aber vor einer ganz anderen Systemstruktur. Als Durchgang durch alle Subjekt-Objekt-Verschobenheiten und deren schlussendliche Auflösung macht dieses epistemologische Moment die Realisierungsdynamik des Systems aus. Das Bewusstsein bzw. der subjektive Subjekt-Objekt-Teil der Wirklichkeit nimmt dabei eine höhere Potenz an, die das Vorhergehende, den objektiven Subjekt-Objekt-Teil der Wirklichkeit oder die Materie, in sich aufnimmt und läutert. Die Realisierungsdynamik des Systems zeigt sich – wie Schelling ab 1809 mehr und mehr betonen wird – als Steigerung von der Materie zum Geistigen, die im System der gesammten Philosophie von 1804 noch eher als bloßes Nacheinander von Natur und Geist vorhanden war.46 Das bringt auch in die Konzeption des Menschen und des menschlichen Körpers eine neue Dynamik. Denn während Spinoza den menschlichen Körper als besonders komplexe Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, und damit graduell bestimmt, entsteht bei Schelling im Kreuzungspunkt der Wechselseitigkeit von Subjektivität und Objektivität eine neue Position für den Menschen, die sich in den Schriften ab 1809 immer deutlicher zeigt.

45 Ob die Konzeption, die quantitative oder numerische Einheit als Portionierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu denken, trägt, kann hier nicht diskutiert werden. Sowohl Fichte als auch Hegel sehen diese Konzeption kritisch. 46 Was sich schon im Textaufbau von Schellings System (1804) zeigt; insbesondere die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) werden denselben Aufbau in einer völlig auf Dynamik und Steigerung hin orientierten Gedanklichkeit und Sprache darstellen. Vgl. etwa zur generellen Charakterisierung der Natur als »Unterlage der geistigen Welt« Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 454, sowie die zentrale und dramatische Stellung des Menschen, mit dem die ganze Natur in den Fall gerät in Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 458 ff.

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V. Schellings Theorie des Menschen und die theoretische Dynamik des Identitätssystems In Schellings Naturphilosophie, die sich bis 1800 vor allem um die Konstruktion der Materie und eine allgemeine Theorie des Organismus drehte, zeichnet sich ab dem System des transscendentalen Idealismus die Notwendigkeit einer Theorie des menschlichen Körpers ab.47 Nicht zuletzt muss der Strukturgewinn der Theorie der Subjektivität aus dem System von 1800 in das Identitätssystem eingebaut werden. Die 1801 erschienene Darstellung meines Systems bricht jedoch mit der Bestimmung des pflanzlichen und des tierischen Körpers ab. Dabei werden Pflanze und Tier in die allgemeine Polarität der Natur von Kohäsion oder Anziehungskraft und Expansion oder Abstoßungskraft eingeordnet. Die Pflanze wird auf die Seite des Kohlenstoffes und damit der Attraktionskraft oder Kohäsion, das Tier auf die Seite des Stickstoffes und damit der Expansivkraft oder des Lichtes zugeordnet. Damit ergibt sich aber die Notwendigkeit einer Vermittlung. Der Organismus als solcher vereinigt ja die Grundkräfte und bringt so als sich schließendes System die Totalität in der organischen Identität zur Darstellung.48 Wie organisiert sich also letztendlich die Sphäre des Organischen gemäß dem Dreischritt, nach dem sich die Potenzen als Gefüge von Identität, Duplizität – die hier mit der Dichothomie von Pflanze und Tier erreicht ist – und Totalität bilden und so zu einer Einheit bringen?49 Doch der Text bricht mit der Ankündigung ab, demnächst die Stufen des Organischen »bis zu den höchsten Thätigkeitsäußerungen derselben« darzustellen und von da zur Konstruktion der ideellen Reihe überzugehen.50 Damit ist die theoretische Funktion des menschlichen Körpers für Schelling zumindest angedeutet: Diese liegt im Übergang von der reellen Reihe der Natur zur ideellen Reihe des Geistes und nimmt damit eine Schlüsselstellung für das System ein. Im 47 Dabei mögen sowohl Fichtes Theorie des Leibes als Bedingung einer intersubjektiven, ethischen und rechtlichen Existenz in der Rechts- wie in der Sittenlehre, die Schelling natürlich als unzureichend ansah, als auch der Aufsatz Eschenmayers »Dedukzion des lebenden Organism«, der 1799 in Röschlaubs Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde erschienen war und den er mit allergrößter Anerkennung aufnahm, Schelling diese Dringlichkeit verdeutlicht haben (vgl. dazu Thomas Kisser: »Editorischer Bericht: Carl August Eschenmayer«, in: Schelling: Briefe 1800–1802, AA III 2,1, 71–77). 48 Vgl. die §§ 141, 144, 146 der Darstellung (Schelling: Darstellung, AA I 10, 201– 205; SW 4, 202–206) sowie Schelling: System (1804), § 210, SW 6, 404. 49 Der einzige Lehrsatz der Darstellung, der den Menschen sachhaltig einführt, betrifft das menschliche Gehirn, das »als der potenzirteste positive Pol der Erde« auf die Seite der Tiere fällt und das höchste Produkt von dessen Metamorphose darstellt (vgl. Schelling: Darstellung, AA I 10, § 156, 209; SW 4, 209). 50 Schelling: Darstellung, § 159, AA I 10, 211; SW 4, 212 f.

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Kreuzungs- und Ausgleichspunkt von Subjektivität und Objektivität muss sich die Basis der Vernunft ergeben, auf der einerseits die philosophische Grundeinsicht, die intellektuelle Anschauung und das Wissen um die Identität, und andererseits die Einlösung dieser Einsicht in den Konkretionen der Potenzen von Idealität und Realität, kurz die Einheit von Identität und Totalität, möglich wird. Sucht man in den weiteren Publikationen Schellings nach diesem offensichtlich so zentralen Theorem, muss man sich aber eher mit Andeutungen begnügen. Wie Schelling die Bedeutung der Konzeption des menschlichen Körpers einschätzt und wie groß auch hier seine Nähe zu Spinoza ist, lässt sich aus einer Stelle der Ferneren Darstellungen ermessen, die interessanterweise nicht im naturphilosophischen Teil der Schrift, sondern im Kapitel über die Idee des Absoluten steht und sich als Darstellung des Spinozismus gibt: Dringt man noch tiefer in den Inhalt des Spinozismus und bis zu dem Punct, wo auch in der reflectirten Welt die beyden entgegengesetzten Formen wieder absolut-identisch werdend, die absolute Form, und mit ihr das absolute Erkennen, welches dem Wesen gleich und die Substanz selbst ist, produciren, so findet man allen Gegensatz aufgehoben in dem, was Spinoza zum formalen Princip des absoluten Erkennens macht, dem ewigen Begriff, oder der Idee, welche nach ihm das Wesen der Seele constituirt, und in der die Seele als Modus des Denkens, der Leib aber als Modus der Ausdehnung schlechthin Eins sind.51 Das Wesen der Substanz, ihre absolute Identität kommt in der Wirklichkeit als Idee oder ewiger Begriff im Erkennen vor. Darin werden die entgegengesetzten Formen von Idealität und Realität gleich gesetzt und konstituieren so die menschliche Seele, die – als Idealität – mit dem menschlichen Körper – als Realität – eins ist. Hier ist also die Idee, und in Bezug auf das Absolute die Idee aller Ideen, die absolute Form, das absolute Erkennen ausdrücklich als dasjenige ausgesprochen, aus welchem erst Denken und Ausdehnung, Ideelles also und Reelles, an den endlichen Dingen, oder im endlichen Erkennen sich abscheiden, und das in seiner Einfachheit und lautern Identität gedacht, das Wesen und die Substanz des Absoluten selbst ist.52

51 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, in: ders. (Hg.): Neue Zeitschrift für spekulative Physik 1 (1), 1802, 1–77, 50 f. 52 Schelling: Fernere Darstellungen, 50 f.

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Man sieht die Bedeutung des Kreuzungspunktes von Subjektivität und Objektivität: Der menschliche Geist spricht als Bezug auf das Absolute die Einheit der Wirklichkeit aus und bildet so die Idee aller Ideen.53 Dabei spielt offensichtlich seine eigene objektive oder organische Struktur eine Rolle. Interessanterweise muss man für weitere Auskünfte zur Theorie des Menschen als geistig-körperlicher Einheit, die die körperliche Seite einbezieht und so die Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität klärt, auf unpublizierte Texte der Identitätsphilosophie, vor allem das System der gesammten Philosophie von 1804 und die Philosophie der Kunst von 1802/3 zurückgreifen. Die erste ausgeführte Fassung der Idee des menschlichen Körpers findet sich im Zusammenhang der Darstellung der Plastik in der Philosophie der Kunst.54 Das Wesen des menschlichen Körpers bildet danach die »aufrechte Stellung bei gänzlicher Losgerissenheit von der Erde«.55 Diese Stellung unter53 Trotz zahlreicher Verweise auf das Gefüge von Geist als Idee des Körpers im Bruno und den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie findet sich keine ausgearbeitete Version dieses Theoriestücks. Oft wird der Bruno als platonisierender Dialog interpretiert, doch ist die Seelenkonstruktion ganz spinozistisch. Nach dem Bruno wird das unendliche Denken zu einem endlichen Denken durch die Objektivierung eines endlichen Körpers. Das wiederholt exakt die Bestimmung der Individuation des menschlichen Geistes in der Ethica Spinozas (vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch. Hg. von Manfred Durner. Hamburg 2005). Besonders deutlich in dieser Hinsicht die Seiten 74 f., 86 und 95–100. Auf Seite 75 heißt es: »Unmittelbar also, indem du das unendliche Erkennen, die lebendige und unsterbliche Idee aller Dinge, als existierend setzest, setzest du, weil dies ohne Beziehung auf ein einzelnes Ding nicht geschehen kann, auch wieder den Gegensatz von Differenz und Indifferenz, und gleichsam eine doppelte Seele, die, welche von dem unendlichen Erkennen die Wirklichkeit, und die, welche die unendliche Möglichkeit enthält.« Vgl. Spinozas Formulierung in 2p11, E 120: »Primum, quod actuale Mentis humanae esse constituit, nihil aliud est, quam idea rei alicujus singularis actu existentis.« (»Das erste, was das wirkliche Seyn des menschlichen Geistes ausmacht, ist nichts Anderes, als die Vorstellung eines einzelnen in der Wirklichkeit daseyenden Dinges.«, Spinoza: Werke. Edition Blumenstock, 179) Wie man im Bruno sieht, ist ausschlaggebend für Schelling, dass in der Objektivierung des endlichen Körpers, der Individuation, die Unendlichkeit des Geistes erhalten bleibt und vom Individuum aktiviert werden kann, doch die genaue Einordnung des menschlichen Geistes in die Natur bleibt offen. Auch Jacobi spricht von zwei Seelen, eine »die sich nur auf das gegenwärtige einzelne Ding, und eine andre, die sich auf das Ganze bezieht. Dieser zweiten Seele gibt er auch Unsterblichkeit« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, 28). 54 Vgl. Schelling: Philosophie der Kunst, SW 5, 604–609. In diesem Zusammenhang ist auch eine Stelle aus der 1803 erschienenen, erweiterten Fassung der Ideen zu einer Philosophie der Natur interessant, an der Schelling in Ergänzung der ursprünglichen Einleitung dem Organismus die Gegenbildlichkeit zuschreibt, die dann zentral für die Bestimmung des menschlichen Körpers wird (vgl. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW 2, 68 f.). 55 Schelling: Philosophie der Kunst, SW 5, 604. Schelling diskutiert in diesem Zu-

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scheidet den Menschen sowohl von der Pflanze, die ebenfalls aufrecht steht, aber sich nicht bewegen kann, als auch vom Tier, das sich bewegen kann, aber in der Horizontalen befangen bleibt. So ordnen sich in der menschlichen Gestalt Kohäsion und Expansion dem Kopfe, das heißt der Vernunft unter und die Polarität hebt sich auf.56 Im System der gesammten Philosophie erfährt der aufrechte Gang des Menschen dann eine systematische Interpretation als Einheit der großen Polaritäten der Naturphilosophie. Man muss dabei betonen, dass entsprechend dem Dreischritt der Identitätsphilosophie Tier- und Pflanzenreich »keineswegs […] eine Continuität der Entwicklung«, sondern vielmehr einen Gegensatz bilden.57 Die Pflanze realisiert den Pol der Identität; ihre aufrechte Haltung verdankt sie der Vorherrschaft der Kohäsion. Das Tier realisiert den Pol des expansiven Lichtes, es reißt sich von der festen Stelle los und bewegt sich frei. Dabei gibt es die Identität in einem bestimmten Grade auf und wird zur Bewegung in der Totalität. Diese beiden Strukturen haben auch eine kosmologische Dimension. Beide verbinden in entgegengesetzter Richtung Erde und Sonne. Während die Pflanze eine identitäre Verbindung zur Sonne sucht, schließt sich das gehirn- und augengeleitete und insofern sonnenhafte Bewegungssystem Tier zur Erde hin.58 Der aufrechte Gang und die entsprechende kubische Gestalt des Menschen setzen hier nun eine Einheit von Identität und Totalität, die den menschlichen Körper, dessen »ganze Fläche […] empfindliches Organ«59 ist, zur Fassungskraft schlechthin macht. »Das Besondere, in welchem das Wesen eines Weltkörpers, d. h. die unendliche Substanz, sich als absolute, potenzlose Identität ausprägt, ist nur der menschliche Organismus.«60 So der letzte

sammenhang auch die plastischen Darstellungen von Pflanzen und Tieren, die dieser höchsten Form der bildenden Kunst aber nur einen unzulänglichen Gegenstand zu geben vermögen. 56 Für die Philosophie der Kunst ist wichtig, dass aus dieser Schließung ein neues Verhältnis von Innen und Außen folgt. »Um es mit Einem Wort zu sagen: die menschliche Gestalt ist dadurch vorzüglich ein verkleinertes Bild der Erde und des Universums, daß das Leben als Produkt der inneren Triebfedern sich auf der Oberfläche konzentriert und als reine Schönheit sich über sie verbreitet. Hier ist nichts mehr, was an das Bedürfnis und die Nothwendigkeit erinnerte, es ist die freieste Frucht der inneren und verborgenen Nothwendigkeit, ein unabhängiges Spiel, das nicht mehr an seinen Grund erinnert, sondern an und für sich selbst gefällt.« (Schelling: Philosophie der Kunst, SW 5, 608) 57 Schelling: System (1804), § 201, SW 6, 393. Daran sieht man den deutlichen Unterschied der schellingschen Naturphilosophie und der Evolutionstheorie. 58 Vgl. ebd. 59 Schelling: System (1804), § 259, SW 6, 491. 60 Schelling: System (1804), § 259, SW 6, 487, wobei auf die Gradualität nicht völlig verzichtet wird, vgl. auch § 61: »Der Grad der Realität, den jedes Ding für sich hat, steht

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Lehrsatz der Naturphilosophie. Diese Potenzlosigkeit taucht nur auf, wenn die Exponenten der Identität, das heißt die verschiedenen Richtungen, die in der »Pflanze mehr das Verhältniß des Weltkörpers zum Centrum, im Thier mehr im Verhältniß seiner Annäherung zur absoluten Identität.« (Schelling: System (1804), § 61, SW 6, 212) Hinweisen muss man auf die Parallelen zu und den offenkundigen Einfluss von Herder, der sowohl in seiner Anthropologie bzw. Geschichtsphilosophie wie in seiner Kunsttheorie der menschlichen Gestalt eine konstitutive Rolle gibt. So bezeichnet Herder den aufrechten Gang als spezifische Differenz des Menschen, aus dem sich eine gegenüber den Tieren veränderte Form des Gehirns ergibt, aus der wiederum sich die Vernunfttätigkeit erst ergibt. Für ihn ist die Vernunft »nichts anderes als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden« (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmitt. Wiesbaden o. J., 119. Vgl. dazu Hugh Barr Nisbet: »Herders anthropologische Anschauungen in den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹«, in: Jürgen Barkhoff; Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, 1–23. Zur Modernität dieser Auffassung vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Frankfurt am Main 1980). Das ist in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts nicht selbstverständlich, denkt man etwa an den sehr cartesianischen Buffon, der eine solche Bedeutung der äußeren Gestalt nicht erkennt (vgl. Georges-Louis Leclerc de Buffon: Allgemeine Naturgeschichte (Paris 1749–1750). Einbändige Ausgabe der deutschen Übersetzung Berlin 1771. Frankfurt am Main 2008, 661 ff.). Kant verurteilte bekanntlich diese Auffassung Herders, nach der die Vernunft des Menschen nur als »natürliche Wirkung eben derselben Anstalt, die nötig war, um ihn bloß aufrecht gehen zu lassen«, aufgefasst wird, in seiner Rezension der Ideen (Immanuel Kant: Zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Frankfurt 1968, 779–806, 785). Herders Apologetik der Plastik als eigentlichem Höhepunkt der bildenden Künste (Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Riga 1778) – offenkundig die erste theoretisch durchdachte Differenzierung von Malerei und Plastik (vgl. dazu Susanne Rauprich: Aspekte der Betrachtung und Rezeption von Plastik in der deutschen Kunstwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Versuch. Weimar 1995, 35 ff.) – wiederum nimmt wichtige Stichworte der schellingschen Theorie der Plastik als eigentlichem Höhepunkt der bildenden Künste vorweg. Und ebenso wie Schelling sieht sich Herder in seiner Konzeption des Organismus zu einer Korrektur Spinozas genötigt, sieht er doch dessen Konzeption der Ausdehnung in der Tradition Descartes’ als rein geometrische Struktur, der die Lebendigkeit fehlt: »Ohne Wesen, ohne wirkende Kräfte ist nichts in ihr; sie ist nur die Bedingung einer Welt; eines Neben-Einanderseyns mehrerer Geschöpfe.« (Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche. Gotha 1787, 58) Daher muss das System des Spinoza eine – durchaus mögliche – Verbesserung erfahren: »Wissen Sie jetzt, wie der Mittelbegrif zwischen Geist und Materie heißt, den Spinoza, um dem cartesischen Dualismus zu entweichen vergebens suchte? // Philolaus. Substanzielle Kräfte. Nichts ist deutlicher als dieses und nichts gibt dem Spinozischen System selbst eine schönere Einheit. Wenn seine Gottheit unendliche Eigenschaften in sich fasst, deren jede ein ewi-

