Vor der Klassik: Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption 9783110268249, 9783110268089

At no other time has the role of art been subjected to such intense reflection as in the period of radical upheaval arou

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Table of contents :
I. Klassiker vor der Klassik. Signaturen der Schiller’schen Ästhetik
1. Klassizität und ästhetisches Provisorium
1.1. Hofmannsthal feiert Schiller
1.2. Fragment
1.3. Klassik
1.4. Klassizität in der Modernität
1.5. Ästhetik par provision
2. Methoden und Perspektiven
2.1. Diesseits und jenseits von Kant
2.2. Commercium und Kommunikation
2.3. Metaphorologie
2.4. Schöne Diktion
2.5. Morellis Methode
II. Philosophischer Arzt und poeta medicus. Literarische Anthropologie in der Fieberschrift
1. Die Fieberschrift
1.1. Doppelte Anthropologie
1.2. Grundzüge der Fieberlehre
1.3. Ordnungswissen
1.4. Vom Ursprung der Krankheit
2. Fieberpoetik: Die Räuber
2.1. Das Drama des Fiebers
2.2. Das Fieber im Drama
3. Die Anthologie als Anthropologie. Schillers frühe Lyrik
3.1. Phantasien
3.2. Pathologischer Petrarkismus
3.3. Diätetik und Exzess
3.4. Laura am Klavier
3.5. Klassische Musikästhetik
III. Panopticum und Perspektiv. Die Archäologie der Schaubühne
1. Der durchdringende Blick
2. Die Polizey
3. Don Karlos als Drama der Inquisition
4. Poetik und Panoptikum
5. Guckkästen, Spiegel und tableaux vivants
IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. Der Geisterseher
1. Zeitroman und Skeptizismus
1.1. Der Don Karlos-Komplex
1.2. Ein metaphyischer Detektivroman
1.3. Lesesucht und Klassizität
2. Der Geist der Kunst
2.1. Die Geburt des Scheins
2.2. Ästhetischer und logischer Schein
2.3. Der Zauberkreis der Dichtung
3. Projektionskünste. Das philosophische Gespräch
3.1. Theorie der Projektion
3.2. Kino im Kopf (Resignation)
3.3. Poetische Optik und Dioptrik
3.4. Die Wende zur Ästhetik
4. Libertinage und ästhetische Erziehung
4.1. Kunstreflexion bei Schiller und Heinse
4.2. Die schöne Griechin
4.3. Die Kunst auf dem Venuswagen
V. Die Künstler. Aus der Vorgeschichte der ästhetischen Erziehung
1. Bildersprache
1.1. Das Problem des Lehrgedichts
1.2. Dunkle Didaxe
2. Aspekte des Mythos
2.1. Platonischer Mythos und christliche Ikonographie
2.2. Lyrische Höhlenausgänge
3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende
4. Kunst, Rhetorik, Humanismus
4.1. Sprache und Zivilisation
4.2. Die Künstler als Karlsschüler
5. Zwischen Philanthropinum und Militärpflanzschule
5.1. Ästhetische Reformpädagogik
5.2. Illuminaten des Schönen
VI. Von der Kritik zur Kritik. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der Bürger-Rezension
1. Die Bürger-Rezension im Horizont der Literaturkritik
1.1. Kritik und Krankenrapport
1.2. Anarchie und Gesetzbuch
2. Die Spiele der Muse. Die Welt der Musa iocosa
2.1. Zur Vorgeschichte des Spielbegriffs
2.2. Freude und Schwermut
3. Popularität. Volksdichter vs. Volkserzieher
3.1. Bürgers Vorrede zu den Gedichten von 1789
3.2. Vergil und Ariost statt Homer
3.3. Idealisierkunst und Illuminaten
4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik
4.1. Aporien der Ausdruckspoetik
4.2. Affekttopos und Fiktionstopos
5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption
5.1. Winckelmann und Forster
5.2. Bürger-Rezension und Kant-Rezeption
VII. Kanten zum Trotz. Kallias oder die Sprache des Schönen
1. Kant-Rezeption und Kant-Revision
1.1. Ästhetischer Pluralismus
1.2. Commercium und Mitteilung
2. Freiheit in der Erscheinung. Metaphorologie des Schönen
2.1. Übertragung, Metapher, energeia
2.2. Das Schöne ist das Erhabene
2.3. Phänomen und Epiphanie
3. Die Beilage über Das Schöne der Kunst
3.1. Kallias-Briefe und Brief eines reisenden Dänen
3.2. Einfache Nachahmung, Manier und Stil
3.3. Das Paradigma des Schauspielers
4. Eine Philosophie der Grammatik. Medium und Sprache
4.1. Repräsentation als Metapher
4.2. Medium und Mittelkraft
5. Eine Ästhetik der Vergesellschaftung
5.1. Sprachkrise (Ueber Anmut und Würde)
5.2. Doppekte Anthropologie (Ästhetische Briefe)
Resümee und Ausblick
Bibliographie
1. Schiller
2. Quellen
3. Forschungsliteratur
Namensregister
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Vor der Klassik: Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption
 9783110268249, 9783110268089

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Jörg Robert Vor der Klassik

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

72 ( 306 )

De Gruyter

Vor der Klassik Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption

von

Jörg Robert

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026808-9 e-ISBN 978-3-11-026824-9 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Robert, Jörg. Vor der Klassik : die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und KantRezeption / by Jörg Robert. p. cm. − (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 72 (306)) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-026808-9 (alk. paper) 1. Schiller, Friedrich, 1759−1805 − Criticism and interpretation. 2. Schiller, Friedrich, 1759−1805 − Aesthetics. I. Title. PT2496.E8R57 2011 1111.85092−dc23 2011032917

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

für Immy und Philipp

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2009 von der Philosophischen Fakultät I der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität angenommen wurde. Für kritische Hinweise, ermunternde Gespräche und die Gelegenheit, Ergebnisse zur Diskussion stellen zu können, danke ich Peter-André Alt, Georg Bollenbeck (†), Georg Braungart, Horst Thomé, Hans Richard Brittnacher, Hans Feger, Jeff High und Friedrich Vollhardt. Mein besonderer Dank gilt den Würzburger Gutachtern im Verfahren, Helmut Pfotenhauer und Brigitte Burrichter. Den größten Dank schulde ich Wolfgang Riedel, der mich durch einen überraschenden Anruf im Jahr 2003 auf die Spur Schillers lenkte und damit auch den ersten Anstoß zu dieser Arbeit gab. Über viele Jahre hinweg hat er ihr Entstehen durch praktische und fachliche Unterstützung ermöglicht, begleitet und auf einen guten Weg gebracht. Ohne ihn, den Mentor, Gefährten und Freund, wäre die Arbeit in dieser Form nicht entstanden. Ernst Osterkamp und Werner Röcke danke ich für die Aufnahme in die Reihe Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Manuela Gerlof, Angelika Hermann, Susanne Rade und Jens Lindenhain danke ich für die redaktionelle Betreuung. Besonderen Dank schulde ich den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft: Friederike Günther, Katrin Max, Johanna Franzkowiak, Marie Neidert, Julia Halbleib, Martin Wagner sowie Markus Hien und Manuel Bodenmüller haben in verschiedenen Stadien an der Bearbeitung des Textes mitgewirkt. Für ihre Mühen und ihr persönliches Engagement bei der Endredaktion danke ich insbesondere Michael Storch und Maria Sawitzki. Diese Arbeit ist das Ergebnis eines bewegten Lebensabschnitts, der mit ihr einen gewissen Endpunkt findet. Er stand nicht allein im Zeichen Schillers und der Klassik, sondern auch im Zeichen meiner Familie, ohne deren Geduld, Teilnahme und Ermutigung dieses Projekt nicht denkbar gewesen wäre. Weil dies so ist, sei diese Familie den beiden liebsten Personen meines Leben – Immy und Philipp – gewidmet. Würzburg, im August 2011

J. R.

Inhalt Inhalt

I. Klassiker vor der Klassik. Signaturen der Schiller’schen Ästhetik 1. Klassizität und ästhetisches Provisorium ................................................ 1 1.1. Hofmannsthal feiert Schiller ................................................................ 1 1.2. Fragment ................................................................................................. 5 1.3. Klassik ..................................................................................................... 9 1.4. Klassizität in der Modernität ............................................................. 14 1.5. Ästhetik par provision ............................................................................ 18 2. Methoden und Perspektiven .................................................................... 22 2.1. Diesseits und jenseits von Kant ............................................................. 22 2.2. Commercium und Kommunikation ..................................................... 29 2.3. Metaphorologie .................................................................................... 36 2.4. Schöne Diktion .................................................................................... 44 2.5. Morellis Methode ................................................................................ 46

II. Philosophischer Arzt und poeta medicus. Literarische Anthropologie in der Fieberschrift 1. Die Fieberschrift ......................................................................................... 55 1.1. Doppelte Anthropologie .................................................................... 55 1.2. Grundzüge der Fieberlehre ................................................................ 61 1.3. Ordnungswissen .................................................................................. 70 1.4. Vom Ursprung der Krankheit ........................................................... 75 2. Fieberpoetik: Die Räuber ............................................................................ 80 2.1. Das Drama des Fiebers ...................................................................... 80 2.2. Das Fieber im Drama ......................................................................... 84 3. Die Anthologie als Anthropologie. Schillers frühe Lyrik ..................... 88 3.1. Phantasien ............................................................................................ 88 3.2. Pathologischer Petrarkismus ............................................................. 93 3.3. Diätetik und Exzess ............................................................................ 99 3.4. Laura am Klavier .................................................................................. 104 3.5. Klassische Musikästhetik ................................................................. 117

X

Inhalt

III. Panopticum und Perspektiv. Die Archäologie der Schaubühne 1. 2. 3. 4. 5.

Der durchdringende Blick ...................................................................... 123 Die Polizey .................................................................................................... 128 Don Karlos als Drama der Inquisition ................................................... 137 Poetik und Panoptikum ............................................................................. 144 Guckkästen, Spiegel und tableaux vivants .............................................. 153

IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. Der Geisterseher 1. Zeitroman und Skeptizismus ................................................................. 161 1.1. Der Don Karlos-Komplex .................................................................. 161 1.2. Ein metaphyischer Detektivroman ................................................ 166 1.3. Lesesucht und Klassizität ................................................................. 174 2. Der Geist der Kunst ................................................................................ 176 2.1. Die Geburt des Scheins .................................................................... 176 2.2. Ästhetischer und logischer Schein .................................................. 181 2.3. Der Zauberkreis der Dichtung ........................................................ 185 3. Projektionskünste. Das philosophische Gespräch .................................... 190 3.1. Theorie der Projektion ..................................................................... 190 3.2. Kino im Kopf (Resignation) ............................................................... 194 3.3. Poetische Optik und Dioptrik ......................................................... 197 3.4. Die Wende zur Ästhetik ................................................................... 201 4. Libertinage und ästhetische Erziehung ............................................... 206 4.1. Kunstreflexion bei Schiller und Heinse ......................................... 206 4.2. Die schöne Griechin ......................................................................... 211 4.3. Die Kunst auf dem Venuswagen ....................................................... 215

V. Die Künstler. Aus der Vorgeschichte der ästhetischen Erziehung 1. Bildersprache ............................................................................................. 223 1.1. Das Problem des Lehrgedichts ....................................................... 223 1.2. Dunkle Didaxe ................................................................................... 232 2. Aspekte des Mythos ................................................................................. 240 2.1. Platonischer Mythos und christliche Ikonographie ..................... 240 2.2. Lyrische Höhlenausgänge ................................................................ 250

Inhalt

XI

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende ......................................... 254 4. Kunst, Rhetorik, Humanismus .............................................................. 262 4.1. Sprache und Zivilisation ................................................................... 262 4.2. Die Künstler als Karlsschüler .......................................................... 270 5. Zwischen Philanthropinum und Militärpflanzschule ....................... 275 5.1. Ästhetische Reformpädagogik ........................................................ 275 5.2. Illuminaten des Schönen .................................................................. 281

VI. Von der Kritik zur Kritik. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der Bürger-Rezension 1. Die Bürger-Rezension im Horizont der Literaturkritik ........................ 293 1.1. Kritik und Krankenrapport ............................................................. 293 1.2. Anarchie und Gesetzbuch ............................................................... 296 2. Die Spiele der Muse. Die Welt der Musa iocosa .................................. 307 2.1. Zur Vorgeschichte des Spielbegriffs .............................................. 307 2.2. Freude und Schwermut .................................................................... 311 3. Popularität. Volksdichter vs. Volkserzieher .......................................... 315 3.1. Bürgers Vorrede zu den Gedichten von 1789 .............................. 315 3.2. Vergil und Ariost statt Homer ........................................................ 319 3.3. Idealisierkunst und Illuminaten ....................................................... 324 4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik ...................................... 327 4.1. Aporien der Ausdruckspoetik ......................................................... 327 4.2. Affekttopos und Fiktionstopos ....................................................... 330 5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption ...................................... 337 5.1. Winckelmann und Forster ............................................................... 337 5.2. Bürger-Rezension und Kant-Rezeption ........................................ 344

VII. Kanten zum Trotz. Kallias oder die Sprache des Schönen 1. Kant-Rezeption und Kant-Revision .................................................... 353 1.1. Ästhetischer Pluralismus .................................................................. 353 1.2. Commercium und Mitteilung .............................................................. 357 2. Freiheit in der Erscheinung. Metaphorologie des Schönen ................... 363 2.1. Übertragung, Metapher, energeia ...................................................... 363 2.2. Das Schöne ist das Erhabene .......................................................... 366 2.3. Phänomen und Epiphanie ............................................................... 367

XII

Inhalt

3. Die Beilage über Das Schöne der Kunst ..................................................... 372 3.1. Kallias-Briefe und Brief eines reisenden Dänen ................................... 372 3.2. Einfache Nachahmung, Manier und Stil ....................................... 382 3.3. Das Paradigma des Schauspielers ................................................... 385 4. Eine Philosophie der Grammatik. Medium und Sprache ............... 389 4.1. Repräsentation als Metapher ........................................................... 389 4.2. Medium und Mittelkraft ................................................................... 395 5. Eine Ästhetik der Vergesellschaftung .................................................. 406 5.1. Sprachkrise (Ueber Anmut und Würde) ............................................. 406 5.2. Doppekte Anthropologie (Ästhetische Briefe) .................................. 412

Resümee und Ausblick ................................................................................. 421 Bibliographie .................................................................................................... 431 1. Schiller ......................................................................................................... 431 2. Quellen ........................................................................................................ 431 3. Forschungsliteratur .................................................................................. 437

Namensregister ............................................................................................... 469

I. Klassiker vor der Klassik. Signaturen der Schiller’schen Ästhetik I. Klassiker vor der Klassik

„An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen!“ (Gottfried Benn)1

1. Klassizität und ästhetisches Provisorium

1. Klassizität und ästhetisches Provisorium 1.1. Hofmannsthal feiert Schiller

„Das Große feiert sich selber“ – mit dieser doppelsinnigen Sentenz eröffnet Hugo von Hofmannsthal einen Artikel, der aus Anlass des 100. Todestages Friedrich Schillers in der Wiener Zeitschrift Zeit am 23.4.1905 erscheint.2 Auf den ersten Blick wird hier „ironisch“3 das Pathos jenes Schiller-Bildes gebrochen, das noch die Feiern zum 100. Geburtstag im Jahr 1859 bestimmt und „zu einem nationalen Ereignis“4 mit zahllosen Festumzügen und Großveranstaltungen gemacht hatte, an denen in Hamburg 17 000, in Berlin sogar 40- bis 50 000 Menschen teilnahmen. Die Schiller-Feiern 1905 waren dagegen „nur noch eine sentimentale Reminiszenz an das Nationalfest von 1859.“5 Gerade für die intellektuelle und künstlerische Avantgarde der Jahr–––––––––––––– 1 2

3 4 5

Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bde. Hg. von Bruno Hillebrand. Bd. 2, Frankfurt/Main 1984, S. 141. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze (1-3). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 1: Reden und Aufsätze I (1891-1913). Frankfurt/Main 1979, S. 351-355, hier S. 351; dazu vgl. Hammer, Stephanie B.: Hofmannsthals Essay on Schiller. The Myth of Greatness. In: Modern Austrian literature 22 (1989), S. 97-108, der jedoch widersprochen werden muss, wenn sie den Aufsatz als „spectacular failure“ beschreibt und den „gulf that separates the modern author’s age from that of Schiller“ (S. 97) betont. Die Einstufung des Aufsatzes als „ironic exercise“ geht an der großen Geste der Identifizierung vorbei, mit der Hofmannsthal sich Schiller nähert. Eine einlässliche Studie zu Hofmannsthals Schiller-Rezeption, die sich z.B. auch auf die Zürcher Beethoven-Rede erstreckt, fehlt. Hammer: Hofmannsthal’s Essay on Schiller, S. 99. Gerhard, Ute: Schiller im 19. Jahrhundert. In: Koopmann, Helmut (Hg.): SchillerHandbuch. Stuttgart 1998, S. 758-771, hier S. 770f. Albert, Claudia: Schiller im 20. Jahrhundert. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 773-792, hier S. 773.

I. Klassiker vor der Klassik

2

hundertwende war das vermeintlich „durch Schiller geweihte Nationalgefühl“6 ein problematisches Erbe geworden. Nietzsches Philisterkritik, zumal sein Verdikt vom „Moral-Trompeter von Säckingen“7, sowie die seit 1880 einsetzende „Schiller-Demontage“8 durch eine antiidealistische und antibürgerliche Moderne hatten die Topik von Schillers heldenhafter Autorschaft in ein diffuses Licht gerückt. Hofmannsthals Essay inszeniert vor diesem Hintergrund ein subtiles Verwirrspiel. Auf der einen Seite steht das offizielle, noch immer auf das Heroische abhebende Schillerbild, auf der anderen eine sehr persönliche Annäherung an die künstlerische Größe des Klassikers, die Hofmannsthal noch keineswegs zu verabschieden geneigt ist. Zu viel Faszination geht aus von den „starke(n) Wellenschwünge(n)“ und dem „Nie-Auslassen einer sehr großen Kraft“, das er in Schillers Werken findet. Auf der einen Seite der „arme Militärzögling, öd, dumpf, von Gott und der Welt verlassen, dürftig gehalten wie nicht der Lehrling im Handwerk, nicht der Hirte hinterm Vieh“, auf der anderen der Dichter, der „in seiner Brust das Weltall herauf [ruft], die ewigen Mächte ... ‚Acheronta movebo!’“9 Dass Hofmannsthal den Schlachtruf der Freudschen Traumdeutung auf Schiller bezieht, ist bezeichnend: in Schiller, dem empirischen Psychologen, erkennt er den Mann der psychoanalytischen Stunde.10 –––––––––––––– 6 7 8 9

10

Carrière, Moritz: Schiller der Künstler. In: Oellers, Norbert (Hg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, Bd. 1: Frankfurt/Main 1970, S. 429-439, hier S. 439. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (zuerst 1967ff.), Bd. 6, S. 111 (GötzenDämmerung / Streifzüge eines Unzeitgemäßen). Albert: Schiller im 20. Jahrhundert, S. 773. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351. Das Vergil-Zitat rückt Schiller in die Nähe Freuds, der den Aeneis-Vers (7, 312) seiner Traumdeutung als Motto vorangestellt hatte. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud u.a. Frankfurt/Main 1999 (zuerst London 1948) (= GW), Bd. 2/3, S. VI: „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“ Zu diesem Komplex Traverso, Paola: „Psyche ist ein griechisches Wort …“ Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Frankfurt/Main 2003, S. 78-112, hier S. 88: „Als gründlicher Kenner der Äneis und begeisterter Leser der Odyssee“ hatte Freud „in den Unterweltsgängen (Katabasen) Homers und Vergils“ das Prinzip seiner Psychoanalyse „wiedererkannt.“ Die Affinität der psychoanalytischen Schule zu Schiller ist vom ersten Moment an bedeutsam. Freud selbst zählt Schiller zu seinen großen Wegbereitern. Weissberg, Liliane: Freuds Schiller. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 421-435; wichtige Werke der Freud-Schüler gehen exemplarisch von Schiller-Analysen aus. Otto Ranks Buch: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. Leipzig u.a. 1926 (zuerst 1912; Ndr. Darmstadt 1974) liest sich über weite Strecken wie eine Schiller-Monographie; Hanns Sachs entwickelt am Geisterseher eine Theorie des Fragments und der ästhetischen Sublimierung. In diesen

1. Klassizität und ästhetisches Provisorium

3

Für Hofmannsthal ist Schiller „ein Anwalt und ein Konquistador“.11 Zeitgemäß scheint ihm weniger der Autor des Don Karlos mit seinen rhetorischen Tiraden als der Autor der Fragment gebliebenen See- und Seeräuberstücke (Das Schiff, Die Flibustiers, Seestück), in denen – so Schiller selbst – „alle interessante(n) Motive der Seereisen, der außereuropäischen Zustände und Sitten, der damit verknüpften Schicksale und Zufälle geschickt verbunden werden“.12 Das Bild des Seefahrers und „esprit envahisseur“ spürt sensibel Schillers ethnoanthropologisches Interesse am Exotischen13 und am „kriegerische(n) Leben auf dem Ocean“14 auf, wendet es jedoch ins Symbolische. Schiller habe „die Weltanschauungen [durchstürmt]“ und sich in ihnen eingerichtet „wie in unterjochten Provinzen“.15 Es ist eine ruhelose Suchbewegung, die Schiller durch „die Welt Kants, die Welt der Alten, die Welt des Katholizismus“ hindurchgeführt habe und das Fortschreiten zum Inbegriff seines Daseins habe werden lassen. So stehen „Goethe und er zueinander wie der Gärtner und der Schiffer“.16 In einem zweiten Schiller-Artikel, der nur eine Woche später (1.5.1905) im Berliner Tagblatt Nr. 18 erscheint, greift Hofmannsthal das Bild des Eroberers auf. Deutlicher als im ersten zeichnet sich nun die tagespolitische Aktualität des Topos vom Schreiben als Seefahrt 17 ab. Was die Deutschen der Gegenwart „immer wieder zu Schiller zurück[treibt]“, sei eine Sehnsucht nach der imperialen Eroberung, die Hofmannsthal sarkastisch mit dem Pathos der offiziellen SchillerFeiern kurzschließt: „Nun da sie Schiffe bauen, tun sie vielleicht zum erstenmal etwas, das ihn wirklich feiert“.18 Die ironische Anspielung gilt dem Ausbau der Kriegsmarine, der seit der Ernennung Alfred von Tirpitz’ zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes (1897) und seit den Flottengesetzen von 1898 und 1900 vorangetrieben wurde. Er ––––––––––––––

11 12 13

14 15 16 17 18

Kontext ist auch Kommerells Essay „Schiller als Psychologe“ zu stellen, der 1934/35 erscheint und – kein Zufall – wiederum besonders auf die Fragmente und „Herzensphantasien“ wie Polizey, Kinder des Hauses, Demetrius) eingeht. Max Kommerell: Schiller als Psychologe. In: Dame Dichterin und andere Essays. Hg. von Arthur Henkel. München 1967 (zuerst 1934/35), S. 65-115, hier S. 109. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351. NA 12, 305. Guthke, Karl S.: Zwischen ‚Wilden‘ in Übersee und ‚Barbaren‘ in Europa. Schillers Ethno-Anthropologie. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hg. von Reto Luzius Fetz / Roland Hagenbüchle / Peter Schulz. 2 Bde. Berlin/New York 1998, Bd. 2, S. 844-871. Aus dem Dramenfragment Die Maltheser. NA 12, 35. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 351. Ebd. S. 352. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/Basel 111993 (zuerst 1948), S. 138-141. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 356.

I. Klassiker vor der Klassik

4

sollte, weitgehend am Parlament und den „gebildete(n) und ungebildete(n) Sozialdemokraten“ vorbei, die Großmachtstellung Deutschlands ausbauen, dessen Seeinteressen bis dahin, wie Tirpitz schrieb, lediglich den „Charakter der Parasitenexistenz“ hatten.19 Die Flottenhysterie, die durch „neue imperialistische Agitationsverbände“20 wie den Alldeutschen Verband oder den Deutschen Flottenverein weite Teile der Bevölkerung erfasste, steht als zeithistorische Folie hinter der marinen Metaphorik der Essays. Schiller, der selbst ein Gedicht über eine „unüberwindliche Flotte“21 – die spanische Philipps II. – verfasst hatte, bildet den Antityp eines deutschen Kaisers, der am 31.3.1905, nur einen Monat vor der Publikation des ersten Schiller-Essays, auf dem Höhepunkt der ersten Marokko-Krise in Tanger gelandet war.22 Solchen Eroberergesten im Gefolge des von Reichskanzler Bülow ausgerufenen Kampfes um einen „Platz an der Sonne“23 stellt Hofmannsthal Schillers Bühnenvisionen und Eroberungszüge durch die Weltanschauungen entgegen. Hofmannsthals Würdigung bietet jedoch auch Aspekte eines neuen Schiller-Bildes, an das erst die jüngere Forschung anknüpfen sollte. Deutlicher zeichnet es sich in einem dritten Schiller-Projekt ab, das Hofmannsthal mehr als zwanzig Jahre später in Angriff nimmt. Es handelt sich um eine Sammlung von Selbstzeugnissen, die er im Rückgriff auf eine ältere Anthologie24 zusammenstellt. Sie trägt den Titel „Schillers Selbstcharakteristik“ und erscheint 1926 im Insel-Verlag.25 Unter dem Eindruck der von Julius Petersen besorgten Ausgabe der Gespräche hebt nun auch Hofmannsthal „das Heroische als die –––––––––––––– 19 20 21 22

23

24 25

Brief von Tirpitz, zitiert nach Bruch, Rüdiger vom / Hofmeister, Björn (Hg.): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871-1918. Stuttgart 2000, S. 279. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 649. NA 1, 173f. Schmidt, Gustav: Der deutsche Imperialismus. München/Wien 1989, S. 100; Craig, Gordon Alexander: Deutsche Geschichte 1866-1945 vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches. München 1980, S. 269-278; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 629-670. Aus einer Reichstagsrede Bernhard von Bülows vom 6. Dezember 1897. Nach Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Hamburg 1977, S. 130: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Döring, Heinrich: Schiller’s Selbstcharakteristik. Stuttgart 1853. Hofmannsthal, Hugo von: Schillers Selbstcharakteristik. Aus seinen Schriften nach einem älteren Vorbild neu hg. von Hofmannsthal, Hugo von. München 1926. Neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Joachim Seng. München 2005.

1. Klassizität und ästhetisches Provisorium

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Grundhaltung seines Lebens“26 hervor, lässt aber unter Berufung auf Stifter auch die „Gefahr“ durchscheinen, die „von Schillers Phrasen für das Phrasenzeitalter“ ausgehe, deren – mit Stifters Worten – „falsche(r) Glanz viel zu dem nachfolgenden Übel beigetragen“ habe27. Wieder kommt das Heterogene und Disparate, Unvollendete und Ungereimte in den Blick, all das, „was in den Figuren nicht ganz in sich übereinstimmend, oft zweideutig“ scheint, z.B. das Verfehlen der „mimische(n) Einheit der Figuren“, mit dem Schiller hinter Shakespeare zurückfalle: „Seine Werke bei all ihrem Glanz und ihrer szenischen Schlagkraft erscheinen uns manchmal fast provisorisch und überhastet“.28 Was den späten Hofmannsthal an Schiller anzieht, ist nicht die geschlossene und abgeschlossene Form des Klassischen, sondern das Offene und Unfertige, das sich vor allem in den Fragmenten (Demetrius, Seestücke, Geisterseher) artikuliert. Daher gilt sein Interesse besonders jenen Zeugnissen, in denen Schiller brieflich seine Psychologie des Schaffensprozesses entwirft. Hofmannsthal verfolgt sie mit spürbarer Empathie und zitiert sie vielfach auch andernorts. Vor allem spiegelt sich in Schillers Fragmenten eine eigene Poetik des Fragmentarischen. „Der dramatische Text ist etwas Inkomplettes und zwar um so inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist“, schreibt Hofmannsthal im Essay Max Reinhardt (1924), und belegt dies mit Schiller: „Schiller, auf der Höhe seines Lebens, schreibt einmal hin: er sehe ein, daß der wahre Dramatiker sehr viel arbeiten, aber immer nur Skizzen verfertigen sollte, – aber er traue sich nicht genug Talent zu, um in dieser Weise zu arbeiten“.29 1.2. Fragment Hofmannsthals Schiller-Essays zeichnen um 1900 ein neues SchillerBild – das des unklassischeno Klassikers, dessen moderne Potentiale –––––––––––––– 26 27 28 29

Ebd. S. 15. Ebd. S. 12. Ebd. S. 13. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 312. Schiller hat die Überzeugung mehrfach geäußert. Zunächst in einem Brief an Körner vom 16.11.1801, in dem er seine Entscheidung erläutert, Gozzis Turandot in Jamben zu bearbeiten. Der korrekte Wortlaut ist folgender: „Solche Stücke gewinnen oft am meisten, wenn sie nur Skitzen sind.“ NA 31, 71. Die von Hofmannsthal aus dem Gedächtnis zitierte Stelle ist wohl der Brief an Goethe vom 6.7.1802: „Ich glaube selbst, daß unsere Dramen nur kraftvolle und treffend gezeichnete Skizzen sein sollten, aber dazu gehörte dann freilich eine ganz andre Fülle der Erfindung, um die sinnlichen Kräfte ununterbrochen zu reizen und zu beschäftigen.“

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gegen die Maske seiner offiziellen Rezeption rehabilitiert werden sollen. Besonders faszinieren Hofmannsthal die Reflexionen über das Werden des Kunstwerks, den kreativen Prozess in seiner Verwurzelung im Un- und Vorbewussten. Im Hintergrund steht die Psychoanalyse, die im Psychologen Schiller ihren Ahnherrn und zugleich ihr bedeutendstes Exempel findet. Außerhalb der Fachphilologie wird hier ein neues Bild des Klassikers entworfen, dessen Grundzüge Hofmannsthal teilt.30 Schiller wird nun von den Rändern seines Werkes, den „Störungen und Hemmungen“ her, neu entdeckt. Aus den „Bruchstücken und zusammenhanglosen Äußerungen [gilt es,] das Geheimnis [zu] entziffern, das der zur künstlerisch geformten Rede sich öffnende Mund niemals verrät“.31 Dieser „Abschied von der Klassizität“32, wie ihn die Psychoanalytiker der ersten Stunde einleiten, wird von der Schiller-Philologie erst ein gutes halbes Jahrhundert später aufgegriffen. Das Ziel ist ähnlich: Wieder wird es darum gehen, den Klassiker gegen seine verstellende Rezeptions- und Kanonisierungsgeschichte zu retten. Der Akzent hat sich nun jedoch von der Psychologie auf die Soziologie, von Freud auf Adorno verschoben. Das Fragment wird – etwa bei Herbert Kraft – zur Form der Hoffnung, in der die „utopische Intention“ gegenüber dem „ideologischen Substrat“33 bewahrt wird. Im ‚falschen‘ Schiller – d.h. dem des offiziellen Schillerbildes – bleibt der ‚richtige‘, in der entstellten die andere Werkgeschichte zu entdecken. Umgekehrt wird Vollendung zur illegitimen Versöhnung; das geschlossene Werk bequemt sich in seiner „Stimmigkeit“ der „entfremdeten Praxis“34 und dem Konsum an. Ästhetische Homogenität nähert sich dem Trivialen, dem Kitsch. Es ist diese Rezeption, die uns ‚um Schiller betrogen hat‘. Ausgangspunkt für die neue Sicht war Adornos Ästhetik der Negation, die zugleich eine Theorie der Unvollendung als der verweigerten Affirmation enthielt: „Kunst obersten Anspruchs“, ist in der Äs–––––––––––––– 30 31

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Vgl. oben Anm. 9. Sachs: Schillers Geisterseher. In: Imago 4 (1915/16), S. 69-95; wieder abgedruckt in: Ders.: Gemeinsame Tagträume. Leipzig/Wien/Zürich 1924 (= Imago 5), S. 41-129, hier S. 43. Insofern führt die Entschlüsselung des Geheimnisses über das Abgelegte und Unklassische, ja Triviale, bei Hanns Sachs z.B. über den Geisterseher, oder über die Entwürfe und Fragmente, die „ein deutlicheres Durchschlagen der verdrängten Regungen und Phantasien als im vollendeten Werk“ verraten, sofern hier die „unbewußte Besitzergreifung und Durchtränkung des Stoffes mit den eigenen erotischen Phantasien, sowie die diesen Rohstoff künstlerisch sublimierende Idealisierung“ sinnfälliger zu Tage tritt. Rank: Das Inzest-Motiv, S. 81. Kraft, Herbert: Um Schiller betrogen. Weinsberg 1978, S. 9. Ebd. S. 10. Ebd.