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das Verhältniß des Centri zum Weltkörper« ausdrücken, wieder ihre absolute Identität finden: Die subjektive Subjekt-Objekt-Einheit kommt mit der objektiven Subjekt-Objekt-Einheit zur Deckung.61 Der menschliche Körper ist so nicht nur eine graduelle Steigerung im Reich des Organischen, sondern Vereinigung der realen Entgegensetzung in Tier- und Pflanzenreich. Und so vereint er Totalität, Bezogenheit auf anderes, und Identität, Bezogenheit auf sich selbst. Der menschliche Organismus als potenzloses Bild der potenzlosen Identität setzt so die Vernunft »real«.62 Erst hier findet sich die Identität, die die Totalität zur Darstellung zu bringen vermag.63 Die Qualität gleicht sich hier nicht nur aus, sondern wird zur Qualität der Qualität, zum Bild des Einen. Die Potenzlosigkeit erhebt den menschlichen Körper, bzw. seine Idee, zur Bildfähigkeit und damit zur Unendlichkeit der Idee aller Ideen. Hier, in der Objektivität des menschlichen Organismus, wird die Substanz zum Subjekt, indem sie sich in diesem Objektiven der Gestalt wiedererkennt.64 Die Differenz von Kohäsion und Expansion trägt sich allerdings noch einmal in den menschlichen Körper als Geschlechtlichkeit ein. Während die pflanzliche, identitätsstiftende Linie der Schwere in der Frau kulminiert, zeigt sich die tierische, bewegliche Linie des Lichtes im Mann. Die letzte Identität des Organismus stiftet daher die Liebe zwischen Mann und Frau.65 Doch

ges und unendliches Wesen ausdruckt: so haben wir nicht mehr zwo Eigenschaften des Denkens und der Ausdehnung zu setzen, die nichts miteinander gemein hätten: wir lassen das anstößige, unpassende Wort Eigenschaft (Attribut) überhaupt gar weg und setzen dafür, daß sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare.« (Herder: Gott, 61 f.) Es ist nun die selbe Differenz eines bloßen Nebeneinander und eines Zusammenhanges lebendiger Kräfte, die für Herder auch den Übergang von der Malerei zur Plastik charakterisiert: »Ist diese [die Malerei, T.K.] die Kunst fürs Auge, und ists wahr, daß das Auge nur Fläche, und Alles nur Fläche wie Bild empfindet: so ist das Werk der Mahlerei tabula, tavola, tableau, eine Bildertafel, auf der die Schöpfung des Künstlers wie Traum da steht, in der Alles also auf dem Anschein, auf dem Nebeneinander beruht. […] Die Bildnerei arbeitet in einander, Ein lebendes, ein Werk voll Seele, das da sei und daure. […] nothwendig muß sie also schaffen, was für sich da steht.« (Herder: Plastik, 25 ff.) Man sieht wie Herder – in ähnlicher Weise wie Schelling – auf der Basis eines verbesserten Spinozismus sowohl den menschlichen Körper als auch dessen Darstellung in der Kunst versteht. Vgl. allgemein zur Bedeutung Spinozas für Herder Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Tübingen 1969, 135–166. 61 Vgl. Schelling: System (1804), § 259, SW 6, 487 f. 62 Schelling: System (1804), SW 6, 495. 63 »Die vollkommenste Darstellung der unendlichen Möglichkeit durch die Wirklichkeit findet nur in der vollkommenen, potenzlosen Organisation statt (bewiesen in der Naturphilosophie).« (Schelling: System (1804), § 279, SW 6, 505) 64 Vgl. Schelling: System (1804), § 221, SW 6, 434. 65 Vgl. Schelling: System (1804), SW 6, 406–418. Vgl. zum Umfeld dieser Bestimmung der Geschlechter Lesley Sharpe: »Über den Zusammenhang der tierischen Natur

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die Ganzheit des menschlichen Körpers wird dadurch nicht in Frage gestellt: »Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern bloß Theil eines Ganzen, so wäre es nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und doch das andere will und das andere sucht.«66 So schließt die Naturphilosophie im engeren Sinne als eine Konzeption der Liebe.67 Damit hat die Naturphilosophie, wenn auch keine neue Gestalt, so doch eine neue Schlussfigur erhalten, die die reale Reihe als Einheit von Subjektivität und Objektivität fasst und den Übergang zur idealen Reihe verständlich macht. Diese beginnt mit der schon erwähnten Objektivierung eines endlichen Dinges durch den Geist: »Die Natur erscheint als real, nur insofern die Vernunft relativ auf ein besonderes Ding oder subjektiv gesetzt, d. h. inwiefern sie nicht an sich selbst und schlechthin betrachtet wird.«68 Damit verschwindet zunächst die Unendlichkeit aus dem Fokus des Subjektes und es eröffnet sich die Logik der Endlichkeit, in der die Natur nicht mehr in ihrem An-sich betrachtet wird. Schelling wie Spinoza unterscheiden radikal zwischen der Erkenntnis, die aus der Orientierung auf den individuellen Körper folgt und ein endliches, subjektives Selbstbewusstsein erzeugt, und der Erkenntnis, die Ewiges beinhaltet und selbst ewig ist. Letztere stammt aus dem ewigen »Begriff des Leibes […]. Der ewige Begriff desselben ist also nothwendig zugleich das Wesen der Seele der Frau mit ihrer geistigen. Zur Anthropologie der Frau um 1800«, in: Barkhoff, Jürgen; Sagarra, Eda (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, 213–225. 66 Schelling: System (1804), § 211, SW 6, 408. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie aus den Principien der Schwere und des Lichts« (1806), SW 2, 376. 67 Vgl. dazu auch Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 453. Dabei übersteigt Schelling sicher eine Geschlechterhierarchie, die auch die Romantiker noch beherrscht hatte. In der Liebe geht es zwar um das Individuumsein in der eigenen Welt, aber dabei »bleibt die Asymetrie der Geschlechter erhalten als Asymetrie der Stellung zu diesem Problem. Der Mann liebt das Lieben, die Frau liebt den Mann; sie liebt dadurch einerseits tiefer und ursprünglicher, andererseits auch gebundener und weniger reflektiert. Was die Romantik als Einheit postuliert, bleibt damit Erfahrung des Mannes, obwohl oder gerade weil die Frau die primär Liebende ist und ihm das Lieben ermöglicht.« (Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main 1984, 172.) Das hat Schelling wohl ebenso und kritisch gesehen, wie insbesondere das »Epikuräisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens« mit seiner Kritik an Orthodoxen wie Romantikern gleichermaßen deutlich macht (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens«, in: Manfred Frank; Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Frankfurt am Main 1975, 145–153. Vgl. dazu Stefan Greif: »Sexualität im Lichte des Bildungstriebes. Das Organismusmodell des jungen Schelling und das ›Gesetz der epicuräischen Polarität‹«, in: Maximilian Bergengruen (Hg.): Sexualität, Recht. Leben: Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005, 133–151). 68 Schelling: System (1804), § 261, SW 6, 495.

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selbst«.69 Das Selbstbewusstsein eines offenen, unendlich interaktionsfähigen Systems ermöglicht die Erkenntnis des Ewigen sowohl als es dieses zugleich realisiert. Dabei versteht das Identitätssystem Ethik als Auflösung der Endlichkeit und bedingungslosen Übergang zur Unendlichkeit. Doch genügt es wirklich, diese zwei Reihen, die Reihe des Ewigen und die des Endlichen so voneinander abzutrennen? Entsteht nicht ein Zwiespalt daraus, dass das menschliche Individuum nur als konkrete Identität die Totalität darstellen kann, sich dabei aber gerade als konkrete und bedingte Identität auslöschen soll? Verlangt nicht gerade die neue Position des Subjekts als endliche/ unendliche Form der Identität eine weitere Vertiefung, um die konkreten und realen Bedingungen der Darstellung der Totalität zu verstehen? Damit taucht auch die Frage der Wirklichkeit wieder auf: Methodisch gewandt: Ist das Ziel der Beobachtung einer Selbstkonstruktion erreicht?70

VI. Wirklichkeit als Wirklichkeit des Subjekts – die Kritik an Spinoza In den Texten, die die Grenze des Identitätssystems markieren, stellt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage nach der Differenz. Schelling bringt sie wie schon im bisherigen Dreischritt mit dem Problem der Wirklichkeit zusammen. Doch wenn sich die Dramatik der Geschichte des Menschen auf seinem Weg zu Gott auf einen instantanen und geradezu automatischen angenommenen Wendepunkt zwischen Individuation und Erhebung zum Absoluten beschränkt, bleibt dieser Dreischritt offensichtlich abstrakt oder rein logisch, wie Schelling selbst in der Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit sagt. Dabei, so der Vorwurf an Spinoza, verhalten sich die Modi nicht wie wirkliche Wesen, sondern wie Dinge.71 Dinge aber werden konstruiert, sie konstruieren sich nicht selbst. Das System bedarf folglich der Wirklichkeit oder der Verlebendigung. Diese Verlebendigung besteht zunächst in der Beschreibung der Bedingung der Möglichkeit der Differenz, die Freiheitsschrift will »die Zertrennlichkeit der Prinzipien begreiflich […] machen«.72 Dazu führt sie ein Prinzip ein, das hier nur noch kurz entwickelt werden kann, das aber sowohl die Kritik an Spinoza tragen wird als auch ins Zentrum der Spätphilo69

Schelling: System (1804), § 299, SW 6, 535. Tatsächlich formuliert Schelling selbst im System der gesammten Philosophie von 1804 eine Unzufriedenheit mit der Theorie des Menschen, die er auch Anthroposophie nennt, und die seiner Ansicht nach als eigene Wissenschaft weiter ausgeführt werden müsste (vgl. Schelling: System (1804), § 259, SW 6, 488). 71 Vgl. Schelling: Freiheitsschrift, 22; SW 7, 350. 72 Schelling: Freiheitsschrift, 36; SW 7, 438. Vgl. ganz ähnlich Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 435. 70

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sophie führt: Unbestimmtheit. Unbestimmtheit wird nun zum Vorher und zur Voraussetzung der Bestimmung. Unbestimmtheit bildet den wahren Anfang: [I]n der Welt wie wir sie jetzt erblicken, [ist] alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dies ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr notwendiges Erbteil.73 Mit der Differenz von Unbestimmtheit und Bestimmtheit folgen wir nicht mehr nur einer inneren Logik des Geschehens, sondern einer offenen Dramatik, in der auch die Differenz von Gut und Böse eine neue Rolle spielt. Die phänomenale Wirklichkeit öffnet sich auf eine Vorgeschichte hin, die als Sphäre der Ununterschiedenheit Entscheidung ermöglicht und erzwingt und echte Emergenz bietet.74 Dabei ist es die Natur oder die Materie als finstere Seite, die zwar nicht als solche schlecht ist, aber der Regellosigkeit verbunden bleibt und deshalb geläutert werden muss. So schreibt sich nun die Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität und die besondere Stellung des Menschen in der weiteren Entwicklung des schellingschen Denkens fort. Die Einheit von Subjektivität und Objektivität mag daher an sich im Sinne des ist sein, sie muss es nun auch »für sich selbst« werden.75 Wirklichkeit muss als Wirklichkeit eines endlichen Subjektes verstanden werden, worüber der Realist Spinoza eben keine Auskunft geben kann: Im System des Spinoza haben die endlichen Dinge keine Wahrheit, nur die unendliche Substanz, nur Gott Ist eigentlich, die Dinge haben keine wahrhafte wirkliche Existenz. Gut, antworte ich, so erkläre mir nur wenigstens ihre nicht-wirkliche, ihre bloß scheinbare Existenz. Oder: Alles endliche als solches nur nicht-Seyn, nur Schranke (= Negation). Gut, so erkläre mir

73

Schelling: Freiheitsschrift, 32; SW 7, 360. »Alles lebendige Daseyn fängt von Bewußtlosigkeit an, von einem Zustande, worin noch alles ungetrennt beisammen ist, was sich hernach einzeln aus ihm evolviert; es ist noch kein Bewußtseyn mit Scheidung und Unterscheidung da.« (Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 432) 75 Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 433. 74

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diese Negationen, und zwar von der Substanz aus; denn dies muß gefordert werden.76 Während Schelling im Identitätssystem selbst die Perspektivität als solche völlig negiert hatte, stellt er jetzt aggressiv die Frage nach ihrem Status: Wie marginal dieser auch sei, so muss er doch erklärt werden. Spinoza aber klammert die Spannung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, die sich im Endlichen austrägt, aus seinem Denken geradezu aus und kann daher diese Frage nach dem Anfang des Endlichen nicht beantworten.77 Das Wesen der Lebendigkeit und das heißt der Entscheidungsfähigkeit, die den Menschen ausmacht, kann nicht in der bloßen Gradualität, im Verhältnis von unendlich und endlich liegen, sie liegt in der Gestaltung des formalen Verhältnisses der Wechselseitigkeit, das den Menschen tatsächlich ausmacht und das Schelling nun als Persönlichkeit bezeichnet.78 Persönlichkeit ist das willentliche Band, das

76 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), SW 10, 44. Vgl.: »Die Substanz des Spinoza ist ein Subjekt-Objekt, aber wobei das Subjekt ganz verloren geht.« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), SW 10, 38) Bei aller Distanz Schellings von Fichte muss man die Analogie zu der Kritik Fichtes an Spinoza sehen, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Bei Spinoza »war zwischen Substans u. Accidens eigentlich gar kein vermittelndes Glied, beides fiel zusammen. Bei mir geschieht die Vermittelung durch die formale Freiheit« (Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/02. Hg. von Reinhard Lauth. Hamburg 1997, 146). Dabei entspringt – worauf hier nur hingewiesen werden kann – dieser formalen Freiheit bei Fichte auch der Verstand bzw. die Einbildungskraft, womit die Frage nach der Genese des Subjekt-Objekt-Verhältnisses auftaucht, die auch bei Schelling nach 1809 eine neue Dringlichkeit erhält: Wie kommt es zum Licht? 77 »Die ganze Folge ist also diese: Ganz zu oberst unendliche Substanz, hierauf Attribute, dann Modi, zuletzt Affektionen. Aber wie diese Affektionen im Unendlichen entstehen, diese Frage weist er ganz ab. Weil er schlechterdings keinen eigentlichen Übergang vom Unendlichen zu dem Endlichen zugeben kann, so läßt er keines dieser endlichen Dinge unmittelbar aus dem Unendlichen entspringen, sondern nur mittelbar, nämlich vermittelt durch ein anderes einzelnes oder endliches, das selbst wieder durch ein anderes vermittelt ist, u. s. f. ins Unendliche. Jedes einzelne oder endliche Ding ist, wie Spinoza sagt, zum Daseyn und Wirken bestimmt nicht von Gott schlechthin, sondern von Gott, sofern er selbst schon als afficirt gedacht wird von irgend einer Bestimmung, und diese Bestimmung selbst ist wieder nicht unmittelbar von Gott gesetzt, sondern nur von Gott, sofern er wieder mit einer andern behaftet ist, u. s. f. ins Unendliche. Ich komme also nie auf einen Punkt, wo ich diese Frage aufwerfen könnte, wie die Dinge aus Gott folgen oder gefolgt sind. Spinoza leugnet also jeden wahren Anfang des Endlichen, von jedem Endlichen werden wir immer nur wieder an ein anderes Endliches gewiesen, von dem jenes zum Daseyn bestimmt ist, dies geht ins Unendliche zurück, so daß wir nie fertig werden und nirgends ein unmittelbarer Übergang aus dem Unendlichen ins Endliche nachweisen können.« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), SW 10, 42) 78 Vgl. Schelling: Freiheitsschrift, 43; SW 7, 370.

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die Wechselseitigkeit von finsterem, materialem, kontrahierendem und lichtem, geistigem, expandierendem Prinzip vereint. Beides ist an sich zur Individuation nötig: Das kontrahierende Prinzip sorgt für die Individuation als solche, das expandierende für die Verbindung mit dem Ganzen. Doch beide Willen, selbstischer und liebender, wie Schelling sie nennt, müssen auch auseinandertreten, um eben eine konkrete individuierte Existenz zu bilden. Das Böse setzt daher nicht eine einfache Differenz von Treibendem und Getriebenem, sondern eine Differenz der zweiten Ordnung, in der nicht einfach die Finsternis wirkt, sondern möglicherweise die »Entzweiung von Licht und Finsternis« selbst zum Zweck wird.79 Damit nimmt aber die Differenz einen neuen Charakter an. Das Auseinandertreten der Prinzipien oder Potenzen stellt nun eine konflikthafte Gegensätzlichkeit her, die den auseinandergetretenen Momenten erst ihre – nunmehr dramatische – Wirklichkeit verleiht. In der Formation der Wesen herrscht nun nicht mehr »bloß eine geometrische Notwendigkeit, […] sondern […] Freiheit, Geist und Eigenwille«.80 Die Einführung oder die Insistenz auf der subjektiven Subjekt-Objekt-Einheit macht erst den Unterschied, der einen Unterschied macht. Ohne das Subjekt fallen alle Unterscheidungen ins Nichts zurück und das Denken bleibt in sich selbst befangen. Dieser Vorgang der Unbestimmtheit und Regellosigkeit des finsteren Prinzips erfasst aber auch Gott selbst und erzeugt eine weitere Kritik an Spinoza.

79 Schelling: Freiheitsschrift, 47; SW 7, 375. Vgl. auch Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 425. 80 Schelling: Freiheitsschrift, 48; SW 7, 376. Es geht uns hier nicht um eine wiederholte Darstellung der in den letzten Jahren oft diskutierten Freiheitsschrift (vgl. das Literaturverzeichnis in: Schelling: Freiheitsschrift, LVII–LXIX) bzw. der Stuttgarter Privatvorlesungen, sondern um deren – mit der Vernachlässigung der Identitätsphilosophie ebenfalls vernachlässigten – Einordnung in die Denkgeschichte Schellings. Der wesentliche Punkt dafür ist die Kontinuität zwischen dem dort neu eingeführten Begriff der Persönlichkeit und dem Prinzip der Wechselseitigkeit, das – in Differenz zu Spinoza – die Theorie des Menschen auch in der Identitätsphilosophie schon beherrscht hatte und das nun gewissermaßen aktiviert wird. Tatsächlich öffnet sich damit Schellings Denken zahlreichen Einflüssen, für die es vorher nicht offen war (vgl. dazu Wilhelm SchmidtBiggemann: »Schellings ›Weltalter‹ in der Tradition abendländischer Spiritualität«, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Weltalter-Fragmente. Hg. von Klaus Grotsch. Stuttgart 2002, 1–78). Das gilt auch für die religionsphilosophische Seite, die sich nun erst wirklich auf die christlichen Motive hin zu öffnen vermag (vgl. dazu Christian Danz: »Schellings Religionsphilosophie im Kontext der religionsphilosophischen Entwicklung des Deutschen Idealismus«, in: Elke Hahn (Hg.): Vorträge zur Philosophie Schellings. Xavier Tilliette zum 80. Geburtstag gewidmet. Berlin 2001, 147–172, der zwar einen immanenten Übergang zur Identitätsphilosophie sieht, der in den Problemen des Systems von 1800 begründet liegt, aber das Identitätssystem »cum grano salis« (Danz: »Schellings Religionsphilosophie«, 164) als Neuplatonismus versteht, ohne die Bedeutung der Abarbeitung des Spinozismus zu thematisieren).

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Bereits Spinoza hatte die Logik des Substanzbegriffes verändert. Die Substanz Spinozas ist keine Instantiierung vorgängiger Wesensformen mehr, wie bei Aristoteles, sondern sie gibt sich selbst Wesensformen, in denen sie sich für sich selbst ausdrückt. Doch dieser Expressionsvorgang läuft eben mit innerer Notwendigkeit gemäß der Logik der Idee aller Ideen, an der wir ja zu partizipieren vermögen. Anstelle dieses logischen Ablaufes sucht Schelling ein nun echtes Werden Gottes zu denken, womit auch die Freiheit Gottes neu thematisiert wird. Denn wo soll diese sein, wenn die Notwendigkeit Gott quasi übermannt und zur Schöpfung treibt – ein Vorwurf, der Spinoza ebenso wie Leibniz betrifft. »Die wahre, eigentliche Freiheit besteht überhaupt nicht im Sein, sondern vielmehr im nicht Sein, im nicht sich äußern Können, wie man den besonnenen Mensch an dem erkennt, was er nicht tut, und den Unbesonnenen an dem, was er tut.«81 Im Bezug auf das Können als wahres Wesen der Freiheit82 und in der Distanz vom Sein zeigt sich eine völlig neue Qualität der Unbestimmtheit oder Negation von Bestimmtheit. Im Können bildet sich jetzt eine reale Indifferenz als dritter Wert zu Position und Negation. Die Macht ist nur da, wo das Subjekt so viel Unbestimmtheit geschaffen hat, oder wie Schelling sagt, festhalten kann, dass es souverän wird. »Der Grund, warum die unendliche Substanz des Spinoza als ewig angesehen wird, ist, weil sie als ein Sein gedacht, welches seinen Anfang verschlungen hat.«83 Da ihr damit aber das Moment der Genese verloren geht, kann sie weder als frei bezeichnet noch eigentlich wirklich gedacht werden. Diese Einführung der Unbestimmtheit als Bedingung der wahren Handlung hat auch Konsequenzen für die Philosophie selbst. Auch sie befreit sich vom Sein. Die Philosophie als Wissenschaft, die das Sein von vorneherein erklären will, kann sich ursprünglich keines Ausgangspunkts innerhalb des wirklichen Seins bedienen; denn über dies will sie eben hinausgehen. Nur dadurch, daß sie sich über dieses Sein hinaussetzt, und das Unbestimmte setzt, nur indem sie sich alles Sein als Zukünftiges setzt, setzt sie sich in ein freies Verhältnis zum künftigen Sein. Was sein wird, ist an sich ein Unbestimmtes.

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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung (1831/1832). Hg. von Walter E. Erhardt, Teilbd. 1. Hamburg 1992, 29. Vgl. auch Schelling: Philosophie der Offenbarung, SW 13, 209. 82 Vgl. dazu Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 457 ff., und zu diesem Komplex der absoluten Freiheit der Entäußerung Gottes auch die letzten Seiten von Schelling: Darstellung des philosophischen Empirismus (1836), SW 10, 226–286, 279 ff. 83 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hg. von Manfred Schröter. München 1946, 33.

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Die erste Aufgabe der Philosophie ist also, sich selbst in den Stand zu setzen, dieses unbestimmte als das, was sein wird, festzuhalten – es als ein bleibendes zu begreifen, und es vor dem blinden Übergang in das Sein zu bewahren. Was sein wird, können wir nicht denken ohne unmittelbares Verhältnis zum Sein, d. h. wir können nicht umhin, es als unmittelbare Möglichkeit des Seins eines Seins zu denken, in welchem es sich nicht gleich bleibt, sondern ein anderes wird. Diese Möglichkeit ist eben das schlechthin nicht auszuschließende desselben – es ist das, was wir auch nicht wollend anerkennen müssen.84 Die Distanz zum Sein erzeugt sowohl dessen Potenzialität als auch dessen Gegenständlichkeit für ein Subjekt und dieses Subjekt selbst. In einem Zuge sind Subjekt und Objekt eins und getrennt. Diese Formulierung zeigt, dass Schelling hier das Konzept der intellektuellen Anschauung fortschreibt. Es geht nicht um eine Konstruktion, sondern um die Beobachtung einer Selbstkonstruktion: das Werden des lebendigen Gottes, das eher in der Erzählung als in der logischen Konstruktion deutlich wird. Wie sich schon in der Kritik an Spinoza zeigte, liegt das Kernproblem darin, unser eigenes Wissen Gottes selbst denken zu können. Das Problem einer transzendentalen Mitwissenschaft des Menschen am Prozess des werdenden Gottes übersteigt die Ressourcen der spinozaschen Theoriebildung. Damit platziert Schelling die Gegensätzlichkeit des Seins nicht mehr in das Endliche, das nichts anderes tun konnte als sich als Endliches aufzulösen, sondern in dessen Ursprung: Der Gott »will die Einheit – um sie zu setzen, muß er die Nicht=Einheit setzen«.85 Doch auch diese Gedankenfigur wird von Schelling noch einmal in eine positive Beziehung zu Spinoza gesetzt. Denn Spinozas System hat alle Voraussetzungen, diesen theogonischen Prozess zu formulieren. Das Attribut der Ausdehnung steht nun – ganz im Sinne unserer Interpretation, in der wir die Konkurrenz von Parallelismus und Subjekt-Objekt-Wechselwirkung hervorgehoben haben – für die Natur als zweiter Potenz der Substanz, die in ihrem Werden damit in ihr totes und äußerliches Stadium eintritt, aus dem sie wieder zurückkehren muss. Der Prozeß der geistigen Schöpfung besteht darin, daß jene zweite Potenz an dem ersten exzentrisch gesetzten Prinzip wieder die Bestimmung der 84 Schelling: Die Weltalter. Urfassungen 1811/1813, 57. Vgl. auch schon Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, 457. Zur philosophischen Bedeutung dieses Abschiedes vom Sein vgl. Gotthard Günther: »Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion«, in: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bde., Bd. 1. Hamburg 1976, 31–74. 85 Schelling: Die Weltalter. Urfassungen 1811/1813, 166.

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Innerlichkeit, Geistigkeit hervorbringt. […] Spinoza konnte also, wenn er ein lebendiges Verhältnis dieser zwei Prinzipien erkannt hätte, allerdings die Affektionen oder die Modifikationen der ausgedehnten Substanz hervorgehen lassen aus der denkenden Substanz, so wie er umgekehrt die Modifikationen der denkenden Substanz erklären konnte aus der ausgedehnten Substanz. Aber ein lebendiges Verhältnis hatte Spinoza nicht, denn ihm mangelte unser drittes Prinzip. An die Stelle unseres dritten Prinzipes weiß er nur wieder das Tote, die bloße Substanz zu setzen.86 Man sieht nun einigermaßen, welche Dynamik die epistemische Strukturierung der Wirklichkeit als Subjekt-Objekt-Einheit und -Verschiebung insbesondere als Läuterungs- und Erhöhungsprozess bei Schelling annimmt und ihn zu einer strukturellen und umfassenden Kritik an Spinozas Denken einerseits und dessen spezifischer Aufnahme in die Geschichte des wahren Denkens andererseits führt.

86 Schelling: Die Weltalter. Urfassungen 1811/1813, 144. Wobei man in dieser Integration der Natur als zweiter Potenz den Versuch Schellings sehen kann, den latent dogmatischen Realismus seiner frühen Naturphilosophie abzuarbeiten (vgl. dazu Karen Gloy: »Schellings Naturphilosophie. Grundzüge und Kritik«, in: Elke Hahn (Hg.): Berliner Schelling Studien. Bd. 3. Berlin 2008, 39–64, 59 ff.).

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Zu Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit Spinoza und dem Spinozismus

Ende des 18. Jahrhunderts kann man in der deutschen Philosophie von einer Spinoza-Renaissance sprechen, die mit veranlasst ist durch die in die Geschichte eingegangenen Gespräche zwischen Lessing und Jacobi und den Briefwechsel Jacobis mit Moses Mendelssohn über die Philosophie Spinozas (1785, 1789) oder auch durch Herders Gott. Einige Gespräche (1787), in denen er Spinoza verteidigte. Auch im Werk Friedrich Schlegels finden sich zahlreiche Belege für die Auseinandersetzung mit Spinozas Philosophie. Neben Äußerungen in kleineren Prosatexten und Fragmenten belegen insbesondere die in Jena 1800/01 und Köln 1804/05 gehaltenen Vorlesungen die Beschäftigung Schlegels mit Spinozas Philosophie. In dieser Zeit der Spinoza-Renaissance finden wir nicht nur eine Art Wiedergeburt des Denkens von Spinoza, sondern auch die Geburt einer ganz neuen Entwicklung in der Philosophiegeschichte, den Spinozismus, und damit eine neue Konstellation von Denkern, die Spinozisten. Die Ideen von Spinoza sind jedoch nicht immer genau gespiegelt in dem, was sich als Spinozismus darbietet, und diejenigen, die sich als Spinozisten verstehen, sind Spinoza gegenüber nicht immer treu geblieben. Diese Auseinandersetzung mit Spinozismus und Spinozisten bildet auch einen wichtigen Teil von Schlegels Spinoza-Rezeption, an der sich wichtige Aspekte seiner frühromantischen Philosophie ablesen lassen. Im Folgenden wollen wir die Grundzüge von Schlegels Spinoza-Rezeption nachzeichnen und dabei aufzeigen, wie Schlegel die Debatten um den Spinozismus aufgenommen und verarbeitet und wie er sich selbst eine Interpretation von Spinozas Philosophie erarbeitet hat. Wir werden dabei zunächst einige Erläuterungen zur Entstehung des Spinozismus geben, dann herausstellen, wie Schlegel auf Spinozas Philosophie und den Spinozismus reagiert. Dabei wird die Auseinandersetzung mit Jacobi und die Abgrenzung von Glaube und Wissen eine wichtige Rolle spielen. Schließlich soll in einem Überblick resümiert werden, wie sich Schlegels Spinoza-Deutung im Verlaufe seines philosophischen Werdegangs verändert hat.

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I. Philosophischer Hintergrund des Spinozismus Die Debatte zwischen Mendelssohn und Jacobi (1780–1785) galt Lessings angeblichem Spinozismus und schlug sich nieder in Jacobis Publikation Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn (erste Ausgabe 1785, revidiert und erweitert 1789). In dieser Debatte ist Spinoza als eine Art Bedrohung dargestellt. Die Hauptfrage der Debatte lautete: War Lessing, ein bekannter Berliner Aufklärer, ein »Spinozist«? Der Ausdruck »Spinozist« wird zum Schimpfwort. Ein »Spinozist« würde der Vernunft absolute Autorität schenken, auch wenn das auf Kosten des Glaubens erkauft werden müsste. Weil Spinoza berühmt (und berüchtigt) vor allem für seinen Pantheismus war, wurde die Debatte zwischen Mendelssohn und Jacobi bekannt als Pantheismus-Streit, was nicht ganz korrekt ist. In der Debatte ging es nicht um Pantheismus, sondern um die Frage, ob Vernunft oder Glaube wichtiger für unser Wissen sei. Die Debatte wurde mit viel Dramatik inszeniert. Es ist die Geschichte überliefert, dass Lessing kurz vor seinem Tod gegenüber Jacobi bekannte, dass er, Lessing, Spinozas Philosophie schätze. Daraus kann man schließen: Lessing hatte sich dem Fatalismus von Spinozas rationalistischem System angeschlossen. Jacobi nutzte nun Lessings Bekenntnis, um seine Kritik der Aufklärung weiter voran zu treiben. Insbesondere versuchte er, den aufklärerischen Glauben an die Vernunft als höchste Instanz des Menschen zu diskreditieren. Jacobis Stellungnahme zu Lessings Spinozismus findet sich vor allem in den oben erwähnten Texten: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn (1785 und 1789). Ein wichtiger Diskussionspunkt war die Frage nach der Beschaffenheit eines philosophischen Systems und nach der Bedeutung fundierender Ausgangsgrundsätze. In der »Beilage VII« der Spinoza-Briefe (1789) behauptete Jacobi: »Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus«.1 Diese Behauptung hat mit den Grenzen der Erkennbarkeit und weiter mit der Nichterkennbarkeit des ersten Grundsatzes zu tun. Wenn der erste Grundsatz erkennbar wäre, würden wir dessen Grund kennen, aber Kenntnis von x heißt, Kenntnis von dem Grund von x zu haben. Der erste Grundsatz kann keinen Grund haben, sonst wäre er kein erster Grundsatz. Jacobis Ausweg aus dieser Sackgasse ist folgender: Wenn man die atheistischen und fatalistischen Konsequenzen der Suche nach Grundsätzen vermeiden will, muss man Abschied von der Vernunft als Grund unserer Sicherheit nehmen und zugeben, dass der Glaube der Anfang unseres Wissens ist. Nach Jacobis Verständnis der Implikationen von Spinozas Philosophie wird der Vorrang der Vernunft in Zweifel 1 Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit. Herausgegeben von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Hamburg 1998, 247.

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gezogen. Glaube statt Vernunft biete uns den unmittelbaren Zugang zum Wissen und damit kognitive Sicherheit. Die Grundlage des Glaubens bilden die Gefühle. Gefühle sind unmittelbar und brauchen keine Begründung und auch keine Demonstration.

II. Schlegels Stellungnahme zur Frage von Glauben und Wissen: Die Synthese von Spinoza und Fichte Was nun Schlegel und die Frühromantiker in Spinoza entdeckt haben, war ein neuer Ausweg aus der Spaltung von Glauben und Wissen. Schlegel stellt diese Dichotomie Glaube versus Wissen grundsätzlich in Frage: »Ist Glaube und Wissen nicht eine ganz falsche Antithese.«2 Wissen ist das Produkt der Vernunft, so dass man die Dichotomie auch als eine zwischen Glauben und Vernunft verstehen kann. Nach Schlegels Interpretation hat Jacobis Verteidigung von Gefühlen und Glauben einen Missbrauch der Vernunft zur Folge. Zwar meinte Schlegel ganz wie Jacobi, dass das Absolute nicht erkennbar sei: »Erkennen bezeichnet schon ein bedingtes Wissen. Die Nichterkennbarkeit des Absoluten ist also eine identische Trivialität«.3 Was diese Nichterkennbarkeit bedeutet und wohin sie uns führt, wird aber von Schlegel und Jacobi ganz unterschiedlich eingeschätzt. Schlegels Lösung des Problems der Nichterkennbarkeit des Absoluten ist radikal, aber auch vernünftig. Er zielt auf eine Anti-Grundsatzphilosophie, auf eine Philosophie ohne absolutes Fundament, die aber dennoch eine Tendenz »aufs Absolute«4 habe. Eine solche Philosophie konzipiert Schlegel als Verbindung von Fichtes Idealismus und Spinozas Realismus. Schon seit Schlegels frühesten Äußerungen über Spinozas Philosophie wird deutlich, dass er sie als Gegen- oder Komplementärmodell zu Fichtes Philosophie ansieht. Spinozas und Fichtes Position werden zunächst beide in einer Hinsicht als Idealismus gefasst. Unter Idealismus versteht Schlegel eine Philosophie, die alles aus dem Geist, der Ichheit, deduziert. Dabei gibt es in Schlegels Verständnis prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder es wird wie bei Spinoza von einer unendlichen Ichheit (Gott) ausgegangen, aus der die endliche Ichheit hergeleitet wird, oder wie bei Fichte von einer endlichen Ichheit, aus der das Denken der unendlichen Ichheit als Möglichkeit hervorgeht.

2 Friedrich Schlegel wird zitiert nach: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler u. a. Paderborn/München/Wien 1958 ff. Im Folgenden unter Angabe von Bandnummer, Seitenzahl und ggf. Fragment zitiert als KFSA. Hier: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 941, 108. 3 Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 64, 511. 4 Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 4.

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Ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen besteht in der Charakterisierung der Ichheit. Bei Spinoza sei das Ich das Göttliche als das schlechthin Unbewegliche, Ewige, Konstante. Bei Fichte hingegen sei das Ich gekennzeichnet durch Agilität, Tätigkeit, Werden. Im Lessing-Aufsatz von 1797 ordnet Schlegel der Philosophie Spinozas die Form »der Substanz und der Permanenz, Gediegenheit, Ruhe und Einheit« zu und kennzeichnet Fichtes Philosophie dagegen durch »Tätigkeit, Agilität, rastlose Progression«, sie sei »der diametrale Gegensatz der ersten«.5 In seiner Jenaer Vorlesung Transcendentalphilosophie, die Schlegels Antrittsvorlesung an der Universität Jena als Privatdozent war, bündelt er diese zweiseitige Anknüpfung an Fichte und Spinoza. Mit dieser Vorlesung stellt sich Schlegel gezielt in die mit Reinhold und Fichte begründete Jenaer Tradition der Transzendentalphilosophie. Hatte Kant eine Synthese von Rationalismus und Empirismus beabsichtigt, Fichte einen Ideal-Realismus liefern wollen, so versuchte Schlegel eine Synthese von Fichte und Spinoza. Hier geht es ihm um die Konzipierung eines Systems des Idealismus, das als Synthese aus den Grundmodellen Spinozas und Fichtes6 zu verstehen sei: »Unser System der Philosophie soll das gemeinschaftliche des Spinozischen und Fichtischen seyn«.7 Seine Synthese zielt darauf, die beiden Seiten in eine Wechselbeziehung zu setzen, nicht sie aufzulösen. Er bezeichnet sein Vorgehen als Kombinieren oder auch als »approximierendes Konstruieren«.8 Das Wissen beginnt mit der »Sehnsucht nach dem Unendlichen«,9 und dazu brauchen wir den Philosophen des Unendlichen, Spinoza. Weil aber auch, laut Schlegel, das Ganze anfangen müsse »mit einer Reflexion ueber die Unendlichkeit des Wissentriebes«,10 brauchen wir auch den Philosophen des Bewusstseins, des Subjekts, das heißt Fichte. Wie sieht nun dieses Konzept in seinen Grundzügen aus? Spinoza und Fichte realisierten auf eine spezifische, idealtypische Weise den Anspruch auf »absolutes Wissen« und darauf, das Absolute zu fassen.11 Dieses Absolute sei für Spinoza das Unendliche, die Totalität, das Göttliche. Er stehe damit für eine Philosophie des Unendlichen. Sein Ideal sei die Anschauung des Unendlichen, das heißt des Göttlichen. Das Absolute in Fichtes Philosophie sei das individuelle Ich. Fichte liefere eine Philosophie des Bewusst-

5

Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 413. Schlegels Anliegen zeigt dabei durchaus Parallelen zu der Syntheseidee, die Schelling schon vor der Jahrhundertwende im Blick hatte, die aber vor allem mit seiner Identitätsphilosophie ab 1801 deutlich ausgearbeitet wurde. 7 Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 32. 8 Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 16. 9 Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 7. 10 Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 1048, 283. 6

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seins, die sich konstituiere aus der Dialektik bzw. dem Dualismus von Ich und Nicht-Ich. Schlegel konstruiert nun ein Modell von Philosophie durch die Synthese oder Kombination von korrelativen bzw. komplementären Grundbegriffen und Methoden die jeweils eine konstitutive Funktion in diesen beiden philosophischen Ausgangskonzepten spielen. Spinoza gehe aus von einem Monismus, von der einen, unveränderlichen Substanz, Fichte von einem Dualismus (Ich und Nicht-Ich) und entsprechend zwei Arten von Tätigkeiten, die diese Grundelemente der fichteschen Bewusstseinsphilosophie konstituieren. Denn Fichtes Philosophie beruhe auf der entscheidenden These von der Tätigkeit des Ich, Spinozas Philosophie hingegen auf der Annahme von Unveränderlichkeit, Unbeweglichkeit und Identität der Substanz. Der Dualismus ist bezogen auf die Empirie und damit auf die Vielfalt der Phänomene (Elemente). Der Realismus richtet sich auf die Substanz in ihrer Einheit; er bedarf dazu der reinen Theorie als der Denkform, die sich auf das Ganze, die Totalität bezieht. Die Synthese von Unendlichem und Bewusstsein führt auf zwei zentrale Gedanken: Zum einen wird das Unendliche als das höchste Ziel des Bewusstseins gesetzt; Funktion des Bewusstseins ist die »Reflexion auf das Unendliche«.12 Zum anderen ist das Bewusstsein das höchste Produkt und Prädikat des Unendlichen.13 Die höchste Form dieses vorgestellten Unendlichen ist die Gottheit. Sie ist ein bewusstes Unendliches und unendliches Bewusstsein. Wird nun das Bewusstsein nicht nur als Reflexion, sondern auch hinsichtlich der Gefühle, Triebe und Strebungen verstanden, dann entspricht dem spekulativen Denken (Spinoza) das »Streben nach dem Ideal« und dem reflektierenden Individuum (Fichte) das »Gefühl des Erhabenen«. Das Gefühl des Erhabenen ist das Letzte und Ursprüngliche im Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet. Im Gefühl des Erhabenen wird dem Ich sein unendliches Vermögen deutlich, das Schlegel auch mit dem Begriff der »Bildung« in Zusammenhang bringt. Das »Streben nach dem Ideal« hingegen ist die individuelle, spekulative Vorstellung vom Ganzen und Vollkommenen. Es ist die Voraussetzung für das Vermögen der »Liebe«. Diese beiden Formen des Bewusstseins konstituieren in ihrem Zusammenwirken die »Sehnsucht nach dem Unendlichen« als das höchste Bestreben im Menschen überhaupt. Im Modell von Idealismus, das Schlegel aus dieser Synthese konstruiert, sollen also die verschiedenen Seiten und Ebenen des Bewusstseins mit ihren jeweils unterschiedlichen Gegenstandsbezügen vereinigt sein. Idealismus ist damit das umfassende Bewusstsein des Unendlichen, sein Gegenstand ist die 11 12 13

Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 3. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 17. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 6.