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thetischen Theorie (1970) zu lesen, „drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische“.35 Das geschlossene Kunstwerk repräsentiert entfremdete Wirklichkeit statt ihr kritisch gegenüberzutreten. „Die Kategorie des Fragmentarischen [...] ist nicht die der kontingenten Einzelheit: das Bruchstück ist der Teil der Totalität des Werkes, welcher ihr widersteht“.36 Moderne Kunst setzt für Adorno auf das Offene, sie verweigert Versöhnung: „Die Fragwürdigkeit des Ideals einer geschlossenen Gesellschaft teilt sich auch dem des geschlossenen Kunstwerks mit“.37 Eher beiläufig entwickelt Adorno dabei eine Theorie des Fragmentarischen: „Einmal der Konvention ledig, vermag offenbar kein Kunstwerk mehr überzeugend zu schließen“.38 Klassizismus und ‚geschlossene‘ Form sind Verrat am Kritikund Korrektivauftrag moderner Kunst. Für Adorno ist das Fragmentarische keine poetologische oder editionsphilologische Kategorie, sondern eine ästhetisch-philosophische Utopie. Schiller selbst, dem „Hofpoet(en) des deutschen Idealismus“39, steht er ambivalent gegenüber. Das autonomieästhetische Programm des Wallenstein-Prologs – „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ – wird in den Noten zur Literatur zum Anlass einer vernichtenden Kritik an einer Position, die auf die „allbeliebte Zweiteilung zwischen Beruf und Freizeit“ hinauszulaufen scheint, damit aber die Kunst ihrer negierenden Kräfte beraubt40. Autonom geworden, wird Kunst zum Spielball einer „Kulturindustrie, die „Kunst als Vitaminspritze für müde Geschäftsleute verordnet“.41 Das utopische Pathos dieser Ideologiekritik, die selbst schon wieder Ideologie bzw. Ideologiegeschichte ist, muss hier nicht weiter erörtert werden.42 Bemerkenswert und anschlussfähig bleibt die Ador–––––––––––––– 35 36 37 38 39 40 41

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Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 111992 (zuerst 1970), S. 221. Ebd. S. 74. Ebd. S. 236. Ebd. S. 221. Adorno, Theodor W.: „Ist die Kunst heiter.“ In: Noten zur Literatur. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, S. 599-606, hier S 599. Ebd.: „Gerade durch ihre erbauliche Unverbindlichkeit wird die Kunst dem bürgerlichen Leben als dessen ihm widersprechende Ergänzung eingefügt und unterworfen.“ Ebd. S. 599f.: Im Gegenzug freilich findet Adorno in der „Platitude von der Heiterkeit der Kunst“ doch ihr „Entronnensein aus den Zwängen von Selbsterhaltung“ wieder. „Sie verkörpert etwas wie Freiheit inmitten der Unfreiheit“ (S. 600), ihr „Spiel“ ist „Kritik des tierischen Ernstes“ (S. 600f.). Zur Kritik des Kraftschen Ansatzes vgl. etwa Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses. Tübingen 2000 (= Hermaea 93), S. 13-15.

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no-Kraftsche Strategie43, weil sie den Versuch unternimmt, gegen das modische Schlagwort von der „Klassik-Legende“44 den Klassiker vor seiner eigenen Wirkungsgeschichte zu retten. Dazu musste eine „andere Werkgeschichte“45 konstruiert werden, die zur eigentlichen und unterschlagenen erklärt wurde. Tatsächlich bot die Kategorie des Fragmentarischen und näherhin das Korpus der Fragmente ein Textreservoir und eine Methode an, auch das reduktionistische Schiller(Feind-)Bild der marxistischen Literaturwissenschaft zu überwinden und den kritisch-utopischen Impuls nicht nur gegen die ‚bürgerliche‘, sondern auch gegen die wissenschaftliche Rezeption zu restituieren, die unermüdlich gegen die „unausrottbar“ scheinende, in Wirklichkeit längst brüchige „normative Kulturfunktion der deutschen Klassik“46 zu Felde zog. Diese Arbeit teilt mit der psychoanalytischen wie mit der von Adorno und Kraft ausgehenden Schiller-Philologie die Überzeugung, dass sich eine andere Genealogie der Klassik entwerfen lässt, die nicht die Normativität des Klassischen voraussetzt, sondern ihr Gewordenes und Provisorisches, ihre „Verlegenheiten“ und „produktiven Instabilitäten“.47 Ziel ist es, den Experimentalcharakter der Studien und Schriften zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption als einen „alchymistische(n) Proceß“48 der Ideenentwicklung mit Brüchen und Reprisen zu beschreiben, ein Prozess, der nicht teleologisch auf das zuläuft, was in der Tat im 19. Jahrhundert als „Weimarer Klassik“ zum Medium nationaler Selbstfindung wurde. Freizulegen ist auf diese Weise jene spezifische Methodik des Schiller’schen Idealismus, die Ernst Cassirer als dramatisch-dialektische bestimmt hat.49 In eminenter –––––––––––––– 43 44

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Fortgesetzt bei Mirjam Springer: ‚Legierungen aus Zinn und Blei‘. Schillers dramatische Fragmente. Frankfurt/Main u.a. 2000 (= Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 10). Symptomatisch der Beitrag von Berghahn, Klaus L.: Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: Grimm, Reinhold / Hermand, Jost (Hg.): Die Klassik-Legende. Frankfurt/Main 1971 (= Schriften zur Literatur 18), S. 50-78, der die Geburt des „nationalen Mythos“ (S. 52) einer „Weimarer Klassik“ „aus nationalem Wunschdenken“ (S. 75) nachvollzieht. Kraft: Um Schiller betrogen, S. 9. Berghahn: Von Weimar nach Versailles, S. 77. Diesen Aspekt hat insbesondere Helmut Pfotenhauer betont: Würdige Anmut. Schillers ästhetische Verlegenheiten und philosophische Emphasen im Kontext bildender Kunst. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 59), S. 157-178, hier S. 169. Körner an Schiller, 4.2.1793, NA 34/I, 225. Cassirer, Ernst: Idee und Gestalt. Goethe – Schiller – Hölderlin – Kleist. Berlin 21924 (Ndr. Darmstadt 1994), S. 103: „Schillers Theorie tritt uns hier selbst in der Art und Form eines Dramas gegenüber.“

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Weise beschreibt sie Schillers Denken und Schreiben vor der Klassik, d.h. Schillers „Lehr- und Wanderjahre“50 vor der Aufnahme des Briefwechsels und „Commerciums“ mit Goethe. Neben der „weltanschauliche(n) Gemengelage“51 erweist sich das Fortschreiten als ein Grundelement der Schiller’schen Arbeit. Diese läuft nämlich keineswegs zielsicher auf die „Krone der Klassizität“52 zu. Vielmehr reiht Schiller, um noch einmal Hofmannsthal zu zitieren, „fast provisorisch und wie überhastet“ Projekt an Projekt, schreibt gleichsam ins Offene hinein, von ökonomischen Anforderungen getrieben, häufig simultan an verschiedenen Projekten. Die Produktion des frühen und mittleren Schiller bildet somit ein dynamisches Gefüge kommunizierender Fragestellungen, einen Reflexionsraum für fortgesetzte, oft aporetische Ideenarbeit. Prozessualität, Parallelismus und thematische Clusterbildung kennzeichnen die Struktur dieser frühen und mittleren Schaffensperiode. 1.3. Klassik Klassik hat damit keinen normativen, sondern einen rein chronologischen Sinn. Gemeint ist eine Periode, die sich von den Anfängen des Karlsschülers bis zur ersten eingehenden Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft in den Kallias-Briefen an Körner (abgebrochen im Februar 1793) erstreckt. Klassik steht für „eine Episode in der Schaffensgeschichte einer Gruppe deutscher Schriftsteller um 1800, deren Gemeinsamkeiten aber nicht als Ausdruck tendenziöser Parteiung zu verstehen sind“.53 Vor der Klassik bezeichnet einen terminus ante quem, der weder die des Normativen noch die einer Erfüllungsgeschichte der deutschen Literatur und des deutschen Geistes einschließt. Auch wird nicht der Versuch unternommen, die „Klassik-Legende“ ihrerseits als Legende zu dekonstruieren oder den Mythos „Weimarer Klassik“, wie ihn die nationalphilologische Germanistik zwischen 1835 und 1883 „aus nationalem Wunschdenken“54

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Schings, Hans-Jürgen: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, S. 14. Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000, Bd. 2, S. 262. NA 22, 259 (Bürger-Rezension). Schulz, Gerhard: Klassik 2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2 (2000), S. 270-274, hier S. 271. Berghahn: Von Weimar nach Versailles, S. 75.

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prägte, zu reanimieren. Dass Klassiken „Konstruktionen post festum“ sind, ist auch im Hinblick auf Weimar nicht zu bezweifeln55. Die Schwierigkeiten mit der Klassik bzw. dem Klassischen sind schon terminologischer Natur. Im Wesentlichen konkurrieren im historischen Feld vier Bedeutungen von ‚klassisch‘56: 1. Im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts bedeutet das Adjektiv ‚klassisch’ schlicht „antik“, „auf die Antike bezogen“. Hier schwingt immer schon 2. eine normative Komponente mit. Die antiken Autoren und Künstler besitzen zugleich auctoritas, weil sie Normen der „Klassizität“ erfüllen. Sie besitzen Appellcharakter, weil sie eine „Ausfoderung“57 an die Epigonen zur Nachahmung darstellen. 3. Klassik in Entgegensetzung zu Romantik (erst bei Goethe) und 4. Klassik im Sinne einer nationalen Blütezeit der Kunst und Literatur. Als Epochenbegriff ist ‚Klassik‘ eine späte Prägung; zum ersten Mal ist er bei Friedrich Schlegel belegt, hier im stiltypologischen Sinne und bezogen auf Winckelmann.58 ‚Klassisch sein‘ und ‚Klassizität‘ sind schon den Autoren um 1800 zweifelhafte Forderungen. Goethe rät im Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1795), „die Ausdrücke: klassischer Autor, klassisches Werk höchst selten zu gebrauchen“.59 Jean Paul schreibt in der Vorschule der Ästhetik (1804): „Keine Begriffe werden willkürlicher verbraucht (sic) als die von Einfachheit und von Klassizität“.60 Seit Mitte der 1790er Jahre wird das Wortfeld des Klassischen zum bevorzugten Ort der literarischen Selbstreflexion, gerade weil der Begriffskomplex changiert zwischen einem älteren normativen, d.h. auf imitatio abstellenden Gebrauch, wie er bei Winckelmann vorliegt und einem neueren, der die Idee des Klassikers entschieden ablöste von den klassischen, d.h. antiken Autoren. Jean Paul lehnt ein solches klassizistisches Verständnis von Klassischsein als Verwechslung „mit grammatischer Regelmäßigkeit oder mit rhetori–––––––––––––– 55 56

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Thomé, Horst: Klassik 1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, 2000, S. 266-270, hier S. 267. Vgl. Barner, Wilfried: Anachronistische Klassizität. Zu Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Stuttgart/Weimar 1993 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände 13), S. 62-80, hier S. 76. NA 20, 106 (Brief eines reisenden Dänen). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA). Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. München u.a. 1958 ff., hier Bd. 18, S. 23 (Philosophische Fragmente). HA 12, 241. Jean Paul: Werke, 1. Abt., Bd. 5, S. 353.

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scher“ strikt ab. Dies käme einer unzulässigen Übertragung, einem „Sprung von Werken in toten Sprachen, wo jedes Wort entscheidet und befiehlt, auf Werke in lebendigen“ gleich.61 Auch Schiller vermeidet „fast ostentativ“62 den Begriff ‚klassisch’. Die „Anachronizität des Klassischen“ bleibt auch während seiner ‚klassischen‘ Phase eine unhintergehbare Tatsache. Dies hat zur Folge, dass Schiller den Begriff des Klassischen „sukzessiv von seinen antiken Bezüglichkeiten löst und in die Nähe eines prinzipiell anthropologisch-ästhetischen Ideals rückt“.63 Die großen Abhandlungen vertreten einen Klassizismus ohne klassische Muster und imitatio-Befehl. Diese Entwicklung zeigt sich erstmals in der Bürger-Rezension. Hier werden am Ende Winckelmanns Schlagworte zitiert („sittliche Grazie“, „männliche Würde“, „Größe“), dabei jedoch von den exemplaria Graeca entkoppelt und zur anthropologischen wie poetologischen Forderung universalisiert. Der Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung wiederum nimmt zwar die Querelle-Thematik auf („Vergleichung zwischen alten und modernen Dichtern“64). Er verleibt sie jedoch einer Typologie ein, bei der die historische Unterscheidung von antiqui und moderni nicht mehr bruchlos aufgeht in der Differenz von ‚naiv‘ und ‚sentimentalisch‘, gibt es doch „auch in neuern ja sogar in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen“.65 Hinzu kommt, dass in Schillers Begriffsdialektik die Polarität der „Empfindungswiesen“ eine nur scheinbare ist, das Naive mit anderen Worten eine sentimentalische Kategorie ist („das Naive ist das Sentimentalische“66). Wilfried Barner hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass das Sentimentalische der einzig historisch angemessene Lebens- und –––––––––––––– 61

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Ebd. S. 355. Kant fordert diesen Sprung dagegen in einer Fußnote der Kritik der Urteilskraft: „Muster des Geschmacks in Ansehung der redenden Künste müssen in einer toten und gelehrten Sprache abgefaßt sein.“ Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 51983, Bd. 8, S. 313 Anm. Barner: Anachronistische Klassizität, S. 65. Ebd. S. 64. NA 20, 437. Dazu Jauss, Hans Robert: Schlegels und Schillers Replik auf die „Querelle des Anciens et des Modernes.“ In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/Main 1970 (= edition suhrkamp 418), S. 67-106; Behler, Ernst: Einleitung. In: Ders (Hg.): Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie 1795-1797. Paderborn u.a. 1982, S. 13-132, S. 51-76; Alt: Schiller, Bd. 2, S. 219-224. NA 20, 437f. Anm. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Begriffspaars naiv vs. sentimentalisch. Drei Bedeutungsebenen zeichnen sich ab: 1. eine anthropologisch-psychologische, 2. eine gattungskonstituierende Empfindungsweise (im Falle der satirischen, elegischen und idyllischen Dichtungsarten), 3. eine geschichtsphilosophische. Zelle, Carsten: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2005, S. 451-478, S. 453f. Szondi, Peter: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: Euphorion 66 (1972), S. 174-206.

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Gefühlshabitus des modernen Menschen sei. Dafür spricht nachhaltig Schillers Bemerkung, wonach „Dichter von dieser naiven Gattung […] in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle“ bzw. „in demselben kaum mehr möglich“ seien, es sei denn, dass „sie in ihrem Zeitalter wild laufen“.67 Mögen also die antiken Autoren – und hier nur die Griechen, nicht mehr die proto-sentimentalischen Römer (zumal Horaz) – als Klassiker auch „naiv“ sein, so bedeutet Klassizität doch immer „das Naive im Sentimentalischen“.68 Die typologischen Überlegungen des Essays Ueber naive und sentimentalische Dichtung stellen den Endpunkt einer Entwicklung dar, in deren Verlauf sich Schillers Verhältnis zur Antike wie zur Klassizität grundlegend wandelt. Nimmt man die Vorgeschichte der klassischen Theorie der Klassik, also den Essay von 1795/96, in den Blick, werden die tentativen und postulativen Züge dieses Wegs zur Klassizität deutlich. Das Apodiktische der großen Abhandlungen sowie der beiden Rezensionen über Bürger und Matthisson ist nur scheinbar Ausdruck legislatorischer Selbstgewissheit. In der „Entschiedenheit ihrer Setzungen und Bewertungen [lassen sie] oft vergessen […], aus welchen krisenhaften Umständen sie hervorgegangen“ sind.69 Krisenhaft ist dieser Klassizismus, gerade weil ihm die Anachronizität des Normativen aufgeht. So lebt auch Schillers Theoriebildung aus einer merkwürdigen Spannung zwischen dem Wissen um das Ende der normativen Systeme von Rhetorik und Poetik70 und einer Sehnsucht nach festen Fundamenten. Die Suche gilt einem neuen „Gesetzbuch“ der Ästhetik oder einem „objectiven Begriff des Schönen, der sich eo ipso auch zu einem objectiven Grundsatz des Geschmacks qualificirt“.71 Es ist diese Sehnsucht nach Objektivität, welche das Unbehagen an der eigenen und an der Kantischen Ästhetik auslöst. Schillers Kunstphilosophie entzündet sich am „Regelvakuum“72, das durch den Kollaps der frühneuzeitlichen, im Späthumanismus gründenden –––––––––––––– 67 68 69 70 71 72

NA 20, 435. Barner: Anachronistische Klassizität, S. 67. Carsten Zelle hat diesen Typus von Gleichsetzung um die Variante „Das Sentimentalische ist das Erhabene“ erweitert. Ders.: Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 464-471. Barner: Anachronistische Klassizität, S. 74. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 91). 21.12.1792; NA 26, 170. Vgl. an Fischenich, 11.2.1793, NA 26, 188: „Wirklich bin ich auf dem Weg […] seine Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.“ Urban, Astrid: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004, S. 116.

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Aufklärungspoetik älterer Spielart73 entstanden war. Schiller sucht dieses Vakuum durch eine neue, wiederum objektive und universale Kunsttheorie zu füllen, in die nun gleichberechtigt die induktivempirische Form der Literarkritik (vor allem Lessings) eingeht. Sie ist immer auch der Versuch, eine „praktische Theorie“74 der Dichtkunst zu entwerfen und also die Ästhetik als Geschmackslehre wieder stärker um eine Poetik als „Gesetzbuch“ des Schönen zu ergänzen.75 Die neue Objektivität bleibt auf den Weg der Empirie verwiesen. Neben der Kritik schließt dies Formen ‚übenden‘ Schreibens ein. Der mittlere Schiller erschreibt sich durch „analysierendes Lernen im großen Stil“76 seine Klassizität. Studium und Übertragung des Euripides oder des Vergil folgen dem Antrieb, die „dunklen Ahnungen von Regel und Kunst in klare Begriffe verwandel(n)“ zu können.77 Der entschiedene Ton des Rezensenten wiederum ist Folge der Unentschiedenheit des ästhetischen „Gesetzbuches“, das er zugleich entwirft und anwendet – daher die Zweiteilung der Rezensionen in einen theoretischen und einen praktischen, einen deduktiven und einen induktiven Teil. Dieses Schema einer empirischen Annäherung an die Objektivität der Kunst kennzeichnet auch den Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung, der im Verhältnis von allgemeinem und besonderem Teil (Ueber das Naive vs. Ueber sentimentalische Dichter) die Struktur der Rezensionen aufnimmt und wie eine ausgedehnte Überblicksoder Sammelrezension, wenn schon nicht als „Geschichte der deutschen Dichtkunst“78, konzipiert ist. Schillers Philosophie des Schönen und der Kunst ist somit eine Theorie unter Vorbehalt, eine Ästhetik par provision, deren Ergebnisse „oft zwiespältig, hintergründig, ja ab-

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So Helmut Koopmann: Dichter, Kritiker, Publikum. Schillers und Goethes Rezensionen als Indikatoren einer sich wandelnden Literaturkritik. In: Barner, Wilfried u.a. (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 79106. Vgl. Misch, Manfred: Schiller als Rezensent. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 711-728, S. 714: „Ursache dieser Krise der Kritik war das Fehlen allgemein akzeptierter Kunstregeln, eines verbindlichen Normensystems, auf das der Kunstrichter sein Urteil stützen konnte.“ Wilm, Marie-Christin: Die Jungfrau von Orleans. Tragödientheoretisch gelesen. Schillers ‚Romantische Tragödie‘ und ihre praktische Theorie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (2003), S. 141-170. NA 27, 40. Frick, Werner: Schiller und die Antike. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 91-116, hier S. 101. 26.11.1790 an Körner, NA 26,58; vgl. an Körner, 10. bzw. 12.3.1789: „Es rollen allerley Ideen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch etwas Helles daraus bilden.“ NA 20, 458.

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gründig“ erscheinen.79 Klassizität begegnet beim vorklassischen Schiller nur als Arbeits- und Projektbegriff, als regulatives Ziel, etwa in der Forderung der Bürger-Rezension, die „höchste Krone der Klassizität zu erringen“.80 Im Umkehrschluss bedeutet dies: Klassizität wird dort gefordert, wo der Klassizismus (als imitatio-Forderung) seine Geltung einbüßt, da die historische Festlegung des Klassischen auf die Werke der klassischen, d.h. antiken Kunst brüchig geworden ist und der ästhetische Eigenwert und Anspruch der modernen Literatur gegen die normative Geltung der alten behauptet werden muss. Klassizität wird – nur scheinbar paradox – zum Schibboleth gerade der moderni. 1.4. Klassizität in der Modernität Der begriffsgeschichtliche Befund unterstreicht dies. So sehr Schiller Begriffe des Klassischen oder der klassischen Autoren meidet, so sehr rückt seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Kategorie der „Klassizität“81 in den Mittelpunkt. Ihre wiederum klassische Formulierung findet sich in einem Brief an Körner vom 20.8.1788, der eine echte Konversion ankündigt: „In den nächsten 2 Jahren, habe ich mir vorgenommen, lese ich keine moderne Schriftsteller mehr“. Schiller wagt die Voraussage: „Du wirst finden, daß mir ein Vertrauter Umgang mit den Alten äuserst wohl thun – vielleicht Classicität geben wird“.82 Die Stelle belegt, dass Schiller sich hier noch nicht vom Konzept der imitatio gelöst hat. Der „vertraute Umgang mit den Alten“ realisiert sich daher in der Form der Übersetzung (interpretatio), die im rhetorischen Stufenschema den ersten und untersten Grad intertextueller Relation, den des aneignenden Lernens und An-Lesens, darstellt.83 Im Hintergrund stehen also „Brauch und Erwartung der alten Humanisten“84, durch transformierenden Nachvollzug (imitatio) und –––––––––––––– 79

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Pfotenhauer, Helmut: Vorbilder. Antike Kunst, klassizistische Kunstliteratur und ‚Weimarer Klassik‘. In: Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Stuttgart 1993 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände 13), S. 42-61, hier S. 47. NA 22, 259. Einen – freilich unvollständigen Abriss des Konzepts – bietet Barner: Anachronistische Klassicität, S. 63-65. Diese Beobachtung korrigiert das Urteil Horst Thomés: „Klassizität als Zugehörigkeit zum Klassischsein scheint erstmals in Jean Pauls ‚Vorschule der Ästhetik’ (1804)“ verwendet zu sein. Thomé: Klassik 1, S. 267. NA 12, 375. Reiff, Arno: Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln 1959. Storz, Gerhard: Schiller und die Antike. In: Jahrbuch der Deutschen SchillerGesellschaft 10 (1966), S. 189-204, hier S. 198.

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Umschrift die „Schönheit der alten Klassiker“ für die eigenen Ausdruckspotentiale (copia) zu gewinnen. Zwischen Herbst 1788 und Frühjahr 1789 eignet sich Schiller die Euripideische Iphigenie in Aulis und ausgewählte Szenen der Phönizierinnen an.85 Die Übertragung dient dem „Lernen und Aneignen alles dessen, was [Schiller] so deutlich als ‚Mangel’ spürte“.86 Sie soll „in den Geist der Griechen hinein“ führen, „unvermerkt ihre Manier“ mitteilen.87 Vor 1800 ist Schiller einer der ambitioniertesten Theoretiker der Klassizität. Er war es auch, der das Schlagwort aus dem Französischen entlehnte (nach Analogie von simplicité / Simplizität, ein Begriff, der ja um 1800 weithin der Semantik des Klassischen angehörte). In diesem Sinne ist ‚classicité‘ bereits seit der französischen Klassik, dem „âge classique“ geläufig. Der früheste deutsche Beleg findet sich in einem Brief vom 18.12.1786 an den Schauspieler und Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schröder, der den Don Karlos in Hamburg zur Aufführung angenommen hatte: „Ausserdem glaube ich überzeugt zu seyn“, schreibt Schiller, dass „ein Dichter, dem die Bühne, für die er schreibt immer gegenwärtig ist sehr leicht versucht werden kann, der augenbliklichen Wirkung den daurenden Gehalt aufzuopfern, Classicität dem Glanze“.88 So verstanden, bezeichnet der Begriff ganz allgemein ein Überschreiten des Bedingten und Begrenzten – sei es des „Localen“89, des Individuellen oder des Ephemeren – zum Unbedingten, Überzeitlichen und Überregionalen. An prominenter, eben zitierter Stelle begegnet es dann in der Bürger-Rezension. Von hier aus wird ‚Classicität‘ zum Schlagwort der ästhetischen Debatten vor der Jahrhundertwende. Schiller hat also mit der Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung nicht nur das Schema geliefert, das in der Frühromantik den „generellen Gegensatz zwischen klassischer (antiker) und romantischer (moderner) Kunstübung zu postulieren“ hilft.90 Er hat auch das Schlagwort vorweggenommen, dem die romantische als „progressive Universalpoesie“91 im 116. AthenäumFragment entgegenstrebt, nämlich der „Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität“.92 Idee wie Begriff einer progressiven und daher immer schon provisorischen, noch zu erringenden Klassizität –––––––––––––– 85 86 87 88 89 90 91 92

Frick: Schiller und die Antike, S. 99. Storz: Schiller und die Antike, S. 195. An Körner, 20.10.1788; NA 25, 121. NA 25, 74. Ebd. Allemann, Beda: (das) Klassische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel 1976, Sp. 853-856, hier Sp. 854. KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 182. Ebd. S. 183.

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dürfte Schlegel unmittelbar der Bürger-Rezension entnommen haben, die im Kreis der Schlegels intensiv und kontrovers rezipiert wurde.93 Man sollte über dem „programmatische(n) Dissens“ nicht die Schnittmengen beider Entwürfe übersehen; diese liegen vor allem im Bewusstsein einer „anachronistischen Klassizität“94 und im daraus resultierenden Bemühen um eine Klassizität ohne bzw. jenseits des Klassizismus95. Hinzu kommt ein gemeinsames Interesse an den „sentimentalischen“ Literaturen Roms und der Romania, das etwa in der Synkrisis von Ariost und Homer in Ueber naive und sentimentalische Dichtung programmatische Bedeutung erhältt.96 Einig ist man sich, dass die Vereinigung des „Wesentlich-Modernen mit dem WesentlichAntiken“97 nur zu den Bedingungen der Modernität, d.h. nicht „ohne die höchste Selbständigkeit“ möglich war.98 Bei aller – von Schiller beargwöhnten – „Gräkomanie“ wusste Schlegel um das Unzeitgemäße eines reinen Nachahmungsklassizismus, den er als „unechtes Phantom“ der „eigentliche(n) Klassizität“99 gegenüberstellte. Harold Blooms ‚Einflussangst‘ vorwegnehmend100 hatte Schlegel von der Nachahmung als einer „Gewalttätigkeit“ gesprochen, „welche die starke und große Natur an dem Ohnmächtigen ausübt“.101 Dass Nachahmung vielmehr auf den „Geist des Ganzen – die reine Griech–––––––––––––– 93

Vgl. die Dokumente in Fambach, Oscar (Hg.): Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik. Bd. 3: Der Aufstieg zur Klassik. Berlin 1959, S. 468-470 Während August Wilhelm ein Spottpoem (An einen Kunstrichter) verfasst, nimmt Friedrich die Rezension zum Ausgangspunkt zu einer Reflexion über ‚öffentliche‘ und ‚geheime‘ Dichtkunst, die Schillers Popularitätskonzept weiterdenkt. Fambach: Aufstieg zur Klassik, S. 470. 94 Barner: Anachronistische Klassizität. 95 Oesterle, Günter: Friedrich Schiller und die Brüder Schlegel. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 97 (2005), S. 461-467; Behler, Ernst: Die Wirkung Goethes und Schillers auf die Brüder Schlegel. In: Ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Bd. 1. München u.a. 1988, S. 264-282; Grimm, Sieglinde: Von der sentimentalischen Dichtung zur Universalpoesie. Schiller, Friedrich Schlegel und die „Wechselwirkung“ Fichtes. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 159-187; Oberembt, Gert: Die Literaturdebatte um Schillers Horen oder Poeten auf Kriegspfad. Die Brüder Schlegel reizen Schiller und werden darüber zu Romantikern. In: Hegewald, Wolfgang (Hg.): Gegen die Zeit. Schiller & Co. Die Klassiker als Zeitgenossen. Bremerhaven 2005, S. 73-97; Schmidt, Benjamin Marius: Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität in den 1790ern. Stuttgart 2001. 96 NA 20, 434f. 97 KFSA, Bd. 23, S. 185. 98 KFSA, Abt. 1, Bd. 1, S. 274. 99 Ebd. S. 345. 100 Bloom, Harold: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Frankfurt/Main 1995 (engl. zuerst 1973). 101 KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 274.

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heit“102, zielen musste, war zwischen den Parteiungen unstrittig. Das Ziel konnte nur Klassizität in der Modernität heißen, und gerade hierin hatte, wie Schlegel selbst einräumt, „Schillers Abhandlung über die sentimentalen (sic) Dichter […] über die Gränzen des Gebiets der klassischen Poesie ein neues Licht gegeben“.103 Neben ihr war es die Bürger-Rezension, auf die sich der Studium-Aufsatz in ambivalenter Haltung bezog – bis hin zur polemischen Rehabilitierung Bürgers und seines Konzepts von „Popularität“.104 Ob Schlegel die Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung zum Zeitpunkt der Abfassung des Studium-Aufsatzes kannte oder nicht: Schiller war mit seinen vor-Kantischen Schriften der entscheidende Anreger einer Idee von Klassizität in der Modernität, die auf spannungsvolle Synthesen des Antiken und des Modernen105, des Klassischen und des Romanischen, setzte. Die Vergil-Übertragung in Ottaverime und mithin die Kreuzung von antikem und Ritterepos belegt dies ebenso wie die Verarbeitung antiker Stoffe in der modernen Balladenform (Der Taucher, Die Bürgschaft etc.). Man könnte diese Mischungsstrategie mit einer Wendung Schillers charakterisieren, die im Briefwechsel mit Goethe auf den Helena-Akt von Faust II bezogen wird. Schiller spricht dort von „verbarbarisieren“ bzw. vom „Barbarischen der Behandlung“.106 Lange vor Goethes „klassischromantischer Phantasmagorie“ war Schiller an seiner Auseinandersetzung mit Vergil und Ariost bzw. Tasso die Notwendigkeit einer hybriden Klassizität aufgegangen. Die Schwäche für solche – im ursprünglichen Sinne – ‚romantische‘ Stoffe und Traditionen, die Schiller als „sentimentalische“ der Moderne zuschlug, stellte ein gemeinsames Interesse zwischen Jena und Weimar dar. Es beförderte wiederum Abgrenzungstendenzen, wirkte mithin nicht weniger repulsiv als sachliche Divergenzen im Poetologischen und Formalen (Fragment-

–––––––––––––– 102 Ebd. S. 347. 103 Ebd. S. 209. 104 Ebd. 1. Abt. Bd. 1, S. 366: „Auch Bürgers rühmlicher Versuch, die Kunst aus den engen Büchersälen der Gelehrten, und den konventionellen Zirkeln der Mode in die freie lebendige Welt einzuführen, und die Ordensmysterien der Virtuosen dem Volke zu verraten, ist nicht ohne den glücklichsten bleibenden Einfluß gewesen.“ 105 Dazu erhellend Alt, Peter-André: Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruktion der Antike. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 339-363. 106 „Es ist ein sehr bedeutender Vorteil“, schreibt er an Goethe, „von dem Reinen mit Bewußtsein ins Unreinere zu gehen, anstatt von dem Unreinen einen Aufschwung zum Reinen zu suchen wie bei uns übrigen Barbaren der Fall ist.“ MA Bd. 8, 1, S. 813. Nr. 767.