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Realität, aber nicht verstanden als faktisch daseiende Realität, sondern als ideelle Realität, als das, was für den Geist reell ist. Die im Idealismus Schlegels konzipierte Synthese erfordert es auch, die verschiedenen Methoden von spinozistischer und fichtescher Philosophie in Einklang zu bringen. Spinozas Philosophie entwickelt »Ideen«, das heißt Vorstellungen vom Ganzen. Ideen haben aber keine empirische Relevanz, sie sind nicht verifizierbar, sie sind kein Wissen, sondern verkörpern eine transzendente Wahrheit. Sie sind spekulativ, Spinozas Denken des Unendlichen ist vor allem Spekulation. Das Hervorbringen solcher Ideen braucht Phantasie, Imaginationskraft, Intuition, die Fähigkeit zur Abstraktion. Fichtes Bewusstseinsphilosophie hingegen zielt darauf, zu erklären, wie Wissen zustande kommt, sie ist Wissen des Wissens. Hierfür muss sie aufweisen, wie das Ich die Elemente des Wissens konstituiert und zu einem Erfahrungsganzen synthetisiert. Sie ist Analyse der Leistungen des Bewusstseins, die fundiert sind in Grundsätzen bzw. Prinzipien. Die entscheidende Bewusstseinsleistung hierfür ist das diskursive Denken, der Verstand. Verstand ist hier nicht im kantischen Sinn als Vermögen der Begriffe gemeint, sondern als das höhere geistige Vermögen überhaupt: Der Verstand ist ein unendliches Bewußtseyn, ein bewußtes Unendliches, ein reflektirtes Universum, eine universelle Reflexion.14 Die entscheidende philosophische Methode des Verstandes ist die Reflexion, sie ist gerichtet auf die Leistungen des Ich. Spekulation und Reflexion verbunden ermöglichen die Divination und sind erforderlich, um Allegorien zu bilden. Allegorien sind die Form, das Höchste, das Unendliche, das Unerschöpfliche zu fassen. Sie stellen etwas als Bild symbolisch dar. Die Allegorie ist aber nicht nur Mittel der Philosophie, sondern auch der Kunst und Religion. Wahrheit und Schönheit treten damit nebeneinander.15 Jede Theorie und jedes Kunstwerk sind der Versuch, einem Inhalt eine Form zu geben, das Unendliche zu verendlichen und begrifflich-symbolisch zu repräsentieren. Mit der Bedeutung des Poetischen wird die schöpferische, offene Dimension des Wissens betont. Alles Wissen wird stets nur symbolisch dargestellt, der eigentliche Gegenstand lässt sich nicht ausschöpfen. Deshalb muss Wissen immer wieder angezweifelt und erneuert, oder wie Schlegel sagt, »in einen revoluzionären Zustand gesetzt werden«.16 Die Fassung und Darstellung der Realität in Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion bzw. Mythologie kommen damit niemals an ein absolutes Ende. Diese geistigen Aktivitäten führen zu keinem festen Resultat, sondern 14 15 16

Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 28. Vgl. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 95. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, 9.

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sie sind immer neues Verbildlichen, Erfinden und Konstruieren. Es gibt kein absolutes Verstehen, kein absolutes Mitteilen, keine absolute Wahrheit. Das Unendliche ist für den Menschen nicht erreichbar, alle Bemühungen um die Bestimmung und Fassung der Realität können nur Annäherungen sein. Deshalb ist das Wissen nur symbolisch und allegorisch manifestierbar. Deshalb treten Philosophie und Poesie, Wissenschaft und Kunst als korrelative Weisen, das Unendliche zu fassen, gleichberechtigt nebeneinander. In einem solchen Bild des Wissens hat die Dichotomie zwischen Glauben und Wissen, die für Jacobi so wichtig war, keinen Platz.

III. Schlegels Anwendung: Spinoza und Fichte gegen Jacobis »salto mortale« Dieses Syntheseprogramm der Philosophie Spinozas mit der von Fichte bildet einen wichtigen Eckstein in Schlegels frühromantischer Philosophie. Spinozas Realismus bringt die bewusstseinsvorgängige Welt in den Blick; mit dem Werkzeug des Idealismus kann man die Struktur des Subjekts verstehen und damit die Bedingungen der Erkenntnis der Welt reflektieren. Idealismus ohne Realismus führt zu einem leeren Subjektivismus, Realismus ohne Idealismus zu einem unkritischen Dogmatismus. So beschreibt Schlegel in seiner Rezension zu Jacobis Roman Woldemar dessen Philosophie als eine Luftreise: Der gepriesne Salto mortale der Philosophen ist oft nur ein blinder Lärm. Sie nehmen in Gedanken einen erschrecklichen Anlauf und wünschen sich Glück zu der überstandnen Gefahr; sieht man aber nur etwas genau zu, so sitzen sie immer auf dem alten Fleck. Es ist Don Quixotes Luftreise auf dem hölzernen Pferde. Auch Jacobi scheint mir zwar nie ruhig werden zu können, aber doch immer da zu bleiben, wo er ist: in der Klemme zwischen zwei Arten von Philosophie, der systematischen und der absoluten, zwischen Spinosa und Leibniz, wo sich sein zarter Geist etwas gedrückt hat.17 Jacobis Philosophie ist nach Schlegels Lesart subjektiv und auf sich selbst gerichtet, deswegen gibt es keinen Progress in der Suche der Wahrheit. Jacobi lehnt die Vernunft ab, um den Glauben zu umarmen. Das Ergebnis dieser Umarmung ist eine Sackgasse, in die Jacobi gerät und aus der ihn nur ein »salto mortale« retten kann. Wie schon betont, stellt Schlegel die Dichotomie – Glaube oder Vernunft – in Frage: »Ist Glaube und Wissen nicht eine ganz falsche Antithese.«18 Eine solche falsche Antithese führt in die Sackgasse. Schle17 18

Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, Fr. 346, 226–27. Schlegel: Philosophische Lehrjahre , KFSA XVIII, Fr. 941, 108.

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gel beschreibt Jacobis Woldemar als »eine Einladungsschrift zur Bekanntschaft mit Gott« und er führt fort: »das theologische Kunstwerk endigt, wie alle moralischen Debauchen endigen, mit einem Salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit«.19 In Jacobis Werken sieht Schlegel denn auch »mancherlei Irrwege« und »imposantes Dunkel«.20 Demgegenüber formuliert er als Ideal »alles echten Philosophierens«: »Wissenschaftsliebe, uneigennütziges, reines Interesse an Erkenntnis und Wahrheit: man koennte es logischen Enthusiasmus nennen«.21 Die Philosophen sollen keinen Sophisten sein, aber Jacobis Subjektivismus ist eine Art Sophismus: »Jeder Denker, für den Wissenschaft und Wahrheit keinen unbedingten Wert haben, der ihre Gesetze seinen Wünschen nachsetzt, sie zu seinen Zwecken eigennützig mißbraucht, ist ein Sophist; mögen diese Wünsche und Zwecke so erhaben sein, und so gut scheinen, als sie wollen.«22 Der Philosoph soll durch das Streben nach Wahrheit geleitet sein, nicht aber von »Aberglauben und Schwärmerei«, denn dies führe dazu, »der Erfahrung oder der Vernunft Hohn zu sprechen«.23 Jacobi tue so, als ob er die Wahrheit lenken könne, das Resultat aber sei die Erfindung der Wahrheit, anstatt der Entdeckung der Wahrheit. »Der elastische Punkt, von dem Jacobis Philosophie ausging, war nicht ein objektiver Imperativ, sondern ein individueller Optativ«.24 Dieser individuelle Optativ aber führt zum Aberglauben statt zum Glauben. In seiner »Woldemar«-Rezension hat Schlegel Jacobis Subjektivierung und Individualisierung der Wahrheit abgelehnt. In seiner Kritik an Jacobi hat er eine Lösung für das Problem vom Grund des Wissens gefunden. Schlegel lehnt die Grundsätze ab, um die Vernunft zu verteidigen. Für Schlegel darf die Philosophie nicht bloß subjektiv sein und auch nicht sophistisch. So wie Spinoza hat er sich gegen Ignoranz und Aberglauben gewendet. Der Philosoph ist verpflichtet, die Wahrheit zu suchen, aber sollte sich davor hüten, die Wahrheit zu erfinden. Die Philosophie muss philosophisch, das heißt kritisch und vernünftig sein, das heißt sie darf nicht mit einem salto mortale in einen Abgrund enden. Vernunft und Glaube sollen in eine fruchtbare Beziehung gebracht, aber nicht einfach vermischt werden. In Spinoza hat Schlegel einen Weggefährten gefunden, aber in dem, was manche Spinozisten in ihre Philosophie umsetzten, sieht er keine geistige Wahlverwandtschaft.

19 20 21 22 23 24

Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 77. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 69. Ebd. Ebd. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 70. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 69.

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IV. Veränderungen in Schlegels Spinoza-Bild Überblickt man das gesamte Schaffen Schlegels von seiner frühen bis zur späten Philosophie, so können auch anhand der Wandlungen in seinem SpinozaBild die Umwendungen und Veränderungen in Schlegels eigenen philosophischen Grundorientierungen abgelesen werden. Insbesondere im Verlaufe des Jahrzehnts von 1796 bis 1806, das die entscheidende Zeit von Schlegels Spinoza-Lektüre darstellt, lassen sich parallel zu seiner eigenen Entwicklung deutliche Akzentverschiebungen konstatieren. Schlegels erste Aufzeichnungen in seinen privaten Heften, in denen er Gedanken und Fragmente als eine Art Materialsammlung niederschrieb, belegen auf der einen Seite das Bedürfnis, sich in den Problemlagen und Diskussionen seiner Zeit zu orientieren, zum anderen lassen sie aber auch eigene Deutungsvorstellungen sichtbar werden. So entwickelt Schlegel Typologisierungsraster, die er in den folgenden Jahren immer wieder modifiziert. Vor allem verwendet er die Dreiteilung Empirismus (auch als Eklektizismus bezeichnet), Skeptizismus und Mystizismus. Hier mögen auch zeitgenössische Debatten eine Rolle gespielt haben, nicht nur die Spinoza-Debatte, auch die Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus, Jacobis Buch David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (1787), Reinholds Publikationen zum Skeptizismus, Johann Gottlieb Schulzes Auftreten als Skeptiker (unter dem Pseudonym Aenesidemus), Fichtes Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus in seiner Aenesidemus-Rezension (1792) und mit dem Dogmatismus in der Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) und der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) oder Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795). Für Schlegels Beschäftigung mit Spinoza steht als Gesprächspartner seit 1797 auch Schleiermacher im Hintergrund. Schlegel lernte Schleiermacher im Sommer 1797 in Berlin kennen und teilte mit ihm sogar ab Dezember 1797 die Wohnung. Beide beschäftigten sich intensiv mit Spinoza. In den Aufzeichnungen aus den Jahren 1796 wird Spinoza vor allem als »Mystiker« angesehen. Zu den Mystikern zählt Schlegel zu dieser Zeit auch Platon, Hemsterhuis, Jacobi, sogar Fichte,25 aber um 1797 dann durchaus auch Novalis und Schleiermacher: »Hardenbergs Philosophie ist kritisirender Mystizismus. Schleiermachers Philosophie ist mystisirender Kritizismus«.26 Mystiker seien diejenigen Denker, die ihren Blick von den faktischen Gegebenheiten der Welt abwendeten und ihr Interesse auf das Absolute oder auch Unendliche richteten. Schlegel verteidigt die Mystik gegen den Vorwurf, nur »ein Spiel

25 26

Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 2, 3. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 160, 34.

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mit leeren Abstractionen und Formeln« zu sein.27 Vielmehr sei der Mystiker ein »Virtuose im Geist«,28 sein Gedankenreich seien die Ideen.29 Er richte den Blick auf alles »Göttliche, Würdige, Heilige, Große, Erhabne, Schöne usw.«, das »aus dem Gesichtspunkt des consequenten Empirikers Unsinn« sei.30 Die Mystiker zielten auf eine große Synthese im Denken, sie stifteten eine allumfassende gedankliche, systematische Einheit. Unter diesem Aspekt der Konstruktion systematischer Einheit interpretiert Schlegel auch die Fünf Teile von Spinozas Ethik, die er als Bücher bezeichnet: Buch I umreiße das Ganze und gebe eine Konstruktion der Gottheit, Buch II enthalte die Darstellung der Identität von Idealität und Realität, Buch III die Identität von Objekt und Subjekt, Buch IV die Identität von Form und Materie, Buch V von Theorie und Praxis.31 Diese Charakterisierung ergibt sich aus dem spezifischen Fokus, den Schlegel hier angelegt hat, und ist weniger unter dem Aspekt der sachlichen Genauigkeit interessant als in dem Versuch, mit seinem Modell eine Deutungsperspektive anzubieten. Schlegel würdigt zwar das Denken der Mystiker, sieht aber auch die Gefahr, dass sie sich hermetisch in ihr eigenes Denken einkapseln, sie »endigen mit dumpfem Hinbrüten in s.[ich] selbst«.32 Der Mystizismus ist »der Abgrund in d[en] alles versinkt«.33 Nach Meinung Schlegels ist der Mystizismus »heilbar durch Interesse am Technischen und Historischen«,34 das heißt durch die Rückbindung des Denkens an das Empirische, Greifbare, Fixierbare, an die konkrete Mannigfaltigkeit der Welt. Trotz dieser Kritik ist jedoch vor allem die Beurteilung Spinozas unter dem Aspekt der Mystik größtenteils positiv. So schreibt Schlegel 1798: »Eindruck des Spinosa. Duft d[er] Unendlichkeit – klare Unverständlichkeit – Magie unendl.[icher] Beredsamkeit – Majestät s.[einer] Gedanken – Harmonie d[es] ewigen Worts – Universum s.[einer] Gedanken.«35 Solche Aspekte wie Gedankenfülle, Harmonie, Wortreichtum und auch Unverständlichkeit, Unendlichkeit deuten einen Bogen an, den Schlegel dann in der Würdigung Spinozas schlägt, nämlich zur Ästhetik und Poesie. Etwa um 1799 schreibt Schlegel nieder: »Spinosa der einzige bei dem Wissenschaft und Kunst verschmolzen sind, der hohe Priester der unendlichen Vernunft.«36 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 50, 8. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 90, 12. Vgl. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 59, 9. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 48, 8. Vgl. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 185, 137. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 6, 4. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 4, 3. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 5, 4. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 567, 75. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 1050, 116.

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Gerade weil der Mystiker die Unerschöpflichkeit des Geistes betone, rücke er in die Nähe der Poesie und Kunst. Im Hintergrund steht hier das frühromantische Programm, Philosophie und Poesie, Wissenschaft und Kunst zu synthetisieren, schließlich auch die Religion einzubeziehen, diese geistigen Bereiche wechselseitig zu ergänzen und zu potenzieren und so eine bisher nie erreichte geistige Leistung zu ermöglichen. Auch in diesem Anliegen findet Schlegel einen direkten Bezug zu Spinoza: »Roman und Mystik zu synthetisiren; die prosaischen könnten wohl mit Plato endigen, die poetischen mit Spinosa anfangen.«37 Das romantische Projekt zielt maßgeblich darauf, die verschiedenen Arten von Wahrheit, die verschiedenen Möglichkeiten der Weltsicht miteinander zu einer gemeinsamen Leistung zu verbinden. Wie Schlegel betont: »Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein«.38 Auch wenn wir Glauben und Wissen oder Glauben und Vernunft scharf spalten, ist die Synthese unserer Wege zur Wahrheit unmöglich. Für die Frühromantik und dann auch für die spätere Romantik geht es darum, die Trennung von Ästhetik, Logik, Moral, Politik, Religion zu überwinden, zum Beispiel in dem Projekt einer Neuen Mythologie, das zum Teil auch stellvertretend für den neuen Anspruch einer Kunstreligion steht. In dieser Hinsicht ist die Kennzeichnung Mystik nahe an die Mythologie herangerückt: »Mystik eine innere Mythologie.«39 Die Mythologie ist aber vor allem Synthese, »das Mittlere von Poesie und Philosophie«.40 Diese Verbindung von Poesie, Philosophie und Mythologie steht dann insbesondere im Gespräch über Poesie, das 1800 in der Zeitschrift Athenäum erschienen ist, im Zentrum. Schlegel spricht vor allem in der hier integrierten »Rede über die Mythologie« von einer geistigen Revolution, die alle Gebiete ergreifen werde und deren Mittelpunkt eine neue Mythologie sein solle, in der alle Kräfte vereinigt würden, speziell aber der moderne Idealismus und ein neuer Realismus, dessen Organ die Poesie sei. In diesem Zusammenhang wird auch Spinoza explizit gewürdigt: Im Spinosa aber findet Ihr den Anfang und das Ende aller Fantasie […]. Von der Art wie die Fantasie des Spinosa, so ist auch sein Gefühl. Nicht Reizbarkeit für dieses und jenes, nicht Leidenschaft die schwillt und wieder sinket; aber ein klarer Duft schwebt unsichtbar sichtbar über dem Ganzen, überall findet die ewige Sehnsucht einen Anklang aus den Tiefen des ein-

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Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 582, 242. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, Fr. 115, 161. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, Fr. 119, 206. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, Fr. 739, 255.