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theorie, Ironie, Poetik der Arabeske, des dunklen Stils, der „offenen Form“ mit Digressionen107). Diese Ambivalenz von Nähe und Distanz wird in Friedrich Schlegels Rezension des von Schiller herausgegebenen Musen-Almanachs für das Jahr 1796 offensichtlich. Sie enthielt Wendungen, deren herablassender Ton Schiller verletzte und das Verhältnis nachhaltig eintrübte.108 Von „Unvollendung“ war da die Rede, die „zum Theil aus der Unendlichkeit seines Ziels“ entspringe. Beinahe erscheint Schiller dabei als progressiver Universalpoet avant la lettre, dem es Schlegel zufolge „unmöglich“ ist, „sich selbst zu beschränken und unverrückt einem endlichen Ziele zu nähern“. Halb anerkennend, halb denunzierend schrieb Schlegel von der „erhabnen Unmäßigkeit“, mit der sich „sein rastlos kämpfender Geist immer vorwärts (drängt)“.109 Schiller mag die Schlegelsche Kritik schon deshalb als denunziatorisch empfunden haben, weil sie mit der „Unvollendung“ einen Aspekt in den Vordergrund stellte, der für die Frühromantik programmatisch, für Schiller dagegen traumatisch war. Schillers Fragmente waren nicht als „litterarische Sämereyen“110 oder „fermenta cognitionis“111 intendiert. Ihre offene Form war eine offene Wunde, die zunehmend dem Ideal der scharfen Kontur und der Begrenzung widersprach. Auch wenn es Schiller war, der den modernen Dichter auf jene „Kunst des Unendlichen“112 festgelegt hatte, die schließlich von den Frühromantikern poetologisch beim Wort genommen wurde, befremdet an deren poetischen Elaboraten dann doch das Exzentrische und Spekulative. Schlegels Fragmenten wird „Dürre, Trockenheit und sachlose Wortstrenge“ attestiert, die Lucinde (1798) ist für Schiller der „Gipfel moderner Unform und Unnatur“.113 1.5. Ästhetik par provision Ziel der folgenden Studien ist es, in einer ‚dichten‘ Beschreibung der vorklassischen Produktionen jenen Weg zu rekonstruieren, den Schil–––––––––––––– 107 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 320. 108 Ebd. S. 315. 109 Fambach, Oskar: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850). Bd. 2: Schiller und sein Kreis. Berlin 1957, S. 268. 110 Blüthenstaub Nr. 114. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1999, hier S. 285. 111 KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 209. 112 NA 20, 440. 113 NA 30, 73

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lers Auffassung von Funktion und Faktur der Kunst zwischen Karlsschule und Kantrezeption – also im Zeitraum von 1780 bis 1795 – nimmt. Sie greifen dazu über die ästhetischen Abhandlungen im engeren Sinne hinaus und beziehen das gesamte Gattungs- und Diskursspektrum zwischen Medizin und Philosophie ein. In der systematischen Durchsicht einer Ästhetik vor der Ästhetik, d.h. vor den großen Abhandlungen, liegt der Neueinsatz der folgenden Untersuchung. Wie der Ethnologe steht der Literaturwissenschaftler hier vor einer disparaten „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muss“.114 Dies geschieht in unserem Fall durch die Annahme, 1. dass das Textensemble zwischen Karlsschule und Kant-Begegnung eine dynamische Einheit bildet, deren Zentrum 2. eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit ästhetischen Grundfragen im weiteren Sinne darstellt, die teils explizit (z.B. im Schaubühnen-Aufsatz) teils auch implizit (z.B. in den Dissertationen, in der Lyrik oder im Geisterseher) geführt wird. So wird im ersten Abschnitt zu zeigen sein, dass „Gleichursprünglichkeit“115 und „Verschwisterung“116 von Ästhetik und Anthropologie im 18. Jahrhundert nicht nur eine Anthropologisierung der Ästhetik und Literatur zur Folge hat, sondern auch eine literarische Durchdringung der Anthropologie, und dies nicht nur in dem bekannten Sinn, dass „Anthropologie sich Unterstützung von den ästhetischen Praktiken erwartet“117 und so etwa Roman oder Kriminalerzählung zur narrativen Experimentalanordnung werden lässt. Neben diese Laborsituation und –simulation literarischer Anthropologie, die für Schillers Erzählungen, die Historiographie wie auch die Dramen längst bekannt und gut dokumentiert ist, tritt ein gegenläufiger Vorgang. Die poetische Durchdringung auch der medizinischen und anthropologischen Schriften. Nimmt man die „Verbindung von Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexion, Kritik“118 ernst, gilt es in der Frage der Poetizität bzw. „Poetik –––––––––––––– 114 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/Main 1987 (= sw 696), S. 15. 115 Vgl. Zelle, Carsten: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: Ders. (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 5-24. 116 Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie: Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987 (= Germanistische Abhandlungen 62), S. 1. 117 Ebd. 118 Ebd.

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des Wissens“119 nicht nur epistemologische, sondern auch literarischästhetische Vorprägungen in den Blick zu nehmen. So wird, um ein Beispiel zu geben, Fieber zur pathologischen wie poetologischen Leitkategorie des Frühwerks, zum Inbegriff der verlorenen metriopathischen Temperatur, an der Schiller zwischen Anthologie und Räubern, Fieberschrift und Versuch ueber den Zusammenhang kontinuierlich und in diskursiver „Vieläugigkeit“120 arbeitet. Der Austausch von anthropologischem Wissen und poetischer Praxis ist demnach nicht so einsinng, wie es scheinen könnte. Nicht nur die Dichtung wird von Fachwissen durchdrungen, wie das Beispiel der „Inversionen des Franz Moor“ in den Räubern belegt121, auch die Sachtexte ruhen wiederum auf einem literarischen, in diesem Fall dramatischen Substrat – etwa wenn Schiller den Gegensatz zwischen „hitzigem“ und „Faulfieber“ in personifizierenden Sprachgebärden beschwört, die das Handlungsgerüst der gleichzeitig entstehenden Räuber durchscheinen lassen. Neben die Verschwisterung von Literatur und Anthropologie tritt der Aspekt der Kontinuität: das Fortbestehen eines anthropologisch-medizinischen Bild- und Struktursubstrats in Schillers „klassischer“ Ästhetik und weit darüber hinaus. Dies gilt z.B. für das typologische, klassifikatorische Denken in „Stufenleitern“ und Tableaus, das Schiller aus der medizinischen Nosologie seiner Fieberlehre übernimmt und zur Strukturierung ästhetischer Fragestellungen noch nach der Begegnung mit Kant verwendet. Medizinisches im engeren Sinne bleibt als Folie ästhetischer Bestimmungen erhalten, etwa wenn im späten Aufsatz Ueber das Erhabene das Pathetische als „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ bezeichnet wird, durch welche „es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.“122 Die Metapher der ästhetischen Impfung, in der die „Einsicht in die immunitäre Verfassung des Menschenwesens“123 formuliert ist, lässt sich nach mehreren Seiten –––––––––––––– 119 Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Brandstetter, Gabriele: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004 (= Stiftung für Romantikforschung 26); Renneke, Petra: Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne. Heidelberg 2008. 120 Oesterle, Günter: Exaltationen der Natur. Friedrich Schillers Semele als Poetik tödlicher Ekstase. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 209-220, hier S. 213. 121 Riedel, Wolfgang: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198-220. 122 NA 21, 51. 123 Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main 2009, S. 13.

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ableiten: kulturhistorisch aus der Diskussion um die Blatternimpfung, die um 1800 zu den umstrittenen medizinischen Praktiken gehört und daher als Metapher vielfach Verwendung findet; poetologisch aus Lessings Bestimmung des Theaters als praeparatio dramatica und Medium „pragmatischer Anthropologie“ im Sinne Kants.124 Schließlich biographisch aus dem Umstand, dass Schiller seinen Sohn Ernst am 4.4.1797 einer „Blatterninoculation“125 unterzog, im Mai 1800 auch Caroline Schiller, die sogar unter einer langwierigen Impfreaktion zu leiden hatte. Man erkennt an dieser Stelle die biographische und „persönliche Dimension der Theorie“126, die neben der diskursiven keineswegs zu übersehen ist. Schon der junge Schiller weiß: „die Philosophie schlägt um, wie unsre Pulse anders schlagen“.127 Diese biographische Dimension wird bei der Rekonstruktion der Schiller’schen Ästhetik eine gewisse Rolle spielen, weil Schiller selbst sie immer wieder psychologisch reflektiert hat – z.B. im berühmten Brief an Reinwald vom 14.4.1783128, der das Verhältnis zwischen Autor und Text als erotisches und narzisstisches, als Spiegelung und Projektion entwirft. Signatur und Spezifik der Schiller’schen Ästhetik sind von den kontingenten, bisweilen auch anekdotischen Daten der inneren wie äußeren Biographie nicht abzulösen. Insofern wird eine Genealogie der Schiller’schen Ästhetik nicht einseitig auf Verabschiedung des Autors zugunsten des oder der Diskurse drängen, sondern immer auch seine „Rückkehr“129 in einem einerseits kultur- und literaturwissenschaftlich, andererseits psychoanalytisch reflektierten Sinn bedenken müssen.

–––––––––––––– 124 In der Definition der Komödie im 29. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: „Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen […] Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken.“ Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert. 8 Bde. München 1970ff., hier Bd. 4, S. 363. 125 An Goethe, 17.2.1797; NA 29, 51. 126 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: Luserke (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 364-374, hier S. 366. Cassirer: Idee und Gestalt, S. 101 spricht von der notwendigen „Betrachtung des persönlichen Moments in Schillers Methodik.“ 127 NA 1, 86 (An einen Moralisten; v. 38f.). 128 NA 23, 78-82. 129 Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71).

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2. Methoden und Perspektiven

2. Methoden und Perspektiven 2.1. Diesseits und jenseits von Kant

„Der Gang unseres Geistes wird oft durch zufällige Verkettungen bestimmt“, schreibt Schiller im Rückblick auf den hier zu betrachtenden Zeitraum im Jahr 1801.130 In der Tat: Der Weg von der Karlsschule zu Kant ist eine solche Folge von Begegnungen, Kraftfeldern und Konstellationen, die Schillers Weg entscheidend beeinflussen. Seit langem ist gesehen worden, dass Schillers „ästhetische Erziehung“131 durch Figuren wie Wieland oder Moritz und durch den langjährigen, kritischen Dialog mit Körner ebenso geprägt ist wie durch die Auseinandersetzung mit Kant, auf die sich die Forschung zu den großen Abhandlungen beginnend mit den Kallias-Briefen immer konzentriert hat.132 Umstritten waren allenfalls die Folgen, die sich aus dieser Begegnung für den Dichter Schiller ergaben. Dass Schiller aus Kant „wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei“ 133, ist schon bei Nietzsche ein Topos. Nietzsche ist es auch, der Schillers großen Abhandlungen „Affectation der Wissenschaftlichkeit“ unterstellt und sie als „Muster“ abfertigt, „wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe.134 Dass sich hier eine „Mesal–––––––––––––– 130 An den Leipziger Musikkritiker Johann Friedrich Rochlitz. NA 31, 72. 131 Hinderer, Walter: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 348-387; Wielands Beiträge zur deutschen Klassik. In: Conrady, Karl Otto (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977, S. 44-64; zu Moritz und Schiller vgl. Schneider: Die Schwierige Sprache des Schönen. 132 Einige der wichtigsten neueren Studien seien hier genannt: Stachel, Thomas: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010 (= Manhattan Manuscripts 4); Macor, Laura Anna: Il giro fangoso dell’umana destinanzione. Friedrich Schiller dall’illuminismo al criticismo. Florenz 2008 (Edizione ETS 50); Beiser, Frederick: Schiller as Philosopher. A Re-Examination. Oxford 2005; Feger, Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg 1995; Muehleck-Müller, Cathleen: Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne in der Kunst; Schiller – Kant. Würzburg 1989; Tschierske, Ulrich: Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers. Tübingen 1988 (= Studien zur deutschen Literatur 97); Mein, Georg: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000; Schaarschmidt, Peter: Die Begriffe ‚Notwendigkeit‘ und ‚Allgemeinheit‘ bei Schiller und Kant. Diss. Zürich 1971. 133 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, 181. 134 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605. Hier mag Heine im Hintergrund stehen, für den Schiller „ein gewaltsamer Kantianer“ ist, dessen „Kunstansichten […] geschwängert [sind] von dem Geist der Kantischen Philosophie.“ Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. von Hans Kaufmann. Berlin/Weimar 21972, Bd. 5, S. 272. Zu Schiller und Nietzsche vgl. Merlio, Gilbert: Schiller-Rezeption bei Nietz-

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liance“135 entspann, schien Schillers eigene rückblickende Skepsis nahezulegen, etwa das Bekenntnis gegenüber Goethe, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Objekt“.136 An Christian Gottlob Voigt schreibt Schiller, er habe sich „aus der metaphysischmephitischen Luft in den freyen und warmen Himmel der Poesie heraus gerettet“.137 Gegenüber Johann Friedrich Rochlitz ist ironisch von der „metaphysisch-critisch(en) Zeitepoche“ die Rede, welche „das Bedürfnis“ geweckt habe, „nach den letzten Principien der Kunst“ zu greifen. Seine ästhetischen Schriften sind ihm, so im letzten Brief an Wilhelm von Humboldt, nicht mehr als „Versuche, denen ich keinen höheren Werth geben kann und will, als daß sie ein Stück meines Nachdenkens und Forschens bezeichnen, und eine vielleicht nothwendige Entladung der metaphysischen Materie sind, die wie das Blatterngift in uns allen steckt, und heraus muß“.138 Schiller hat, dies legen solche Metaphern nahe, den kompensatorischen Zug der Kunstmetaphysik deutlich erkannt. Erst die Rekonstruktion der vorkantischen Ästhetik öffnet den Blick für Funktionen und Signaturen der spekulativen Ästhetik zwischen Kallias-Briefen und Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Hier, im Vorfeld der Kant-Rezeption, vollzieht sich ein Gärungs- und Klärungsprozess. Er mündet in eine Trennung der Bereiche von Ästhetik und Meta––––––––––––––

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sche. In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 191-213; Seggern, Hans-Gerd von: Nietzsche und die Weimarer Klassik. Tübingen 2005; Ulrichs, Lars-Thade: Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers Ästhetischen Briefen. In: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 111-124; Martin, Nicholas: Nietzsche and Schiller. Untimely Aesthesis. Oxford 1996; Riedel, Wolfgang: Homo natura. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 7 (241), S. 188-192. In neuerer Zeit hat Helmut Koopmann: Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), S. 218-250, hier S. 236 die These vertreten, „daß die Begegnung mit der kantischen Philosophie […] Schiller um die Eigentümlichkeit seines Schreibens gebracht habe […] Schiller hat das offenbar alles aufgegeben, zurückgelassen, beiseitegedrängt, als er mit den kantischen Schriften bekannt wurde“ und zwar „zugunsten einer „philosophische Einteilungslust und Abgrenzungswut“ (ebd. S. 239), die einer „Bilderstürmerei großen Stils gleichkommt.“ Am Ende stehe „der Bankrott der Phantasie, das absolute Ende der Imaginationskraft“ (ebd. S. 240), ja der „Bildschwund“ (ebd. S. 242). In dieselbe Richtung argumentiert Helmut Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 171: „Die Zeit der Kantlektüre seit 1791 war die der Bilderlosigkeit.“ Die Durchsicht von Schillers Bildgebrauch wird diese radikale Zäsur des Kant-Erlebnisses jedoch gerade nicht bestätigen. Naumann-Beyer, Waltraud: Kant und Schiller – eine Mesalliance? In: Impulse 5 (1982), S. 111-148. 17.12.1785; NA 28, 132. 13.9.1795; NA 28, 52. NA 31, 72.

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physik, die vor 1793 noch miteinander verschränkt sind. Auf Schillers Wendung von der Theosophie zur Ästhetik trifft Nietzsches Diktum zu: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen“.139 Erst Schillers Verzicht auf metaphysische Gewissheiten lenkt die spekulativen Energien von der Philosophie auf Kunst und Kunstphilosophie um. Nach der Resignation wird Schönheit für Schiller zur promesse de bonheur. Als „Bürgerin zweier Welten“140 wachsen ihr soteriologische Dimension und Funktion zu. Schönheit wird zur Mittlerin und Mittelkraft in metaphysicis, mit Hegels Worten zu(m) „erste(n) versöhnende(n) Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen, Sinnlichen und Vergänglichen und dem reinen Gedanken“.141 Die Kallias-Briefe, das erste Dokument der Auseinandersetzung mit Kant, zeigen denn auch die Verbindung der Kritik der Urteilskraft mit platonischen Elementen aus Schillers Jugendphilosophie. Sie verleihen dem Diskurs um das Schöne eine religiöse Anmutung, welche die Kunst auf den (mit Hegel) „gemeinschaftlichen Kreis mit Religion und Philosophie“142 verweist. Aus der „transzendentalen Ästhetik“ wird eine Ästhetik als Transzendenzersatz, in der die Evidenz der Erscheinung über die Entzogenheit des Göttlichen hinwegtrösten soll. Im Schönen und seiner sinnlichen Epiphanie findet Schiller seine ästhetische Theodizee, einen ästhetischen Gottesbeweis durch das „sinnliche Wunder“143 der Kunst. Sind Ästhetik und Metaphysik beim vorklassischen Schiller noch untrennbar miteinander verbunden, so unternehmen die großen Abhandlungen eine säkularisierende Ersetzung und kontrafaktische Verschiebung, bei der christliche bzw. christologische Denkfiguren und Bilder aus ihrem ursprünglichen –––––––––––––– 139 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, 144 (Menschliches, Allzumenschliches I, 4, Nr. 150). 140 NA 20, 260. 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt/Main. 1979 (= Theorie-Werkausgabe, 13-15). hier Bd. 1, S. 21. 142 Ebd. S. 20. 143 Der Begriff nach Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Frankfurt/Main 31982 (zuerst russ. 1928), S. 232, der jedoch die sinnlichen und kunstreligiösen Emphasen der theoretischen Schriften unterschätzt: „Schiller war nahe daran in der Schönheit das fleischgewordene Nichts zu verehren“; erst als er aus den „Zwängen des Denkens“ herausgetreten sei, habe er das Schöne als „ein sinnliches Wunder“ beschreiben können. An dieser Stelle, am „sinnlichen Wunder des Schönen“, wird Hegel anschließen, nicht nur mit seiner berüchtigten Definition des Schönen als „sinnlichem Scheinen der Idee“ – die unmittelbar den Kallias-Briefen entnommen sein könnte – sondern auch mit seiner Würdigung Schillers in den Vorlesungen zur Ästhetik, Bd. 1, S. 89: „Es muß Schiller das große Verdienst zugestanden werden, die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen.“

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Kontext gelöst und im Spannungsfeld von Anthropologie, ästhetischem Kritizismus und Klassizismus neu konfiguriert werden.144 Kants unbestrittene Bedeutung für die Schiller’sche Kunst- und Tragödientheorie darf nicht dazu führen, jene älteren Bestandteile an ihr zu übersehen, die auf alternative ideen- und kulturgeschichtliche Traditionen verweisen. Schiller selbst hat diesem Missverständnis dadurch Vorschub geleistet, dass er sich selbst lediglich als Ausleger, Kommentator oder Kontinuator der Kritik der Urteilskraft dargestellt hat. Dies mag allenfalls auf den Essay Vom Erhabenen zutreffen, der weithin Exzerptcharakter aufweist und tatsächlich über weite Strecken eine „weiter(e) Ausführung einiger Kantischen Ideen“ darstellt.145 Schillers Hochschätzung für Kant ist ungebrochen; er bleibt ein „Reicher“, der „viele Bettler in Nahrung / setzt“.146 Daher dementiert Schiller ausdrücklich den Topos von der „anscheinende(n) Unfruchtbarkeit“147 der Kantischen Ästhetik, den Körner im Vorfeld des Kallias-Projekts aufgreift. In den Kallias-Briefen ist gerade von der „ungemeine(n) Fruchtbarkeit“148 Kantischer Ideen die Rede. Dabei sieht Schiller durchaus Kants Kunstferne. Ungenügend erscheint dessen „empirischer“ und „subjectiv-rational(er)“149 Kunstbegriff. Er weckt den Impuls, einen „objectiven Begriff des Schönen“ zu suchen, „an welchem Kant verzweifelt“ sei.150 Die Kallias-Briefe zeigen, dass Schiller nicht nur ein objektives Prinzip des Schönen vermisst, sondern auch eine Theorie des Kunstwerks bzw. des Kunstschönen, die in der abschließenden Beilage über Das Schöne der Kunst151 nachgereicht wird. In ihr überschreitet Schiller den Kreis der „Kantischen Grundsätze“ zu einer Reflexion über die „Medien“ der Kunst, die nun versucht, die allgemeine Frage des Schönen auf das Spezifische der einzelnen Künste, insbesondere die Sprachkunst zu beziehen. Der Kantische Rahmen wird gesprengt, indem Schiller eigene Denkfiguren (Mittelkraft) mit Themen der Aufklärungsästhetik (Darstellung) und –––––––––––––– 144 Solche christlich-heilsgeschichtlichen Kontrafakturen sind nur sporadisch untersucht worden. Vgl. Brelage, Manfred: Schillers Kritik an der Kantischen Ethik oder Gesetz und Evangelium in der philosophischen Ethik. In: Brelage, Manfred: Studien zur Transzendentalphilosophie. Hg. von Aenne Brelage. Berlin 1965, S. 230-244; Hartwich, Wolf-Daniel: Apokalyptik der Vernunft. Die eschatologische Ästhetik Kants und Schillers. In: Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes. Würzburg 2001, S. 181192. 145 So im Untertitel NA 20, 171. 146 NA 1, 315 (Kant und seine Ausleger). 147 Körner an Schiller, 6.1.1792; NA 34/I, 123. 148 NA 26, 209. 149 NA 26, 176. 150 21.12.1792; NA 26, 170. 151 NA 26, 222-231.

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der Sprachphilosophie („Genius der Sprache“) zu einer im Kern poetologischen Reflexion verbindet. Bekannt sind schließlich Schillers Widerstände gegen Kants Moralphilosophie, vorgetragen vor allem in Ueber Anmut und Würde. Die „Idee der Pflicht“ sei bei Kant „mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt“.152 Schiller spricht von einer „finstern und mönchischen Ascetik“, von einer „Rigidität“, die „nur in eine rühmliche Art von Knechtschaft“ ausufere.153 Kant sah sich in seiner Religionsschrift zu einer Entgegnung gegen Schillers „Rehabilitierung der Sinnlichkeit“154 in der Ethik veranlasst, die das Unterscheidende bei aller Einigkeit „in den wichtigsten Prinzipien“ betonte: „Diese Begleiterinnen der Venus Urania sind Buhlschwestern im Gefolge der Venus Dione, sobald sie sich ins Geschäft der Pflichtbestimmung einmischen und die Triebfedern dazu hergeben wollen“.155 Hier wie in den Kallias-Briefen resultiert der Abstand zu Kant daraus, dass Schiller älteren Traditionen der Aufklärungsphilosophie – z.B. Shaftesbury, vermittelt durch Wieland – verpflichtet blieb, die nun zu „Kritik und Revision“156 des Kritizismus im Namen einer rehabilitierten Neigung und „versöhnten“ Totalität des Menschen antrieb. Hier wie in der kryptochristlichen Signatur des Schönen als „versöhnende(s) Mittelglied“ wird Hegel unmittelbar an Schiller anschließen157, –––––––––––––– 152 NA 20, 284. 153 NA 20, 285. 154 Der Topos geht zurück auf Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 3 1973 [zuerst 1932], S. 475 („Emanzipation der Sinnlichkeit“); danach Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002 (zuerst 1981), bes. S. 42ff. 155 Kant: Werke, Bd. 8, S. 670 Anm. 156 Tschierske: Vernunftkritik, S. 17. Zur Kritik der kritischen Philosophie insgesamt ebd. S. 17-48. 157 Die Bedeutung Schillers für die Entfaltung der idealistischen Philosophie scheint – insbesondere von der Philosophiegeschichtsschreibung – kaum realistisch erfasst. Hier setzen sich disziplinäre Grenzen fort, die im Grunde zurückreichen bis in die exemplarische Auseinandersetzung zwischen Schiller und Fichte. So zieht es Dieter Henrich, der bedeutendste Kenner der idealistischen Philosophie, vor, deren Genese aus den kleinräumigen „Konstellationen“ und Denkkonfigurationen des Tübinger Stiftes und seines Lehrpersonals abzuleiten statt aus dem persönlichen wie publizistischen Einfluss Schillers auf die ‚heroische’ Trias Hegel, Hölderlin und Schelling, von dem die ältere Philosophiegeschichte noch wusste, dass er in seiner Bedeutung für den nachkantischen Idealismus „nicht wohl überschätzt“ werden kann. Vgl. Georg Lasson in seiner Vorrede zur Ausgabe von Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hg. von G.L. Leipzig 1923 (= Philosophische Bibliothek 114), S. 30. Vgl. Cassirer: Idee und Gestalt, S. 111: „Wie viel ferner Hegel Schiller verdankt, konnte nach seinen eigenen Äußerungen und nach der dankbaren Bewunderung, mit der er überall von ihm spricht, niemals fraglich sein.“ Ohne Hinweis auf Schiller dagegen Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen/Jena (1790-1794). 2 Bde. Frankfurt/Main 2004. Vgl. vorläufig:

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stets im Bewusstsein, dass die Eschataologie und Soteriologie des Schönen „für uns ein Vergangenes“ ist, weil im Kontext der Moderne „der Gedanke und die Reflexion […] die schöne Kunst überflügelt“ hat.158 Dieses ‚Ende der Kunst‘159 bedeutet den Aufgang der Philosophie, welche die Kunst als „die höchste Weise […], sich des Absoluten bewußt zu sein“160, ablöst. Hegel entscheidet den Streit der Disziplinen für sich, indem er Versatzstücke der Schiller’schen Ästhetik epitomiert und in ein posthistorisches Präteritum setzt.161 Im Übrigen aber knüpft er, wiewohl dialektisch-überbietend, an Schillers geschichtsphilosophische Diagnosen zu Status und Funktion der Kunst an. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, wird man den konservativen Zug und die ideengeschichtliche Beharrlichkeit der Schiller’schen Ästhetik in und über die Kant-Erfahrung hinaus hervorheben müssen. Wenn Schiller noch im ersten ästhetischen Brief davon spricht, dass „es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden“162, so liegt darin geradezu eine Verkennung der eigenen Wurzeln. In ihr spiegelt sich Schillers Selbstwahrnehmung als Kantianer, in der ihn die nachfolgende Generation bestätigte, ohne die älteren Sedimente seiner Kunstphilosophie zu beachten, die sich etwa bei Hegel als anschlussfähig erweisen werden. Der Dialog auf dem Höhenkamm des deutschen Idealismus schien daher von Anfang an eine Auseinandersetzung um ––––––––––––––

158 159

160 161 162

Eldridge, Richard: Hegel, Schiller, and Hölderlin on Art and Life. In: Ästhetik und Philosophie der Kunst. Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 4 (2006), S. 152178; Pott, Hans-Georg: Die Ästhetik Schillers mit Bezug auf Hegel. In: Ders.: Schiller und Hölderlin. Studien zur Ästhetik und Poetik. Frankfurt/Main 2002, S. 29-47; Ghasempour, Morteza: Die Theorie des ästhetischen Scheins bei Schiller und Hegel. Diss. Köln 1995; Durst, David C.: Zur politischen Ökonomie der Sittlichkeit bei Hegel und der ästhetischen Kultur bei Schiller. Eine Studie zur politischen Vernunft. Wien 1994; Kain, Philip J.: Schiller, Hegel, and Marx. State, Society, and the Aesthetic Ideal of Ancient Greece. Kingston u.a. 1982 (= MacGill-Queen's studies in the history of ideas 4). Hegel: Vorlesungen, Bd. 1, S. 25 bzw. 24. Zu diesem Komplex vgl. die klassischen Aufsätze von Oelmüller, Willi: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Philosophisches Jahrbuch 73 (1965/66), S. 75-94. Henrich, Dieter: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel). In: Immanente Ästhetik und ästhetische Reflexion. Hg. von Wolfgang Iser. München 1966 (= Poetik und Hermeneutik 2), S. 11-32; Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute. In: Friedrich, Heinz (Hg.): Ende der Kunst – Zukunft der Kunst. München 1985, S. 16-33. Hegel: Vorlesungen, Bd. 1, S. 24. Am deutlichsten in der Don Karlos-Anmutung des zentralen Satzes (ebd.): „Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späten Mittelalters sind vorüber.“ NA 20, 309.

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die Deutungshoheit innerhalb des ästhetischen Feldes zu sein, ein Streit der Fakultäten, den die Kontroverse mit Fichte um den „schönen Stil“ archetypisch begründet.163 Eine der wichtigsten Aufgaben der Schiller-Forschung besteht darin, ihren Autor wieder aus der reflexhaften Ausrichtung auf Kant zu lösen und die ideengeschichtliche und diskursive Ambivalenz der Auseinandersetzung mit der philosophischen Ästhetik nach 1791 zur Kenntnis zu nehmen. Sie bringt es mit sich, „dass ältere, aufklärerische Anschauungen im Artikulationsmedium des Kantianismus reformuliert werden“.164 Dies gilt insbesondere für die anthropologischen Lösungen, die auch dort, wo „Kantische Grundsätze“ prätendiert werden, untergründig, oft zu Begriffen und Metaphern verdichtet, fortbestehen. So ist Schillers „transzendentaler Weg“ in den ästhetischen Briefen (11. bis 15. Brief) doch letztlich ein „Weg durch die Anthropologie“.165 Indem Schiller die Ableitung der „reinen Vernunftbegriffe“ des Schönen triebpsychologisch unterfüttert, argumentiert er „im Grunde immer, auch wo er sich ‚transzendental’ gibt, gegen Kant“.166 Eine weitere Spannung bedeutet das „Zugleich zweier Anthropologien“ (des Schönen und des Erhabenen), das in eine „schismatisierende, in Widersprüchen endende Argumentation“ mündet, die sich ausschließlich auf die „Mittellagenanthropologie“167 und mithin die Kallistik richtet, während die zweite Komponente der „doppelten Ästhetik“168 – das Erhabene – ausgespart bleibt. Als Kompensation für diesen fehlenden zweiten Teil platziert Schiller daher in der Werkausgabe von 1801 den Essay Ueber das Erhabene vor, den Ueber das Pathetische hinter die Ästhetischen Briefe.169 Das Spiel der Widersprüche und Doppelungen ließe sich fortsetzen. Zur Spannung zwischen Trieblehre und „reine(m) Vernunftbe–––––––––––––– 163 Görner, Rüdiger: Poetik des Wissens. Zur Bedeutung der Kontroverse zwischen Schiller und Fichte über ‚Geist und Buchstab‘ sowie die ‚Grenzen beim Gebrauch schöner Formen‘. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), S. 342360; Waibel, Violetta L.: Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena. In: Schrader, Wolfgang H. (Hg.): Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre. Amsterdam u.a. 1997, S. 4369; Wildenburg, Dorothea: ‚Aneinander vorbei‘. Zum Horenstreit zwischen Fichte und Schiller. In: Ebd., S. 27-41. 164 Zelle, Carsten: Über den Grund des Vergnügens, S. 374. 165 Riedel: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1222. 166 Ebd. S. 1223. 167 Zelle, Carsten: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 409-445, hier S. 429. 168 Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart u.a. 1995. 169 Ebd. S. 437.

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griff der Schönheit“170 und zur ‚doppelten‘, aber nur halb eingelösten Ästhetik gesellt sich eine doppelte Anthropologie, die nun neben der physiologischen jene pragmatischen Aspekte einschließt, die Kant in seiner 1798 gedruckten Vorlesung auf die „Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers“ bezieht.171 Ihre „Quellen“ und „Hülfsmittel“ sind Schillers ureigene Domäne: „Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane“.172 Hier weiß sich Kant einig mit Schiller, der schon 1784 die Schaubühne eine „Schule der praktischen Weißheit“ und „ein(en) Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ nennt.173 Die ästhetischen Briefe sind auch in dieser Hinsicht als Integrationsversuch zu lesen: Sie wollen aus der physiologischen Anthropologie Platnerscher Observanz eine pragmatische Anthropologie ableiten, die in der Idee des „ästhetischen Staates“ als einer Enklave des „guten Tones“ ihren Mittelpunkt findet.174 Es geht nicht um das Kunstschöne, sondern um Lebenskunst, die den „vollendeten Weltmann“ ausmacht.175 Hier, im alteuropäischen Traditionszusammenhang von civilitas und prudentia politica, von sozialen Kompetenzen und höfischen Kommunikationsidealen erweist sich Schiller nicht nur als Philosoph, sondern als Soziologe des Schönen176. 2.2. Commercium und Kommunikation Dass Schillers klassische Abhandlungen zur Ästhetik und Anthropologie ein widersprüchliches Ensemble ideengeschichtlicher und diskursiver Einflüsse darstellt, das weniger Lösungen als Aporien und Suchbewegungen hervortreibt, hat schon Ernst Cassirer betont. Für ihn stellen die großen Abhandlungen ein unerreichtes Muster dar, „weil hier nicht bestimmten abstrakten Gedanken nur äußerlich eine künstlerische Form gegeben wird, sondern weil sie selbst von Anfang an und schon ihrer ersten Konzeption nach eine neue und selbständige Form sind.“177 Cassirer spricht von einem „klassische(n) Stil“ und –––––––––––––– 170 171 172 173 174 175 176

NA 20, 340 (10. Brief). Kant: Werke, Bd. 10, S. 400. Ebd. S. 401. NA 20, 95. NA 26, 216 (Kallias-Brief vom 23.2.1793). Ebd. Vgl. vorerst den klassischen Aufsatz von Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: Ders.: „Dasein heißt eine Rolle spielen.“ Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1963, S. 211-252 sowie Göttert, Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, hier S. 157-162. 177 Cassirer: Idee und Gestalt, S. 80.