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fachen Werks, welches in stiller Größe den Geist der ursprünglichen Liebe atmet./ Und ist nicht dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poesie?41 Um aber die Beurteilung von Spinozas Philosophie dann doch nicht zu weit in Richtung Poesie zu führen, wehrt Schlegel schließlich wieder ab: »Spinosa ist kein Mystiker, sondern ein Systematiker.«42 An diesen scheinbar widersprüchlichen Bewertungen lässt sich sehr gut erkennen, wie Schlegel darum ringt, Spinozas Philosophie einzuordnen, wie er dabei selbst aber offen bleibt für unterschiedliche Aspekte des spinozistischen Denkens. Insgesamt spielen aber für Schlegels Rezeption bis um die Jahrhundertwende die Herausstellung der System- und Einheitsidee bei Spinoza, seine Ausrichtung auf ein Gesamtkonzept von Natur (Realismus) sowie seine Einbeziehung der Liebe die entscheidende Rolle. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Jenaer Vorlesung Transcendentalphilosophie von 1800/01, für deren Ausarbeitung Schlegel sich ausgiebig mit Spinozas Philosophie beschäftigt hat.43 Spinozas Philosophie wird als »realistische Philosophie« der transzendentalen Reflexionsphilosophie Fichtes gegenübergestellt und für seine Einbeziehung der Liebe in die Philosophie gewürdigt, aber auch für seine Bedeutung für eine ästhetische und poetische Weltsicht. Die Jenaer Vorlesung hat ihre besondere Bedeutung eher in systematischer Hinsicht als Synthese der Philosophien Spinozas und Fichtes. Diese beiden Philosophen verkörpern nach Meinung Schlegels zwar je einseitige, aber paradigmatische Philosophietypen, die in ihrer jeweiligen Ausrichtung die höchste Vollkommenheit erreicht haben. Das Ergebnis dieser Synthese nennt Schlegel »Idealismus« und er versteht darunter eine Philosophie des Unendlichen beziehungsweise die Philosophie vom Bewusstsein des Unendlichen. Und als »Zweck des Idealismus« formuliert Schle41

Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), KFSA II, 317 f. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 789, 95. 43 So schreibt Schlegel am 12. Sept. 1800 an Schleiermacher bezugnehmend auf Spinoza: »Meine φσ [philosophischen] Vorlesungen arbeiten sich immer näher an diesen heran. Mit unglaublicher Begierde und Begeisterung werde ich mich wieder in ihn versenken« (Friederich Schlegel am 12. Sept. 1800 an Friederich Schleiermacher, in: Schlegel: Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799–1802), KFSA XXV, 179). Und er bittet Schleiermacher um die Zusendung von Spinozas Schriften, Schleiermacher war im Besitz der Opera omnia priora et postuma. Spinoza scheint Schlegel so bedeutsam, dass er im Brief vom 15. Dezember 1800 Schleiermacher mitteilt, er habe »den Beschluß gefaßt, weil mir der eignen Philosophie wegen sehr daran liegt, und auch viele Zuhörer mich darum angegangen haben, d[ie] Ethica des Spinoza lateinisch wieder abdrucken zu lassen. Die Opera posthuma sind seit der ersten Erscheinung 1677 nicht wieder gedruckt« (Friederich Schlegel am 15. Dezember 1800 an August Wilhelm Schlegel, in: Schlegel: Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799–1802), KFSA XXV, 212). 42

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gel in den Philosophischen Heften 1799, »alle Standpunkte in einem System zu vereinigen und die falschen Tendenzen zu vernichten«.44 Die Verbindung von Fichte und Spinoza ist deshalb als Programm konzipiert, weil Schlegel meint: »Die Fichtische Philosophie geht auf das Bewusstsein. Die Philosophie des Spinoza aber geht auf das Unendliche«.45 Schlegel versucht also in der Jenaer Vorlesung, die beiden Grundtypen – Philosophie des Bewusstseins (Fichte) und Philosophie der Realität (Spinoza) – zu seinem Konzept von transzendentalem Idealismus als »Bewusstsein des Unendlichen« zu verbinden. Man kann sagen, dass mit der exponierten Funktion, die Schlegel Spinozas Philosophie in diesem Zusammenhang zuspricht, um die Jahrhundertwende der Höhepunkt von Schlegels Spinoza-Rezeption erreicht ist. Im Zuge seiner religiösen Wende zum Katholizismus schließlich gilt Schlegels Augenmerk der Beurteilung Spinozas als Pantheist und der Frage, inwieweit er einen positiven Beitrag zur christlichen Religion geleistet habe. Dies lässt sich vor allem in den Kölner Vorlesungen (1804/05) aufweisen, in der Schlegel für wichtige philosophische Positionen eine philosophiegeschichtliche Einordnung und Typologisierung vornimmt. In dieser Zeit tritt Spinoza mehr und mehr zurück, er ist nun zwar noch als ein philosophiegeschichtlicher Entwicklungsschritt und als eine Quelle für gegenwärtige Entwicklungen von Interesse, aber nicht mehr als eine Konzeption, die positiv in die eigene Philosophie zu integrieren wäre. Die Kölner Vorlesung 1804/05 enthält in ihrem Ersten Buch eine »Charakteristik der verschiedenen Arten von Philosophie und ihrer Verhältnisse zueinander«.46 In dieser Darstellung wird Spinoza unter der philosophischen Einordnung »Pantheismus« behandelt. Hier schließt sich eine philosophiegeschichtliche Darstellung an, in der Schlegel auf über hundert Seiten die philosophische Entwicklung von der antiken griechischen Mythologie bis zur Gegenwart skizziert. Auch hier wird Spinoza als Pantheist besprochen. Dabei werden aber auch verschiedene Aspekte wieder aufgenommen, die Schlegel schon in seinen früheren Auseinandersetzungen mit Spinozas Philosophie verbunden hatte: die Einheitsidee, die Beziehung aufs Unendliche, der Mystizismus, der Realismus. Diese Bestimmungen werden nun dem Pantheismus zugeordnet, zu deren wichtigsten Vertretern Spinoza gezählt wird: »Der Pantheismus erklärt alles als schlechthin eins und unveränderlich […]. Er leugnet alles Endliche, erkennt nur das Unendliche, das Unendliche aber, rein gedacht, schließt den Begriff des Unterschieds und der Verschiedenheit ganz aus«.47 44 45 46 47

Schlegel: Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 709, 380. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 5. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 115. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 130.

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Der Pantheist schließt das Denken des Unterschieds aus und zielt auf die Identität. Sein Gegenstand ist die »negative Idee der unendlichen Realität« und zwar als »unendliche Einheit«:48 »Der reine Pantheist bleibt bei der ersten Idee – der höchsten, welcher der Mensch fähig ist, bei der Idee der Gottheit stehen.«49 Insofern eine solche Idee der Gottheit nur negativ aufgefasst wird, ist der Pantheismus Mystizismus.50 Die Idee der Gottheit ist insofern negativ, als ihr keine Qualität, keine Prädikate zugeordnet sind.51 In diesem Sinne wird Spinoza von Schlegel ja schon seit 1796 als Mystiker verstanden. Das ausgearbeitete positive System des Pantheismus ist im Raster Schlegels »Realismus«, das heißt die Philosophie, die sich auf der »Idee der unendlichen Realität« begründet.52 So wird Spinoza als »entschiedener Realist« bezeichnet.53 Spinoza »beginnt sein System mit der unmittelbaren Gewißheit der unendlichen, allvollkommenen, und deswegen einzigen Substanz«. Dieser Begriff der Gottheit sei aber nur negativ, er führe nur auf eine »negative, spekulative Theologie«, aus ihm ließe sich nichts herleiten, woraus die Mannigfaltigkeit zu gewinnen wäre.54 Weiterhin kritisiert Schlegel, dass Spinoza der Gottheit eigentlich unendlich viele Attribute habe zuweisen müssen, aber nur zwei Attribute, Denken und Ausdehnung, beigelegt habe.55 Auch sei die Parallelisierung der beiden Attribute nicht zwingend. Problematisch sei außerdem das Statische des spinozistischen Modells, das Tätigkeit und Veränderung ausschließe.56 Diese Abwehr macht deutlich, inwiefern sich Schlegel nun von Spinoza distanziert. Ihm geht es nun um einen positiven Begriff der Gottheit, »Gott ist die Liebe«,57 um eine lebensnahe Religion, kein abstraktes philosophisches Konzept. Im Jahre 1808 bespricht Schlegel für die Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur Fichtes Texte Über das Wesen des Gelehrten (1806), Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) und Die Anweisung zum seligen Leben (1806). Bei dieser Gelegenheit kommt auch Spinoza als ein Korrektiv zu Fichte ins Spiel, wenn auch nun im Vergleich zur Jenaer Vorlesung mit ihrem expliziten Programm der Synthese von fichtescher und spinozistischer Philosophie 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 131. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 132. Vgl. ebd. Vgl. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 133. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 134. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 267. Ebd. Vgl. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 267 f. Vgl. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 270. Schlegel: Philosophische Vorlesungen, KFSA XII, 141.

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in etwas modifizierter Perspektive. Bei aller Würdigung Fichtes wehrt Schlegel doch dessen Vorwurf an die Naturphilosophie und zum Teil auch den Pantheismus ab, sie seien bloße Schwärmerei. Schlegel hingegen kritisiert, dass für Fichte »die Natur als tote Sinnenwelt und bloßer Niederschlag der Reflexion […] ein durchaus nichtiges und ganz und gar ungöttliches Scheinwesen«58 sei. Der französische Materialismus sehe die Natur zwar als eigenständig, sei aber auch unzulänglich, denn er habe nur ein mechanistisches Naturkonzept. Demgegenüber gehe die deutsche Naturphilosophie »von der Idee einer nicht toten, sondern durchaus belebten und beseelten Natur« aus,59 wofür auch die pantheistische Identifizierung von Natur und Gottheit, wie beispielsweise bei Spinoza, im Hintergrund stehe. Auch hinsichtlich der Funktion des Absoluten gibt es nach Meinung Schlegels gravierende Differenzen. Die Transzendentalphilosophie versuche, die Idee des Absoluten durch Vernunft zu ergreifen. Demgegenüber gebe es einen Zugang zum Absoluten durch Phantasie. Spinoza stehe zwischen diesen beiden Positionen.60 Er zeigt Anklänge eines »Pantheismus der Phantasie«,61 verzichtet aber auch nicht auf die Vernunft. Auch in den theoriegeschichtlich fundierten Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur (Wien 1812) spielt Spinoza noch eine Rolle. Doch alle Leistungen, die Schlegel an Spinoza hervorhebt, werden nun in ihrer Ambivalenz oder sogar in ihren negativen Auswirkungen vorgeführt. So habe Spinoza zwar »den Pantheismus in eine mehr wissenschaftliche Form gebracht«.62 Doch die Grundlage dieses Pantheismus erfährt deutliche Kritik: Spinosas großer Irrtum, die Welt und Gott nicht zu unterscheiden, allen einzelnen Wesen aber die innere Selbständigkeit und Bestandheit abzusprechen und in ihnen allen nichts zu sehen, als die verschiedenen Kraftäußerungen des Einen, ewigen, alles umfassenden Wesens, hebt eigentlich die Religion auf, weil er Gott die Persönlichkeit, und dem Menschen die Freiheit abspricht, überhaupt aber das Unsittliche, Unwahre und Ungöttliche für einen bloßen Schein erklärend, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Guten und Bösen aufhebt.63 Spinozas Philosophie ziele auf eine Einheit von Denken und Fühlen. Ihn zeichne »ein alldurchdringendes Gefühl des Unendlichen« aus. Doch mündeten seine Denkart, seine Liebe und sein Gefühl nicht in den richtigen, den christlichen Glauben. Dennoch stehe aber seine moralische Integrität außer 58 59 60 61 62 63

Schlegel: Studien zur Philosophie und Theologie, KFSA VIII, 68. Ebd. Vgl. Schlegel: Studien zur Philosophie und Theologie, KFSA VIII, 72. Ebd. Schlegel: Geschichte der alten und neuen Philosophie, KFSA VI, 355. Ebd.

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Zweifel. »Spinosas Sittenlehre ist zwar, so wie er selbst kein Christ war, nicht die christliche, wohl aber ist sie so edel und rein, wie etwa die der Stoiker im Altertum«.64 An diesen Textstellen wird deutlich, dass Schlegel Spinoza nicht generell ablehnt, sondern sich um eine angemessene philosophiehistorische Einordnung bemüht und dabei Spinozas autarker philosophischer Leistung Rechnung trägt. Schlegel würdigt Spinoza dafür, »daß er uns ein ganz reines Exemplar der in der Geschichte des Menschengeistes so merkwürdigen pantheistischen Denkart darstellt«.65 Doch geht es nun nicht mehr um die positive Aufnahme, viel zu weit ist Schlegel inzwischen von seinem frühromantischen Programm selbst schon entfernt. Deshalb schlägt immer auch die Kritik an Spinoza durch. Schon 1805 hat Schlegel in seine Philosophischen Hefte geschrieben, Spinozas Substanz sei »das böse Princip, so daß er d[en] Namen Atheist im schlimmsten Sinne verdiente«.66 Oder: »Spinosa der vollständige Inbegriff des Irrthums«.67 Der Irrtum besteht darin, nicht wirklich zu einer Erkenntnis des wahren Gottes zu führen, das Ich nicht mit der göttlichen Spiritualität in Liebe zu versöhnen. Der spinozistische Pantheismus ist für Schlegel zu einer abstrakten, lebensfremden Philosophie geworden, die keinen Beitrag zu einer lebendigen, göttlich positiven Weltsicht zu leisten vermag. Dementsprechend spielt sie auch für die Spätphilosophie, die ganz im Geist des Katholizismus steht, keine Rolle mehr.

64 65 66 67

Schlegel: Geschichte der alten und neuen Philosophie, KFSA VI, 335. Schlegel: Studien zur Philosophie und Theologie, KFSA VIII, 71. Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806, KFSA XIX, Fr. 373, 124. Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806, KFSA XIX, Fr. 386, 126.

Reiner Wiehl (†)

Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza1

I. Nietzsches philosophisches Denken ist weithin berühmt, um nicht zu sagen berüchtigt für seine offenkundigen Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Da gibt es zahlreiche Texte, denen entgegengesetzte Deutungen abgewonnen werden können, da gibt es ebenso viele Texte, die, nebeneinandergestellt und miteinander verglichen, einen unübersehbaren Widerspruch mit sich führen. Und auch dann, wenn es gelingt, die Vielfalt der Texte tiefer und einheitlicher zu fassen, will diese Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit nicht weichen. Eher möchte es dann scheinen, als ob die unendliche Fülle der Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten sich zu einem einzigen ganzheitlichen Widerspruch zusammenfüge. Der Aphorismus, die eigentliche Form der Darstellung von Nietzsches Denken, scheint geradezu dafür geschaffen, solche Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zum Ausdruck zu bringen. So liegt es nahe, in dieser Darstellungsform Absicht und Methode zu sehen, und auch die Versuchung liegt immer wieder nahe, in Nietzsches Lehre von der Wahrheit eine Lehre der hermeneutischen Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit zu sehen, eine Hermeneutik, die vom Charakter des Lebens selbst vorgeschrieben und diktiert ist. Aber an Nietzsches Denken fällt keineswegs nur die Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit auf. Wir beobachten daneben eine zumindest ebenso große Helle und Klarheit, die die rhetorischen Mittel der Übertreibung und Überlichtung nicht verschmäht, um den Gedanken in einer unmissverständlichen Deutlichkeit zu präsentieren. Dieser Kontrast zwischen Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit einerseits und überheller Unmissverständlichkeit andererseits ist das auffälligste Charakteristikum von Nietzsches Denk- und Darstellungsstil, auffälliger noch als jede der beiden Seiten isoliert für sich genommen. Angesichts dieses Kontrastes wird man um so weniger umhin können, Absicht und Methode zu unterstellen, insbesondere da, wo das klassische Instrument der philologisch-historischen Forschung, um Vieldeu1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages. Der Beitrag erschien erstmals unter demselben Titel in: Reiner Wiehl, Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte. Frankfurt 1998, 129–149.

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tigkeiten und Widersprüche aufzulösen, nicht greifen will: die entwicklungsgeschichtliche Hypothese, dass der fragliche Autor seine Absicht im Verlauf seiner Entwicklung geändert hat. Absicht und Methode in Nietzsches Stil und Darstellungsform zu finden, diese Deutungsbemühung orientiert sich an einem Schlüsselbegriff: dem der Rhetorik. Ist der Aphorismus schon für sich die ideale Gedankenform, um Gegensätzliches und Widersprüchliches mit Klarheit und Unmissverständlichkeit zu verbinden, so besagt der Rekurs auf die Rhetorik, dass Nietzsches Denken weniger auf Wahrheit als auf Überredung, weniger auf zweckfreie Erkenntnis als auf Meinungsäußerung im Dienste des Lebens zielt. Nietzsche selbst hat für seine Interpreten – bewusst und zum Teil voll Ironie und Bosheit – die Interpretationshilfen geliefert. Einer der wichtigsten von ihm selbst wohl unironisch gemeinten Hilfsbegriffe zum Verständnis seiner Darstellungsmethode ist der Begriff der Perspektive. Was aber meint Perspektive bzw. Perspektivität in Verbindung mit der Darstellungsform des Aphorismus in einer auf rhetorische Wirkung bedachten Rede? Der Begriff der Perspektive ist ja zunächst ein traditioneller Erkenntnisbegriff, der mit dem überlieferten Verständnis von Wahrheit in Übereinstimmung steht, indem er, wo verschiedene Wahrheiten gleichberechtigt nebeneinander stehen, diese Verschiedenheiten auf die verschiedenen Standpunkte zurückführt, wie die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze auf unterschiedliche Hinsichten der Betrachtung. Perspektivität in der traditionellen Bedeutung besagt, dass die Wahrheit sich in mannigfacher Weise zeigt, ohne dass damit die Idee der Einheit der Wahrheit gefährdet ist. Ja mehr noch: Der Begriff der Perspektivität macht überhaupt erst eine sinnvolle Verbindung zwischen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Wahrheit und dem wahren einheitlichen Sein dieser Wahrheit verständlich. Der Sinn des Begriffes der Perspektive erfüllt sich so im Begriff einer absoluten Zentralperspektive, die allein vom Standpunkt Gottes aus als möglich und zugänglich gedacht wird. (In diesem Sinne hat Leibniz den Begriff der Perspektive als Wahrheitsbegriff gedacht.) Denkt auch Nietzsche die Perspektivität als eine solche konstitutive Verbindung zwischen Vielheit der Wahrheiten und Einheit der Wahrheit? Oder wird Perspektivität hier etwas ganz anderes, wenn sie nicht nur auf die Darstellungsform des Aphorismus hin – auch Leibniz pflegte den Aphorismus –, sondern im Zusammenhang mit der rhetorischen Rede gedacht wird, d. i. einer Rede, die ebenso verblüffen und schockieren wie vernünftige Einsicht wecken will; die gelegentlich lieber Verwirrung als Klarheit und Bestimmtheit stiftet; die lähmen will wie der Zitterrochen Sokrates und damit befreien; die nicht nur Gewissheit schafft, sondern auf eine Verunsicherung aus ist, die tiefer greift als die traditionellen Techniken der Kritik und des Zweifels. Muss man Nietzsches Perspektivität also von der Rhetorik her und jedenfalls als eine Perspektivität ohne Zentralperspektive denken? Ich bin damit eigentlich schon im Kernpunkt

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meines Themas: Nietzsches Verhältnis zum Platonismus. Wir wissen von diesem Verhältnis, dass es das eines entschiedenen Nein, eines Anti-Platonismus, eines absoluten Gegensatzes zum Platonismus ist. Was aber ist Platonismus für Nietzsche und welcher Art ist dieser Gegensatz? Offensichtlich ist Nietzsches scharf zugespitzter Anti-Platonismus etwas anderes als irgendeine (und sei es noch so exemplarische) Gegenposition innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte; sie ist nicht irgendeine Variante des antiken oder des neuzeitlichen Aristotelismus, um die prominenteste philosophische Gegenposition zum Platonismus zu nennen. Sie ist aber auch nicht nur irgendeine neuzeitliche Form des Materialismus und Empirismus, der einem platonischen Idealismus und einem auf Anamnese gegründeten Apriorismus entgegengestellt wird. Nietzsches Anti-Platonismus deckt sich schließlich aber auch nicht mit dem Standpunkt des neuzeitlichen Szientismus, der durch und durch Nominalismus ist und von dem aus der platonische Begriffsrealismus eine sinnlose und überflüssige Hypothese darstellt. Nietzsches Anti-Platonismus enthält von alledem etwas und ist doch zugleich etwas anderes. Näher kommt man dem Verständnis, wenn man sich des berühmten Wortes eines der größten Platoniker unseres Jahrhunderts: des englischen Philosophen A. N. Whitehead erinnert, der einmal sagte, die ganze europäische Philosophie sei nichts anderes als eine Reihe von Fußnoten zu Plato. Dem hätte Nietzsche uneingeschränkt zustimmen können und dann im Gegensatz zu Whitehead wohl hinzugefügt: Leider sind alle diese Fussnoten grundverkehrt und angesichts der wirklichen Wahrheit absolut irreführend. Aber damit sind wir immer noch nicht bei dem Platonismus, dem Nietzsche seinen Anti-Platonismus entgegenstellt. Der Platonismus ist mehr als nur eine bestimmte Philosophie, mehr als nur ein Grundzug der europäischen Philosophie, der sich immer wieder Bahn bricht. Der Platonismus ist für Nietzsche eine europäische Lebens- und Kulturform, eine Gestalt der europäischen Wirklichkeit selbst, die er glaubte nicht nur kritisieren, sondern bekämpfen zu müssen. Wenn Nietzsche den Platonismus immer in unmittelbaren Zusammenhang mit Christentum und Kirche gebracht hat, wenn er die berühmte Formel geprägt hat, das »Christentum sei Platonismus für’s Volk«,2 so hat er auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, inwiefern der Platonismus anderes und mehr ist als nur eine Angelegenheit der akademischen Philosophie und der philosophischen Antithesen innerhalb eines allgemeinen anerkannten Raumes philosophischer Auseinandersetzungen; er hat damit aber auch einen Standpunkt bezogen, der über den modernen Szientismus in seiner dem Platonismus ungünstigen Grundhaltung hinausgreift. Am 2 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, »Vorrede«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (im Folgenden KSA mit Bandangabe). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, KSA 5, 12.

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nächsten kommt man wohl der Bedeutung von Nietzsches Anti-Platonismus, wenn man sie als kulturphilosophische Bedeutung bezeichnet, stünde dem nicht Nietzsches verächtliche Kritik an der akademischen Kulturphilosophie entgegen. Immerhin wird man soviel sagen können: Nietzsche begreift den Platonismus als Ausdrucksform der europäischen Kultur und entwirft seinen Anti-Platonismus als eine Reihe von Bedingungen möglicher alternativer Ausdrucksformen. Von hier aus wird auch die neue, tiefgreifende Funktion der Rhetorik und ihrer Verwendung des Aphorismus verständlich. Nietzsche transformiert die traditionelle Rhetorik und macht sie in Form eines Anti-Platonismus zu einem neuen philosophischen Instrument der Kulturkritik. Dabei ist soviel verständlich, dass eine Kritik der Kultur sich nicht allein auf das herkömmliche Instrumentarium philosophischer Argumentation für und gegen bestimmte Thesen oder Theoreme stützen kann. Was uns gerade unter diesem Gesichtspunkt an Nietzsches Anti-Platonismus zunächst und vor allem auffällt ist dies, dass allen Beobachtungen von Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zum Trotz, eine außerordentliche Unmissverständlichkeit und Eindeutigkeit Platz greift. So lässt z. B. die bekannte Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse nicht den geringsten Zweifel über die Entschiedenheit ihres Verfassers in Sachen »Anti-Platonismus«. Der »Platonismus in Europa« wird »ungeheueren und furchteinflößenden Fratzen« zugerechnet, die »über die Erde hinwandeln müssen«. Eine dieser Fratzen ist das »Dogmatisieren in der Philosophie«, und unter den Gestalten des Dogmatismus ist der Platonismus die prominenteste und maßgeblichste. Nietzsche spricht von diesem als dem »schlimmsten, langwierigsten und gefährlichsten aller Irrthümer«. Und er antwortet selbst auf die Frage, worin denn dieser langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer bestehe, es sei »die Erfindung vom reinem Geiste und vom Guten an sich«, eine Erfindung, in der die Wahrheit auf den Kopf gestellt und das Perspektivische, die Grundeinstellung des Lebens selber verleugnet wird. Und in anderem, aber direkt hierher gehörigen Zusammenhang heißt es hinsichtlich des Zusammenhanges von Christentum und Platonismus, »daß jener Christen-Glaube auch der Glaube Plato’s war […], daß die Wahrheit göttlich ist«.3 Hier wird deutlich, dass Nietzsches Grundgedanke vom Tode Gottes nicht von der Überlieferung der rationalen Theologie her allein verständlich werden kann und dass die neue Wahrheitstheorie der Perspektivität als Gegensatz zur traditionellen Lehre dieser Perspektivität, ja geradezu als Anti-Perspektivität begriffen werden muss. Aber Nietzsche wäre nicht der, den wir oben beschrieben haben, nicht der, der unmissverständlich auf Klarheit dringt, den wir vielmehr als ei3 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, »Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale«, KSA 5, 401.

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nen verstehen müssen, der Wahrheit um ihrer selbst willen immer in Kontrast zu etwas anderem denkt, wenn er uns mit dieser scheinbar eindeutigen Stellungnahme zum Platonismus davongehen ließe. Was wir dem »Platonismus in Europa« gegenübergestellt finden, ist zunächst einmal Plato selbst, von dem hier als dem »schönsten Gewächs des Altertums« die Rede ist. Nietzsche fragt hier, wie er selbst des öfteren sagt, als Arzt: »Woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben […] und hätte seinen Schierling verdient?«4 Dies also ist zunächst der klare Gegensatz: Platonismus gegen Plato. Und während dem Ersteren ein entschiedenes Nein entgegengesetzt wird, wird dem Zweiten jene Bewunderung zuteil, die wir bei einer Künstlernatur wie der Nietzsches einem Geistesverwandten wie Plato, einem der größten Künstler des Altertums, gegenüber erwarten. Sowenig der Platonismus für Nietzsche irgendeine unter den vielen geistigen Strömungen Europas ist, sondern die maßgebliche, so ist auch Plato für ihn nicht irgendeine unter den zahlreichen großen Gestalten der europäischen Geistesgeschichte, sondern eine der prägendsten. Er ist derjenige, der dem Platonismus seinen Namen gegeben hat. Plato und der Platonismus: Das ist deswegen für Nietzsche nicht einfach nur ein Zusammenhang, wie er sich für den Historiker der Philosophie darstellt, auch nicht nur ein Verhältnis, welches dem hermeneutisch geschulten und hermeneutisch denkenden Philosophen eine Interpretationsaufgabe stellt. Es ist dies nicht einfach das sachlich gegebene Verhältnis zwischen einer Quelle und dem von ihr ausgehenden Strom, zwischen einer anfänglich gegebenen philosophischen Theorie und ihrer komplexen, vielverästelten Wirkungsgeschichte. Diesem Verhältnis zwischen Plato und dem Platonismus wird man von Nietzsches Standpunkt aus aber auch nicht gerecht, wenn man die Geschichte dieser Denkströmung erzählt und die mannigfachen Variationen und Abwandlungen eines ursprünglichen Themas kritisch miteinander vergleicht, um die unterschiedlichen Bedingungen der je verschiedenen Deutungen ans Licht zu heben. Plato und der Platonismus ist dies alles und noch etwas anderes. Gegen ein solches philosophiehistorisches und hermeneutisches Verhältnis spricht schon allein das Wort von der Krankheit und die Hinwendung zum Arzt, ob nun im wörtlichen oder im übertragenen Sinne verstanden. Der Platonismus ist die Erkrankung an dem schönsten Gewächs des Altertums, und wenn Aphorismus und sophistisch-rhetorische Rede das Instrument der philosophischen Erkenntnis sind, so sind sie Instrumente ärztlicher Diagnose und Therapie zugleich. Das Verhältnis zwischen Plato und dem Platonismus hat für Nietzsche aber noch eine andere Seite. Die großen Philosophen unseres Jahrhunderts haben sich besonders bemüht, das Ungewöhnliche und Einzigartige der Philosophie 4

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, »Vorrede«, KSA 5, 12.

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Nietzsches zu begreifen. Sie haben sich an Nietzsche gemessen, seine Sache zu der ihrigen, ihre Sache zu der seinigen gemacht. So hat Heidegger das Größte, was er überhaupt anzuerkennen vermochte, im Denken Nietzsches gefunden. Ein Denken, welches weder der Kunst, noch der Religion, noch der Wissenschaft verpflichtet ist. Jaspers hat in Nietzsche gefunden, was ihm die eigentliche Aufgabe der Philosophie schien: die Existenzerhellung. Was unser Thema »Plato und der Platonismus« betrifft, so kommt meines Erachtens Franz Rosenzweig der Sache Nietzsches am nächsten, wenn er über diesen schreibt, dass hier etwas Neues gedacht sei: Die Dichter hatten immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht. Und die Heiligen hatten immer schon das Leben gelebt und der eigenen Seele. Aber wieder die Philosophen nicht. Hier aber kam einer, der von seinem Leben und seiner Seele wußte, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war.5 Und Rosenzweig fügt hinzu – geschrieben im Ersten Weltkrieg, nicht erst heute: Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was er erphilosophierte. Das Dionysische und der Übermensch, die blonde Bestie, die ewige Wiederkunft – wo sind sie geblieben? Aber er selber, der in den Wandlungen seiner Gedankengebilde sich selber wandelte, er selber, dessen Seele keine Höhe scheute, sondern dem tollkühnen Kletterer Geist nachkletterte bis auf den steilen Gipfel des Wahnsinns, wo es kein Weiter mehr gab, er selber ist es, an dem nun keiner mehr von denen, die philosophieren müssen, vorbei kann. Nicht so sehr das Was, sondern das Wie ist es demnach im Denken Nietzsches, an dem – so Rosenzweig – keiner heute vorbeigehen kann, der glaubt, der Verpflichtung zum Philosophieren entsprechen zu müssen. Diese ungewöhnliche Art und Weise, diese einzigartige Weise des Denkens und Sprechens von Nietzsche besteht in dem Folgenden: Für Nietzsche gebe es keine »Scheidung zwischen Höhe und Niederung im eigenen Selbst«; ganz »ging er seinen Weg, Seele und Geist, Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte«. Wenn man Nietzsches Denk- und Redeweise als rhetorisch kennzeichnet, so wird man, aus Rosenzweigs Sicht, in solcher Art zu denken und zu sprechen nicht ein Verfahren sehen dürfen, welches bemüht ist, einen trügerischen Schein auf Kosten der Wahrheit hervorzubringen, nicht ein Instrumentarium, dem es genügt zu überreden statt zu überzeugen, dem die Verblüffung wichtiger ist als die vernünftige Einsicht, welches auf Verführung aus ist, anstatt sich 5 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, in: ders.: Gesammelte Schriften II. Den Haag 1976, 9 f . Dort auch die folgenden Zitate.

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in den Dienst der Wahrheit zu stellen. Wenn hier überhaupt von Rhetorik gesprochen wird, so ist an jene Rhetorik zu denken, die schon Plato im Phaidros als höhere Rhetorik beschworen und mit den großen Ärzten in Verbindung gebracht hat, eine Kunst, die auf Wahrheit aus ist, aber auf eine Wahrheit, die sich an den ganzen Menschen, nicht nur an das Höhere im Menschen wendet. Eine solche Kunst im Dienste der Wahrheit muss die Gefühle und Leidenschaften aufwühlen können, wie sie sich an den Verstand muss wenden können, um diesem zur vernünftigen Einsicht zu verhelfen. Also: Diese Kunst verlangt, eine Logik des Herzens mit der Logik des Verstandes zu verbinden; und zu einer solchen Kunst scheint vor allem der Aphorismus, der Spruch und Sinnspruch geeignet. Sofern eine solche Kunst überhaupt möglich ist, wird das Logische, das sie zu verwirklichen strebt, immer notwendig von einer anderen Seite aus als unlogisch erscheinen müssen. Die höhere Sachlichkeit, die in dieser Unsachlichkeit angestrebt wird, wird sich im Gewande der Unsachlichkeit präsentieren, und die Unsachlichkeit wird sich als Kälte und Bosheit des Herzens zeigen, als Gift, das eigentlich Heilmittel sein will. Was hat nun diese Betrachtungsweise zu tun mit dem Thema »Plato und der Platonismus« bei Nietzsche? Nun, zunächst soviel, dass wir, wo wir bei Nietzsche Plato begegnen, es immer mit einem persönlichen Verhältnis zu tun haben, in dem nicht nur ein Gedanke einem anderen, sondern zwei Seelen und Geister in ihrer jeweiligen Einheit einander begegnen. Das persönliche Verhältnis Nietzsches zu Plato steht somit gegen das unpersönliche Verhältnis zum Platonismus. Man ist hier geneigt, die alte Formel, wo immer sie ihren Ursprung haben mag, umzukehren: Nicht zu sagen: »Plato amicus, magis amica veritas«, sondern: »veritas amica, magis amicus Plato«. Es ist in diesem Sinne, wenn Nietzsche in seiner Sammlung von Aphorismen in Menschliches, Allzumenschliches (Teil II) nach dem Vorbild der Odyssee seine Fahrt ins Totenreich beschreibt: Die Hadesfahrt. – Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eigenen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muß ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.6 6

Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 533 f.

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Plato gehört also unter die Schar jener Toten, die Nietzsche soviel lebendiger vorkommen als so manche Lebenden, die im Vergleich zu jenen wie Schatten wirken. Ihre »ewige Lebendigkeit« ist es, auf die es im Leben ankommt, nicht auf das ewige Leben. Diese ihre »ewige Lebendigkeit«, die sie – von dem modernen Odysseus unserer Epoche in seiner Existenz beschworen – aus dem Dunkel des historischen Schattenreiches heraustreten lässt, ist nicht graue Theorie, die als solche in ihrer Farblosigkeit der bunten Fülle des Lebens widerstreitet. Eher ist sie am Ende noch der Lebendigkeit der Gestalten vergleichbar, die der Künstler vor sein und unser Auge hinstellt, damit wir sie miteinander ins Gespräch kommen sehen und hören, was sie einander und damit auch uns zu sagen haben, über die Welt und über das menschliche Leben, als Rater und Mahner, als Warner und als Wegweiser. In diesem Sinne der ewigen Lebendigkeit zählt Plato zu den persönlichen Vertrauten Nietzsches. Dieser Plato ist sein Plato, wie dieser jedermanns und vielleicht auch niemandes Plato ist, so wie Nietzsches Zarathustra ein »Buch für alle und keinen«. Deswegen ist dieser Plato auch nicht zuerst und zunächst der Plato der Gebildeten und der Kenner der Geschichte der Philosophie und schon gar nicht zunächst ein Objekt historisch-vergleichender Forschung. In seiner Denkschrift über »Die Zukunft unserer Bildungsanstalten« hat Nietzsche den »genetischen« und »historischen« Umgang beklagt, den die Bildung mit ihren Gegenständen pflegt; und er hat sich mokiert über die vermeintliche Gelehrsamkeit der »kleinen Sanskritaner oder etymologischen Sprühteufelchen oder Conjekturen-Wüstlinge«, von denen keiner »zu seinem Behagen, gleich uns alten, seinen Plato, seinen Tacitus lesen kann«.7 Seinen Plato nennt er mehr als nur einmal »göttlich«, und wenn er den nicht weniger göttlichen Mozart rühmen will, tut er es mit dem überlieferten Wort, welches Aristoteles hinsichtlich seines Lehrers Plato geäußert haben soll: »ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt«.8 Plato ist Nietzsche so lebendig gegenwärtig, dass er sich gleichsam nebenher und wie im Vorübergehen auf ihn berufen kann, so, wenn er das Lob des Wahns, der Mania singen will, wie es Plato im Phaidros tut.9 Er kann auf Platos »Terminologie« zurückgreifen, was für ihn bedeutet, den Argumentationstopos von dem Einen über dem Vielen bzw. dem Einen bei dem Vielen (hen epi pollon) in einem eigenen Gedankengange zu gebrauchen; so wenn er den Dionysos die Einheit in der Vielheit der Gestalten der hellenischen Bühnen nennt.10 Aber, so wird man sich angesichts

7

Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, »Vortrag III«, KSA 1, 705. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, »Erstes Stück: David Friedrich Strauss der Bekenner und Schriftsteller«, KSA 1, 187. 9 Vgl. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 155. 10 Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 1, 16 u. 72. 8

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solcher Nähe und unmittelbarer Verbindung fragen: Ist Nietzsche als ein so enger Freund Platos ein guter, ein wahrer Platoniker? Müssen wir in ihm, gerade bei einer solchen Einstellung nicht eher den Anti-Platoniker sehen? Denn man erinnert sich wohl: Jener Satz, den Nietzsche auf den Kopf gestellt hat, der die Freundschaft mit der Wahrheit über die Freundschaft mit Plato zu stellen fordert, ist ein gut platonischer Satz, sehen wir doch Plato seinen Sokrates immer wieder seinen Gesprächspartnern einschärfen, dass es nicht auf sie, aber schon gar nicht auf ihn ankommt, sondern nur auf das, was der Logos sagt: die Vernunft der Sache selbst oder wie immer man hier dieses griechische Urwort »Logos« übersetzen will. Aber man sollte den Weg von Plato zum Anti-Platonismus nicht zu kurz anlegen. Es ist dies im Denken Nietzsches zumindest ein verschlungener, kein geradliniger Weg. Wie wir gesehen haben, steht Plato für Nietzsche unter den Ewig-Lebendigen nicht allein. Die sieben anderen, mit denen er die Gesellschaft teilt, stehen gewiss mit ihm zusammen stellvertretend für viele andere. Vor allem aber hat Nietzsche ja selbst, wie wir gesehen haben, ausdrücklich vermerkt, dass er keineswegs nur von seinem Plato, auch nicht nur von jedem einzelnen der anderen genannten sieben lernen will, sondern insbesondere durch das, was sie alle einander wechselweise, und was die übrigen sieben dem Plato zu sagen haben. Gewiss stehen die aufgeführten acht Namen nur stellvertretend für viele andere, denen Nietzsche in anderen Kontexten keine geringere Bedeutung einräumt. Wer will und wer die Fähigkeit dazu hat, ist hier aufgefordert, sich seine platonischen Dialoge selbst zu dichten und jedem erdenklichen Autor seine Gesprächsrolle zuzuweisen. Nietzsche wollte keine platonischen Dialoge dichten. Er war kein Freund der Dialektik. Vielleicht fehlte ihm für diese die Geduld des Denkens. Wer sich also unter den zahlreichen, allzu oft gegensätzlichen und nicht immer einfach zu deutenden Aussprüchen Nietzsches über Plato nicht zurechtfindet, der ist – mit Pirandello – aufgefordert, sich einen Autor für diese Äußerung zu suchen. Immer wird er sicher sein können, dass der gefundene Autor auch Nietzsche ist und vielleicht er selbst. Und der Äußerungen über Plato sind viele. So finden sich etwa Aussagen über Platos Politeia, über das Werk, das Nietzsche besonders fasziniert hat, weil er in ihm ein ambivalentes Verhältnis des Verfassers zum Tyrannischen herausspürte.11 In dieser ambivalenten Einstellung mag Nietzsche, der den Willen zur Macht durch und durch ambivalent, nämlich in einem Wesenszusammenhang mit dem europäischen Nihilismus dachte, dem Plato sich wie nirgends sonst verwandt gefühlt haben. Hinsichtlich der Politeia hat Nietzsche Plato gerühmt, weil er die »wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheim-

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Vgl. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 215.