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von einem „neuen Typus“ des Philosophierens, der „eine ganz persönliche, scheinbar individuell-bedingte und individuell-begrenzte Aneignung der Kantischen Grundideen“ bedeute.178 Dies gilt jedoch nicht nur für die Kant-Rezeption. Der viel beschworene Schiller’sche „Eklektizismus“179 bestimmt vor allem das Frühwerk und bietet sich von jeher ideengeschichtlichen Rekonstruktionen in besonderer Weise an. Schiller selbst tendiert, wie oben gesehen, eher dazu, das Diskontinuierliche seiner Entwicklung zu betonen. Dies gilt nicht nur für seine Einschätzung als Kantianer, sondern auch für die poetische Produktion: „im Poetischen habe ich seit 3, 4 Jahren einen völlig neuen Menschen angezogen“180, schreibt er 1796 unter dem Eindruck der Wiederaufnahme des Wallenstein. Ebenso stark sind jedoch die Kräfte der Kontinuität – auch und gerade jenseits von Kant. Beinahe Punkt für Punkt wird sich zeigen, dass die kardinalen Themen der klassischen Ästhetik eine gleichsam autochthone, mitunter verdeckte Vorgeschichte in Schillers vorklassischer Ästhetik besitzen, die dann wieder nach der Kant-Periode in ihrer Eigenart aufgenommen wird. So stößt Schiller, um ein Beispiel zu geben, auf das Problem des „doppelten“, d.h. des legitimen „ästhetischen“ und des betrügerischen Scheins vortheoretisch im Geisterseher, der in der Gestalt des Illusionisten und Lichtmagiers den dunklen Bruder des Schaubühnendichters als Großmeister der Täuschung entwirft. Der Roman wird zum metapoetischen Gleichnis für die prekäre Genealogie der Schaubühne aus der Schaulust und ihren trivialen Medien wie Guckkasten und Zauberlaterne, die metaphorisch oder modellhaft auch in Schillers purgierter Ästhetik gegenwärtig bleiben und tragende Konzepte wie das der Projektion begründen. Andere zentrale Themen idealistischer Ästhetik, etwa das Problem der Autonomie der Kunst gegenüber der Philosophie, gehen Schiller anlässlich der Künstler im Gespräch mit Wieland auf, dem auf diese Weise das Verdienst zufällt, die prekäre Frage nach dem Ende der Kunst erstmals als Kardinalproblem der Kunstphilosophie benannt zu haben.181 Der Dynamik der Ideenentwicklung entspricht so eine bemerkenswerte Kontinuität in den Tiefenstrukturen. Schon 1788 weist Schiller gegenüber Körner auf das ökonomische Prinzip seines Schreibens hin: „Meiner Kenntniße sind wenig. Was ich bin, bin ich durch eine oft unnatürliche Spannung meiner Kraft. Täglich arbeite ich –––––––––––––– 178 179 180 181

Ebd. S. 85. Ebd. S. 86 NA 27, 38. Brief an Körner vom 9.2.1789; NA 25, 199f.: „Wieland nämlich empfand es als sehr unhold, daß die Kunst nach dieser bisherigen Vorstellung doch nur die Dienerin einer höhern Kultur sei.“

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schwerer – weil ich viel schreibe. Was ich von mir gebe, steht nicht in proportion mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf diesem Wege auszuschreiben.“182 Schiller löst diese Disproportion durch eine Arbeitsweise auf, die den Lern- in den Schreibprozess einlagert. Mit diesen drei Operationen – Variation, Verschiebung, Übertragung – scheint die Methode und Evolutionsstruktur der Schiller’schen Theoriebildung zureichend erfasst. Nirgends wird dies deutlicher als in jenem Problemkomplex, an dem sich die Anthropologie des jungen Schiller konstituiert. Die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Körper („commercium mentis et corporis“183) war mit der cartesischen Trennung des Menschen in zwei distinkte Substanzen („res cogitans“ – „res extensa“) zur Provokation der Philosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts geworden. Dies forderte Kompensationen heraus. Gegen Descartes’ Abwertung wird in Anthropologie und Ästhetik die Sinnlichkeit rehabilitiert. Der „ganze Mensch“ in seiner leibseelischen Totalität wird zum Leitbild.184 Ein einziges Mal, nämlich in der zweiten Dissertation über den Unterschied von entzündungsartigen und Faulfiebern (De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum), erwähnt Schiller das commercium-Problem in seiner lateinischen Fassung. Es ist eine bezeichnende Stelle, die den Zusammenhang von Geist und Körper sogleich von seiner Grenze und Auflösung her in den Blick nimmt: So sehr wird die enge Verbindung zwischen Geist und Körper bewahrt, so sehr wohnt ein tyrannischer Mahner dem allzu anmaßend über sich selbst bestimmenden Menschen inne, welcher unablässig den aus Erde Geschaffenen selbst mahnt – ihn, der wieder zu Erde zerfallen wird.185

Der Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, Schillers dritte Dissertation, stellt dann den „merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes –––––––––––––– 182 Brief an Körner 18.1.1788; NA 25, 5. 183 Noch einmal sei dazu an die Arbeiten von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie und Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller passim erinnert. 184 Specht, Rainer: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966; Gerabek, Werner: Naturphilosophie und Dichtung bei Jean Paul. Das Problem des commercium mentis et corporis. Stuttgart 1988 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 202); Kondylis: Aufklärung, S. 9-19; zum größeren Kontext Borsche, Tilman u.a.: Leib-Seele-Verhältnis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Basel 1980, Sp. 185-206. 185 SW, Bd. 5, S. 1110 (§ 23): „Adeo strictum inter animam et Corpus servatur commercium; adeo tyrannicus homini arroganter nimis de se ipso statuenti monitor inest, qui continuo ipsum hortetur ab humo progenitum, in humum relapsurum.“

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auf das Geistige“ ausdrücklich ins Zentrum.186 Schon hier zeichnet sich ab, wie sich das commercium-Problem nach Facetten auffächern wird. 1. Als Theorie der leibseelischen Totalität und Harmonie des Menschen, der „innigste(n) Vermischung dieser beiden Substanzen“187, die Schiller immer als Projekt und Imperativ versteht, als Auftrag, den „ganzen Menschen in uns wieder her(zu)stell(en)“.188 2. Als Wahrnehmungstheorie, die sich dem Subjekt-Objekt-Problem stellt und den Übergang von materiellen Sinnesreizen zur immateriellen Seele zu klären hat. Das commercium-Problem begründet hier eine Wahrnehmungspsychologie. Diese Lehre von der Aisthesis mündet 3. in die Ästhetik als Theorie der Kunstwahrnehmung, deren Effekte im Horizont einer Rezeptionsästhetik nicht grundsätzlich von denen anderer Sinneseindrücke geschieden werden können. Die enge Wechselwirkung der beiden zuletzt genannten Spielarten ist offensichtlich. In der Kategorie der Wirkung sind Natur- und Kunstrezeption nur Spielarten desselben psychologischen Weltverhältnisses. Schiller spricht im Hinblick auf ersteres ausdrücklich vom „Kreis der Wirkung“, vom „Uebergang von Seele zu Welt, von Welt zu Seele“.189 Auch dieser Übergang wird jedoch ausschließlich von seiner problematischen Seite her in den Blick genommen. Schon in der ersten, nur fragmentarisch erhaltenen Dissertation hatte Schiller die operative Schließung des psychischen Systems gegenüber der Umwelt betont, mit der commercium und Kommunikation zwischen Geist und Außenwelt zum Rätsel werden: „Die Welt muß auf ihn wirken“, andererseits sind wir „unabhängig von der Welt. Sie ist unabhängig von uns“.190 An dieser Stelle offenbart sich jener „Riß zwischen Welt und Bewußtsein“191, der sich in Variation und Verschiebung durch Schillers weiteres Schreiben und Denken ziehen wird. In ihm ist vorbereitet, was in den Entwürfen seit dem Ende der achtziger Jahre verstärkt ins Blickfeld der Kunstreflexion rückt. Der Graben zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Welt wird ästhetisch produktiv. Die Leiderfahrung trennender Vereinzelung in physiologicis wie in metaphysicis wird zum Vorzug ästhetischer Freiheit geadelt. Wenn Schiller in der –––––––––––––– 186 187 188 189 190 191

NA 20, 41. NA 20, 64. NA 22, 245. NA 20, 49 (Versuch ueber den Zusammenhang, § 7). NA 20, 13. Ebd.

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Vorrede zur Braut von Messina den Chor als „lebendige Mauer“ bezeichnet, „die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen“192, so verschiebt dies unter Beibehaltung von Wortlaut und Struktur das Wahrnehmungsverhältnis von Ich und Welt auf das Verhältnis von Idealismus (der Kunst) und Realität. Schiller, der Denker der Kluft und des „Sprunges“, wird zum Begründer einer Ästhetik der Distanz.193 Es wäre ein lohnendes metaphorologisches Unterfangen, die Bildlichkeit der liminalen Trennung, der unerbittlichen Demarkationen und der verweigerten Übergänge in Schillers Werk einmal systematisch zu verfolgen. Sie begegnet in zahlreichen Varianten: Neben „Riß“, „Mauer“194, „Abgrund“195, „Sprung“ oder „Ferne“196 wäre noch der „Damm“197 zwischen Welt und Gott zu nennen, der im Philosophischen Gespräch des Geistersehers als undurchdringliche „Decke der Zukunft“ wiederkehrt, die zur Projektionsfläche für „Gaukler“ oder „Dichter, Philosophen und Staatenstifter“ (!) wird, die sie „mit ihren Träumen bemal(en)“.198 Aus dieser Decke wird schließlich der Schleier der Isis (Das verschleierte Bild zu Sais), an dem die „Forschbegierde“ des curiösen Jünglings zu Schanden wird wie im Taucher die Hybris des Menschen, der sich wissend in die Tiefe stürzt.199 Schillers Wende von der Enthüllung zur Hülle, zur ästhetischen Affirmation von Decke und Schleier als Medienmetaphern spiegelt eine moderne Wende in der Geschichte der Schleier-Metapher: „Mit der Wende zum Ästhetischen ist das Geheimnis aus den semantischen Tiefenschichten in die Textur der Dichtung übergetreten, wo es sich als unablösbar und unlösbar zeigt“.200 –––––––––––––– 192 NA 10, 13. 193 Wilkinson, Elizabeth M.: Über den Begriff der künstlerischen Distanz. Von Schiller und Wordsworth bis zur Gegenwart. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung (1957), S. 69-88. 194 Auch in einem räumlichen Sinn, etwa bei der Belagerung der Malteser-Festung durch die Türken in den Malthesern (NA 12, 25), bei der „die Communication zwischen Elmo und La Valette Stadt aufgehoben ist.“ 195 An Goethe; 27.2.1798; NA 29, 212. 196 In der gegen Bürger erhobenen Forderung, der Dichter müsse „aus der fernenden Erinnerung“ (NA 22, 256) schreiben, also aus einem Moment der zeitlichen wie affektiven Distanz und „Freiheit des Geistes“ gegenüber dem nötigenden Affekt. 197 NA 20, 124: „Gefiel es der Allmacht dereinst, dieses Prisma zu zerschlagen, so stürzte der Damm zwischen ihr und der Welt ein, alle Geister würden in einem Unendlichen untergehen, alle Akkorde in einer Harmonie ineinanderfließen, alle Bäche in einem Ozean aufhören.“ 198 NA 16, 166. 199 Kaiser, Gerhard: Sprung ins Bewußtsein. In: Oellers, Norbert (Hg.): Gedichte von Friedrich Schiller (= RUB 9473). Stuttgart 1996, 201-216. 200 Assmann, Aleida: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit. Esoterische Dichtungstheorien in der Neuzeit. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hg.): Schlei-

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Tatsächlich führt Schiller in der Philosophie der Physiologie die Figur einer ‚Mittelkraft‘ ein, um den unversöhnlichen „Riß zwischen Welt und Geist“ zu heilen.201 Diese Mittelkraft ist eigentlich „undenkbar“, wenngleich die „Erfahrung [sie] beweist“.202 Der Versuch gibt zwar den Terminus auf, postuliert jedoch weiter eine „eigene Klasse mittlerer organischer Kräfte“203 und sucht physiologisch wie ästhetisch nach Agenten des leibseelischen „Konsensus“, dieses Mal bereits mit langen Exkursen in die Literatur, die eigene (Räuber) und die fremde (Macbeth).204 Statt einer physiologisch und neurologisch bestimmbaren Kraft kommen Koppelungsinstanzen wie die Sympathie ins Spiel; sie verweisen auf hermetische Traditionen magischer Fernwirkung, die ja schon die Newtons Gravitationstheorie grundieren.205 Die Idee einer unkörperlichen actio in distans, die wissenschaftlich längst in die „obskuren Randzonen der Episteme“ abgedrängt war206, wird zur Grundfigur der Poetik des jungen Schiller. Indem sie immer wieder die magisch-hypnotische Wirkung des ästhetischen Zaubers beschwört, deutet sie die prekäre genealogische Beziehung und Familienähnlichkeit zwischen Dichter und Scharlatan an.207 In der Grundfigur einer vis media tritt das Problem der Vermittlung und Mitteilung in den Vordergrund, das Schiller vor allem an Kants Theorie des Geschmacksurteils fasziniert. Auch dies ist ein Ergebnis des Resignationsprozesses. Das Grundgefühl des frühen und mittleren Schiller ist das Leiden am Individuationsprinzip oder platonisch gewendet: an der Entfremdung von der Ideenwelt, die den –––––––––––––– 201 202 203 204 205 206 207

er und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München 1997 (= Archäologie der literarischen Kommunikation 5), S. 263-280, hier S. 278. Zur Ideengeschichte der ‚Mittelkraft’ vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 61-100. NA 20, 14. NA 20, 42. NA 20, 60 bzw. 61. NA 20, 119: „Liebe ist […] eine Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einen augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.“ Riedel: Anthropologie, S. 121-142. Ebd. S. 128. Dies gilt zumal für den Dichter in Zeiten ‚zerdehnter‘ Kommunikation. „Ein ganz eigenthümliches UnterscheidungsZeichen der neueren Welt von der Alten [...] daß der Schriftsteller gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf den Leser wirkt, daß ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch abstrakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet, daß er aber den Vortheil hat, seinem Leser eben deswegen eine größere Gemüthsfreyheit zu lassen, als im lebendigen Umgang möglich ist.“ Brief an Christian Garve, 25.1.1795; NA 27, 126f.

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Wunsch nach Teilhabe (methexis) weckt208, sei es in der Frage der Gotteserkenntnis bzw. -offenbarung (Theosophie des Julius, Götter Griechenlandes), in der Liebe als kosmologischer Gravitationskraft (ebd., Laura-Gedichte) oder in der Reflexion über Kunst und Kommunikation, die sich als Sprachskepsis zunächst in den Dramen, theoretisch in der Beilage zum letzten Kallias-Briefe ausprägt. Wie kein anderer Autor hat Schiller alle Aspekte des commercium-Themas ausgeleuchtet; dabei lässt sich eine sukzessive Verlagerung und Übertragung von der anthropologischen auf die ästhetische und schließlich – in den Ästhetischen Briefen – auf die politische Sphäre beobachten, in der sich nun der Staatskörper als ebenso dissoziiert erweist wie der individuelle Körper in den Klagen über den geteilten Menschen. Die genannten Vermittlungs- und Übertragungsprobleme sind Variationen einer Grundfigur, bei deren Entfaltung Schiller zunehmend das Problem des commercium als ein Problem der ästhetischen Kommunikation auffasst. Hier eröffnet sich ein doppelter ‚Riß‘. Einerseits die Kluft zwischen Signifikant und Signifikat, andererseits die zwischen den Kommunizierenden selbst. Solche Distanz weckt das Verlangen nach ästhetisch-kommunikativen Operationen der Abstandsminimierung. Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit heißen auch bei Schiller die Leitbegriffe einer Ästhetik der sinnlichen Präsenz, die doch stets um ihre Verstrickung in Repräsentation, d.h. in die Medialität und Materialität des Zeichens weiß.209 Im Zentrum von Schillers Ästhetik und Anthropologie steht – so die hier vertretene These – eine allgemeine Theorie der Kommunikation. Sie steht in engstem Zusammenhang mit jenem Phänomen, das bei Albrecht Koschorke unter dem Begriff einer „Mediologie des 18. Jahrhunderts“210 firmiert. Die historischen und diskursiven Unterschiede sind jedoch nicht zu übersehen. Wo Koschorkes neue Mediologie die Quellmetapher einer „Zirkulation sozialer Energie“211 zu verzweigten, heuristisch durchaus wertvollen Bildtopologien erweitert („Körperströme“, „sympathetische Ströme“, „Schriftverkehr“ usw.), lässt Schiller stets –––––––––––––– 208 Diese platonische Perspektive hat David Pugh verfolgt: Dialectic of Love. Platonism in Schiller’s Aesthetics. Montreal u.a. 1996, S. 205-238; Schiller als Platonist. In: Colloquia Germanica 24 (1991), S. 273-295. 209 Dies die Leitthese der Arbeit von Sabine Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. 210 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 211 Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley/Los Angeles 1988, S. 1-20; programmatisch aufgenommen in Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 15: „Die großen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts lassen sich als Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien“ begreifen.

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durchblicken, dass er um das Uneigentliche seiner Bildlichkeit weiß. Die Notwendigkeit metaphorischer Rede erwächst aus dem Umstand, dass es unmöglich ist, „in die Oekonomie des unsichtbaren [d.h. die Welt der Nerven; J.R.] einzudringen“. Daher habe man „die unbekannte Mechanik durch die bekannte zu erklären gesucht, und den Nerven als einen Kanal betrachtet, der ein äusserst feines flüchtiges und wirksames Fluidum führet“.212 Was Schiller hier beschreibt, ist ein „Medium“ im physikalischen Sinne, ein „äußerst feines flüchtiges und wirksames Fluidum […], das an Geschwindigkeit und Feinheit Aether und elektrische Materie übertreffen soll.“213 Beides – die Metapher des Kanals wie die Grundfigur der (neuronalen) Übermittlung, die an die Stelle der Mittelkraft tritt – wird von Schiller schon wenig später in die Sphäre der Kunst übertragen. „Die Schaubühne“, schreibt Schiller mit einem in jeder Hinsicht hybriden Bild, „ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Theile des Volks das Licht der Weißheit herunterströmt“.214 In beiden Fällen kommt der Metapher epistemologischer Wert zu, indem sie in Bereiche vorstößt, die sich – wie das Geschehen der Nervenfasern – den Blicken entziehen. 2.3. Metaphorologie Damit ist ein weiterer Aspekt an Schillers Kunstphilosophie und Poetik benannt. Neben dem Theoretiker von commercium und Kommunikation, dem Mediologen avant la lettre steht der Metaphorologe. Schon in den Philosophischen Briefen wird das Bild vom „Buch der Natur“ zeichen- und symboltheoretisch aufgegriffen. Die Welt findet die Aufmerksamkeit des Schwärmers Julius, „weil sie vorhanden ist, mir die mannigfachen Aeußerungen jenes [denkenden; J.R.] Wesens symbolisch zu bezeichnen“.215 Weiter heißt es: „Jeder Zustand der menschlichen Seele hat irgend eine Parabel in der physischen Schöpfung“. Das Buch der Welt ist ein orbis pictus, ein „reiches Magazin“, aus dem „nicht allein Künstler und Dichter, auch selbst die abstraktesten Denker“ schöpfen.216 Die Stelle wirft ein Schlaglicht auf den Bildgebrauch der frühen Lyrik. Hier werden Traditionen der frühneuzeitlichen Emblematik aufgegriffen: Der Zirkel als Symbol für –––––––––––––– 212 213 214 215 216

NA 20, 42. Ebd. NA 20, 97. NA 20, 115f. NA 20, 116.

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Ewigkeit nimmt z.B. das Hieroglyphensymbol der Ouroboros-Schlange auf.217 Der Passus aus der Theosophie unterstreicht, wie sehr sich beim frühen Schiller Ästhetik und Metaphysik verschränken. Die Symboltheorie erwächst aus einer Reflexion über die Gotteserkenntnis, die Hermeneutik des Bildes ist eingebettet in die Frage nach der „Lesbarkeit der Welt“.218 Im Zuge des erwähnten Resignationsprozesses werden sich die Gewichte verschieben. Je undurchsichtiger die Zeichen der Natur werden, je mehr Widerstände diese der Lektüre entgegenbringen, desto mehr wird Schiller die Perspektive umkehren. Die metaphysische Resignation schlägt Ende der achtziger Jahre um in ein Unbehagen an der Natur; diese wird fortan mit den stereotypen Attributen „leblos“219 bzw. „unbelebt“220 bedacht. Die Natur ist nicht mehr autonomes Zeichenmagazin und Symbolarsenal einer spontanen, in die Dinge eingelassenen göttlichen Verlautbarung. Die stumme, mortifizierte Natur – Schiller spricht vom „tote(n) Buchstabe(n) der Natur“221 – ist endgültig zum Anderen des Menschen geworden. Das Buch der Natur ist kein göttliches mehr, sondern ein wirrer Setzkasten von symbolischen Lettern, die der Mensch kombiniert, um das Unheimliche in vertraute „Kreise der Menschheit“222 zu ziehen. Die Autorschaft geht von Gott auf den Dichter als alter deus und second maker über, der nun in einer schweigenden Welt das Palimpsest des großen Buches schreiben muss. Aus dem großen Lesesaal der Natur, in das der junge Schiller nur mehr eintreten muss, wird ein Projektionsraum, den sich der Mensch durch allerlei psychopoetologische Verfahren zu Recht macht. Die klassische Fassung dieser Poetik der Übertragung223 findet sich in der Matthisson-Rezension, die zugleich den Schlusspunkt des gesamten ästhetischen Projekts bezeichnet. Ziel ist es, die landschaftliche Natur „durch eine symbolische Operation in die menschliche zu verwandeln.“224 Andere Metaphern dieses Vorgangs, den die Ethnolo–––––––––––––– 217 Voßkamp, Wilhelm: Emblematisches Zitat und emblematische Struktur in Schillers Gedichten. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 388-406. 218 Zur Stelle Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/Main 52000 (= stw 592) (zuerst 1981), S. 71-80. 219 NA 20, 427. 220 NA 22, 265. 221 NA 20, 273. 222 NA 22, 271. 223 Riedel, Wolfgang: Theorie der Übertragung. Empirische Psychologie und Ästhetik der schönen Natur bei Schiller. In: Bauereisen, Astrid / Pabst, Stephan / Vesper, Achim (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009, S. 121-138. 224 NA 22, 271.

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gie und Psychoanalyse um 1900 als Projektion bezeichnen wird, heißen: „leyhen“225, „beylegen“226 oder „zuschreiben“.227 „Symbolische Operation“ sucht, mit Nietzsches Worten, „die Metamorphose der Welt in den Menschen“. Der Mensch „ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges und erkämpft sich besten Falls das Gefühl einer Assimilation“.228 Dieser Animismus weiß stets um seine sentimentalisch begründete Künstlichkeit. Die Genese der Dichtung ist eine Art Galvanisation, bei der die leblose Materie der Natur – wie Galvanis elektrisch induzierte Frösche – künstlich reanimiert wird. Wie die tierelektrischen Versuche der Zeit zielt „symbolische Operation“ auf eine „Spiritualisierung der Natur“229, deren „entgötterte“ Leblosigkeit schon die Götter Griechenlandes als Signum einer mechanistischen Schöpfung erkannt hatten, durch die keine „Lebensfülle“230 mehr fließt231. Poetische Übertragung kompensiert diese Verlusterfahrung, indem sie der Natur ein Schein- und Sprachleben einhaucht, das die Kommunikation mit dem Menschen wieder möglich macht. Dies jedoch um den Preis, dass der Mensch sich in der Natur narzisstisch bespiegelt, einen Monolog mit sich selbst führt. Die Natur gehört der „unendlichen Reihe des Nichtssagenden und leeren“232 an. Der Mensch findet sich in ihr, wie die Ballade Der Taucher zeigt, in einer amorphen, in jeder Hinsicht leeren Welt ohne Licht („in purpurner Finsterniß“), Leben („unter Larven die einzige fühlende Brust“) und Laut der Sprache („tief unter dem Schall der menschlichen Rede“233) wieder. Die unbesetzte Natur ist zur Dystopie, zur Unterwelt („Höl–––––––––––––– 225 NA 26, 181. 226 NA 20, 427: „So legen wir öfters einem Thiere, einer Landschaft, einem Gebäude, ja der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen die Willkühr und die phantastischen Begriffe des Menschen, einen naiven Charackter bey.“ 227 NA 26, 182. 228 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873-890, hier S. 883 (Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne). 229 Engelhardt, Dietrich von: Naturwissenschaft und Medizin im romantischen Umfeld. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik. Heidelberger Jahrbücher 51 (2008), S. 499-518, hier S. 510. 230 NA 1, 190. 231 In diesem Zusammenhang ist an die Bedeutung des Konzepts „Lebenskraft“ um 1800 zu erinnern. Arz, Maike: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart 1996; Botsch, Walter: Die Bedeutung des Begriffs Lebenskraft für die Chemie zwischen 1750 und 1850. Diss. Stuttgart 1997. Vgl. Humboldts Essay Die Lebenskraft oder Der rhodische Genius, der 1795 in den Horen erscheint. Hey’l, Bettina: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller. Berlin u.a. 2007, hier S. 140-158. 232 NA 26, 201 (Kallias-Briefe). 233 NA 1, 375.

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lenraum“) geworden. Der descensus, den der Dichter seinen Helden unternehmen lässt, fördert nur ihre absolute Alterität zu Tage. Ohne die Weiterungen dieser Theorie der Übertragung vorwegzunehmen, lassen sich doch ihre heterogenen Quellen und ihre wesentliche Stoßrichtung benennen. 1. Die eigenen Überlegungen zur „Hieroglyphik“ der Natur, die in verändertem Zusammenhang im Essay Die Sendung Mose – jetzt bezeichnenderweise im Horizont der Priesterbetrugsthese – aufgenommen werden. 2. § 59 von Kants Kritik der Urteilskraft, der von der „Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ handelt234, in diesem Rahmen jedoch eine allgemeine Theorie der „Versinnlichung“ und der symbolischen „Analogie“ durch „Beispiel“, „Schema“ und „Hypotypose“ bietet235. Schiller schließt in den Kallias-Briefen an diese Überlegungen an, indem er das Prinzip der praktischen Vernunft („Freiheit“) zum uneigentlichen (symbolischen, d.h. metaphorischen) Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils – „Freiheit in der Erscheinung“ – macht.236 Dass dies eine unangemessene Bezeichnung ist, bleibt im Begriff der „Freiheitähnlichkeit“237 noch markiert. Die praktische Vernunft „leyht dem Gegenstand […] ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen“.238 Der Blick in die Welt produziert nur Metaphern, sucht nach Analogien in der „Regel der Reflexion“239, die das Unaussprechliche behelfsweise und dolmetschend dem Menschen verfügbar machen. Diesen Sinn der „symbolischen Operation“ hatte Schiller bereits im Versuch ueber den Zusammenhang reflektiert. Es ist – wie oben zitiert – der Versuch, die „unbekannte Mechanik“ durch die „bekannte“ zu ersetzen, kurz: „in die Oekonomie des unsichtbaren einzudringen“.240 Entscheidend ist, dass Schiller nicht unvorbereitet in die Auseinandersetzung mit Kant geht. Die Übertragungstheorie der Kallias-Briefe steht an einem Schnittpunkt zwischen rhetorischer Metapherntheorie („Verpersönli-

–––––––––––––– 234 Kant: Werke, Bd. 8, S. 458-463. 235 Ebd. S. 461. Kant verweist auf die Analogie zwischen monarchischem Staat und „beseelte(m) Körper“ und auf das Problem des „Anthropomorphism“ („alle unsere Erkenntnis von Gott [ist] bloß symbolisch“). 236 Dies gilt auch für den umgekehrten Übertragungsvorgang – den von der Schönheit auf die Moral: „Indeßen wird der Begriff der Schönheit doch auch in uneigentlichem Sinn auf das moralische angewendet, und diese Anwendung ist nichts weniger als leer. Obgleich Schoenheit nur an der Erscheinung haftet, so ist moralische Schönheit doch ein Begriff, dem etwas in der Erfahrung correspondirt.“ NA 26, 195. 237 NA 26, 183. 238 NA 26, 181. 239 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460. 240 NA 20, 43.

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chung“241), Mythen- und Religionskritik („Anthropomorphism“) und Kantischer Symboltheorie.242 In den Kallias-Briefen stellen sich die Dinge so dar, dass Schiller von einer Rhetorik der Metapher ausgeht, um diese zu einer Philosophie auszubauen – ähnliches ließe sich für die Theorie des Epitheton in der Matthisson-Rezension sagen, die zu einer regelrechten Rezeptions- und Assozationstheorie des Lesens auf empiristischer Grundlage umgeschrieben wird.243 Schon Kant weist in § 59 der Kritik der Urteilskraft darauf hin, dass das „Geschäft“ der Versinnlichung und symbolischen Darstellung „bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden [sei], so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdiene“.244 Hans Blumenberg hat von hier, wohl im Umweg über Nietzsche245, den Impuls für sein Projekt einer Metaphorologie gewonnen, das auf eine Rehabilitation der heuristischen Leistungen der Metapher zielt.246 Metaphern wären demnach nicht nur auszumerzende „Restbestände [und] Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos“ (wie in der cartesischen Tradition), sondern „Grundbestände der philosophischen Sprache“. Dies gilt vor allem dort, wo sich Übertragungen „nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen“247, also im Falle jener „absolute(n) Metaphern“, die der rhetorischen Tradition als „notwendige Meta–––––––––––––– 241 Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 31990 (zuerst 1960), S. 287. 242 Diese Transformation rhetorischer Bestände in semiotische betont Wellbery, David E.: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in The Age of Reason. Cambridge/London/New York 1984, S. 70: „The rhetorical terms are reinterpreted from the standpoint of Enlightenment semiotics.“ 243 Vgl. die Überlegungen in meinem Beitrag: Die Kunst der Natur – Schillers Landschaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 139-154. 244 Kant: Werke, Bd. 8, S. 460. 245 Gemeint ist der Nachlass-Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (In: Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873-890), in dem der Begriff bereits als „Residuum einer Metapher“ bezeichnet wird (S. 882). Nietzsche bestreitet kategorisch jeden Gegensatz von Begriff und Metapher: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind“ (ebd. S. 880f.). 246 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main 1998 (zuerst 1960) (= stw 1301); fortgesetzt in Ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt/Main 2007. 247 Blumenberg: Paradigmen, S. 10.

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phern“248 oder Katachresen bekannt sind.249 Sie sind Symptome einer Ausdrucksnot und „logischen Verlegenheit“.250 Auch Schillers Bestimmung der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“ ist ein solcher notwendig-uneigentlicher Terminus, der das begrifflich-objektiv Unerkennbare und Unbenennbare – das schöne Objekt – approximativ, durch das grobe Werkzeug des als-ob zu greifen vermag. Die Pointe gegenüber Kant und der philosophischen Ästhetik liegt darin, dass die „logische Verlegenheit“ des Geschmacksurteils nun mit Nachdruck ein poetisch-rhetorisches Verfahren zur Rettung der Philosophie der Kunst und des Schönen aufbietet. Dass die Metapher „ein urtümliches Relikt der magischen Identifizierungsmöglichkeit [darstellt]“, das seines „religiös-magischen Charakters entkleidet […] und zum poetischen Spiel geworden ist“251, wurde seit der Ethnologie und Psychoanalyse um 1900 immer wieder betont.252 Die Spezifik des mythischen Denkens ist bei Schiller als Spezifik des poetischen vorbereitet. Wie die Plastiken und Kunstbilder, die Schillers Abhandlungen durchziehen, so sind auch die Begriffsbilder und Bildbegriffe Symptome einer „ästhetischen Verlegenheit“. Sie erscheinen als Synthesen einer „begrifflich nie ganz fixierbaren Vermittlung, einer Stillstellung jener Bewegung der Gegensätze im Moment höchster Gestal–––––––––––––– 248 Lausberg: Handbuch, S. 288. 249 Schon Lausberg: Handbuch, S. 290 macht auf die existentielle und anthropologische Dimension der Katachrese aufmerksam: „Die wirkliche oder durch den Menschen so gesehene Analogie der Seinsschichten bringt es mit sich, daß die Katachrese eine sehr häufige, weil für die Seinserkenntnis und –gliederung nützliche und notwendige semantische Erscheinung ist […] so ist etwa ‚Gott Vater’ eine Katachrese aus dem Familienleben.“ 250 Blumenberg: Paradigmen, S. 10. 251 Ebd. S. 286. 252 Hier ist vor allem an eine Eigenart des „mythischen Denkens“ zu erinnern, die Claude Lévi-Strauss als „bricolage“ – „intellektuelle Bastelei“ – bezeichnet hat. Sie steht für die Notwendigkeit, „sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand.“ Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt/Main 1973 (zuerst 1962) (= stw 14), S. 29. Die Metapher ließe sich in diesem Sinne als Form der semantischen Improvisation und als rhetorische Bastelei begreifen. Zum Konnex von wildem Denken und Metapherndiskurs um 1900 vgl. Wolfgang Riedel: Arara ist Bororo oder die metaphorische Synthesis. In: Zymner, Rüdiger / Engel, Manfred (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004 (= Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur 2), S. 220-241; ders.: Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900. In: Barkhoff, Jürgen / Carr, Gilbert / Paulin, Roger (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Vorwort von Wolfgang Frühwald. Tübingen 2000 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 77), S. 467-485.

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tung“.253 Die Verknüpfung des Primitiven mit dem Poetischen ist dabei keine Erkenntnis der Ethnologien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bereits in Hamanns Weckrufen „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“254 und „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder“255, ist sie angelegt. Poesie ist schon bei Hamann das Andere der Vernunft, mit einem Wort: Natur.256 Die Rehabilitation der Sinnlichkeit bedeutet literarisch eine Rehabilitation der Bilder als Medien einer archaischen Erkenntnis. Dies bedeutete eine dreifache – logische, ethnologische und theologische – Rebellion gegen das Weltbild des aufgeklärten Rationalismus: Logisch als Verstoß gegen das cartesische Ideal von Bestimmtheit und Klarheit, ethnologisch gegen die Erkenntnisse der aufgeklärten Religions- und Mythenkritik (Hume), theologisch gegen das jüdisch-protestantische Bilderverbot, dessen Abstinenzneurosen – wie im Geisterseher und im Mortimer der Maria Stuart vorgeführt – zu kunstreligiösen Exzessen der Sinnlichkeit und zur „Libertinage des Geistes und der Sitten“257 führen. Wie kein anderer Autor um 1800 hat Schiller diese dreifache Provokation des Bildes gegen den Denkcomment der protestantisch Aufklärung auf die Spitze getrieben. In der Geschichte der französischen Unruhen schreibt Schiller: Im Lager dieser [d.h. der reformierten; J.R.] Partey erblickte man nichts lachendes, nichts erfreuliches; alle Spiele, alle geselligen Lieder hatte der finstre Eifer verbannt. Psalmen und Gesänge ertönten an deren Stelle […]. Eine Religion, welche der Sinnlichkeit solche Martern auflegte, konnte die Gemüter nicht zur Menschlichkeit einladen; der Karakter der ganzen Partey mußte mit diesem düstern und knechtischen Glauben verwilldern.258

Beinahe wörtlich wird dieses Ressentiment gegen einen kunst- und bilderfeindlichen Protestantismus in Maria Stuart der Figur Mortimers in den Mund gelegt, der jedoch – Dialektik der rehabilitierten Sinnlichkeit – der physischen Attraktion der schottischen Königin verfällt, in der Schiller prägnant die beiden Naturen der Frau – Eva bzw. Helena und Maria – zusammenbringt. –––––––––––––– 253 Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 164. 254 So am Beginn der Aesthetica in nuce. Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968 (= RUB 926), S. 81. 255 Ebd. S. 83. 256 Ohne Bezug auf Poetik und Ästhetik das grundlegende Werk von Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/Main 1985 (= stw 542). 257 NA 16, 106. 258 NA 19/I, 113.