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lehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius zu erkennen«12 gegeben habe. In eben jener Politeia findet Nietzsche aber die Staatsidee eines alten typischen Sozialisten, der »den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts« befördert habe, »weil […] er sein Erbe werden möchte«.13 Gegensätzlich, oder wenn man so will ambivalent, ist auch Nietzsches Einstellung zu Platos Kunstkritik. Auf der einen Seite sind ihm Sokrates und Euripides, und in ihrem Gefolge Plato, diejenigen, welche die Psychologie und das Ressentiment entdecken und die durch diese Entdeckung die alte griechische Tragödie zerstören. Aber auf der anderen Seite weiß er sehr wohl die innere Konsequenz der platonischen Kritik an der Tragödie anzuerkennen. Mehr als einmal hat er Plato unter die Schar derjenigen gereiht, die das Mitleid abgelehnt und verworfen haben,14 und hierin ein besonderes Verdienst gesehen, um zugleich Zweifel anzumelden, ob die berühmte Analyse des Aristoteles richtig sei, dass der Zuhörer der Tragödie – aufgrund der Katharsis – » kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre«; dass es also sehr wohl so sein könne, »daß Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt größer werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, daß man durch die Tragödie insgesamt ängstlicher und rührseliger werde«.15 Aber nicht nur hinsichtlich der Politik und der Kunst, auch hinsichtlich der Psychologie – dieses dritten großen Themas, das Nietzsche mit Plato verbindet – sind seine Äußerungen widersprüchlich bzw. ambivalent und damit zur perspektivischen Deutung einladend. Verglichen mit den alten Tragikern mögen Sokrates und Plato Psychologen gewesen sein, wie Nietzsche selbst von sich nicht müde wird als Psychologe zu reden. Plato wird gelegentlich in Sachen des freien Willens ein Vorläufer Kants genannt. Aber auch hier wird die Gegenrechnung aufgemacht. Plato gehört nicht nur überhaupt, sondern insbesondere als Psychologe dem Altertum an, mit seiner »mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen«. Wie das Altertum insgesamt, so glaubt auch Plato an den einfachen Gegensatz von »Gut und Böse, wie an Weiß und Schwarz, an die radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften«.16

12 Nietzsche: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, »3. Der griechische Staat«, KSA 1, 777. 13 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2,307. 14 Vgl. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 70. 15 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 173. 16 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 680 f.

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II. Angesichts dieser und zahlreicher anderer Äußerungen Nietzsches über Plato, die nicht weniger gegensätzlich sind als die vorher aufgeführten, scheint vom Standpunkt der methodischen Perspektivität her die Frage müßig, ob Nietzsche so oder so eher Platoniker als Anti-Platoniker sei. Und auch die andere Frage scheint kaum entscheidbar, ob solche Äußerungen wie die zitierten tatsächlich den Gedanken Platos gerecht werden. Es ist hier ja – angesichts der platonischen Dialoge – immer wieder die Frage, was Plato denn wirklich und eigentlich lehrte, vor allem aber auch die Frage, von welchem Standpunkt aus wir sein Denken und Philosophieren betrachten, um es nicht nur auf einen imaginären Gesprächspartner, sondern auch auf uns selbst zu beziehen: also das fiktive Gespräch als hermeneutische Veranstaltung. Zwei Gesprächspartner des Plato, die Nietzsche eigens nennt, seien für unser Thema aufgeführt. Der eine ist Epikur, ausdrücklich unter jenen acht benannt, die Nietzsche auf seiner Fahrt in die Unterwelt befragt. Es ist dessen »Scherz«, Plato und die Platoniker »Dionysiokolakes« zu nennen, d. i.: »Tyrannenzubehör und Speichellecker und […] Schauspieler«, ein Scherz, der aus Nietzsches Sicht wohl die erwähnte Ambivalenz Platos zum Tyrannischen im Herz treffen sollte. Epikur, so Nietzsche, habe die großartige Manier verdrossen, »das Sich-in-Scene setzen, worauf sich Plato sammt seinen Schülern verstand, – worauf sich Epicur nicht verstand«.17 Wie steht es, so wird jeder fragen, in dieser Sache zwischen Epikur und Plato mit Nietzsche selbst? Sollte Nietzsche, als er jene Sätze über Epikur und Plato schrieb, keinen Augenblick an sich selbst gedacht haben, er, der sich wie keiner vor ihm, wie selbst Plato nicht, darauf verstand, sich in Szene zu setzen? Sicher ist, dass er, auch wenn er vielleicht jenen Scherz des Epikur einmal zufällig nicht im Kopfe hatte, wohl wusste, was er selbst zu dieser seiner eigenen Attitüde zu sagen hatte. Der zweite Mann, den ich aus der Schar jener acht nennen möchte, ist Spinoza, der zusammen mit Goethe genannt wird. Nicht immer hat Nietzsche über Spinoza so gesprochen wie in dem berühmten Brief an seinen Freund Franz Overbeck vom 30. Juli 1881: Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger, und was für einen! Ich kannte den Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf 17 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, »Erstes Hauptstück«, KSA 5, 21. (Ich erinnere mich hier an ein analoges Verhältnis in unserem Jahrhundert, die beiden Dioskuren Bertrand Russell und Alfred North Whitehead betreffend: Victor Lowe, der beide persönlich gekannt hat, hat den Ersteren einmal ein Genie in Sachen der Publizität, den Zweiten in Sachen der Privatheit genannt.)

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Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –. Und dann fügt Nietzsche hinzu: »[W]enn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!«18 Mit dieser Wunderlichkeit scheinen wir nun aber endlich im Zentrum unseres eigentlichen Themas angelangt: »Nietzsche und der Antiplatonismus«. Denn nicht nur in jener Grundtendenz, die Nietzsche als seine grundlegende Gemeinsamkeit mit Spinoza beschreibt, sondern auch in den einzelnen gemeinsamen »Hauptpunkten« wird der Kern dessen umschrieben, was Nietzsche als die eigentliche Gegenposition, als die wahre Gegenwelt zur Welt des Platonismus und des Christentums ansieht: als die Welt eines Anti-Christentums, welche ein Anti-Platonismus ist, und zwar »für alle und keinen«, um noch einmal an den vielsagenden Untertitel des Zarathustra zu erinnern. Denn dies ist umgekehrter Platonismus, dies ist Christentum als Platonismus fürs Volk: Verleugnung des körperlichen und leiblichen Seins zugunsten des Geistes, Vernichtung der Leidenschaften und Begierden nach dem Motto: »Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus.«19 Das ist Anerkennung der Freiheit des menschlichen Willens und damit Anerkennung der menschlichen Schuldhaftigkeit und Sündhaftigkeit, Anerkennung des ursprünglichen menschlichen Hanges zum Bösen. Das ist auch Betrachtung der Welt im Ganzen als eines von Zwecken, von höchsten göttlichen Zwecken regierten Universums. Und dies ist schließlich auch Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen zu uneigennützigem, den Neigungen und Eigeninteressen zuwiderlaufendem Tun in der Erkenntnis des wahrhaft Guten. Spinoza zum Gewährsmann gegen diesen Platonismus, gegen diese ursprüngliche Welt des Christentums zu machen, dies heißt keineswegs, einer ganz aus der Luft gegriffenen Lesart zu folgen. Im Gegenteil: Es ist dies vielmehr die gängige Lesart eines schlechthin antichristlichen Spinoza, den seine Feinde den Maledictus nannten; aber eine Lesart mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Feind Spinoza, der Maledictus, ist für Nietzsche der Freund, der Benedictus in seiner Einsamkeit. In der Tat: Liest man den Abschnitt über die »Vier großen Irrthümer« in der Götzen18 Friedrich Nietzsche am 30. Juli 1881 an Franz Overbeck, in ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 3, Bd. 1: Friedrich Nietzsche: Briefe: Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin/New York 1981, 111. 19 Nietzsche: Götzen-Dämmerung, »Moral als Widernatur«, KSA 6, 82.

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Dämmerung, so findet man sich wie selten sonst bei Spinoza-Interpretationen in die allergrößte Nähe zur Gedankenwelt des Maledictus-Benedictus versetzt: Da gibt es zunächst den großen Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge, in der das Frühere zum Späteren, das Spätere zum Früheren gemacht ist – auf Kosten eines wahren Begriffes von Trieb, Begierde und des wahrhaft Guten, und damit zum Schaden der wahren Moral. Spinoza selbst hat das maßgebliche Beispiel einer solchen Verwechslung in Verbindung mit seinen neuen Begriffen von Trieb, Begierde und Wille gegeben: »Dass wir nichts erstreben, wollen, begehren oder wünschen, weil wir es für gut halten, sondern wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen« (3p9s) – die umgekehrte Betrachtung ist der Irrtum der Verwechslung. Ferner gibt es den großen Irrtum der falschen Ursächlichkeit. Es ist dies eine Ursächlichkeit, der zufolge der Wille, das Ich, der Geist als Ursache gegenüber dem als wirkend gedacht sind, welches nicht Wille, nicht Ich, nicht Geist ist, also gegenüber der Materie, dem Körper, dem Leib. Auch hier können wir Spinoza als Zeugen Nietzsches zitieren: »Der Körper kann den Geist nicht zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder Ruhe noch zu etwas anderem (wenn es ein solches anderes gibt) bestimmen.« (3p2) Der dritte schwere Irrtum hängt mit den beiden zuvor genannten wie auch mit dem vierten, noch zu nennenden direkt zusammen. In gewissem Sinne handelt es sich bei diesen vier schweren Irrtümern um einen einheitlichen Grundirrtum hinsichtlich dessen, was wir Kausalität nennen. So enthält dieser dritte schwere Irrtum in sich eine Verwechslung des Früheren und Späteren, wie in ihn der Irrtum der falschen Ursache eingeht. Nietzsche hat diesen dritten schweren Irrtum den der imaginären Ursachen genannt. Moral und Religion bilden das wichtigste Anwendungsgebiet dieses Irrtums. Schließlich entspringt aus diesem Irrtum der folgenschwere vierte Irrtum, die Annahme eines freien Willens. Der Begriff der imaginären Ursache deckt sich nicht einfach mit dem Begriff einer falschen Ursache, die wir von der wahren Ursache unterscheiden. Die hier notwendige Unterscheidung liegt in einer anderen Dimension. Es geht dabei um die Differenz zwischen bestimmten Tatsachen einerseits und den kausalen Interpretationen andererseits, oder wenn man die Differenz noch weiter zuspitzen will, um den Unterschied zwischen tatsächlichen Kausalverhältnissen und kausalen Interpretationen dieser Verhältnisse. Wir befinden uns nicht nur so oder so; und wir befinden uns auch nicht nur so oder so aus diesem und jenem Grunde. Vielmehr glauben wir vor allem, dass wir uns aus diesem oder jenem Grunde so oder so befinden. Wir imaginieren Ursachen unserer »Befindlichkeit« (Heidegger). Es genügt uns nicht, uns so oder so zu befinden. Nietzsche: »Wir wollen einen Grund haben uns so oder so zu befinden, – uns schlecht zu befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloß die Thatsache, daß wir uns so oder so befinden, festzustel-

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len.«20 Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem »Ursachentrieb«. Dieser ist der Trieb, kausale Erklärungen zu finden, zu erfinden – gewissermaßen um jeden Preis, nach der Maxime: »Irgendeine Erklärung ist besser als keine.« Hier geht es also anders als in den Wissenschaften nicht darum, objektive Kausalzusammenhänge zu erforschen, sondern dem zuvor darum, eine den spezifischen Umständen und Bedürfnissen entsprechende Kausaldeutung zu finden, die unserem Befinden Genüge tut. Wissenschaftliche Kausalerklärungen sind späte Derivate dieses ursprünglichen menschlichen Kausaltriebes. Nietzsche gibt hier – wie auch sonst des Öfteren – eine von ihm selbst so genannte »psychologische Erklärung« für das menschliche Bedürfnis nach kausalen Erklärungen (die man selbst diesem Bedürfnis entsprungen betrachten kann): »Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, gibt außerdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine.«21 Darin liegt, dass man die gewöhnlichsten Erklärungen bevorzugt, sofern diese unserem Ursachentrieb am schnellsten und einfachsten entgegenkommen. Suchen wir auch für diesen dritten schweren Irrtum der imaginären Ursache ein entsprechendes Zeugnis bei Spinoza, so stehen wir vor der ungewöhnlichen Tatsache, daß Spinozas Affektenlehre und Ethik in ihrem wesentlichen Kern eine philosophische Theorie der imaginären Ursächlichkeit ist. Vor allem im dritten Teil seiner Ethik geht es immer wieder um diese eine Frage: Was folgt für unsere jeweilige Befindlichkeit, wenn wir unsere eigene Befindlichkeit als solche und hinsichtlich der Befindlichkeit anderer Menschen kausal so oder so mit Hilfe der Imagination interpretieren? Was folgt zum Beispiel für unsere jeweilige Befindlichkeit, wenn wir uns zu Recht oder zu Unrecht einbilden, wir könnten ein uns wichtig scheinendes Gut gewinnen bzw. verlieren; oder was folgt für unsere Befindlichkeit, wenn wir uns einbilden, jemand, den wir nicht mögen, könne ein Gut gewinnen oder verlieren, von dem wir uns selbst einbilden, dass es ein Gut sei; oder: was folgt für unsere Befindlichkeit, wenn wir uns einbilden, etwas sei einem anderen gleich, welches wir für ein Gut halten, etc.? Ethik ist für Spinoza zu einem Großteil Erkenntnis dieser umfassenden Gesetzmäßigkeit, der Abhängigkeit unserer Befindlichkeit von unseren eigenen kausalen Interpretationen durch Imagination. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit kennen, wissen wir auch, welcher kausalen Interpretationen wir bedürfen, um die Befindlichkeit Freude oder Glück zu gewinnen.

20 21

Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, 92. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, 93.

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Der freie Wille ist für Nietzsche und auch für Spinoza eine solche imaginäre Ursache, geboren aus dem Bedürfnis, Schuld zuzuweisen, auch sich selbst zuzuschreiben und Reue empfinden zu können. Eben eine solche imaginäre Ursache ist auch der Zweck bzw. die Zweckursache. Nietzsche: »Wir haben den Begriff ›Zweck‹ erfunden: in der Realität fehlt der Zweck«,22 und Spinoza: »Der Wille kann nicht eine freie, sondern nur eine notwendige Ursache genannt werden« (1p32) und: Alle Vorurteile des Menschen hängen von dem einen ab, dass nämlich die Menschen gemeiniglich voraussetzen, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selbst, wegen eines Zweckes, ja, dass sie als gewiss aufstellen, dass Gott alles zu einem gewissen bestimmten Zwecke lenke (denn sie sagen, Gott habe alles des Menschen wegen gemacht, den Menschen aber, damit er ihn verehre). […] Hieraus sind die Vorurteile von Gut und Böse (malum), Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Hässlichkeit und dergleichen entstanden. (1app) Ziehen wir also ein erstes Fazit: Nietzsche sieht sich – zu Recht – in seinem Anti-Platonismus durch Spinoza bestätigt. Dieser Anti-Platonismus ist bestimmt als Gegensatz zum platonischen Kausalverständnis als Unverständnis des Sinnes und der Funktion menschlicher Kausalerklärung. Der Anti-Platonismus stellt insofern eine tiefgreifende Revision des Kausalverständnisses dar, und zwar in lebenspraktischer oder, wenn man so will, in moralischer Absicht. Aber, so verwunderlich für Nietzsche die Entdeckung dieser Zweisamkeit allein schon ist, es bleibt auch für uns und für unser Thema »Nietzsche und der Anti-Platonismus« noch Verwunderliches übrig. Denn es ist nicht schwer zu sehen und schon gar nicht für einen so sehr mit historischem Sinn begabten Denker wie Nietzsche, dass dieser Spinoza so antiplatonisch, so antichristlich nicht ist, wie er hier zunächst dargestellt erscheint. Ja, dass dieser Spinoza vielleicht der größte unter den Platonikern der Moderne ist. Da finden wir das platonische Prinzip des Einen in einer Weise betont, die noch über Platos Betonung hinausgeht und Spinoza geradezu zu einem Parmenides der Neuzeit macht. Da gibt es den platonischen Grundbegriff der Selbstbewegung, der den Schlüssel abgibt für das Verständnis der Seele, ja der ganzen belebten Natur überhaupt, – und zwar unter dem Titel einer causa sui als ersten Grundbegriff an den Anfang des Systems gestellt, als der Grundbegriff, ohne den im Grunde nichts vernünftig erkannt werden kann Und da lässt sich schließlich ohne gewaltsame Interpretation in Spinozas Ethik jene Gleichung »Vernunft = Tugend = Glück« finden, die für Nietzsche nichts anderes ist als Ausdruck des Ressentiments, welches er zuerst innerhalb der europäischen Geschichte bei Sokrates fand, den er wegen seiner Hässlichkeit nicht eigentlich als Griechen wollte 22

Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, 96.

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gelten lassen.23 Bei Spinoza heißt es: »Durchaus tugendhaft handeln ist nichts anderes in uns als nach der Leitung der Vernunft handeln, leben, sein Sein erhalten (ex ductu rationis agere, vivere, suum esse conservare)« (4p24), und: »Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst (Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus).« (5p42) Gewiss finden sich bei Nietzsche die entsprechenden kritischen Aussprüche gegen die Idee der Einheit in ihrer Verabsolutierung und insbesondere gegen den Begriff der Ursache seiner selbst, der causa sui. Wie aber lässt sich erklären, dass jene Gleichung, »Vernunft = Tugend = Glück«, in dem einen Falle zum Ressentiment und allen seinen Begleit- und Folgeerscheinungen führt, im anderen Falle, nämlich bei Spinoza, zu einer Wertkritik, die sich ganz mit Nietzsche in Einklang befindet, wenn sie Mitleid und Reue als widervernünftig zurückweist und wenn sie – im Gegensatz zur Auffassung des Altertums – die mannigfachen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen dem aufspürt, was die Menschen im Allgemeinen in den einfachen Gegensatz des Guten und des Bösen einteilen. Enthält die Revision der Kausalauffassung den Schlüssel für das Verständnis dieser gegensätzlichen Konsequenzen aus einer scheinbar identischen Gleichung? Hat uns Nietzsche hier eine sinnvolle Interpretationsaufgabe gestellt? Hat er diese selbstgestellte Frage vielleicht am Ende beantwortet? Fragen wir zum Schluss: wie steht es mit jener von Nietzsche empfundenen gemeinsamen Grundtendenz, die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen? In der Sprache des Spinoza heißt dies: »Ein Affekt kann nur durch einen Affekt, der entgegengesetzt (contrarium) und stärker als der einzuschränkende Affekt ist, eingeschränkt und aufgehoben werden« (4p7), und: »Die wahre Erkenntnis des Guten und Bösen kann, insofern sie wahr ist, keinen Affekt einschränken, sondern nur, insofern sie als Affekt betrachtet wird« (4p14); und: »Zu allen Taten (actiones), zu denen wir durch einen Affekt, der ein Leiden ist (passio), bestimmt werden, können wir auch ohne denselben durch Vernunft bestimmt werden.« (4p59) Die Erkenntnis als dieser mächtigste Affekt, nämlich als der Affekt der Vernunft selbst, sofern diese nicht Leiden, sondern Tun ist, ist amor intellectualis: Die Liebe der Vernunft. Es ist hier nicht ohne Pointe, was Nietzsche über diesen amor intellectualis zu sagen weiß, und zwar in eben demselben Text, der uns so beeindruckend die Zweisamkeit zwischen ihm und Spinoza zu bestätigen schien: »Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinnweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und deren Voraussetzungen.«24 Plato genießt hier, ungeachtet 23 24

Vgl. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, »Das Problem des Sokrates«, KSA 6, 67 ff. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, »Streifzüge eines Unzeitgemässen«, KSA 6, 126.

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Nietzsches Abneigung gegen die Dialektik, einen Vorzug, ist er doch Grieche und nicht Christ. Sollte Spinoza also ungeachtet seines Anti-Platonismus doch eher Christ sein oder sollte etwas versteckt Christliches in ihm oder nur etwas verdächtig Metaphysisches in ihm verborgen liegen? Was hier für die Dialektik spricht, ist ihr Ursprung aus der »philosophischen Erotik«, dank dessen man ihre Spuren noch in der »ganzen höheren Cultur und Literatur des klassischen Frankreich« wiederfinden kann.25 Also noch einmal eine neue Perspektive? Oder vielleicht eine Leseanweisung Nietzsches für den alten und neuen Europäer, sich ein Lesebuch zusammenzustellen, in welchem aus Spinozas großer Ethik der erste und der letzte Teil gestrichen und durch Platos Symposion ersetzt ist (von dem wiederum vielleicht die Rede der Diotima wegzulassen wäre?). Wie steht es nun mit der Zweisamkeit von Nietzsche und Spinoza in Sachen des Anti-Platonismus? Beide haben gründlich das alte teleologische Kausalitätskonzept mitsamt den Prinzipien, auf die es sich gründete, über den Haufen geworfen. Beide haben diese Art von Kausalität nicht transformiert, um sie durch eine streng mechanistische Kausalität zu ersetzen. Beide stellen vielmehr diese Transformation in den Dienst einer Kritik an der Moral und einer neuen ethischen Besinnung. Sind sie so nicht beide in ihrem ursprünglichsten Sinne genommen Platoniker? Vielleicht sogar Sokratiker? Müssen sie es nicht sogar sein wollen? Heidegger hat Nietzsche den letzten Metaphysiker genannt, und wenn ich ihn richtig verstehe, war dies kritisch gemeint: Nietzsche als einer, der die Metaphysik zerstören will, und dem dies nicht oder zumindest nur zur Hälfte gelingt. Aber ist diese Perspektive dem Denken Nietzsches angemessen? Um zu dem zu Anfang zitierten Text, der Vorrede von Jenseits von Gut und Böse, zurückzukehren: Für Nietzsche ist im Blick auf sein eigenes Jahrhundert, das neunzehnte, der Platonismus in Europa zu Ende. Nun, da Europa »von diesem Alpdrucke aufathmet, darf es zum Mindesten eines gesünderen Schlafs geniessen«. Solcher Schlaf aber ist nicht Nietzsches Sache, der seine Aufgabe selbst als die des Wachseins bestimmt. Der »Kampf gegen Plato […] hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen«.26 Mag der europäische Mensch diese Spannung als Notstand empfinden und eben deswegen den Bogen abspannen – dies ist es, was Nietzsche den europäischen Nihilismus nennt. Auf diese Weise wird verfehlt, was er in eben diesem Zusammenhang den freien Geist des guten Europäers genannt hat. 25

Vgl. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, »Streifzüge eines Unzeitgemässen«, KSA 6,

126. 26

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, »Vorrede«, KSA 5, 12 f.

Über die Autorinnen und Autoren

Karl Ameriks, McMahon-Hank Professor, Department of Philosophy, University of Notre Dame. Langjähriger Mitarbeiter in Forschungsprojekten zu Kant, Reinhold und dem Deutschen Idealismus. Wichtigste Veröffentlichungen: Kant’s Theory of Mind (Oxford 1982, 20002); Kant and the Fate of Autonomy (Cambridge 2000); Interpreting Kant’s Critiques (Oxford 2003) und Kant and the Historical Turn (Oxford 2006). Herausgeber von The Cambridge Companion to German Idealism (Cambridge 2000) und Mitherausgeber von The Modern Subject (Albany 1995); Lectures on Metaphysics/ Immanuel Kant (Cambridge 1997), Kants Ethik (Paderborn 2004); Karl Leonhard Reinhold. Letters on the Kantian Philosophy (Cambridge 2005) und Kant’s Moral and Legal Philosophy (Cambridge 2009). Andreas Arndt, Jahrgang 1949, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Vorsitzender des Vorstandes der Internationalen HegelGesellschaft (seit 1992). Wichtige Veröffentlichungen: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (Bochum 1985, 20112); Dialektik und Reflexion (Hamburg 1994); Die Arbeit der Philosophie (Berlin 2003); Unmittelbarkeit (Bielefeld 2004); zusammen mit Walter Jaeschke: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant (München 2012). Ulrich Barth, geb. 1945, 1966–1970 Studium der Kirchenmusik, Evangelischen Theologie und Philosophie in Karlsruhe, Heidelberg, Göttingen. Seit 1978 Kantor und Organist in St. Albani, Göttingen. 1982 Promotion zum Dr. theol. in Göttingen, danach Mitarbeiter der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel, Hochschulassistentur in München und Mainz, 1990–1992 Privatdozent für Systematische Theologie in Göttingen, 1992/93 Vertretungsprofessur in Hamburg. Seit 1993 Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Halle. Seit 1996 Erster Vorsitzender der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft, seit 2001 Mitglied der Herausgeberkommission der kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers. Seit 2002 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats »Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt«. Seit 2004 Mitglied des Direktoriums des »Interdisziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäi-

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Über die Autorinnen und Autoren

schen Aufklärung des 18. Jahrhunderts«, Halle, und seit 2006 Mitglied des Sprecherrats des Exzellenznetzwerks »Aufklärung – Religon – Wissen«, Halle. Seit 2009 Mitglied der Klassik-Stiftung Weimar. Seit Sommersemester 2010 Seniorprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Wolfgang Bartuschat, geb. 1938, Promotion 1964 in Heidelberg, Habilitation 1971 in Hamburg. 1977–2002 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft (Frankfurt am Main 1972); Spinozas Theorie des Menschen (Hamburg 1992); Baruch de Spinoza (München 1996). Aufsätze zur Metaphysik, Politiktheorie, Rechtsphilosophie und Hermeneutik in der Epoche von Descartes bis Hegel. Edition und Übersetzung mehrerer Schriften Spinozas (Philosophische Bibliothek Meiner 1991–2010). Mitherausgeber des Archiv für Geschichte der Philosophie (1994–2010). Arno Böhler ist Philosoph und Filmemacher. Gründer des Philosophieund Performancefestivals Philosophy On Stage. Seit 2004 Universitätsdozent (Dr. habil.) am Institut für Philosophie der Universität Wien. Mehrjährige Forschungsaufenthalte an der Universität Bangalore, der Universität Heidelberg, der New York University und Princeton University. Leitung der FWF-Forschungsprojekte: Korporale Performanz-Generating Bodies (TRP12G21), 2010–2013 sowie Materialität und Zeitlichkeit performativer Sprechakte (P17600-G06), 2005–2007. Schrödinger Forschungsstipendiat 2000–2002 (FWF: J 1894). 1997 Gründung der wienerkulturwerkstätte GRENZ-film gemeinsam mit der Schauspielerin Susanne Valerie Granzer. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie, Poststrukturalismus, Indische Philosophie. Spezieller Forschungsfokus: Ästhetik – artbasedresearch. Weitere Informationen (inklusive einer Publikationsliste) finden sich unter: http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler/ Konrad Cramer, emeritierter Universitätsprofessor für Philosophie an der Universität Göttingen, seit 1997 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 1998 Vorsitzender der Leitungskommission für die Akademie-Ausgabe der Schriften Kants, 1999 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft. Gastprofessuren an den Universitäten Halle-Wittenberg, Berlin und Barcelona. Veröffentlichungen in Auswahl: Materialien zu Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹ (mit Rüdiger Bittner, Frankfurt am Main 1975); Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants (Heidelberg 1985); Kant. Introducción de Carlos P. Gutiérrez. Cuadernos de Filosofía y Letras (Bogotá 1987); Kant über Argumentieren in der Moral. Eine Fallstudie (Göttingen 2001).

Über die Autorinnen und Autoren

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Zahlreiche Beiträge zu systematischen Problemen der Philosophie Descartes’, Hobbes’, Spinozas, Leibniz’, Wolffs, Kants, Hegels, Schleiermachers, Brentanos, Husserls, Cohens und Natorps sowie zu Begründungsproblemen der Philosophie der Subjektivität, der normativen Ethik und der philosophischen Theologie. Bärbel Frischmann, Universitätsprofessorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt, vorher Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Bremen, Gastprofessuren an der Universität Tübingen und der Korea University (Seoul). Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Frühromantik, Nietzsche, Existenzphilosophie, Sozialphilosophie, Kulturphilosophie. Wichtigste Veröffentlichungen: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel (Paderborn 2005); Hg. mit Elizabeth Millán-Zaibert: Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie (Paderborn 2009); Hg.: Sprache – Dichtung – Philosophie. Heidegger und der Deutsche Idealismus (Freiburg 2010). Patrizia Giampieri-Deutsch, Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Wien, korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Mitglied der Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung der ÖAW; Psychoanalytikerin, ordentliches Mitglied, Lehranalytikerin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und der International Psychoanalytical Association (IPA), Research Fellow der IPA, Mitglied des Committee Psychoanalysis and the University der IPA. 2004–09 Leiterin des Ethikausschusses der WPV. Autorin zahlreicher Beiträge, Herausgeberin von Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Bd. 1: Europäische Perspektiven (Stuttgart 2002), Bd. 2: Anglo-amerikanische Perspektiven (Stuttgart 2004); Psychoanalysis as an Empirical, Interdisciplinary Science (Wien 2005); Geist, Gehirn, Verhalten: Sigmund Freud und die modernen Wissenschaften (Würzburg 2009); Mitherausgeberin: The Correspondence of Sigmund Freud and Sándor Ferenczi. 3 Bde (Harvard, Cambridge, Mass. 1993– 2000); Ferenczi’s Turn in Psychoanalysis (New York 1996, 2000) und Sensory Perception. Mind and Matter (Wien/New York 2012). Ulrike Kadi, Dr. med., Dr. phil., Universitätsassistentin an der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien, externe Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien und an der Universität Klagenfurt, Fachärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin (WAP), Mitglied der Forschungsgruppe Psychoanalyse Stuzzicadenti, Mitherausgeberin der texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik und des Journal Phänomenologie. Forschungsschwerpunkt: Körper und Sprache in der Psychoanalyse.

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Über die Autorinnen und Autoren

Rezente Publikationen: »Sexuierung nach Lacan. Eine Fragwürdigung«, in: Christine Diercks; Sabine Schlüter (Hg.): Psycho-Sexualität. Sigmund-FreudVorlesungen 2010. Wien 2011, 77–86; »Der wahnsinnige König. Zu Wahn und Verstehen bei Jaspers und Lacan«, in: Gerhard Unterthurner; Ulrike Kadi (Hg.): Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Wien 2012, 87–106. Für weitere Details siehe kadi.philo.at Thomas Kisser, Dozent im Studiengang Historische Bild- und Kunstdiskurse an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Veröffentlichungen zur Philosophie des 17. Jahrhunderts, insbesondere zu Spinoza, und zum Deutschen Idealismus. Jane Kneller, Universitätsprofessorin, Leiterin der Abteilung für Philosophie, Colorado State University. Veröffentlichungen: Kant and the Power of Imagination (Cambridge 2007); Novalis: Fichte Studies (Cambridge 2003); Autonomy and Community: Readings in Contemporary Kantian Social Philosophy (Albany 1998); zahlreiche Beiträge zu Kants Ästhetik und Sozialphilosophie und zur Philosophie der Frühromantiker. Konrad Paul Liessmann, geb. 1953, ist Universitätsprofessor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien sowie wissenschaftlicher Leiter des »Philosophicum Lech« und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Zsolnay-Verlag. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Ästhetik und Kulturphilosophie sowie in der Gesellschafts- und Bildungstheorie. Zuletzt sind unter anderem erschienen: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (Wien 2006); Ästhetische Empfindungen (Wien 2008); Schönheit (Wien 2009); Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen (Wien 2010); Bildung ist ein Lebensprojekt (Innsbruck 2011). Elizabeth Millán, Universitätsprofessorin für Philosophie an der DePaul University, Chicago, IL, USA seit 1999. Zuvor Assistant Professor an der Universidad Simón Bolívar in Caracas, Venezuela. Wichtigste Veröffentlichungen: Friedrich Schlegel and the Emergence of Romantic Philosophy (Albany 2007); mit Bärbel Frischmann: Das neue Licht der Frühromantik/The New Light of German Romanticism (Paderborn 2008); »Borderline Philosophy? Incompleteness, Incomprehension, and the Romantic Transformation of Philosophy«, in: Yearbook on German Idealism 6 (2009); Hg. mit John Smith: Goethe Yearbook 18. With a special section on Goethe and Idealism (Rochester, NY 2011). Dank eines Alexander von Humboldt Stipendiums im Jahr 2004/05 entsteht eine

Über die Autorinnen und Autoren

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Studie zu Humboldts Naturbegriff unter dem Titel Alexander von Humboldt: Romantic Critic of Nature (erscheint voraussichtlich 2013). Zahlreiche Beiträge zur Frühromantik, Ästhetik und Lateinamerikanischen Philosophie. Ursula Renz, ist seit 2009 Universitätsprofessorin für Theoretische Philosophie und Philosophiegeschichte an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Davor war sie unter anderem als Associate Professor an der Roskilde University, Dänemark, und als Oberassistentin an der ETH Zürich tätig. 2002/03 Visiting Fellow an der Yale University, 2003/04 Scolaire Internationale an der École Normale supérieure. Ihr Buch Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes (Frankfurt am Main 2010) erhielt den Journal of the History of Philosophy for the best book published in 2010. Weitere Publikationen: Die Rationalität der Kultur. Kulturphilosophie und ihre transzendentale Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer (Hamburg 2002); Hg. zusammen mit Hilge Landweer: Klassische Emotionstheorien (Berlin 2008) sowie zahlreiche Aufsätze. Helma Riefenthaler, promovierte 2009 an der Universität Wien und ist seit 2008 Dekanatsdirektorin der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschaftsethik und Existenzphilosophie. Neben einer Reihe von Beiträgen und Vorträgen zu diesen Themen sind die wichtigsten Veröffentlichungen: Kommunizierte Wirtschaftsethik (Wien/Münster 2008; spanische Übersetzung Toluca, Estado de México 2011); Mitherausgeberin: Die Relevanz der mitteleuropäischen Identität (Wien 2010). Violetta L. Waibel, Universitätsprofessorin für Europäische Philosophie und Continental Philosophy an der Universität Wien, seit 2010 Institutsvorständin, zuvor langjährige Mitarbeiterin in Forschungsprojekten zu den Anfängen des Deutschen Idealismus und der philosophischen Frühromantik an den Universitäten München und Tübingen. Wichtigste Veröffentlichungen: Hölderlin und Fichte. 1794–1800 (Paderborn 2000; Promotionspreis der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, 1997); System der Systemlosigkeit. Erster Teil: Die ›Fichte-Studien‹ Friedrich von Hardenbergs – Denkwerkstatt im philosophischen Kontext von Kant und Fichte. Zweiter Teil: Ein Philosophisch-systematischer Kommentar der ›Fichte-Studien‹ Friedrich von Hardenbergs (Paderborn voraussichtlich 2013). Zahlreiche Beiträge zur theoretischen Philosophie (Bewusstsein, Subjektivität, Intersubjektivität, Raum und Zeit), zum Verhältnis von Kognition und Emotion sowie zur Ästhetik bei Kant, dem Deutschen Idealismus, der Romantik und der Moderne. Reiner Wiehl (1929–2010), war seit 1976 Universitätsprofessor für Philoso-

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Über die Autorinnen und Autoren

phie an der Universität Heidelberg (emeritiert 1997), Mitglied unter anderem des Institut International de Philosophie (Paris) und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg), Präsident der Karl Jaspers-Stiftung (Basel). 1990 Preis der Egnér-Stiftung für Anthropologie und humanistische Psychologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Metaphysik und Erfahrung. Philo-sophische Essays (Frankfurt am Main 1996); Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte (Frankfurt am Main 1998); Subjektivität und System (Frankfurt am Main 2000); Von der inneren Unfreiheit des Menschen. Philosophische Aufsätze über Emotionen (Freiburg/München 2012). Zahlreiche Beiträge zur Philosophie der Antike, zum Deutschen Idealismus und zum Neukantianismus; systematische Schwerpunkte in den Bereichen der Metaphysik, Anthropologie und Philosophischen Psychologie. Jure Zovko, geb. 1957, Promotion 1989 an der Universität Freiburg im Breisgau. Seit 1990 angestellt am Institut für Philosophie der Universität Zagreb. Er lehrt seit dem Jahr 2000 Philosophie an der Universität Zadar. Seine Forschungsschwerpunkte sind hermeneutische Philosophie, Philosophie der Antike und Philosophie des Deutschen Idealismus. Mitglied der Weltakademie der Philosophie, Institut International de Philosophie (Paris) und ordentliches Mitglied der L’Académie Internationale de Philosophie des Sciences (Bruxelles). Wichtigste Publikationen: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik (Stuttgart-Bad Cannstatt 1990); Essays über Platon (Zagreb 1998 kroatisch, 20062); Kroatische Philosophie im europäischen Kontext (St. Augustin 2003); Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko (Hamburg 2007); Philosophie und Kultur (Zagreb 2009 kroatisch); Friedrich Schlegel als Philosoph (Paderborn 2010).