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Das Projekt einer rehabilitierten Sinn- und Bildlichkeit wird von Schiller Ende der achtziger Jahre parallel an mehreren Fronten verfochten. Immer geht es darum, den theologischen Sachverhalt der Gottesferne durch eine Art ästhetischen Gottesbeweis zu kompensieren. Dazu eröffnen sich zwei Sphären, die jedoch beide mit dem Makel des Aberglaubens behaftet sind: 1. die des antiken Polytheismus, der klassischen Mythologie und ihrer Dichtung, 2. die Bilderwelten der katholischen Kunst samt ihren Zeremonien und Riten, deren Faszination für Schiller in dem Maße zunimmt, wie die neo-konfessionalistische Hysterie der achtziger Jahre nachlässt. Angesichts der Fülle der Stellen, welche dieses ästhetische Kokettieren mit dem Katholischen belegen, lässt sich die These wagen, dass Schiller hier Aspekte jener Kunstreligion vorwegnimmt, die dann in der Frühromantik – unter Kürzung der kritischen Vorzeichen – beginnend mit Wackenroder und Tieck ausgebaut werden. Man könnte, eine Formulierung Wolfgang Braungarts aufnehmend, von Schillers ästhetischem Katholizismus sprechen.259 In der Rehabilitation der Bilder liegt das fortgesetzte Skandalon der Schiller’schen Ästhetik und Poetik. Es betrifft die „babylonische(n) Turmbauten im Bildlichen“260, die in der frühen Lyrik errichtet werden, die Legitimität der allegorischen „Begriffsbilder“261 im Fall der Künstler, vor allem aber den Bildgebrauch der philosophischen Schriften. Bekannt ist Schillers Selbstcharakteristik gegenüber Goethe: „Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend, und so schwebe ich als eine ZwitterArt, zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie“.262 Erinnert wurde bereits an die Auseinandersetzung mit Fichte im Nachgang zu dessen Aufsatz Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. Gegen Schillers Kritik an den „abstruseste(n) Abstraktionen“ und „Tiraden“263 Fichtes hatte dieser eine „Popularität“ der Darstellung abgelehnt, die sich aus einem „unermeßlichen Vorrath von Bildern“ speise. Dies führt zu der bekannten Feststellung: „Sie feßeln die Einbildungskraft, welche nur –––––––––––––– 259 Braungart, Wolfgang: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997 (= Communicatio 15). Diese Tendenz zeigt sich etwa in den marianischen Signaturen und Ikonographien der Venus-Figur in den Künstlern, in der dramatischen Reflexion über die Konfessionen in der Maria Stuart oder in der „romantischen“ Bilderwelt der Johanna mit ihren Erscheinungen, Aufzügen und finalen Apotheosen. 260 Dyck, Joachim: Die Gedichte Schillers. Figuren der Dynamik des Bildes. Bern/München 1967, S. 8. 261 Dazu die grundlegende Studie von Alt, Peter-André: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie. Tübingen 1995 (= Studien zur deutschen Literatur 131). 262 NA 27, 32. 263 NA 27, 202f.

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frei seyn kann, und wollen dieselbe zwingen, zu denken. Das kann sie nicht.“264 Schiller reagiert mit einem Traktat Von den nothwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten, der im 9. Stück der Horen im September 1795 erscheint (in den Kleineren prosaischen Schriften unter dem Titel: Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen) und der eine vorsichtige Apologie des eigenen „gemischten Stils“ darstellt, den Schillers eigene Studien zeigen.265 Er nimmt dazu Fichtes Popularitätsvorwurf auf und betont, dass sich „der populäre Unterricht“ durchaus mit der „Freyheit“ des Lesers vertrage.266 2.4. Schöne Diktion Das „Denken in Bildern“267 als Spezifikum der „schönen“ bzw. „populären“ Schreibart ist nur ein Aspekt jener Bildkritik, die von der Warte der Philosophie gegen Schiller geltend gemacht wurde – im Grunde bis heute. Der andere liegt in der Offenheit des Sprach-Bildes, seiner semantischen Unabgeschlossenheit und Assoziationsbedürftigkeit, die Schillers Terminologie nicht nur ästhetisch „fesselnd“ macht, wie Fichte moniert, sondern eben auch ambivalent und „vieldeutig“.268 Einerseits ist diese Unschärfe charakteristisch für die gesamte wissenschaftliche Terminologie um 1800, die noch nicht „definitorisch eingeschmolzene geschichtslose Begrifflichkeit [ist]“.269 Andererseits drückt sich in der „verwirrenden semantischen Vielfarbigkeit“270 auch der Schiller’schen Theoriesprache ein rhetorisches Kalkül aus. In der Ökonomie der „schönen Schreibart“ ist die Polychromie der Begriffe geradezu erwünscht. Soll das „Kettensystem“271 der Einbildungskraft stimuliert werden, bedarf es Wörtern mit „Wallungs–––––––––––––– 264 NA 35, 231f. 265 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 186. 266 NA 21, 7. Es war zugleich die Neuauflage eines Problems, das sich in der MatthissonRezension gestellt hatte. Der Dichter müsse „unsre Einbildungskraft frei spielen und selbst handeln lassen“, andererseits aber „seiner Wirkung gewiß sein und eine bestimmte Empfindung erzeugen.“ NA 22, 267. 267 Koopmann: Denken in Bildern. 268 Sayce, Olive: Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers ästhetischer Terminologie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 149-177. 269 Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin/New York 2003 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25), S. 28. 270 Ebd. 271 NA 20, 23.

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wert“272, die spontane Assoziationen („Ideenverbindungen“) provozieren. Die Sprache muss sich semantisch offen und unabgeschlossen halten, um dem Spiel der Einbildungskraft ausreichende Freiräume und Leerstellen zu sichern. Ambiguität, „Vieldeutigkeit“ bzw. „Bedeutungsfülle“273 gehören zum Kalkül des Autors – auch in der philosophischen Prosa und ihrer ästhetischen Terminologie.274 Aus der „großen Mannigfaltigkeit der Bedeutung“ erklärt sich das Bedürfnis nach terminologisch-lexikographischer Klärung, bis hin zum aktuellen Projekt eines Schiller-Wörterbuches.275 Die Liste der polyvalenten, gleichwohl für Schillers Ästhetik zentralen Begriffe ist lang: Ob „Schatten“ und „Spiel“, „Schein“ und „Erscheinung“, „Idee und Ideal“, „Stoff und Form“, „Staat“ und „Reich“ – sie alle belegen, wie sehr die Dynamik des Schiller’schen Denkens aus der semantischen Eigendynamik von Begriffen hervorgeht, die entweder selbst zweideutig sind oder im Laufe ihrer terminologischen Entfaltung in wechselnden Konstellationen wechselnde semantische Bestimmungen aufnehmen. Andererseits weiß Schiller um die legislatorische Kraft der Definition. Seine Theoriebildung ist daher frühzeitig von einer Vorliebe für prägnante, oft irritierende, paradoxe oder antithetische Begriffskonstellationen geprägt.276 Auch als aestheticus setzt Schiller ganz auf seine Poetik der Assoziation und die Efffekte der gelenkten Ideenverbindung. Die Fachprosa übernimmt Prinzipien der Kunstprosa.277 Was für den Volksdichter gilt, wird nun auf den „Volksredner oder Volksschriftsteller“278 übertragen. Am sinnfälligsten wird dies in Schillers Definition von „schöner Diktion“. Ihre „Zauberkraft“ verweist auf die Spannung zwischen prätendierter Freiheit des Lesers und „versteckter“279 Lenkung durch den Autor. –––––––––––––– 272 Benn: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 178f. 273 Sayce: Vieldeutigkeit, S. 149. 274 Hofmannsthal bemerkt als Kennzeichen für „Schillers hohe Kunstsprache, wie er sie in seinen Ästhetischen Schriften anwendet“, die Tatsache, dass „der Gebrauch des Wortes [sc. „Idee“] kein scharf gesicherter […] ist.“ Rede auf Grillparzer; Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 98. 275 Wernly, Julia: Prolegomena zu einem Lexikon der ästhetisch-ethischen Terminologie Friedrich Schillers. Leipzig 1909 (Ndr. Hildesheim 1975) (= Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte; N.F. 4), S. 14. Künftig Lühr, Rosemarie (Hg.): Schiller-Wörterbuch. 5 Bde. Berlin/New York (ersch. 2012). 276 Dabei lässt sich oft beobachten, dass Schiller von geprägten Begriffen (Reiz, Form, Anmut, Spiel u.ä.) ausgeht, die er dann in seinem Sinn umdeutet oder kombiniert. 277 Im Kontext der Fach- und Sachprosaforschung ist Schillers ohnehin im Schatten stehender Beitrag kaum wahrgenommen worden. Vgl. Robert, Jörg: Fachprosa. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger u.a. Bd. 3. Stuttgart 2006, Sp. 756762. 278 NA 21, 7. 279 NA 20, 8.

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„An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen!“ Dieser hermeneutische Imperativ aus Gottfried Benns Prosastück Weinhaus Wolf280 eignet sich daher gut als Motto für die folgenden Kapitel. Tatsächlich sind Bild und Metapher Ausdruck für Stil und Gehalt der Schiller’schen Ästhetik zentrale Größen. Es sind die Bilder, die für Anstoß sorgen – im Doppelsinn von Ärgernis und Impuls. Die folgenden Überlegungen setzen daher gerade dort an, wo für den Philosophen das Zwielichtige der Schiller’schen Theorie, ihre „Affectation der Wissenschaftlichkeit“ beginnt281: Bei der „Poetizität“, den Unschärfen, begrifflichen Verlegenheiten und absoluten Metaphern, die immer wieder die sedimentierten „Restbestände“ ihrer ursprünglichen Kontexte mit sich führen. Die folgenden Kapitel umkreisen immer wieder ambivalente Begriffe und Metaphern, beiläufige wie tragende, in denen sich paradigmatisch Durchblicke auf mitschwingende, assoziativ eingeholte „Sinn-horizonte und Sichtweisen“282 einstellen. Auch hier gilt: „Metaphorische Unstimmigkeiten sind metaphorologische Einstiege“.283 Metaphern sind in diesem Sinne Fenster zu Diskursen, die in der unabgegoltenen Latenz hinter bzw. unter der manifesten Oberfläche der begrifflichen Argumentation ihr semantisches Unwesen treiben. Der Blick ins Bild bzw. in die Bilder der Sprache gibt einen Schlüssel in die Hand, den ideengeschichtlichen wie kulturhistorischen Hintergrund der Schiller’schen Theorie, ihr kollektives Unbewusstes auszuleuchten bzw. zu rekonstruieren. Als das Andere der Begriffe eignet der Bildlichkeit dabei eine Widerständigkeit, die ihr autonomen Status innerhalb der Theorieökonomie verleiht. Schillers Wissenspoetik ist Poetik im vollen Eigensinn des Wortes. Im dialektischen Spiel zwischen Bild und Begriff wiederholt sich auf der Ebene des Textes das bis zuletzt ungeklärte Verhältnis von Kunst und Philosophie, Schönheit und Wahrheit. 2.5. Morellis Methode Schiller selbst war die Eigendrift der Bilder wie der Imagination durchaus suspekt. Er perhorresziert die regellos schweifende Einbildungskraft und setzt auf die kalkulierte Assoziation oder die Unterordnung der Metaphern „unter einem höhern Begriff“.284 Das Indivi–––––––––––––– 280 281 282 283 284

Vgl. Anm. 1. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 605. Blumenberg: Paradigmen, S. 13. Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 221. NA 21, 10.

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duelle muss mithin immer wieder auf das vom Autor bestimmte und kontrollierte Allgemeine zielen. Die literaturwissenschaftliche Annäherung kehrt diese Unterordnung um. Sie ist gehalten, gegen die Intention des Autors am sinnlich Konkreten, am „einzelnen Falle“285, anzusetzen, der einer einfachen Subsumtion widersteht. Hier lagern die semantischen Residuen jener Felder, die als Bildspender der Übertragung dienen und im Transfer ihr Eigenrecht geltend machen. Zugleich bedeutet dies eine Wette gegen Schiller selbst und seine Bildtheorie, die sich im Vergleich zu seiner Bilderpraxis weitaus konservativer auf die Kontrolle des Uneigentlichen durch das Eigentliche beruft. Freiheit der Einbildungskraft gibt es – der Theorie nach – immer nur in den Grenzen der Logizität. Ein Ziel dieser Studie ist es, diesen Widerspruch produktiv zu nutzen. Sie unternimmt den Versuch, Metaphern nicht als semantische Erfüllungsgehilfen eines vorausberechneten Sinns zu unterschätzen, sondern als prinzipiell offene und zweideutige fermenta associationis zu begreifen. Schillers Theorie des Sprach- oder Begriffsbildes stellt dabei eine weitere poetologische Entfaltung jener anthropologischen Grundfigur des „Zusammenhangs“ der beiden Naturen des Menschen dar, nunmehr in charakteristischer Variation und Verschiebung, als eine Theorie des doppelten Textes, der – so Schiller in Ueber die nothwendigen Grenzen – aus einem „materiellen Theil oder Körper“286 und einem „geistigen Theil“, eben der „Bedeutung“ besteht.287 Die Theorie der Metapher ist damit selbst Metapher, d.h. Übertragung: vom doppelten Menschen auf den doppelten Text. Einmal mehr erweist sich die Metapher nicht nur als Thema, sondern als argumentatives Instrument des Schiller’schen Denkens, das – wie eingangs gesagt – aus wiederholten Verschiebungen und Übertragungen ein- und desselben cartesischen Grundproblems hervorgeht. Durch diese Übertragung wird der Substanzendualismus nun auch als poetologisches Problem des Logozentrismus sichtbar. Die Harmonisierung von materiellem und geistigem Gehalt, von Stil und Bedeutung stellt vor Probleme, wie sie die Figur des „ganzen Menschen“ insgesamt kennzeichnen. Entscheidend ist dabei, dass Schiller die logozentrische Position nicht einfach aufkündigt. Wie noch auf der Stufe der Künstler besteht das integumentum-Denken fort, wird die Form als disponible, bald verrätselnde bald didaktische Hülle verstanden. Noch in Ueber die Grenzen wird daher betont, dass die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher, populärer und schöner –––––––––––––– 285 NA 21, 9. 286 NA 21, 8. 287 NA 21, 9.

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I. Klassiker vor der Klassik

Rede letztlich nur didaktische Modalitäten sind, abgestellt auf den „Einweihungsgrad“ eines Publikums, das hier in seiner Disparität erstmals reflektiert wird. Dass es eine semantisch stabile „Materie“ – also einen vorgängigen „Gehalt“ – gibt, der in „allen drey(en) zu einer Erkenntniß“ verhilft, reduziert das Eigenrecht der schönen Diktion auf ein Minimum. Schiller bleibt bei aller Apologie der Anschauung immer Substantialist des Sinns, der vor dem influxus physicus, d.h. von einem Einfluss der Materialität der Bilder auf den Gehalt, zurückschreckt, obwohl dies gerade in der Konsequenz des anthropologischen Denkmodells der Sprache läge. Am Primat des Sinns über den sinnlichen Körper der Rede ist so wenig zu rütteln wie am Primat der Vernunft über die Physis. Autorschaft heißt daher auch in semantischem Sinn „Werkherrschaft“.288 Die Unordnung der Phantasie wird geduldet, soweit sie berechenbar ist, der Leser bleibt am sanften „Gängelband“ des Autors – auch dies eine bezeichnende pädagogische Lieblingsmetapher der Zeit. Die „republikanische Freiheit des Lesers“ gerät spätestens mit der Wendung der Französischen Revolution vollends unter Ochlokratie-Verdacht.289 Die Republikanismusmetapher deutet an, wie Schillers Leserpoetik nicht nur einer anthropologischen, sondern zunehmend auch einer politischen Bildlogik verpflichtet ist, die wiederum in der Rede vom „politischen Körper“290 auf die anthropologische ausgerichtet ist. Das Verhältnis zwischen Autor und Publikum wird wie das zwischen Form und Stoff in politischen Kategorien, mithin als Herrschaftsverhältnis aufgefasst. Dies hat Folgen für die prätendierte Freiheit des Lesers. Die regellose Phantasie wird als „Aufkündigung des Gehorsams gegen den rechtmäßigen Oberherrn“291 gewertet. Schillers Leserpoetik folgt der Matrix seiner politischen Auffassungen und bevorzugt daher ein Modell, das „zwischen dem gesetzlichen Druck und der Anarchie mitten inne liegt“.292 Der Geist der Gesetze bestimmt den Geist der Ästhetik, die sich das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft nur in der Unterscheidung zwischen monarchischer, liberaler und ochlokratischer Verfassung denken kann. Schiller spricht –––––––––––––– 288 Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. München u.a. 1981 (= UTB 1147). 289 Eine neue Würdigung der Schiller’schen Wirkungsästhetik in toto bietet Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 122-150. Stachel datiert diese Wende präzise auf den Essay Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), der eine „systematische Revision des Konzepts eines notwendigen Wirkungsmechanismus“ (S. 141) zugunsten der freien Ausübung der Gemütskräfte im Zuschauer biete. 290 NA 20, 314 (3. Brief). 291 NA 20, 282 (Ueber Anmut und Würde). 292 Ebd.

2. Methoden und Perspektiven

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in Ueber Anmut und Würde in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einer „bildliche(n) Vorstellung“, bei der die politische Sphäre scheinbar nur „erläutern(d)“293 auf die ästhetische bezogen wird. Tatsächlich jedoch darf angenommen werden, dass die ästhetische sich im Bann der politischen erst entfaltet. Wie sich die Freiheit des Lesers vor dem Autorwillen als Scheinfreiheit erweist, so die Freiheit des Individuums in der „liberale(n) Regierung“ des aufgeklärten Absolutismus, jener Staatsform, die Schiller nach der Eintrübung der revolutionären Ereignisse privilegiert. Diese Staatsform zeichnet aus, dass, „obgleich alles nach eines Einzigen Willen geht, der einzelne Bürger sich doch überreden kann, daß er nach seinem eigenen Sinne lebe und bloß seiner Neigung gehorche.“294 Ersetzt man die Positionen der Beteiligten durch die von Autor und Leser, so ergibt sich daraus in nuce die Poetik des klassischen Schiller. Von Versöhnung zwischen Geist und Sinnlichkeit lässt sich hier nur bedingt sprechen, eher von liberalem Laissez-faire – solange die Ordnung gewahrt bleibt. Unumwunden spricht Schiller denn auch wenige Zeilen nach unserer Stelle vom „Regiment des Geistes“ über die „von ihm abhängende sinnliche Natur“.295 Alles kommt darauf an, dass „ein Volk unter dem Zwang eines fremden Willens sich frey fühlt“ – also nicht notwendig frei ist. Schönheit beruht auf der „sittlichen Beschaffenheit des sie diktierenden Geistes“, wie alles im politischen Körper von der „Gesinnung eines Herrschers“ abhängt.296 Eine metaphorologische Annäherung an Schillers Ästhetik ist somit ein heikles Unterfangen. Sie muss sich immer auch gegen logozentrische Vorannahmen vom Regiment des Geistes über den Körper der Rede stemmen, gegen die Behauptung einer eingehegten, gelenkten Kommunikation, die der Imagination nur den Schein von Freiheit lässt. Methodisch ist daher die Rehabilitation der Bilder – Schillers Bilder – gefordert. Gegen den influxus psychicus des diskursiven Sinns gilt es den influxus physicus der Sinnbilder aufzuwerten, deren physischer Eigensinn keinesfalls so akzessorisch ist, wie Schiller dies im Banne einer allegorischen Hüllenästhetik in den Künstlern dar–––––––––––––– 293 294 295 296

NA 20, 278. Ebd. NA 20, 279. Ebd. Vgl. Diana Schilling: Über Anmut und Würde. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch, S. 388-398, hier S. 392: „Es ist das Dilemma Schillers: Die Brüche erscheinen überall dort, wo er für sein Anliegen – die Versöhnung von Neigung und Pflicht, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit – die Sphäre des Abstrakten verlässt; an der Konkretion verrät sich am deutlichsten, wie das Denken an die gesellschaftlichen Bedingungen geknüpft ist.“

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I. Klassiker vor der Klassik

stellt.297 Was den hier eingeschlagenen Weg von Blumenbergs Anregung absetzt, ist der Versuch, die Genealogie der Grund- bzw. Restbestände des Sinnlichen nicht nur in einer ideen- und philosophiegeschichtlichen Perspektive anzulegen, sondern über die Bildlichkeit der Schiller’schen Ästhetik einen Zugang auch zu Sachverhalten und Phänomenen der kulturellen Wirklichkeit bzw. der materiellen Kultur der Zeit zu gewinnen. Die Metapher der nackten Wahrheit etwa, an die Schillers Venus-Figurationen in den Künstlern anschließen, müsste dann nicht nur ideen- und philosophiegeschichtlich betrachtet werden, sondern immer auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer Codierungen von Nacktheit und Scham. In diesem Sinne stehen die folgenden Überlegungen am Schnittpunkt von Ideen- und Begriffsgeschichte, von Metaphorologie und Kulturwissenschaft. Es ist dies ein Standpunkt, der um die „Macht“298 bzw. „Verheißungen der Philologie“299, die Bedeutung der konkreten Formen und Bilder des Textes weiß, die „als Elemente seiner künstlerischen Wirkung in ihrer formalen wie reflexiven Eigenlogik zu beschreiben“ sind300. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und der Bilder muss eine Rehabilitierung des Wörtlichen, der Oberfläche des Diskurses nach sich ziehen, deren Verflechtungen mit biographischen und kulturellen Kontexten es immer wieder zu bedenken gilt. Schiller selbst hat mehrfach auf die unbewussten Anteile seines Schreibens hingewiesen, auf dessen Ausgang von einer „dunkle(n), aber mächtige(n) Totalidee“301 etwa. Das Verhältnis der Bilder zur Logizität des Sinnes ist daher keineswegs so einsinnig, wie Schiller dies in seiner Theorie der „Begriffsbilder“ glauben machen will. Es entspricht weniger dem Gegensatz von verhüllter und nackter Wahrheit als dem zwischen manifestem und latentem Trauminhalt. Was hier Not tut, ist eine behutsame Analyse, die – mit Freud gesprochen – auf den –––––––––––––– 297 Gerade dieses Gedicht belegt, wie die Freisetzung des Erotischen, ja Inzestuösen auf der Bildebene der behaupteten Selbsterziehung der Künstler zum „keuschen Dienst“ zuwiderläuft. Hier wird etwas Grundsätzliches berührt: Das prekäre Verhältnis von ästhetischen und asketischen Idealen, von legitimer Lust am Schönen und libertiner Wollust bildet ein unsichtbares Zentrum der vorklassischen Ästhetik. Der Geisterseher etwa zeigt, dass zwischen dem Schönen und dem Angenehmen (in Kantischer Terminologie) feinere Graustufen und Übergänge denkbar sind als die strikten theoretischen Grenzziehungen es verlangen. Die konfessionelle Umerziehung des Prinzen bedient sich denn auch des Mittels der ästhetischen Erziehung, die Sensibilität für ästhetische Phänomene wächst in dem Maße, in dem der Prinz der „Libertinage des Geistes und der Sitten“ verfällt. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit läuft immer auch Gefahr, übers Ziel hinaus zu schießen. 298 Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Frankfurt/Main 2003. 299 Alt, Peter-André: Die Verheißungen der Philologie. Göttingen 2007. 300 Ebd. S. 28. 301 27.3.1801; NA 31, 24.

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„Abhub der Erscheinungswelt“, das Unscheinbare und Unabgegoltene setzt. Der Metaphorologe nähert sich Bildern wie dem „Gängelband“, der „Kraft und Schwerkraft“, dem „Medium“ oder der „nackten Wahrheit“ als ein „Kriminalbeamter“, wie Freud schreibt, der es sich zur Aufgabe macht, „die kleinen Anzeichen nicht [zu] unterschätzen“, um „von ihnen aus Größerem auf die Spur zu kommen“.302 In seiner 1914 erschienenen Studie Der Moses des Michelangelo hat Freud die Technik der Psychoanalyse, „aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub („refuse“) der Beobachtung, Geheimes zu erraten“303, aus der Beschäftigung mit der Kunst, nämlich aus der Methode des italienischen Kunsthistorikers Giovanni Morelli (1816-1879) alias Ivan Lermolieff abgeleitet. Morelli war es gelungen, eine Fülle von Bildern werkkritisch neu zuzuordnen, „indem er vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes“ absah und die „charakteristische Bedeutung von untergeordneten Details hervorhob“.304 Der Metaphorologe kann von Morellis Methode profitieren, und dies um so mehr, als sie in Schiller, dem Arzt und Anthropologen, dem Theoretiker der Aufmerksamkeit und des durchdringenden Blicks ihren historischen Vorläufer hat – nicht umsonst verkörpert der Prinz im Geisterseher, wo er Scharfsinn und „Scharfsichtigkeit“305 gegen die unsichtbaren Mächte zeigen darf, in Personalunion die Rolle des Literaturkritikers (gegenüber der „Novelle“ des Sizilianers), des Detektivs (in seiner Suche nach den Gründen der Intrige) und des Arztes (in der Erklärung der prophetischen Voraussage des Armeniers). Mutatis mutandis lässt sich die von Ginzburg für das ausgehende 19. Jahrhundert herausgearbeitete diskursive Allianz zwischen Kriminalistik, Psychoanalyse und Medizin306 bereits auf das ausgehende 18. Jahrhundert, d.h. auf den „philosophischen Arzt“ und Psychologen Schiller rückdatieren, dessen Vorliebe für kriminalistische Strukturen und Themen, etwa die Frage nach der Genealogie von Identitäten und Individualitäten, ja das ganze Werk – buchstäblich bis zur letzten Zeile des Demetrius – durchzieht.307 –––––––––––––– 302 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 20 (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse): „Im Gegenteil, ihren Beobachtungsstoff bilden gewöhnlich jene unscheinbaren Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt.“ 303 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 185. 304 Ebd. 305 So Körner (15.5.1788; NA 16, 416). 306 Ginzburg, Carlo: Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998, S. 274-296. 307 Pfotenhauer, Helmut: Genealogie der Identität. Schillers späte dramatische Fragmente. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tü-

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Wir haben damit den Punkt erreicht, an dem die metaphorologische in die genealogische Methode übergeht. Hinter Freuds Betonung des „refuse“ stehen ja nicht nur Kriminalistik und Kunstgeschichte, sondern auch die Entlarvungspsychologie des mittleren Nietzsche. Auch sie plädiert bereits für die „kleinen unscheinbaren Wahrheiten“ gegen die „beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen“.308 Die genealogische Methode wird zur philologischen, wo sie zu erklären versucht, wie „etwas aus seinem Gegensatz entstehen“ kann, also etwa „interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen“.309 Es ist dies die Kernfrage der Schiller’schen Ästhetik vor der Ästhetik, vor Kant, vor der Klassik. Schiller hat sie sich implizit im Geisterseher gestellt, der sich doppelt lesen lässt: einerseits als Erzählung über eine verfehlte ästhetische Erziehung, nämlich als Erziehung zum „begehrlichen Wollen“; andererseits als Geburt des ästhetischen Scheins aus dem falschen, d.h. aus dem Spiel mit der gemeinen Illusion und Projektion der Zauberlaterne, das sich metapoetisch als eine „Parabel über die Dichtung“ lesen lässt.310 Hier gilt uneingeschränkt das Gesetz der genealogischen Inversion. Kein echter ohne falschen Schein, keine ästhetische Erziehung ohne die verdächtige Pädagogik der Illuminaten, Freimaurer und Jesuiten, denen Schillers Erziehungsprojekte – Dialektik der Aufklärung – doch bisweilen zum Verwechseln ähnlich sehen. Keine Freiheit schließlich ohne die Mauern der Karlsschule, keine Schaubühnen-Ästhetik ohne die ganz realen, panoptischen Räume und Maschinerien der Hohen Karlsschule, der Zuchtund Erziehungshäuser usw. Die Evolution des Schiller’schen Denkens folgt solchen Logiken genealogischer Umkehrung und psychodynamischer Kompensation. Sie kennt Strategien der Verschiebung und Variation sowie der Sublimierung des Niedrigen und Gemeinen zum Hohen. Auf sie lässt sich daher Nietzsches Diktum beziehen, wonach „die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind“.311 Was ––––––––––––––

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bingen 1991, S. 179-199; Robert, Jörg: Selbstbetrug und Selbstbewusstsein. Demetrius oder das Spiel der Identitäten. In: Ders. (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 113-141. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 25. Ebd. S. 23. Schmitz-Emans, Monika: Zwischen wahrem und falschem Zauber: Magie und Illusionistik als metapoetische Gleichnisse. Eine Interpretation zu Schillers Geisterseher. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996). Sonderheft: Klassik, modern. Für Norbert Oellers zum 60. Geburtstag. Hg. von Georg Guntermann, Jutta Osinki und Hartmut Steinecke, S. 33-43, hier S. 38. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 24 (Menschliches, Allzumenschliches). Schiller selbst betont die Ambivalenz der Kunst in den ästhetischen Briefen (10. Brief): „Die

2. Methoden und Perspektiven

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auf diese Weise erscheint, ist eine unterschätzte und ungeschriebene Ästhetik, die immer wieder selbst über die Genealogie des Ästhetischen reflektiert. Ihr auf die Spur zu kommen schließt die Anstrengung ein „to look less at the presumed center of the literary domain than at its borders, to try to track what can only be glimpsed, as it were, at the margins of the text“.312

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Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegentheil zu thun, und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrthum und Unrecht zu verwenden.“ NA 20, 338. 312 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 4.

II. Philosophischer Arzt und poeta medicus. Literarische Anthropologie in der Fieberschrift II. Philosophischer Arzt und ›poeta medicus‹ 1. Die Fieberschrift

1. Die Fieberschrift 1.1. Doppelte Anthropologie

Dass Schillers medizinische Dissertationen „im Schatten des literarischen Frühwerks und nur am Rande des literaturwissenschaftlichen Interesses“1 stehen, wird heute niemand mehr behaupten. Konnte Benno von Wiese die medizinischen Schriften noch stillschweigend übergehen, so sind sie inzwischen durch die Forschungen zur „anthropologischen Wende der Spätaufklärung“2 und durch die kulturwissenschaftliche und wissenspoetische Wende in der Forschung3 in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.4 Seit Wolfgang Riedels Studie zur Anthropologie des jungen Schiller ist keine Beschäftigung mit dem Frühwerk ohne Einbettung der literarischen in die medizinische Anthropologie denkbar.5 Die ideengeschichtliche Situierung der –––––––––––––– 1 2

3 4

5

Riedel: Anthropologie, S. 3. Riedel, Wolfgang: Die anthropologische Wende. Schillers Modernität. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2007 (= Stiftung für Romantikforschung 40), S. 143-163; erneut in: Robert, Jörg (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007 (= Würzburger Ringvorlesungen 5), S. 124; zum Überblick über den Ertrag der Anthropologie-Forschung vgl. Riedel, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Sonderheft 6. Forschungsreferate 3 (1994), S. 93-157; Schings, HansJürgen (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFGSymposion 1992. Stuttgart 1994 (= Germanistische Symposien / Berichtsbände 15). Dazu im Überblick Pethes, Nicolas: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28 (2003), S. 181-231. Den Ausgangspunkt stellt die Studie von Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, dar (hier S. 11-40: „der philosophische Arzt. Anthropologie, Melancholie und Literatur im 18. Jahrhundert“). Die Tatsache, dass die Anthropologie inzwischen Lehrbuchstatus erreicht hat, dürfte den Abschluss der heroischen Epoche ihrer Erforschung bezeichnen. Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘. Würzburg 1985 (= Epistemata 17). Vertieft noch einmal in Ders.: Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philoso-

II. Philosophischer Arzt und ›poeta medicus‹

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Dichtungen im Diskurs um den ‚wohltemperierten‘6 Menschen und in der Erfahrungsseelenkunde (psychologia empirica) wurde zum Medium einer vom Rande her „erneuerten Klassik“7. Das Leitbild des Dichter-Anthropologen Schiller bedeutete zugleich eine klare Beschränkung des Untersuchungsfeldes auf eine Werkperiode, die in besonderer Weise von der Interferenz medizinischer, philosophischer und poetologischer Fragestellungen bestimmt ist. Diese Periode habe, so die verbreitete Einschätzung, mit dem Einschwenken auf den Kantianismus ihre definitive Grenze gefunden. So stellt Peter-André Alt fest, dass „zu den naturphilosophischen Neigungen des jungen Karlsschulmediziners“ für den Ästhetiker der 1790er Jahre „aus Mangel an systematischem Interesse und aus prinzipiellen Vorbehalten kein Weg mehr zurück[führe]“.8 Auch innerhalb der Rezeption der Schiller’schen Anthropologica zeigen sich charakteristische Fluchtlinien und Fehlstellen: 1. liegt und lag der Akzent auf den genuin anthropologischen Schriften (im neuen, von Ernst Platner inspirierten Sinn), d.h. auf der ersten und vor allem der dritten Dissertation (Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, 1780), während die sog. Fieberschrift (De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum, 1780) nur mittelbar an Platners Projekt einer Wissenschaft vom ganzen Menschen und damit auch am Wissenschaftsparadigma Anthropologieforschung partizipiert. Wer nach dem Problem des commercium mentis et corporis beim jungen Schiller fragt, scheint notwendig auf den Versuch ueber den Zusammenhang verwiesen, der neben dem markanten Titel zugleich das prägnante Forschungsprofil einer „philosophischen“ Arzneikunst bietet. In Schillers Worten: „Philosophie und Arzneiwissenschaft stehen unter ––––––––––––––

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phieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie. Würzburg 1995. Die Spuren Foucaults verfolgt Holger Bösmann: Projekt-Mensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. Würzburg 2005. Die anthropologische Wende zeigt sich darin, dass die große Schiller-Biographie Peter-André Alts den medizinischen Traktaten ein umfangreiches Kapitel widmet. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 156-188. Die literarische Anthropologie zählt seit nunmehr 20 Jahren zu den umkämpftesten Sektoren der Aufklärungsforschung. Zur Begriffsklärung Riedel, Wolfgang: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung. In: Braungart, Wolfgang / Ridder, Klaus / Apel, Friedmar (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004 (= Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 337-366. Nowitzki, Hans-Peter: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin/New York 2003 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25), hier S. 81-85 zum Versuch. Stöckmann, Ingo: Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 26/2 (2001), S. 1-55, hier S. 9. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 575.

1. Die Fieberschrift

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sich in der vollkommensten Harmonie: Diese leihet jener von ihrem Reichthum und Licht; jene theilt dieser ihr Interesse, ihre Würde, ihre Reize mit“.9 Daher müsse es das Ziel sein, die „Hippokratische Kunst aus der engen Sphäre einer mechanischen Brodwissenschaft in den höhern Rang einer philosophischen Lehre“ zu erheben.10 Im Versuch geht es Schiller darum, „den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helleres Licht zu sezen.“11 Man kann diese Sätze, denen der Versuch viele ähnliche folgen lässt, als Manifest der Schiller’schen Anthropologie bezeichnen. Sie paraphrasieren im Großen und Ganzen das viel zitierten Platnersche Projekt, „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen [zu] betrachten“.12 Gerade als philosophischer Arzt ist Schiller also kein origineller Denker; gerade in diesem Feld bezeugen seine Schriften einen „Eklektizismus im Schatten der großen Systeme“.13 Ausnahmslos alle Konzepte der genuin anthropologischen Schriften lassen sich mehr oder weniger präzise fachwissenschaftlichen Filiationen, meist auch konkreten Lehrpositionen und –persönlichkeiten der Karlsschule zuordnen. „Allenthalben […] ist das Schiller’sche Denken in den Zeitgeist getaucht, berührt Bekanntes und wird von den gleichen Problemen bewegt“.14 2. Die Konzentration auf und Faszination durch die Platnersche Linie hat dazu geführt, dass allzu schnell der vorlauten Selbstakklamation des jungen Schiller beigestimmt wurde. So hat man geflissentlich den vermeintlich innovativen Anthropologen gegenüber dem konservativen Mediziner aufgewertet und dabei unterschätzt, dass Schiller eine doppelte Arzneikunst mit diametral entgegengesetzten Prinzipien vertritt: a) eine theoretische in der Philosophie der Physiologie und im Versuch, welche die Medizin „in den höhern Rang einer philosophischen Lehre“15 erhob, und b) eine praktische, die sich im Namen klinischer Erfahrung gegen die „leere Theorie“ der älteren Fachliteratur wandte.16 –––––––––––––– 9 10 11 12 13 14 15 16

NA 20, 38. Ebd. NA 20, 41. Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772 (Ndr. Hildesheim u.a. 1998), S. XVII. Riedel: Anthropologie, S. 10. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 84. NA 20, 38. Die beste Edition der Fieberschrift ist die von Irmgard Müller im Rahmen der Sämtlichen Werke (Hanser-Ausgabe) besorgte, die im Folgenden zu Grunde gelegt wird

II. Philosophischer Arzt und ›poeta medicus‹

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Da Schiller selbst die praktische Medizin seiner Fieberschrift im Versuch ueber den Zusammenhang unter lautem Methodengetöse („mechanische Brodwissenschaft“17) kassiert, schien die Forschung berechtigt, ihm in dieser Abwertung zu folgen. Denn anders als die spekulativen qualitates occultae wie ‚Mittelkraft‘ oder ‚Sympathie‘ hat der Themenkreis Fieber kaum das Interesse der Anthropologieforschung gefunden.18 Die Schrift gilt als eilig und „ohne rechte Liebe zur Sache in kurzer Zeit niedergeschrieben“, da sie „zahlreiche Flüchtigkeiten sachlicher und sprachlicher Natur“ aufzuweisen scheint19. Schon die Gutachter an der Karlsschule bemängelten schließlich, der Verfasser habe, „wie man überall bemerken kann, wenig Zeit auf die Verfertigung dieser Schrift verwant“.20 Zudem war diese Schrift in eben jener „terminologischen“ Form niedergelegt, die der andere Schiller im parallelen Versuch ueber den Zusammenhang so wortreich perhorreszierte. Die Fieberschrift schien daher nicht nur unoriginell, sie war auch unter anthropologischem Blickwinkel überholt. Da von ihr keine Wechselwirkungen mit der Dichtung zu erwarten waren, blieb sie im Hinblick auf Schillers literarische Anthropologie meist unberücksichtigt. Die folgenden Streifzüge durch das Früh- wie Spätwerk sollen belegen, dass diese Auffassung zumindest verkürzt ist. Sie versuchen so etwas wie eine Ehrenrettung der unterschätzten medicina empirica Schillers. Mag die Fieberschrift einer literaturwissenschaftlichen Erschließung die größten Hürden entgegen stellen, so ist sie doch in fachhistorischer Perspektive die eigenständigste, sicher die couragier–––––––––––––– 17 18

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(SW, Bd. 5, S. 1056-1147). Zitat hier S. 1056. Die Übersetzungen lateinischer Passagen modifizieren Müllers Vorschläge an einigen Stellen. NA 20, 38. Das Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Fieberschrift ist daher kaum anders als ratlos zu nennen. Eine Ausnahme stellt lediglich Peter-André Alt dar, der in Schiller, Bd. 1, S. 172-177 eine Zusammenfassung der medizinhistorischen Befunde gibt. Das Verdienst, die Schrift aus der Perspektive der Medizingeschichte in ihrer Substanz erschlossen und in ihrer Originalität entdeckt zu haben, gebührt dem Pionierwerk von Dewhurst, Kenneth / Reeves, Nigel: Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and Literature. Berkeley/Los Angeles 1978, hier bes. der ‚Editorial Commentary’ (S. 242251). Den einlässlichsten medizinhistorischen Zugang bietet nun Irmgard Müller in ihrem Kommentar zu „Abhandlung über die Fieberarten.“ In: SW, Bd. 5, S. 13141341; vgl. dies.: „Die Wahrheit [...] von dem Krankenbett aus beweisen.“ Zu Schillers medizinischen Studien und Bestrebungen. In: Schiller: Vorträge aus Anlaß seines 225. Geburtstages. Hg. von Grathoff, Dirk / Leibfried, Erwin. Frankfurt/Main 1991, S. 112-132; weiterhin: Sutermeister, Hans Martin: Schiller als Arzt. Ein Beitrag zur Geschichte der psychosomatischen Forschung. Bern 1955 (= Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 13), S. 19-27. NA 22, 354. NA 21, 124. Riedel: Anthropologie, S. 3.

1. Die Fieberschrift

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teste „Streitschrift“21 des Karlsschülers, die nicht ohne Grund den entschiedenen Widerspruch der Fachgutachter provozierte.22 Es ließe sich geradezu die These vertreten, dass die Fieberschrift mehr als die anderen beiden Dissertationen motivische und strukturelle Nuklei der poetischen Produktion bereithält; in ihr wird das praktischmedizinische Substrat greifbar, von dem die frühe Lyrik (Anthologie), Dramatik (Räuber) und Epik (Geisterseher) zehren. Fieber ist – das wird zu zeigen sein – beim frühen Schiller zugleich pathologische wie poetologische Leitkategorie, eine Chiffre des psychophysischen Ausnahmezustandes, der verlorenen Mittellage und Temperatur, an der zwischen Anthologie und Räubern, Fieberschrift und Versuch in kontinuierlicher „Vieläugigkeit“23 und Diskursvermengung gearbeitet wird. Die Fäden schießen dabei zwischen Medizin und Dichtung hinund her. Die Ökonomie der Ekstasen, Delirien und Ausnahmezustände wird das eine Mal medizinisch-normativ, das andere Mal poetisch-experimentierend vorgeführt. Um das Phänomen Fieber formiert sich eine zugleich medizinische und poetische Weltanschauung. So wird verständlich, warum Schiller sogleich bei der Wahl eines zweiten, praxisnäheren Dissertationsthemas nach dem abgelehnten ersten Versuch auf den Fieber-Komplex zugeht.24 3. Die Auseinandersetzung mit Schillers medizinischen Schriften steht, sofern sie nicht fachgeschichtliche Rekonstruktion sein will, in ideen- und quellengeschichtlicher Perspektive. Die Austauschprozesse zwischen Pathologie und Poetologie wurden daher zumeist nur daraufhin untersucht, inwiefern hier Wissen in Literatur implementiert wird. Die These von der „Gleichursprünglichkeit“25 von Ästhetik und Anthropologie, der Verschränkung von „Wissenspoetik“ und poetischem Wissen wird kaum einmal in ihrem vollen Umfang ernst –––––––––––––– 21 22 23

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Ebd. S. 2. Vgl. das Gutachten der Leibärzte Reuß und Consbruch sowie des Chirurgen Klein, abgedruckt in SW, Bd. 5, S. 1314f. Anm. 4. Oesterle, Günter: Exaltationen der Natur. Friedrich Schillers Semele als Poetik tödlicher Ekstase. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 209-220, hier S. 213. Die Themenwahl war weithin den Kandidaten überlassen. So unterbreitete Schiller nach Ablehnung der ersten Dissertation seinen Lehrern zwei Themen für eine weitere Streitschrift: „I. Ueber den großen Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. II. Ueber die Freiheit und Moralität des Menschen“ NA 21, 124. Publiziert in Morgenblatt für gebildete Stände (Nr. 70-72), 1847. Ob für die Fieberschrift ein ähnlicher schriftlicher Vorschlag eingebracht wurde, ist wohl nicht mehr zu klären. Riedel: Anthropologie, S. 2f. Zelle, Carsten (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19).

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genommen. So ist – zumindest für Schiller – kaum bedacht worden, ob und inwiefern Kategorien, Denkformen, Strukturmodelle oder Motive des literarisch-ästhetischen Diskurses auch zu Begründungsmodellen medizinischen Denkens werden können. Während das epistemologische Substrat der poetischen Texte längst erkannt ist, scheint die Frage nach der Poetizität der wissenschaftlichen noch gar nicht gestellt. Dies gibt dem Schlagwort von der „Poetologie des Wissens“26 als einer „Lehre von den Genres und Darstellungsmitteln“ einen neuen, konkreten Sinn. Die Erkenntnis, dass „jede epistemologische Klärung“ zugleich mit einer „ästhetischen Entscheidung verknüpft“27 ist, d.h. Wissensbestände durch bestimmte Formen und Formeln nicht einfach nur vermittelt, sondern überhaupt erst konstituiert werden, trifft in besonderer Weise auf den poetischen Arzt Schiller zu. Die folgenden Untersuchungen belegen, wie sich die Wissenspoetik (in diesem Fall der Fieberschrift) durch das Wissen der Poetik und der Poesie konfiguriert – und umgekehrt. „Oeconomia morbi“ und poetische Ökonomie bilden – zumal im Frühwerk – einen Austausch- und Verweisungszusammenhang. Nicht nur zwischen Körper und Geist besteht eine „wunderbare und merkwürdige Sympathie“, sondern auch zwischen poetisierender Medizin und medizinischer Poetik. Beide Seiten des poeta medicus bilden, um noch einmal den Versuch zu zitieren, „die innigste Vermischung“28. Das Fieber besetzt in dieser Wechselwirkung als meta-poetologische Kategorie eine zentrale Stellung. Um sie zu rekonstruieren, wird es darum gehen müssen, die Schiller’sche Fieberlehre nicht auf das Erwartbare und Typische, d.h. den medizinhistorischen Stand des Fieber-Wissens um 1780, zu reduzieren, sondern eben jene letzthin poetischen Überschüsse und Residuen herauszustellen, die über die „reichlich trockene Darstellung“29 hinausweisen. Der These, dass Schiller in ihr „durchweg nur die Ansichten seiner Lehrer wieder[gibt]“30, also lediglich jene Kompendien exzerpiert, deren dogmatische Autorität in § 2 bestritten wird, ist nicht nur in medizinischer Hinsicht zu widersprechen. Irmgard Müller hat zuletzt den Fiebertraktat als ambitionierte, „eigenständige Leistung“ gewürdigt, die Schillers „umfassende Kenntnisse der zeitgenössischen Krankheitstheorien ebenso wie seine kritische Distanz zum Lehrbuchwissen der –––––––––––––– 26 27 28 29 30

Zu Begriff und Konzept vgl. Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich/Berlin 2004, S. 13. NA 20, 64. NA 22, 353-358, hier 354. NA 22, 354.

1. Die Fieberschrift

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Karlsschulärzte deutlich hervortreten läßt“.31 Jenseits des fachhistorischen Horizonts liegt hier der Gewinn, der sich aus dem Text für die Kryptogenese der Schiller’schen Ästhetik und Poetik ziehen lässt. Dieser Gewinn liegt wieder im Abhub des Doktrinalen, in den semantischen Unschärfen, rhetorisch überschießenden Bilder und in einer philosophisch-metaphysischen Spekulation, welche die Wissenspoetik der Schrift nicht nur einfärbt, sondern in ihren epistemologischen Grundeinstellungen beeinflusst. Denn auch und gerade für die Fieberschrift gilt es philologisch zu nutzen, was bereits Schillers Lehrer und Gutachter am Versuch ueber den Zusammenhang bemängelten, nämlich „jene poetische(n) Ausdrücke, welche so offt den ruhigen Gang des philosophischen Styls unterbrechen“, die Tatsache also, dass „der Verfasser sich manchmal zu viel von seiner Einbildungskraft fortreißen läßt“32, um sich damit inmitten der Medizin als Dichter zu erweisen. 1.2. Grundzüge der Fieberlehre In der Medizin des ausgehenden 18. Jahrhunderts war Fieber eine „Universalkrankheit“33, die nicht nur als Symptom, sondern als „selbständiges Krankheitsgeschehen“34 und nosologischer „Prototyp“35 galt. Nach Ursachen, Symptomen und Krankheitsverlauf wurde dabei zwischen einer Vielzahl von Fieberarten unterschieden36. Man kannte das hitzige oder das schleichende, das stetige („febris continua“) oder das Wechselfieber („intermittens“), das als Ein-, Dreioder Viertagefieber („tertiana“, „quartana“ usw.) begegnen konnte. Andere Fieber wurden nach affizierten Körperteilen klassifiziert. Es gab gastrische, exanthemische oder Nervenfieber, endemische oder –––––––––––––– 31 32 33

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Müller: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1322. NA 21, 124. Georg Friedrich Sigwart: De febre tertiana intermittente soporosa ut plurimum funesta, feliciter tamen curanda. Diss. Tübingen 1759, S. 3 (§ 1, Vorrede): „Dum alii morbi non nisi partem aliquam corporis humani infestant, hic totum, quantum quantum est, corpus pervadit torquetque: unde merito a Medicis universalis morbi nomen reportavit.“ Den besten Überblick über die Geschichte des Fiebers bietet Bynum, Wiliam F. / Nutton, Vivian (Hg.): Theories of Fever from Antiquity to the Enlightenment. London 1981 (= Medical History, Supp. 1). Müller: Kommentar; SW, Bd. 5, S. 1316. Kommentar NA 22, 354. Einen Eindruck von der Fülle der Fieberarten vermittelt Friedrich Hoffmanns Medicina rationalis, die eine mehr als 300 Seiten umfassende systematische Beschreibung aller Fieberarten enthält. Hoffmann, Friedrich: Medicina rationalis 1737, S. 1320.

II. Philosophischer Arzt und ›poeta medicus‹

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sporadische Varianten. Ebenso reich wie die Phänomenologie des Fiebers waren seine Ursachen: Kälte oder Hitze, Temperatur- und Klimawechsel, die besondere Beschaffenheit der Luft oder Ausdünstungen stehender Gewässer, mangelnder oder übermäßiger Genuss von Nahrungsmitteln oder Alkohol wurden für den Ausbruch von Fieber verantwortlich gemacht. Hinzu kamen nach der Theorie des commercium mentis et corporis und des influxus psychicus Affekte und Passionen.37 Wie der Titel verrät, wendet sich Schiller zwei antitypischen Fieberarten zu: dem ‚entzündlichen‘ und dem ‚Faulfieber‘. Nach einer Einleitung (§ 1-2), die Schillers grundsätzliches Verständnis von Krankheit, Krise und medizinischer Methodik erläutert, widmen sich § 3 bis 18 dem entzündlichen Fieber („febris inflammatoria“), das als Subspezies des „hitzigen“ („febris ardens continua“) klassifiziert wird. In § 19 bis 30 folgt die Darstellung der fauligen Fieber („febres continuae remittentes“). Für beide Spezies werden Ursachen, Symptome und Heilmittel benannt, es folgen jeweils einige Fallbeschreibungen. Am Ende der Abhandlung folgt schließlich eine dritte Spezies, das „gallig-entzündungsartige Fieber“ (§ 31-38). Ein „Ungeheuer von Krankheit“ nennt es Schiller, das „aus einem verhängnisvollen Ehebund“ von entzündlichem und fauligem Fieber hervorgeht.38 Alle drei Fieberarten deutet Schiller, hierin der Fieberlehre Hermann Boerhaaves (1668-1738) folgend, als „hydromechanisches Geschehen im Gefäßsystem, das hauptsächlich durch Blutfülle (plethora) in den Blutgefäßen, im Falle der galligen Faulfieber zusätzlich unter Mitwirkung der scharfen Galle, ausgelöst wird.“39 Schillers Fieberlehre ruht auf zwei Voraussetzungen: Einerseits auf der auf Hippokrates von Kos (ca. 460-375 v.Chr.) zurückgehenden, in der Neuzeit durch Thomas Sydenham und andere sog. NeoHippokratiker wie Boerhaave, Brendel, Consbruch, Stoll oder Sarcone reformierten Humoralpathologie, der Lehre vom Gleichgewicht („Eukrasie“) der vier Körpersäfte.40 In der Tradition der Humoralpa–––––––––––––– 37 38 39 40

SW, Bd. 5, S. 1070. § 6 summiert verschiedene „Gelegenheitsursachen“ des hitzigen Fiebers. Ebd. S. 1130: „Ex quo damnoso connubio tertium prosilit Morbi Monstrum, Febrem bilosam inflammatoriam appellant.“ Ebd. S. 1319. Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 245: „‚Humours’ are mentioned on nearly every page of his dissertation.“ Hippokrates (bzw. das Corpus Hippocraticum) und die NeoHippokratiker sind die leitenden Autoritäten der Fieberschrift. Dewhurst / Reeves sprechen von einer „overwhelming evidence of the Hippocratic foundation of Schiller’s essay“ (S. 245), vor allem für den ersten Teil der Schrift. Vgl. Versuch NA 20, 62: „In der Idee der Gesundheit ist die Idee einer gewissen Temperatur der natürlichen Bewegungen wesentlich eingeflochten.“ Das Gutachten der Lehrer Reuß und Consbruch attestiert Schiller denn auch, dass er „bey dem Mangel eigener Erfahrung,

1. Die Fieberschrift

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thologie sind Zirkulation und Gleichgewicht die Voraussetzungen eines gesunden Organismus, Schiller spricht vom „natürlichen Fluß der Gesundheit“.41 Fieber bezeichnete in diesem Rahmen eine „Bewegungsstörung“42, bei der die freie Zirkulation der Säfte, des Blutes und der Lebensgeister durch Stauungen, Verengungen und mechanische Hemmnisse behindert oder ganz unterbunden wird.43 Drang in diesen wohl temperierten, abgeschlossenen und autonomen Kreislauf eine infektiöse Materie („materia peccans“) ein und hob das Gleichgewicht der Säfte auf (Dyskrasie), so sorgte der Körper dafür, dass diese zunächst rohe Materie durch Kochung („coctio“ oder „pepsis“), d.h. durch eine Art von „Verdauungs- oder Fermentationsprozess mit Hilfe der Wärme“44, erhitzt und damit unschädlich gemacht wurde.45 In einem sich anschließenden Stadium der Entscheidung („Krise“) mussten die unverkochten Residuen im Körper dann beseitigt werden.46 ––––––––––––––

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die Erfahrung deß Hippocrates und seiner eigenen Lehrer schicklich zu benutzen waist“ (SW, Bd. 5, S. 1314). Dewhurst / Reeves S. 248 kommen zu dem Schluss „that he modified, rather than rejected, classical humoral theory.“ Die wichtigsten hippokratischen Ideen, die Schiller aufgreift, sind die Lehre von der „epidemischen Konstitution“, die Idee der „vis medicatrix naturae“, das sympathetische Band zwischen Körper und Seele, die Lehre der ‚Kochung’ und ‚Absonderung’ der Säfte sowie zahlreiche therapeutische Maßnahmen. Zum Kontext vgl. Temkin, Owsei: Die Krankheitsauffassung von Hippokrates und Sydenham in ihren ‚Epidemien‘. In: Archiv für Geschichte der Medizin 20 (1928), S. 327-352; Hell, Regina: Der Säftebegriff in den Schriften Thomas Sydenhams (1624-1689). Diss. Tübingen 2002; Müller, Ingo Wilhelm: Humoralmedizin. Physiologische, pathologische und therapeutische Grundlagen der galenischen Heilkunst. Heidelberg 1993. SW, Bd. 5, S. 1092: „Donec […] omnia ad naturalem Sanitatis Rhythmum recurrant.“ Vgl. im Versuch das „zweite Gesez der gemischten Naturen, daß mit der freien Thätigkeit der Organe auch ein freier Fluß der Empfindungen und Ideen […] verbunden sey.“ (NA 20, 63). Sutermeister: Schiller als Arzt, S. 20. SW, Bd. 5, S. 1072 (§ 8): „Ineluctabile Impedimentum humorum circulo sese opponit“; S. 1070: „Nec tamen, quam diu Circulus sanguinis, utut citatissimus musculorum ope, per venas expedite adhuc absolvitur, nec ullibi resistentiam invincibilem offendit, locus dabitur Inflammationi.“ Die nosogene Wirkung der gehemmten Blutzirkulation ist universell, nicht nur auf Fiebererkrankungen beschränkt. Vgl. den Brief an Körner vom 20.8.1788, in dem Schiller bei seinem Freund ein Hämorrhoidalleiden konstatiert: „Die Quelle der Hämorroiden aber, wie ich sie bey Dir denke, ist ein erschwerter Umlauf des Bluts durch die Gefäße des Unterleibs, durch Verdickung des Bluts, zuviele Ruhe locale Erhitzungen in diesen Theilen und vielleicht durch eine langwierige und stille Gemüthsbewegung hervorgebracht.“ NA 25, 94. Müller: Kommentar; SW, Bd. 5, S. 1319. Zusammenfassend Cunningham, Andrew: Sydenham versus Newton: The Edinburgh Fever Dispute of the 1690s between Andrew Brown and Archibald Pitcairne. In: Bynum / Nutton (Hg.): Theories of Fever, S. 71-98, hier S. 75. Zum Krankheitsgeschehen in der hippokratischen Medizin Diepgen, Paul: Geschichte der Medizin. Die historische Entwicklung der Heilkunde und des ärztlichen Lebens. Bd. 1. Berlin 1949, S. 84-86 und Eleftheridis, Anastasia: Die Struktur der hippokratischen Theorien der Medizin. Logischer Aufbau und dynamische Entwicklung der Humoralpatholo-

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Misslang dies, konnte es zu einer Verlagerung des Krankheitsstoffes oder zum Rezidiv kommen. Da Schiller mit Boerhaave Blutfülle („plethora“) als Hauptursache für die entzündlichen Fieber ausgemacht hatte47, kam es bei der Therapie darauf an, die freie Zirkulation der Säfte wiederherzustellen. Wesentliches Mittel zu diesem Zweck war der Aderlass, denn, wie Schiller schreibt, „nach Beseitigung des Hemmnisses fließt das Arterienblut wieder frei, und ungehinderter fließen die Säfte durch ihre jeweiligen Gefäße“.48 Die zweite Voraussetzung war eine epistemologische; sie betraf das Wesen der Krankheit. Schiller geht von einer Auffassung aus, wonach die Aufgabe des Arztes darin besteht, durch Differentialdiagnose jedes konkrete Krankheitsbild auf einen Typus („genus“, „character“ oder „genius morborum“) innerhalb eines klassifikatorischen Tableaus zurückzuführen, dessen Taxa die eigentliche und wesenhafte Realität der Krankheit („essentia“) enthielten.49 Schiller ist im Horizont der Medizingeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein ‚Nosologist‘. Schon der Titel der Fieberschrift – De discrimine febrium [...] – deutet die Zugehörigkeit zu dieser Diskurstradition an. Nosologie setzt ein essentialistisches und „realistisches“ Verständnis von Krankheit voraus. Der Arzt muss um die „natura morborum“50 wissen, seine Aufgabe besteht darin, ein Geflecht empirischer Krankheitszeichen auf „nosologische Konstante(n)“ und konstante Krankheitstypen zurückzuführen, die in einer vollständigen Taxonomie, einem natürlichen System der Krankheiten geordnet waren.51 Zwischen Boissier de Sauvages Nosologia und Philippe Pinels Nosographie philosophique, schreibt Foucault, „beherrscht die Regel der Klassifika–––––––––––––– 47

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gie. Frankfurt/Main u.a. 1991, S. 33f. Zum Modell der Säftelehre und seinem Umbau zum verschlossenen Körper Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 54-66. SW, Bd. 5, S. 1066: „Caussa antecedens omni Febrium phlogisticarum cohorti communis Plethora habetur. Plethora quidem ex vulgari medicorum sententia justo major est Sanguinis in systemate vasorum accumulatio, quam ad sustinendum actionum vigorem requiritur.“ Vgl. Herman Boerhaave: De cognoscendis et curandis morbis aphorismi una cum eiusdem de materia medica et remediorum formulis libello. Leipzig/Frankfurt 1758 (hier Aphorismus 106): „Plethora est copia boni sanguinis maior quam ferre possit eas mutationes, quae vitae ineuitabiles accidunt, nisi inducantur morbi.“ SW, Bd. 5, S. 1084f. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 72005 (zuerst 1963), S. 23: „essentielle(n) Krankheit.“ SW, Bd. 5, S. 1064. Sutermeister: Schiller als Arzt, S. 27 spricht ein wenig einseitig von Schillers „gewaltsame(r) Schematisierung des Krankheitsgeschehens“, die dazu geführt habe, dass er „seine Patienten, wie auch sich selbst, allzu schematisch und daher vielfach unglücklich behandelte.“

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tion die medizinische Theorie und sogar die Praxis“.52 Nosologische Systeme – „natürliche Systeme der Krankheiten“ (Nosologie naturelle) genannt – „schossen nur so aus dem Boden“.53 Linné begnügte sich noch mit 325 Gattungen, Boissier de Sauvages zählt in seiner Nosologia methodica bereits 2400 Gattungen von Krankheiten, Louis Vitet in seiner Médicine expectante (Paris 1806) immerhin über 2000.54 In der Diagnostik kommt alles darauf an, so schreibt Schiller, „das Wesen [der verschiedenen Krankheiten] zu unterscheiden“ („essentiam discrepare“), den „genius morbi“55 zu erkennen und daraus eine ‚spezifische Ökonomie‘ der Krankheit zu ermitteln, welche die „natürlichen Zeitgestalten der Krankheiten“56 einschließt. Dies liegt ganz auf der Linie Sydenhams, der großen Autorität in der Fieberlehre („Febrium dominator Sydenhamus“57). Wie er begreift auch Schiller die Fieberarten „ontologisch-realistisch“58, d.h. als überindividuelle Entitäten. Nicht der Kranke, sondern die Krankheit ist Gegenstand der Erkenntnis. So kann nur Erfolg haben, wer in der Lage ist, vom individuellen Erscheinungsbild zu abstrahieren und „die Bilder, die Typen, das Wesentliche und Bleibende der Krankheiten“ herauszuarbeiten.59 „Daher“, so resümiert Schiller, „kommt es in der Praxis entscheidend darauf an, die spezifische Ökonomie beider Fieberarten und ihre unterschiedlichen Charaktere auf ihre natürliche Norm [sc. den Typus] zurückzuführen, um schließlich desto leichter den Weg –––––––––––––– 52 53

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Foucault: Geburt der Klinik, S. 20. Lesky, Erna: Medizin im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1968, S. 77-99, S. 88; Karst, Wilhelm: Zur Geschichte der natürlichen Krankheitssysteme. Berlin 1941; Goldschmid, Edgar: Nosologia naturalis. In: Science, Medicine and History. Hg. von Edgar Ashworth-Underwood. Bd. 2. Oxford 1953, S. 103-122. Die klassische Studie, die materialreich über die Prinzipien der Nosologie naturelle informiert, ist Michel Foucaults Die Geburt der Klinik, hier bes. S. 19-37 und 186-205 („Die Krise der Fieber“); fortgeführt von Wolf Lepenies in: Das Ende der Naturgeschichte und der Beginn der Moderne. In: Koselleck, Reinhart (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 317-351, hier bes. S. 331-338 („Von der Nosographie zur Krankengeschichte“); modifiziert in ders.: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1978, hier S. 78-87 („Von der Nosographie zur Krankengeschichte“). Lepenies: Studien, S. 332. SW, Bd. 5, S. 1130 (§ 32): „[U]niversum genium morbi“ (1130). Hartmann, Fritz: Thomas Sydenham (1624-1689). In: Engelhardt, Dietrich von / Hartmann, Fritz (Hg.): Klassiker der Medizin. Bd. 1: Von Hippokrates bis Christoph Wilhelm Hufeland. München 1991, S. 154-172, hier S. 155. SW, Bd. 5, S. 1144. Probst, Christian: Der Weg des ärztlichen Erkennens am Krankenbett. Herman Boerhaave und die ältere medizinische Schule. 2 Bde. Wiesbaden 1973, hier Bd. 1: (17011787). Wiesbaden (= Sudhoffs Archiv, Beiheft 15), S. 27. Hartmann: Sydenham, S. 160.

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zur Behandlung zu bahnen.“60 Die nosologische Wahrheit liegt nicht im empirischen Fall, d.h. an der Oberfläche der oft trügerischen, sich verlarvenden Symptome61, sondern im reinen Wesen, das durch eine scharfsichtige physiognomische Detektion der Krankheitszeichen herausgearbeitet werden muss. Diese typologische Krankheitsauffassung widerspricht nicht notwendig dem empiristischen Ansatz. Wie die Biologie setzt auch die Medizin der Spätaufklärung auf die gleichzeitige Verbindung von „Empirie und System“62. Nur die exakte ‚empirische’ Beobachtung der kleinsten Symptome stellt die richtige Zuordnung zu einem Krankheitstypus sicher. Begründer dieses „ontologische(n) Krankheitsbegriff(s)“63 ist ein medizinischer Klassiker des 17. Jahrhunderts, mit dem sich Schiller in der Fieberdissertation an exponierter Stelle auseinandersetzt, der bereits erwähnte ‚englische Hippokrates‘ Thomas Sydenham (16241689)64. Sein Ansatz forderte eine Synthese von empirischer Beobachtung und botanischer Klassifikation, von induktiver Methode und realistischem System. Einerseits erhob Sydenham in seinen Observationes Medicae65 die Forderung nach einer empirischen Medizin, die von einer präzisen Erfassung der Symptome („descriptio […] graphica & naturalis“) ausgehend zu einer methodisch reflektierten Praxis („praxis seu methodus“) gelangen müsse.66 In der Empirie des ärztlichen Blicks am Krankenbett lag für Sydenham und seine Schüler der hippokratische Anteil ihrer Methode.67 Dieser moderne Hippokrates steht indes im Zeichen Bacons und des naturwissenschaftlichen Empirismus.68 An Hippokrates wird ge–––––––––––––– 60 61 62 63 64 65 66 67 68

SW, Bd. 5, S. 1060: „[…] Quare in praxi medica summi momenti est, oeconomiam utriusque specificam ac characteres distinctivos ad normam Naturae tradidisse ut eo facilior ad ipsam denique Therapiam Via sternatur.“ Ebd. S. 1088: „[F]allax hujus pulsus imago.“ Jahn, Ilse: Biologische Fragestellungen in der Epoche der Aufklärung (18. Jh.). In: Dies. (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Jena/Lübeck u.a. 31998 (zuerst 1982), S. 231-273, hier S. 235. Probst: Boerhaave, S. 12. Dewhurst, Kenneth: Dr. Thomas Sydenham (1624-1689). His Life and Original Writings. Berkeley/Los Angeles 1966; Brinkmann, Hellmut: Thomas Sydenham (16241689). Die Einflüsse des Hippokratismus auf seine Medizin. Diss. Hamburg 1970. Thomas Sydenham: Observationes Medicae circa morborum acutorum historiam et curationem. London 1676. Übersetzungen im Folgenden von J.R. Sydenham: Observationes, Fol. a (1)r. Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 245. In der Tat war die Differenz zum großen Vorbild Hippokrates unübersehbar. Hippokrates stellte den erkrankten Menschen ins Zentrum, wo Sydenham an der Krankheit selbst (als Idee, Typus, Spezies usw.) ansetzte. Empirisch waren durchaus beide orientiert, doch kam der Erfahrungstatsache ein anderer logischer Status zu. Wo Sydenham auf Subsumtion zielt, das einzelne als Fall und Beispiel des Allgemeinen

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schätzt, dass er sich der exakten Aufnahme der Phänomene verschrieben habe, ohne Rückgriff auf spekulative Hypothesen („nullâ Hypothesi adscitâ“).69 Lange bevor Newton diese Haltung in die Devise „Hypotheses non fingo“70 goss, war sie von Sydenham fast wörtlich und unter Berufung auf Bacon reklamiert worden. Gewiss ist der medizinische Empirismus der Spätaufklärung „in seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis am Vorbild Isaac Newtons orientiert“71; dennoch konnte er sich auf Traditionen des eigenen Fachs berufen, eben jene Linie der medizinischen Praxis, die von den Gründervätern Sydenham und Boerhaave bis zu Hallers Experimentalphysiologie oder Zimmermanns Konzept der „Erfahrung in der Arzneykunst“ reichte, und in der die Medizin der Karlsschule insgesamt verankert war.72 In diese Forderung stimmt Schiller schon mit dem ersten Satz der Fieberschrift ein: „Ich glaube kaum, dass ein Wissen, das auf das Wohlergehen der Menschen zielt, sich aus hohler Theorie schöpfen lässt“.73 Beide Linien – die der Physik und der Medizin – können im 18. Jahrhundert auch deshalb wieder konvergieren, weil sie ursprünglich von einem gemeinsamen Ausgangspunkt, der Baconschen Wissenschaftsrevolution und empirischen Wende, ausgegangen waren. Die Abneigung gegen bloße Theorie und Spekulation steht vor dem Hintergrund der Vorurteilskritik des Novum Organon („idola theatri“). Sydenham fordert fast gleich lautend, dass „bei der Abfassung der Krankheitsgeschichte für eine Weile jede philosophische Hypothese beiseite gelegt werden müsse, die das Urteil des Verfassers einnimmt“.74 ––––––––––––––

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(des Typus) betrachtet, bedeutet für Hippokrates Krankheit „die Vielheit der Erkrankungen“, wobei sich jeder Erkrankungsfall „auf den ganzen Menschen“ bezieht. Temkin: Krankheitsauffassung, S. 340. Anders als für Sydenham war für Hippokrates „die Unterordnung eines Kranken unter einen bestimmten Krankheitstypus nicht das erstrebenswerte Ideal“; für ihn gab es „nur eine unzählige Menge von ‚Fällen’ kranker Menschen […] und gerade die Erkenntnis der Eigenart jedes einzelnen ‚Falles’ [macht] das wesentliche aus.“ Ebd. S. 337. Sydenham: Observationes, Fol. a6v. Das Motto erscheint zum ersten Mal im „Scholium generale“ im Anhang der 2. Ausgabe der Principia (1713). Newton, Isaac: Philosophiae naturalis principia mathematica, the third edition (1726). Hg. von Alexander Koyré und I. Bernhard Cohen. 2 Bde. Harvard 1972, hier Bd. 2, S. 764. Riedel: Anthropologie, S. 102. Ebd. SW, Bd. 5, S. 1056: „nec scientiam, hominum saluti innixam inani Theoria exhauriri posse, facile credo.“ Sydenham: Observationes, Fol. A3r: „[I]n scribendâ morborum Historiâ, seponatur tantisper oportet quaecunque Hypothesis Philosophica, quae scriptoris judicium praeoccupaverit.“

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Sydenham schwebt eine historia morborum vor, die sich am Modell der allgemeinen Naturgeschichte, insbesondere der Botanik, orientiert. In der Einleitung seiner Observationes entwirft Sydenham ein methodisches Projekt, das sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzen wird: Zunächst empfiehlt es sich, alle Krankheiten auf bestimmte und zuverlässige Gattungen zurückzuführen, und zwar mit der gleichen Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit, wie die Botaniker dies in ihren Pflanzenbüchern tun. Denn es kommen Krankheiten vor, die einer Klasse oder einem Begriff zugeordnet werden, weil einige Zeichen übereinstimmen, und die doch unterschiedliche Heilmethoden verlangen, weil sie ihrer Natur nach voneinander verschieden sind.75

Für Sydenham bildet die Nosologie ein taxonomisches Feld, bei dem es darauf ankam, aus einer verwirrenden Fülle von Symptomen stabile Entitäten zu ermitteln und einer bestimmten Gruppe zuzuordnen, vergleichbar den Arten, Gattungen und Gruppen der Botanik oder der Zoologie. Seiner Anregung ist es zu verdanken, dass das essentialistische Modell der Krankheit zum analytischen Normalmodell und das 18. Jahrhundert zum „initial golden age of classification“ wird76. So kommt es in der Folge zu bemerkenswerten Austausch- und Interferenzprozessen. Die Botanik erfüllt dabei Leitfunktion für die Medizin. Will Sydenham die Medizin der Botanik angleichen, so greift Carl von Linné, der in Uppsala zunächst Professor der Medizin ist, die Sydenhamsche Anregung einer historia naturalis morborum auf, um sie in der Botanik zu verwirklichen.77 1763 legt Linné ein eigenes System der Krankheiten (Genera morborum) vor. –––––––––––––– 75

76 77

Ebd. Fol. a2r: „Primò, expedit ut morbi omnes ad definitas ac certas species revocentur, eâdem prorsus diligentiâ ac aökribeißa# quâ id factum videmus à Botanicis scriptoribus in suis Phytologiis. Quippe reperiuntur morbi qui sub eodem genere ac Nomenclaturâ redacti, ac quoad nonnulla symptomata sibi invicem consimiles, tamen & naturâ inter se discreti diversum etiam medicandi modum postulant.“ Übersetzungen – wo nicht anders vermerkt – vom Verf. Pichot, Pierre: The Concept of Psychiatric Nosology. In: Schramme, Thomas / Thome, Johannes: Philosophy and Psychiatry. New York u.a. 2004, S. 83-93, hier S. 83; Foucault: Geburt der Klinik, S. 102-120. Die Brücke zwischen den Disziplinen bildeten seine Lehrverpflichtungen über Materia medica (pharmazeutische Botanik), die in der Ausbildung der Mediziner eine bedeutende Rolle spielte. Jahn: Biologische Fragestellungen, bes. S. 236; Jahn, Ilse / Schmitt, Michael: Carl Linnaeus (1707-1778). In: Dies. (Hgg.): Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits. München 2001, S. 9-30 (bes. S. 23-28); Goerke, Heinz: Carl von Linné. Arzt – Naturforscher – Systematiker. Stuttgart 1989, S. 133-150 („Arzt und Lehrer der Heilkunde“), hier S. 135; Hjelt, Otto Edvard August: Carl von Linné als Arzt und seine Bedeutung für die medicinische Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin. Leipzig 1882; Lefèvre, Wolfgang: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt/Main 2009, S. 210-245.

1. Die Fieberschrift

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Sydenhams Traum, der Botaniker der Krankheiten zu werden, wird Mitte des 18. Jahrhunderts von vielen Medizinern geträumt. Immer wieder wird dabei Sydenhams eben zitiertes Credo als Anregung und Auftrag verstanden. Dies gilt z.B. für François Boissier de Sauvages (1706-1767), Linnés Freund und Briefpartner, der selbst Mediziner und Botaniker in Personalunion war. Angeregt durch Linné unternahm er den Versuch, in seiner Nosologia methodica sistens morborum classes, Genera et species (4 Bücher, 1763) eine Klassifikation der Krankheiten zu entwerfen, die Linnés Prinzipien in die Medizin reimportierte. Boissiers erster Versuch einer Taxonomie der Krankheiten (Traité des classes des maladies) war im selben Jahr (1731) erschienen wie Linnés Genera plantarum.78 Linné schrieb an Boissier, die Symptome seien hinsichtlich der Krankheiten, „was die Blätter und die Stützen für die Pflanzen sind“.79 Der Untertitel von Boissiers Traktat – „Juxta Sydenhami Mentem et Botanicorum ordinem“ („im Geiste Sydenhams und nach der Ordnung der Botaniker“) – unterstrich, dass er die Anregung zur Botanik letztlich der Praefatio zu den Observationes verdankte, die im kollektiven Gedächtnis der Fachwelt nach wie vor präsent war. Auch die Medizin unterstand damit jenem Geist des Unterscheidens und Klassifzierens, den Michel Foucault am Beispiel der Naturgeschichte und des Linnéschen Systems beschrieben hat.80 Auch Sydenham und Schiller partizipieren an einer Wissensordnung, in der „die Kenntnis der empirischen Einzelwesen nicht anders als durch eine kontinuierliche, geordnete und allgemeine Übersicht (tableau) aller möglichen Unterschiede erworben werden kann“.81 Noch Kant wird in der Kritik der reinen Vernunft die Prinzipien von Fülle und Kontinuität als regulative Prinzipien der Biologie und der anderen Wissenschaften anerkennen: „datur continuum formarum“.82 Als Schiller seine Fieberschrift verfasste, war der Geist des Systems, die Suche nach den „genera“ bzw. „species morborum“ als eine –––––––––––––– 78 79 80 81 82

Foucault: Geburt der Klinik, S. 103. Nach Koselleck: Studien, S. 332. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main 1974 (= stw 96), S. 165-210. Ebd. S. 188. Kant: Werke, Bd. 4, S. 576 (KdrV): „(D)atur continuum formarum, d.i. alle Verschiedenheiten der Arten grenzen an einander und erlauben keinen Übergang zu einander durch einen Sprung, sondern nur durch alle kleinere Grade des Unterschiedes, dadurch man von einer zu der anderen gelangen kann; mit einem Worte, es gibt keine Arten oder Unterarten, die einander (im Begriffe der Vernunft) die nächsten wären, sondern es sind noch immer Zwischenarten möglich, deren Unterschied von der ersten und zweiten kleiner ist, als dieser ihr Unterschied von einander.“ Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt/Main 1993 (zuerst 1936) (= stw 1104), S. 290f.

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Suche nach den Identität verbürgenden Unterschieden das alles bestimmende Modell von Wissenschaft und Linné ihre überragende, längst sprichwörtliche Autorität.83 Es verwundert daher nicht, wenn auch der Erzähler Schiller das taxonomische Denken aus Medizin und Botanik aufgreift und in die Psychologie zu übertragen sucht. In der Einleitung zum Verbrecher spielt er mit der Idee, „für das Menschengeschlecht ein Linnäus“ zu werden, der „nach Trieben und Neigungen klassifiziert“, und dabei eine „Ordnung“ der „Verirrungen“ und Laster – gleichsam ein Systema errorum bzw. vitiorum – konstruiert, das die medizinisch-botanische methodus einer ärztlichen Generalisierkunst nun auch in die empirische Psychologie übertragen sollte. Dies war keine Verletzung der „Grenzengerechtigkeit“ der Disziplinen, sondern Ausdruck der universalen Geltung eines Wissenschaftsund Ordnungsparadigmas, das bei Schiller nun auch zum Modell der empirischen „Seelenkunde“84 und der literarischen Anthropologie avancierte.85 1.3. Ordnungswissen Mag der junge Schiller wiederholt gegen die „Spinnweben von Systemen“ zu Felde ziehen, so bleibt doch der taxonomische Impuls sowohl in der ästhetischen Theorie als auch in der Dichtung gegenwärtig. „Der Mensch“, schreibt Schiller in der Geschichte des Abfalls der –––––––––––––– 83

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Vgl. Schlegel: Fragmente [345]: „Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Linné die verschiedenen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philosophierende Ich nicht mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt würde.“ KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 226. Dagegen in der Lucinde: „Darum gibt es in der weiblichen Liebe keine Grade und Stufen der Bildung, überhaupt nichts allgemeines; sondern so viel Individuen, so viel eigentümliche Arten. Kein Linné kann uns alle diese schönen Gewächse und Pflanzen im großen Garten des Lebens klassifizieren und verderben.“ Ebd. 1. Abt. Bd. 5, S. 22. NA 16, 9. Eine ironische Wendung gibt Schiller dem Taxonomieprojekt in der dritten Dissertation. Deren Physiognomie-Kapitel (§ 22) schließt mit einem süffisanten Ausblick auf die von Lavater geplante „Physiognomik organischer Theile, z.E. der Figur und Grösse der Nase, der Augen, des Mundes, der Ohren u.s.w. der Farbe der Haare, der Höhe des Halses u.s.f.“, deren Durchführbarkeit Schiller bezweifelt. In dieser Aufzählung sind Äquivalente zu den 26 Einzelcharakteristiken des Linnéschen Gattungssystems benannt, und so kann Schiller Linné und Lavater – selbstverständlich ironisch – in eine ‚Klasse’ ordnen: „Wer die launichten Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft, und mütterlich beschenkt hat, unter Klassen bringen wollte, würde mehr wagen, als Linné, und dürfte sich sehr in Acht nehmen, daß er über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines würde.“ NA 20, 70.

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Niederlande, „kömmt durch Klassifikation seiner Beschränkung zu Hülfe, gleich dem Naturforscher setzt er Kennzeichen und eine Regel fest, die seinem schwankenden Blick die Uebersicht erleichtert, und wozu sich alle Individuen bekennen müssen“.86 Selbst da, wo Schiller „viel Kantischen Einfluß“87 einräumt, z.B. in der Schrift Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (entstanden 1791, gedruckt 1792)88, bricht sich methodisch eine in Fleisch und Blut übergegangene ärztliche Unterscheidungskunst Bahn, die man nicht abschätzig als „philosophische Einteilungslust und Abgrenzungswut“89 werten sollte. In ihr äußert sich vielmehr ein aus dem Wissenschaftsbegriff der Zeit resultierender Wille zum System. Die angestrebte „bündige Theorie des Vergnügens“ und „Philosophie der Kunst“90 setzt die medizinisch-botanische Systematik fort. Schiller rezipiert gleichsam Kant im Lichte Linnés, indem er der Kritik der Urteilskraft sein Systema artis tragicae entgegenstellt, in dem nun nach Herzenslust geordnet, hierarchisiert und klassifiziert werden kann. „Artis tragicae theoriam illustrabit exemplis, quae Tragicorum principes tam veteres quam recentiores subministrabunt“ – so hatte Schiller jenes Kolleg im Sommersemester 1790 angekündigt, auf das die Schrift zurückgeht.91 Methodisch kommt es also zu einer Überlagerung medizinischer, poetologischer und kritischer Ansätze, die für die diskursive Physiognomie der „Übergangsschriften“ nach der Begegnung mit dem Kritizismus kennzeichnend ist.92 Die Reformulierung Kantischer Systematik vor einem älteren Wissensmodell hebt sich besonders dort ab, wo Schiller scheinbar unmittelbar Kantische Themen übernimmt. Wenn man Schillers Bemühungen um eine „Eintheilung der Künste“ in „Kunstklassen“ mit dem entsprechenden Kapitel Von der Einteilung der schönen Künste (KdU § –––––––––––––– 86 87 88

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NA 17, 55 (Abfall der Niederlande). An Körner 4.12.1791; NA 26, 116. NA 20, 133-147. Zur Schrift vgl. die Beiträge von Carsten Zelle: Schiffbruch vor Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers Abhandlungen über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 34 (1990), S. 289-316; ders. Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts. In: Gendolla, Peter / Zelle, Carsten: Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Heidelberg 1990, S. 55-91; ders.: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 364-374. Koopmann: Denken in Bildern, S. 239. NA 20, 134. NA 41/II A, 311: „Er [Schiller; J.R.] wird die Theorie des Trauerspiels mit Beispielen vorführen, welche die besten Tragiker – alte wie neuere – beisteuern werden. Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 87. Zelle: Über den Grund des Vergnügens, S. 366.

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51 ff.) vergleicht, fällt sogleich auf, mit welch unerbittlichem Systemwillen hier Kants eher laxe und tentative Untergliederung der Künste nach der „Analogie der Kunst mit der Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen“, aufgegriffen wird.93 Demonstrativ gleichgültig hatte Kant auf jeden Versuch verzichtet, seine „Einteilung auch dichotomisch ein[zu]richten“, also im Geiste der obsoleten, seit Bacon immer wieder als pedantisch verspotteten ramistischen Dialektik mit ihren zweigliedrigen Dihäresen und Dichotomien. Schiller sucht dagegen Ordnung im ästhetischen Tableau, daher der neo-scholastische Zug, das „Universitätsmäßige“ auch dieser Abhandlung.94 Entsprechend dichotomisch werden die „Schönen“ und die „Rührenden Künste“ in jene eine „besondere Klasse“ verwiesen.95 Noch deutlicher wird der Wille zum System in der „Taxonomie“96 der Tragödienformen, die Schiller auf die wirkästhetische Bestimmung des „moralische(n) Vergnügens“ an der Tragödie im Horizont der Theorie des Erhabenen folgen lässt. Es sei dahingestellt, ob Schillers Ableitung der tragischen Lust aus dem Erhabenen, wonach „das höchste Bewußtseyn unsrer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustand, im Kampfe, erhalten werden kann“97, in ihrem Rigorismus „dem preußischen Militarismus“ präludiert oder gar „nach allem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts als terroristisch erscheinen [muss]“.98 Hervorzuheben ist jedoch die doppelte, inhaltliche wie formale Affinität des Themas zu den anthropologisch-medizinischen Traktaten der Karlsschulzeit. Inhaltlich liegt dies einmal mehr in der unverbrüchlichen Wahlverwandtschaft von Poetologie und Pathologie begründet, in dem Umstand also, dass Schillers Theoria artis tragicae nicht nur eine Theorie des „moralische(n) Vergnügen(s)“, sondern – notwendig – auch eine Theorie der psycho-physischen Unlust, d.h. eine Poetik des Schmerzes ist.99 –––––––––––––– 93

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Kant: Werke, Bd. 8, S. 422 (Kritik der Urteilskraft). Ausdrücklich distanziert sich Kant in der Fußnote sogar von jedem systematischen Interesse: „Der Leser wird diesen Entwurf zu einer möglichen Einteilung der schönen Künste nicht als beabsichtigte Theorie beurteilen. Es ist nur einer von den mancherlei Versuchen, die man noch anstellen kann und soll.“ Koopmann, Helmut: Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant. In: Ders. (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 575-586, hier S. 578 (bezogen auf Ueber die tragische Kunst). NA 20, 136 bzw. 137. Zelle: Über den Grund des Vergnügens, S. 370. NA 20, 139. Zelle: Über den Grund des Vergnügens, S. 373. Borgards, Roland: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007.

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Vielleicht war es diese Pathologik des Lust durch Unlust-Ansatzes, vielleicht auch der Wille zur integralen Tragödientheorie, die Schiller an das taxonomische Ideal des nosologischen Tableaus erinnert hat. Immerhin: der zweite Hauptteil der Schrift setzt mit einem taxonomischen Kalkül ein. Schiller will das konträre Verhältnis seiner beiden Parameter – moralische vs. Naturzweckmäßigkeit – dazu nutzen, „eine Stuffenleiter des Vergnügens von der untersten biß zur höchsten hinaufzuführen und den Grad der angenehmen oder schmerzhaften Rührung a priori aus dem Prinzip der Zweckmäßigkeit angeben.“ Konsequent wird die enkaptische Ordnung der Taxonomie, wie sie Linné und die Nosologen anwendeten, auf die Kunst übertragen.100 Die scala naturae wandelt sich zur Scala artis tragicae.101 Aus der empirisch, gleichsam nach Lustquanten gemessenen Hierarchie tragischer Wirkungen ergeben sich „bestimmte Ordnungen der Tragödie“ und „alle mögliche(n) derselben“, die man „in einer vollständigen Tafel erschöpfen“ könnte, gewissermaßen, um Boissiers Nosologia zu zitieren: „secundum Sydenhami mentem et Botanicorum ordinem“. Ein solches Schema würde es ermöglichen, „jeder gegebenen Tragödie ihren Platz anzuweisen“ und – Kalkül des poetischen Arztes und seines prognostischen Blicks102 – „den Grad sowohl als die Art der Rührung im voraus zu berechnen, über den sie sich, vermöge ihrer Species nicht erheben kann“.103 Es ist zu bedauern, dass Schiller seine Ankündigung nicht wahr gemacht hat, „diese(m) Gegenstand [in] einer eigenen Erörterung“ weiter nachzugehen. Deutlicher als in dieser Skizze hätte sich in ihr die diskursive Ambivalenz von Ästhetik und Nosologie, von Kant und Consbruch gezeigt. Der taxonomische Impuls bleibt jedoch unterschwellig gegenwärtig, etwa in den dichotomischen Unterscheidungen der ästhetischen –––––––––––––– 100 Dies gilt auch für die Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände (ersch. Oktober 1794), die so beginnen (NA 20, 222): „Alle Eigenschaften der Dinge, wodurch sie ästhetisch werden können, lassen sich unter vielerley Klassen bringen, die sowohl nach ihrer objectiven Verschiedenheit, als nach ihrer verschiedenen subjectiven Beziehung auf unser leidendes oder thätiges Vermögen ein nicht bloß der Stärke sondern auch dem Werth nach verschiedenes Wohlgefallen wirken.“ Weiter unten ist von einer „Klassifikation der ästhetischen Gegenstände“ die Rede (ebd. S. 224). 101 Dazu die klassische Studie von Lovejoy: Die große Kette der Wesen, bes. Kap. VIII („Die Kette der Wesen und die Biologie des 18. Jahrhunderts“), S. 274-292 und S. 359364 (zu Schillers Philosophischen Briefen); zur Rezeption der Vorstellung von der „Great chain of being“ in Schillers medizinischen Schriften vgl. Riedel: Anthropologie, S. 111-121. 102 Vgl. Boerhaave: Aphorismi, S. 6: „Dirigitur illa applicatio (5.) a mente praescia futuri effectus: quo exigitur scientia generalis legum, iuxta quas actiones illae exercentur; vnde itaque doctrina signorum, & methodi medendi, necessaria est.“ 103 NA 20, 141.

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Schriften wie z.B. Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Unterschieden werden nun nicht mehr komplementär-gegensätzliche genera morborum, sondern „Vorstellungsarten“ und „Empfindungsweisen“, Dichter von der „sentimentalischen“ und der „naiven Gattung“104, die Schiller als psychologische Typen, Grundkomplexionen oder Temperamente behandelt. Der Traum von der „vollständigen Tafel“ der Tragödie erfährt seine Ausweitung in dem „Dichtungsstemma“105, mit dem Schiller beide typologischen Sphären entfaltet, um dann doch nur die „sentimentalische“ nach ihren „Species“106 und Subspezies (satirische vs. elegische Dichtung usw.) zu entfalten. Im Übrigen überdauert Schillers Sinn für graphische Repräsentationen des Wissens, Grade und Stufenleitern auch die Phase der ästhetischen Spekulation, wie die beiden „Schemata über den Dilettantismus“ verraten. Goethe weiß „Schillers philosophischen Ordnungsgeist“ zu schätzen und sieht ihn nachdrücklich durch die „Notwendigkeit von tabellarischer und symbolischer Behandlung“107 gerechtfertigt: Wir zeichneten zusammen jene Temperamentenrose wiederholt; auch der nützliche und schädliche Einfluß des Dilettantismus auf alle Künste ward tabellarisch weiter ausgearbeitet, wovon die Blätter beidhändig noch vorliegen. Man nahm sie von Zeit zu Zeit wieder auf, prüfte sie, stellte sie um.108

–––––––––––––– 104 NA 20, 435. 105 Zelle, Carsten: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 476. Man vergleiche das hier rekonstruierte ‚Stemma’ – Schiller spricht von „Tafel“ – mit den Tabulae / Diagrammen der zeitgenössischen Biologie. Daraus wird schnell deutlich, dass Schiller in der Tat mit einem solchen Diagramm gearbeitet haben muss. 106 NA 20, 466: „Es bleiben mir noch einige Worte über diese dritte Species sentimentalischer Dichtung [sc. zur Idylle; J.R.] zu sagen übrig.“ 107 Die ‚natürlichen Systeme’ eines Linné und seiner Abkömmlinge lehnte er gleichwohl vom Standpunkt des Vitalismus ab: „Natürlich (!) System: ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.“ Probleme. MA Bd. 12, S. 294. 108 Goethe: Tag und Jahreshefte 1799 (BA Bd. 16, S. 62). Eine vielleicht weiterführende Spekulation zum naturgeschichtlichen Substrat der klassischen Ästhetik sei hier erlaubt: Möglicherweise führt ja von der Botanik und Zoologie mit ihren „Stufenleitern“ der Wesen auch ein Weg in den ästhetischen Staat. Linné hatte seine Tier- und Pflanzenarten in eine hierarchische Ordnung gebracht, die drei „Reiche“ (regna) unterschied (Mineralien, Pflanzen, Tiere), die wiederum in Klassen (classes), Ordnungen (ordines), Gattungen (genera) und Arten (species) unterteilt wurden. Die Disposition spricht sogar von „imperium Naturae.“ Vielleicht liegt in dieser zoologischen DreiReiche-Lehre auch der Schlüssel zur Idee der ästhetischen Reichsgründung der Briefe 26 und 27. Der ästhetische Staat hat zwei Quellen: 1. die augustinische ecclesia invisibils und civitas dei („die reine Kirche“, NA 20, 412), 2. die hierarchische Ordnung der Natur in imperia oder regna der Zoologie bzw. Naturgeschichte mit ihren hierarchischen Unterscheidungen und ‚Skalen’ vom „Elementarreich“ (NA 20, 406)

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1.4. Vom Ursprung der Krankheit Unter den Argumenten, die – wohl zu Unrecht – die Ablehnung der Fieberdissertation durch die Gutachter Reuß, Consbruch und Klein provozierten109, nimmt eines eine herausgehobene Stellung ein. Nicht so sehr der „Mangel eigener Erfahrung“ als Schillers Auffassung von Entstehung und Ausbruch der Krankheit waren Stein des Anstoßes, denn „die Stelle § 2. Materia morbosa per se hostilis non est, könnte zu manchen Irrungen in der Cur Anlaß geben.“110 Schiller vertritt an der genannten Stelle die These, „der krankmachende Stoff [sei] nicht an sich feindlich“, sondern werde dies erst durch eine die Gesundheit beeinträchtigende Agitation der Lebenskräfte („Virium animalium turbas“), die er verursache. Dies bedeutete in der Tat eine Provokation für die neo-hippokratische Lehrmeinung. In dieser Hypothese lag Schillers sichtbare Eigenleistung, ein „occasional glimpse of originality“111 inmitten eines vermeintlichen Schülerwerkes. Liest man den betreffenden § 2 aufmerksam, so zeigt sich, dass diese Eigenleistung weniger unter medizinisch-physiologischem als unter philosophischweltanschaulichen Vorzeichen steht. Die Nosologie bietet Schiller die verdeckte Gelegenheit zu einer Reflexion über Theologie und Metaphysik, genauer: über die Frage nach der Theodizee bzw. Physeodizee. In der Beschäftigung mit Wesen und Genese der Krankheit im Zusammenspiel von materia peccans und Körper wird das Problem der zweckmäßig-teleologischen Einrichtung des Menschen wie der Natur mit gestellt. Die Theorie der Krankheit und die des „kranken Weltplans“112 teilen eine philosophische Struktur und Semantik. Schillers Widerspruch gegen die Fieberlehre seiner Lehrer zeigt selbst je––––––––––––––

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oder „Reich der blinden Masse“ (S. 398) über die „niedrigsten Naturen“ bis zum „Reich des schönen Scheins“, das sich in der scala naturae „aufwärts“ erstreckt, „bis wo die Vernunft mit unbedingter Nothwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört“ (S. 411). Es wäre reizvoll, die beiden kultur- und entwicklungsgeschichtlichen Schlussbriefe der Ästhetischen Erziehung, in denen systematisch die Anthropogenese einbezogen wird, einmal konsequent vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Biologie (richtiger: der Zoologie) und Naturgeschichte zu lesen. Schiller als Biologe – von dieser Hypothese her könnte noch einmal neues Licht auf die notorisch irisierende Metaphorologie des Politischen fallen. Möglicherweise hat Schiller eine platonische Ontologie (vgl. Das Reich der Schatten), die seit den Philosophischen Briefen im Bild von der „Leiter“ der Wesen bzw. der „tausendfache(n) Stuffen / zahlenloser Geister“ präsent war, vor dem Hintergrund botanisch-zoologischer Taxonomien reformuliert. So die Einschätzung von Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 248. SW, Bd. 5, S. 1314. Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 249. NA 1, 166 (Resignation; v. 54).

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nen „Fieberparoxysmus“113 des Zweifels, den Schiller seine literarischen Stellvertreter Julius, Franz oder den Prinzen durchleben lässt. Die Fieberschrift ist ein wissenschaftlicher Nebenschauplatz der Skeptizismus-Debatte. Der Zweifel an einer guten, sich selbst heilenden Natur, steht im Zeichen einer frühen Teleologie- und Theodizeeskepsis, die der beschriebenen Kompensationsstruktur nach dem Schema bonum durch malum die Gefolgschaft aufkündigt.114 Doch zunächst zu Schillers Argumentation. § 2 setzt ein mit der Polemik gegen einen Fundamentalsatz aus Sydenhams Observationes, der zum eisernen Bestand der Neo-Hippokratiker des 18. Jahrhunderts gehörte. Er lautet im originalen, bei Schiller nur geringfügig veränderten Wortlaut: Die Vernunft nötigt zu der Annahme, dass Krankheit, wie sehr auch immer ihre Ursachen dem menschlichen Körper feindlich sind, nichts anderes ist als der Versuch der Natur, den krankmachenden Stoff mit aller Kraft und zum Wohl des Kranken zu entfernen.115

Gott habe dem Menschen zwar anfällig gemacht für äußere Einflüsse (z.B. kontagiöse Miasmen). Doch die Natur selbst sei es, die sich Abhilfe schaffe, indem sie die materia peccans aus dem Körper ausscheide.116 Selbst Krankheiten wie Pest oder Arthritis seien therapeutische Mittel der Natur.117 Fieber erklärt Sydenham daher als „Werkzeug der Natur, durch das sie die unreinen von den reinen Teilen absondert.“118 Die hier aufscheinende Vorstellung einer „vis medicatrix naturae“ war, wie gesagt, communis opinio aller Neo-Hippokratiker der Zeit. Fieber bezeichnete „eine zweckgerichtete Reaktion des Organismus, der sich gegen eine pathogene Attacke oder –––––––––––––– 113 NA 20, 108 (Philosophische Briefe). 114 Exemplarisch: Marquard, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 2005, S. 39-59. 115 Sydenham: Observationes, S. 1. (Sectio prima, Caput I De morbis Acutis in genere): „Dictat ratio […] Morbum, quantumlibet ejus Causae humano corpori adversentur, nihil esse aliud quàm Naturae conamen, materiae morbificae exterminationem, in aegri salutem, omni ope molientis.“ 116 Ebd. S. 2: „Hisce rerum circumstantiis, ita intimè essentiae humanae intertextis complicatisque, ut nemo quisquam se ab illis in solidum queat liberare, Natura de ejusmodi methodo ac symptomatum concatenatione sibi prospexit, quibus materiam peccantem atque alienam, quae totius Fabricae compagem aliter solveret, è suis finibus possit excludere.“ 117 Ebd. S. 3: „Ipsa Pestis quid, obsecro, aliud est quàm Symptomatum complicatio, quibus utitur natura ad inspiratas unà cum aere particulas miasmvßdeiw, per emunctoria, Apostematum specie vel aliarum eruptionum operâ, excutiendas?“ 118 Ebd. S. 45: „Profecto enim est Febris ipsa Naturae instrumentum, quo partes impuras à puris secernat.“

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Substanz verteidigt“.119 Die ärztliche Kunst besteht darin, wieder nach Sydenham, „der geschwächten Natur zu Hilfe zu kommen, die zügellose zu bändigen und zur Ordnung zurückzuführen. […] Die Natur zielt darauf die Krankheit auszutreiben und zu beseitigen“.120 Schiller widerspricht dieser These entschieden, wenn er auch Sydenhams „ingenium practicum“ pflichtschuldig hervorhebt. Auch Georg Ernst Stahls These einer „umumschränkten Machtkompetenz der Seele“, die den Heilungsprozess eigenmächtig („egregia ista Stahliana autocratia“121) steuere, wird zurückgewiesen. Dagegen setzt Schiller eine skeptische Pointe. Die Heilversuche der Natur zielen nicht auf die Vertreibung der materia peccans ab. In einem lebenden Körper strömen die Lebensgeister („spiritus animales“) an den Ort des Reizes und versetzen die reizbaren Phasen in heftige Erregung, ein Vorgang, der „weit davon entfernt, dem Menschen zum Wohl auszuschlagen, vielmehr einzig und allein die Krankheiten hervorbringt, sie verschlimmert und tödlich macht“.122 Die Gefahr für Leben und Gesundheit kommt also von innen, aus der physiologisch unzweckmäßigen Reaktion des Körpers auf einen Fremdstoff. Pathogen wirkt nicht wie bei Sydenham das aufgenommene Miasma, sondern „der ungestüme Eifer der Natur, es zu beseitigen“.123 In Schillers Formulierung: „Auf dem aktiven Versuch der Natur, gegen den krankmachenden Stoff vorzugehen, beruhen daher sowohl Krankheit als auch Schwere der Krankheit“.124 Daher erfüllen die Symptome, die im Prozess der Kochung und Krise auftreten, nicht den Zweck, die kontagiösen Stoffe auszuscheiden; diese würden vielmehr beiläufig während dieses Prozesses eliminiert. Schiller ist sich der ungeheuerlichen Provokation seiner These bewusst; er rechtfertigt sie mit einer Volte gegen das Wissen der Kompendien, zu denen nun auch und gerade die Observationes des Praktikers Sydenham zählen: „Ich freilich bin durch mannigfache Labyrinthe der Irrtümer schließlich zu der Über-

–––––––––––––– 119 Foucault: Geburt der Klinik, S. 191. 120 Sydenham: Observationes, Fol (a7)r-v: „[U]nde etiam non aliam Arti demandat provinciam, quàm ut deficienti naturae succurrat, effraenam coerceat & in ordinem redigat; utrumque verò hoc, tum passu illo, tum etiam methodo quibus.“ 121 SW, Bd. 5, S. 1074. 122 Ebd. S. 1062: „Haec vero lex, tantum abest, ut in salutem hominis cedat, ut potius sola sit eademque, quae Morbos procreat, procreatos graves reddit ac internecinos.“ 123 Ebd. S. 1062: „Non myasma in Sanguinem resorptum vitae periculum induceret, at quoties induxit importunus Naturae impetus ad istud eliminandum?“ 124 Ebd. S. 1062: „In activo itaque Naturae adversus morbosam materiam conatu et Morbus et Morbi gravitas collocata est.“

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zeugung gelangt, daß die Ordnung der Natur der Dinge nicht so beschaffen ist, wie wir sie uns in unseren Lehrbüchern zurechtlegen“.125 Es ist dies eine dunkle und skeptische Naturordnung, eine Inversion der Sydenhamschen guten Natur. Auch die vermeintlich so pedestre Fieberschrift enthält eine implizite Philosophie der Krankheit, die sich nur zwischen den Zeilen, in lakonischen Seitenbemerkungen oder Metaphern artikuliert.126 Für Schiller ist der Mensch schwach, das Leben „zerbrechlich“127. Sydenham wird zur Zielscheibe, weil Schiller allergisch auf seinen zutiefst optimistischen, von der Leibniz’schen Theodizee und der Physikotheologie geprägten Naturbegriff reagiert.128 Zumal die Observationes zeigen, dass Sydenhams Nosologie „nicht frei [war] von religiösen Überzeugungen und naturphilosophischen Voraussetzungen“.129 Schon die oben zitierte Stelle aus dem Kapitel über akute Krankheiten zeigt die kryptometaphysische Rechtfertigungs- und Kompensationsstruktur seines Denkens. Gott hat dem Menschen die Anfälligkeit für Krankheiten verliehen, ‚kompensiert’ dies jedoch durch eine ‚gute’, zur Selbstheilung fähige Natur. Auch das „Moment des Systemischen“,130 die botanische Taxonomie der Krankheiten und die Lehre von den festen (zeitlichen und morphologischen) Verlaufsgestalten zeigt einen ausgeprägten ordoSinn: „Krankheiten sind nicht unordentliche Veranstaltungen der Natur, sondern sie haben ihre gesetzmäßigen Ordnungen“.131 Sie folgen daher „nicht geringeren Gesetzen […] als die „Kreuzung der Pflanzen und Tiere […]“. Konstanz, Hierarchie und Analogie beherrschen als immanente Strukturgesetze die große Kette der Krankheiten: Wer aufmerksam die Anordnung, die Zeit und die Stunde beobachtet, in der das Quartanfieber auftritt, sowie die Erscheinungen des Schüttelfrostes, der Hitze und die anderen spezifischen Symptome, wird ebenso viele Gründe haben, zu glauben, dass diese Krankheit eine Art ist, wie er Gründe hat zu

–––––––––––––– 125 Ebd. S. 1064: „Ego quidem per varios Errorum labyrinthos ad persuasionem tandem perductus sum, talem ordinem non esse in rerum natura, qualem in nostris compendiis concinnamus.“ 126 So etwa Ebd. S. 1067: „[H]oc unum est quod boni natura molitur.“ 127 NA 3, 40. 128 Vgl. Temkin, Owsei: Thomas Sydenham und der Naturbegriff des 17. Jahrhunderts. In: Internationale Beiträge zur Geschichte der Medizin. Festschrift für Max Neuburger. Wien 1928, S. 287-295. 129 Hartmann: Sydenham, S. 166. 130 Temkin: Naturbegriff, S. 290. Vgl. S. 292: „Das Prinzip der Ordnung tritt in den Vordergrund, der Versuch der Systematisierung durchdringt das Ganze“, und S. 293: „Die gesetzmäßig waltende Natur offenbart sich in der gesetzmäßigen Hervorbringung verschiedener, aber bestimmter Arten.“ 131 Hartmann: Sydenham, S. 167.

1. Die Fieberschrift

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glauben, dass eine Pflanze eine Art bildet, da sie immer in derselben Weise wächst, blüht und abstirbt.132

Gegen die Autorität der Lehrer und Lehrbücher entwirft Schiller ein Bild der Natur, das die feindselige Unzweckmäßigkeit der Schöpfung gegenüber dem Menschen voraussetzt.133 Dieser bis zum Zynismus skeptische Naturbegriff bestimmt auch die zeitgleich entstandene dritte Dissertation, den Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, der sich in vielen Aspekten mit der Fieberschrift deckt. Auch hier wird die konstitutive Schwäche und Anfälligkeit des Menschen betont; umgekehrt erscheint eine Natur, die dem Menschen alles andere als gütig oder heilsam, sondern in feindlicher Indifferenz gegenüber steht. Aus dieser condition humaine entwickelt der Versuch nun jedoch seinen optimistischen Impuls. Im Sinne der humanistischen Diskurstradition De hominis dignitate entwickelt Schiller aus dem malum von Schwäche, Krankheit und Tod das bonum des menschlichen Kulturauftrages. § 11 bildet in Anlehnung an Schlözer das Grundschema einer erhabenen Zivilisationsgeschichte, die dem Schema bonum durch malum, genauer: Kultur durch Krankheit folgt. Fortschritt und Zivilisation verdanken sich „Hunger und Blösse“134, die „Dürftigkeit der mütterlichen Gegend“135 stimuliert Gemeinschaftsbildung und Zivilisierung. Es sind „Noth und Neugierde“, welche die Medizin entdecken helfen, indem sie „die Schranken des Aberglaubens“136 überwinden. Die Medizin ist ein Akt der Auflehnung gegen die Natur. Sie schafft durch Empirie und Autopsie erst die Selbsterkenntnis des Menschen als Menschen. Dieser „ergreift muthig das Messer – und hat das gröste Meisterstück der Natur den Menschen entdekt“.137 Damit ist die einfache Teleologie à la Leibniz durch eine höhere, dynamisch-dialektische ersetzt. Ein erstes Mal erprobt Schiller damit jene universalhistorische Theodizee, die als Programm in der Antrittsvorlesung wiederkehren wird.138 Die höhere List der Natur be–––––––––––––– 132 Foucault: Geburt der Klinik, S. 23. Sydenham nach Boissier de Sauvages: Nosologie méthodique. Bd. 1, Lyon 1772, S. 124f. 133 Leider berücksichtigt die verdienstvolle Studie von Hans Lutz: Schillers Anschauungen von Kultur und Natur. Berlin 1928 (Ndr. Nendeln 1967) (= Germanische Studien 60) die Fieberdissertation nicht. Vgl. den Hinweis auf das illusionslose Naturbild des Versuchs ebd. S. 12. 134 NA 20, 53. 135 NA 20, 54. 136 NA 20, 55. 137 NA 20, 55f. 138 NA 17, 369: „Das unerträgliche Elend der Barbarey mußte unsre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Gottes zu menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Natur zurückrufen, der Müßiggang

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steht in der technisch-wissenschaftlichen Erziehung des Menschengeschlechts: So mußte das schlimmste das gröste erreichen helfen, so mußte uns Krankheit und Tod drängen zum gnvji seauton. Die Pest bildete unsere Hippokrate und Sydenhame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreissenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medicinischen Geschmacks zu verdanken.139

Die bestehende Welt ist nicht die beste aller möglichen Welten, sie bereitet dieser besten Welt jedoch durch ihre Übel den Weg: „Die Natur eines endlichen Wesens macht die unangenehme Empfindung unvermeidlich. Das Uebel exulirt nicht aus der besten Welt, und die Weltweisen wollen ja darinn Vollkommenheit finden“.140 Einmal auf diesem Weg, widmen sich die § 23 bis 27 mit großer Intensität einer Bestandsaufnahme des menschlichen Lebens als Sein zum Tode, der Versuch ueber den Zusammenhang wird zum Versuch einer Philosophie des Schmerzes. Der § 27 („Trennung des Zusammenhangs“) enthüllt die letale Ökonomie unseres Daseins: Die Weisheit […] hat bei Gründung unserer physischen Natur eine solche Sparsamkeit beobachtet, daß, ungeachtet der steten Kompensationen, doch die Konsumtion immer das Uebergewicht behalte, daß die Freiheit den Mechanismus mißbrauche, und der Tod aus dem Leben, wie aus seinem Keime sich entwikle.141

2. Fieberpoetik: Die Räuber

2. Fieberpoetik: ›Die Räuber‹ 2.1. Das Drama des Fiebers

Lässt man die Bilder auf sich wirken, die der Fiebertraktat zur Charakterisierung Krankheitsentstehung aufbietet, so zeichnen sich Unterschiede zu Sydenhams Darstellung deutlich ab. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass in die Schrift zahlreiche „in der Medizin sonst ungebräuchliche militärische Metaphern“ einfließen142. Irmgard Müllers Hinweis, diese seien „dem Abfassungsort, der Militärakademie, geschuldet“143, greift jedoch ebenso zu kurz wie die Annahme, die Fie–––––––––––––– 139 140 141 142 143

der Mönche mußte für das Böse, das ihre Werkthätigkeit schuf, von ferne einen Ersatz zubereiten.“ NA 20, 56. NA 20, 72 (§ 24). NA 20, 75. Müller: Kommentar; SW, Bd. 5, S. 1323. Ebd.

2. Fieberpoetik: ›Die Räuber‹

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berschrift sei „bis auf ein Shakespeare- und latentes Vergil-Zitat frei von poetischen Versatzstücken geblieben“.144 Beinahe das Gegenteil scheint der Fall. Auf einer strukturellen und metaphorologischen Ebene sind die intertextuellen Bezüge (zur antiken Dichtung) wie die Analogie des Krankheitsgeschehens zu poetischen Formen (Drama) so sehr in die Tiefenstruktur des Textes eingelagert, dass sie die fachmedizinische Auseinandersetzung mit den Koryphäen der Nosologie hervortreiben und befeuern. Die Analyse der Bildlichkeit bietet daher eine Möglichkeit, die Fieberschrift als proto-ästhetischen Text in die Kryptogenese der Schiller’schen Ästhetik einzubeziehen. Im Zentrum dieser Protoästhetik stehen Figuren der Anfechtung und des Widerstandes, die sich zu einer Theorie des physiologisch Erhabenen zusammenschließen. Die Fieberschrift zeichnet ein Bild des Lebens als Kampf gegen eine prinzipiell feindliche, aggressive und „invasive“ Natur. Die Auseinandersetzung zwischen Krankheit und Körper gleicht einer Belagerung, bei der je nach Fieberart unterschiedliche Strategien zur Anwendung kommen. Das Fieber greift entweder „in offener Feldschlacht“ die „Kräftigen“ an oder bedient sich der Heimtücke und des „Scheins von Gutartigkeit“, um sich den bereits Geschwächten zu nähern. Der Beginn der Erkrankung ähnelt einem Sturmangriff („insultus“145) bzw. einem Verteidigungskampf gegen feindliche Invasoren: „Die Seelenkräfte werden zum Angriff geführt wie gegen etwas Fremdes“.146 An anderer Stelle „führt die angeschwollene, faulige Galle das schreckliche Heer der Symptome“ an.147 Der geschlossene Säftekörper erscheint als Bastion, zu deren Behauptung der Körper die „Truppen“ der Seelenkräfte in Bewegung setzt. Dass es gerade dieser Widerstand ist, der sich gemäß der Maxime „materia morbosa per se hostilis non est“ gegen die eigene Ökonomie kehrt, ist eine Wendung, die Schiller mit tragisch-ironischer Süffisanz gegen das an Leibniz gemahnende Dogma der Güte und Zweckmäßigkeit der Natur, und damit gegen die Autorität Sydenhams und der eigenen Lehrer schleudert. Literarisch liest sich die Symptomatologie des Fiebers (§ 8) wie ein allegorisches Epos, eine Psychomachie oder richtiger Physiomachie, bei der die Symptome wie autonome und dämonische Wesen den Körper des Erkrankenden be–––––––––––––– 144 Ebd. S. 1317. 145 Ebd. S. 1058. 146 Ebd. S. 1072-1074 (§ 8): „Vires animales in impetum aguntur, quasi peregrinum quid intus lacessat, ad quod abigendum omnis machina sese accingit, hinc Algores praecurrunt.“ Vgl. S. 1072: „[S]timulum autem Spiritus animales densiore agmine ad loca stimulata rapere supra monitum est.“ 147 Ebd. S. 1104: „Turgens putrida Bilis Symptomatum agmen ducit atrocissimum.“

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stürmen und im Kampf herausfordern (§ 23: „Mens ipsa vario modo tentatur“148). Wenn die Krankheit als feindlicher Aggressor, der Körper als belagerte Bastion erscheint, so spiegelt sich hierin das essentialistische Denken der Nosologie. Wird den Krankheiten eine eigene Wesenheit („essentia“) zugewiesen, so befördert dies die rhetorischen Figuren von Personifikation und Prosopopoiie.149 Die Großschreibung der Symptome im Text („Algor“, „Aestus“, „Rigor“) unterstreicht die Substantialität der Phänomene, die den kranken Körper wie feindliche Dämonen bedrängen. Nosologie formt sich so zur Dämonologie. Schillers Darstellung des kranken Körpers speist sich aus den Beschreibungen der „Tugenden und Laster, Leidenschaften u.d.m.“, die seit der Antike zum Standardarsenal der Dichtung (zumal der epischen) zählt. Namentlich in den descensus- und Unterweltsvisionen im Gefolge Vergils durften Darstellungen der „pallentes Morbi“ oder später der christlichen Todsünden nicht fehlen.150 Die Psychomachie des spätantiken Dichters Prudentius (geb. 348 n. Chr.), „das erste vollständig allegorische Großgedicht der europäischen Literatur“151, spielt in dieser Tradition eine Schlüsselrolle. Schillers Schmerz- und Fieberpoetik folgt diesen Anregungen allegorisierender Epik, die sich für den jungen Schiller maßgeblich in drei poetischen Modellen kristallisiert: in Ovid, dem Dichter der Metamorphosen, in Milton und Klopstock.152 Wie selbstverständlich schlägt Schiller in den Räubern Kapital aus dieser Tradition. Dies zeigt sich im berühmten Monolog des Franz Moor zu Beginn des zweiten Aktes (II, 1): Franz Moor ist tatsächlich ein „gescheite(r) Arzt“, der – ganz Nosologist auch im Psychischen – um die unterschiedlichen „Gattung(en) von Empfindnissen“153 seelischer Passionen, ihre Symptomatik und Zeitgestalt weiß.154 Franz –––––––––––––– 148 Ebd. S. 1106. 149 Vgl. Mahlmann, Theodor: Personifikation/Personifizierung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 341-345; ergänzend Hartmann, Volker: Personifikation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 810-813. 150 In der Aeneis sind sie am Beginn des descensus in eine Art limbus versammelt (6, 273281). Schon Vergil erwähnt die „pallentes Morbi“ unter den höllischen Allegorien. 151 Albrecht, Michael von: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit. 2 Bde. München 1994, hier Bd. 2, S. 1079. 152 Vgl. Vorrede zu den Räubern (NA 3, 7): „Klopstocks Adramelech wekt in uns eine Empfindung, worinn Bewunderung in Abscheu schmilzt. Miltons Satan folgen wir mit schauderndem Erstaunen durch das unwegsame Chaos.“ 153 NA 3, 39. 154 Zu dieser Szene und ihrem anthropologischen Gehalt vgl. Riedel, Wolfgang: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 211. Eine Fortsetzung dieser Linie unternimmt die

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Moor, den Schiller auf einen „Trabanten der Hölle“ einquartiert wissen will155, gebärdet sich dabei wie Klopstocks Satan, der seine höllischen Arsenale in Bewegung setzt, um – wie die „Pest in mitternächtlichen Stunden“156 – Judas zum Abfall von Jesus zu bewegen: „So fall ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zuletzt schließt – die Verzweiflung! Triumf! Triumf!“157 Die eigentliche Pointe von Franzens psychopathologischer Registerarie erschließt sich nur vor dem doppelten Hintergrund einer essentialistischen Nosologie, die Krankheiten als personale Entitäten auffasst, sowie einer allegorischen Manier, die sich aus einer langen Tradition vergilischer Epik mit ihren obligaten Unterweltsgängen und allegorischen Chargen speist. Schon die Fieberschrift enthält daher, wo sie die physiologischen Folgen psychologischer Schwächen beschreibt, den Grundriss des Franz’schen Monologs: Deshalb pflegen die alltäglichen Gemütsbewegungen Gemütsbewegungen wie Unwillen, verzehrender Zorn, Kummer, Ekel, Heimweh und Melancholie eingedrungene Krankheitsstoffe, ja sogar selbst Wunden einer fauligen Krankheit Angriffspunkte zu bieten.158

Diese Erkenntnis – „Leidenschaften mißhandeln die Lebenskraft“ – bietet das Fundamentalgesetz, auf dessen Grundlage nun Franz seine höllischen Heerscharen in Bewegung zu setzen unternimmt. Es sind teils dieselben „Gattungen von Empfindnissen“, die schon in der Fieberschrift genannt werden. Franzens „Arsenal des Todes“ ist ein infernales Bestiarium, in dem sich Physiologie und Physiologus nahe kommen nach dem Schema: „Zorn? – dieser heißhungrige Wolf frißt sich zu schnell satt – Gram? – Dieser Wurm nagt mir zu langsam – Sorge? – diese Natter schleicht mir zu träge“.159

–––––––––––––– 155 156 157 158 159

anregende Studie von Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramatische Anthropologie. Heidelberg 2008, hier S. 191-233. NA 22, 122 (Selbstbesprechung der Räuber). Klopstocks Werke in einem Band. Ausgew. und eingel. von Karl-Heinz Hahn. Berlin/Weimar 1985, S. 23 (Messias, 3. Buch). NA 3, 40. SW, Bd. 5, S. 1102 (§ 20): „Diuturni itaque animi adfectus, quales sunt Indignatio siva Ira depascens, moeror, taedium, nostalgia et Melancholia, miasmata introducta, quin ipsa Vulnera morbo putrido ansam praebere consueverunt.“ NA 3, 39. Auf die Tiere folgen dann konsequent die Dämonen und Teufel christlicher Anfechtung: „Reue, höllische Eumenide“ und am Ende des „Furientrupp(s)“ eben die „Verzweiflung.“

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2.2. Das Fieber im Drama Zwischen Dichter und Mediziner, Räubern und Fieberschrift verlaufen vielfältige Verbindungen. Das medizinische Wissen präfiguriert den dramatischen Konflikt des Bruderzwistes und umgekehrt. Diese These gewinnt an Plausibilität, setzt man Themenwahl und erste Disposition der Fieberschrift mit dem dramatischen Erstling in Beziehung. Die Entscheidung für die gegensätzlichen Fiebertypen mag für Schiller deshalb plausibel gewesen sein, weil sie unmittelbar die Assoziation der gegensätzlichen, in ihrer Ungeheuerlichkeit jedoch komplementären Brüder weckte. Für entzündliches und Faulfieber gilt wie für Karl und Franz Moor, dass beide „sich an Charakter sehr unähnlich sind“160 und daher „eine der anderen grundlegend zuwider läuft“.161 Schon in § 2 werden die beiden Fieberarten nicht nur personifiziert, sondern als Ideal- und Antitypen, gewissermaßen als verfeindete Brüder behandelt.162 Wüsste man nicht, dass hier von akuten Fiebererkrankungen die Rede ist, man könnte den Satz unmittelbar auf das feindliche Brüderpaar Franz und Karl Moor beziehen. In beiden verwirklichen sich nicht nur „unterschiedliche Heldenkonzepte“163, sondern auch Krankheitsbilder. So gilt für die dramatischen Figuren dieselbe Komplementarität wie für die Fieberarten. Wo des einen Weg gerade geht, ist der andere „heimtückischer schadenfroher Gemütsart“.164 Karl, der seinen antiken Vorbildern durch „Taten“, „Größe“ und „Fülle von Kraft, die alle Geseze übersprudelt“165, gleichkommen will und sich „in offener Feldschlacht“ den Mächtigen entgegenwirft, entspricht dem Typus des „entzündlichen Fiebers“. Franz, der „schleichende Teufel“166, gleicht dem Faulfieber, das sich „wie ein hinterlistiger Feind in das Innere des Körpers einschleicht“167 und heimtückisch seinen malignen Angriff „unter dem Schein der Gutartigkeit“ auf die bereits Geschwächten, im Falle der Räuber auf „die kraftlose(n) Knochen“ des Vaters168 richtet. Wie Franz bedient sich das Faulfieber subtiler Stra–––––––––––––– 160 NA 22, 115. 161 SW, Bd. 5, S. 1058: „quorum unum [sc. genus] ab altero prorsus abhorret“ 162 Ebd. S. 1059: „Simplicius primum, at rigidius atrociusque aperto Marte in firmos decumbit, sed sub insidiis alterum, et sub specie benignitatis malignum in labefactos sese insinuat. Subito irruens illud, hoc subdole lentoque gradu obrepit.“ 163 Immer: Der inszenierte Held, S. 191. 164 NA 22, 115. 165 NA 3, 6 (Vorrede zur 1. Auflage). 166 NA 22, 118. 167 SW, Bd. 5, S. 1102: „[H]ostis insidiosus per corporis penetralia serpit.“ 168 NA 3, 50.

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tegien der Dissimulation, der „Masken“.169 Als „heimtückischer Feind“ dringt es unbermerkt „unter der Maske katarrhalischer Erkrankungen“ ein170 und „schmiegt sich in alle Formen“.171 Das Faulfieber ist gewissermaßen der Höfling und Intrigant unter den Krankheiten, umgekehrt führt Franz Moor die zersetzende Kraft des Faulfiebers in die dramatische Ökonomie der Räuber ein. Der dramatische Erstling gewinnt so die allegorische Dimension eines Seelen- und Weltkampfes. Franz ist jener „pessimus morbus“, von dem Schiller sagt, dass er „durch keine Abhandlung erschöpfend behandelt werden kann“.172 So hat Schiller in seinem Stück nicht nur „die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben“ oder in einem Gemälde porträtiert (man denke an Sydenhams medizinische „Porträtkunst“), sondern auch das nosologische Drama der beiden Fieberarten. Hier wie dort folgt der Autor dem Prinzip des Kontrastes: Wenn Schiller in der Vorrede zu den Räubern schreibt: „Es ist einmal so die Mode in der Welt, daß die Guten durch die Bösen schattiert werden, und die Tugend im Kontrast mit dem Laster das lebendigste Kolorit erhält“173, so gilt die Patho-Logie des komplementären Übels schon für die Konzeption der Fieberschrift. Schiller selbst hat in seiner Selbstbesprechung auf das medizinische Substrat seines Dramas hingedeutet. Wie eine medizinische Fallbeschreibung zeigten sich hier die Folgen des psychischen Einflusses auf den Körper: Ich denke vielmehr überzeugt zu sein, daß der Zustand des moralischen Übels im Gemüt eines Menschen ein schlechterdings gewaltsamer Zustand sei, welchen zu erreichen zuvörderst das Gleichgewicht der ganzen geistigen Organisation (wenn ich so sagen darf) aufgehoben sein muß, so wie das ganze System der tierischen Haushaltung, Kochung und Scheidung, Puls und Nervenkraft durcheinander geworfen sein müssen, eh die Natur einem Fieber oder Konvulsionen Raum gibt.174

Damit illustriert Schiller am dramatischen Exemplum nur jenes „Fundamentalgesez der gemischten Naturen“, wonach „die Thätigkeiten des Körpers […] den Thätigkeiten des Geistes“ korrespondieren.175 Schillers Beispiele für psychogene Erkrankungen sind denn auch weniger am Krankenbett („ad lectos aegrorum“176) gewonnen als –––––––––––––– 169 170 171 172 173 174 175 176

NA 22, 123. SW, Bd. 5, S. 1098f. NA 22, 123. SW, Bd. 5, S. 1106: „Supersunt innumera plura quae pessimum morbum insigniunt, nulla certe exhaurienda tractatione.“ NA 3, 5. NA 22, 121 (Selbstrezension der Räuber). NA 20, 57 (Versuch ueber den Zusammenhang). SW, Bd. 5, S. 1056.

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durch Lektüre Shakespearischer „Febrizitanten“ und „Delirant(en)“ wie Brutus, Cassius, Richard, Lady Macbeth usw., vor allem aber durch das eigene Schreibexperiment der Räuber. Shakespeare erfüllt für Schiller in etwa die Rolle, die Consbruch mit seiner medizinischen Praxis erfüllt: er ist Medium und Gewährsmann empirischer Psychologie. Shakespeares Stücke firmieren daher in § 15 des Versuchs unter dem Stichwort „Fieber“: „Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel mehr als die hitzigsten Fieber“.177 Die Räuber setzen ins Bild, was Fieberdissertation und Versuch ueber den Zusammenhang analytisch herauspräparieren. Sie schildern die Psychogenese einer Krankheit, die im Falle Franz Moors in der Tat den skizzierten Verlauf von der seelisch-sittlichen zur physischen Zerrüttung nimmt. Schiller konnte daher die entscheidende Krise des Franz Moor in seinem Versuch als empirischen casus analysieren: Der von Freveln schwer gedrükte Moor, der sonst spitzfindig genug war, die Empfindungen der Menschlichkeit durch Skeletisirung der Begriffe in nichts aufzulösen, springt eben izt bleich, athemloß, den kalten Schweiß auf seiner Stirne, aus einem schrecklichen Traum auf. Alle die Bilder zukünftiger Strafgerichte, die er vielleicht in den Jahren der Kindheit eingesaugt, und als Mann obsopirt hatte, haben den umnebelten Verstand unter dem Traum überrumpelt. Die Sensationen sind allzuverworren, als daß der langsamere Gang der Vernunft sie einholen und noch einmal zerfasern könnte. Noch kämpfet sie mit der Phantasie, der Geist mit den Schrecken des Mechanismus.178

Zu den dramatischen wie medizinischen Pointen des Stücks zählt der Umstand, dass der kalte Intrigant im weiteren Verlauf der Handlung selbst zum Opfer des hitzigen Fiebers wird. Im Text des Versuchs folgt auf die eben angeführte Stelle eine Analyse des Dialogs zwischen dem Bedienten (später Daniel) und Franz Moor (V, 1), die belegen soll, „wie das auffahrende Integralbild des Traums das ganze System der dunkeln Ideen in Bewegung [bringt]“.179 Es scheint, als hätten sich die Rollen umgekehrt. Der Diener Daniel ist zum Arzt geworden: „Ihr seyd totenbleich, eure Stimme ist bang und lallet“180, diagnostiziert der Laienmediziner, der seinen Herrn „ernstlich krank“ findet.181 Franz, der „gescheite Arzt“, weiß um seinen Zustand: „Ich habe das Fieber. Sage du nur, wenn der Pastor kommt, ich habe das Fieber. Ich will morgen zur Ader lassen, sage dem Pastor“ – wohl wissend, dass im „Aderlass die Hauptsache dessen liegt, was [beim Fieber] zu tun –––––––––––––– 177 178 179 180 181

NA 20, 60. Ebd. Ebd. NA 3, 117. NA 3, 118.

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ist182. Nun wirkt das Fieber wiederum zurück auf den Geist. „Die Krankheit verstöret das Gehirn, und brütet tolle und wunderliche Träume aus“183, etwa jenes „leibhaft Konterfey vom jüngsten Tage“, das Franz im Anschluss schildert184. Was Franz hier halluziniert und Schiller literarisch imaginiert, entspricht den Unterwelts- und Pestphantasien der Anthologie mit ihren Höllenvisionen und Schreckbildern der letzten Dinge: „Hohl und hager, wandelnde Gerippe, / Keuchen sie in des Cocytus Boot.“ In beiden Fällen, in den Räubern wie im Anthologie-Gedicht, handelt es sich um Fieberträume, Halluzinationen von „Febrizitanten“, die poetisches Kapital aus der empirischen Nosologie schlagen, die Delirien des Fiebers nun zu poetischen Imaginationen ausbauen.185 Was Franz betrifft, so ist er nicht nur „als Denker blamiert“186, sondern auch als Mediziner. Der „gescheite“ Arzt ist am Ende ein gescheiterter, der sich in der Ätiologie seiner Krankheit und ihrer Symptome gründlich verschätzt hat. Schon der materialistischen These, dass „unser Wesen nichts ist als Sprung des Geblüts“187, widerspricht Schillers eben zitierte psychologische Ableitung physiologischer Vorgänge. Franzens diagnostische Irrtümer werden erst vor dem Hintergrund des medizinischen Wissens der Fieberschrift deutlich. Wo Franz die Seele schlechthin auf eine Funktion des Körpers reduziert, wertet Schiller diesen radikalen Materialismus als Symptom und „Fieberparoxysmus“ des freidenkerischen Zweifels ab. In Wirklichkeit ist es der Geist, der hier den Körper baut resp. abbaut. Ein zweites Mal täuscht sich Franz in der Ursache seiner Traumdelirien. Die kommen nämlich nicht „aus dem Bauch“, worauf der Fieberspezialist Schiller in einem seiner polemischen Seitenhiebe auf Autoritäten der Medizin, „die ein Delirium nur gelten lassen, wenn es aus dem tiefsten Teil des Unterleibes heraus ein sympathetisches ist“188, hinweist. Mit der Vision des Jüngsten Gerichts hat das Fieber – wie das Drama – seinen Höhepunkt erreicht. Das hitzige Fieber geht durch „Verschlimmerungen“ seinem Höhepunkt zu, dessen Symptomatologie Schiller in § 10 beschreibt. Auch für den delirierenden Franz „besteht –––––––––––––– 182 Ebd. Zum Aderlass vgl. SW, Bd. 5, S. 1082: „Rerum faciendarum summa in sanguinis missione collocata est.“ 183 NA 3, 118 184 NA 3, 119. 185 Auch Karl Moor erlebt einen Fieberparoxysmus, verbunden mit halluzinativen Visionen und Bildern (NA 3, 80: „Oh all ihr Elisiums Scenen meiner Kindheit“). 186 Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207. 187 NA 3, 121. 188 SW, Bd. 5, S. 1079 (§ 9): „Dantur, qui delirium non admittunt, nisi ex imo ventre sympathicum multisque sententiam speciosis adornant ratiunculis […].“

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keine Hoffnung auf Unterbrechung, solange die Ursachen, die das Fieber nährten, in einem fort bestehen.“189 Wo die Dissertation schließlich auf die Heilverfahren zu sprechen kommt, muss das Drama mit dem Befund einer Krankheit zum Tode bzw. zum Selbstmord abbrechen. Hier liegt die Pointe der Kunst und gleichzeitig die Stelle, an der sie sich von der Medizin trennt: Die Heilung vollzieht sich nicht auf der Bühne, sondern durch die Bühne. Wo die Figuren an ihrem Fieber zu Grunde gehen, wird der Zuschauer durch die poetische Medizin der Schaubühne therapiert. In der Selbstbesprechung wird diese Analogie in einem für das 18. Jahrhundert singulären Vergleich ausgesprochen. Der Autor – also Schiller selbst – muß „starke Dosen in Emeticis [Vomitive; J.R.] ebenso lieben als in Aestheticis“.190 Dies war der Stand der Katharsis-Deutung in der Phase der Räuber. Das Drama dient weniger als Palliativ denn als Purgativ. Das Gebiet des Theaters beginnt dort, wo das der Medizin endet. Wo deren „Medikamente“, wie es im Motto heißt, „nicht heilen“, kommt das „Feuer“ der Dichtung zum Einsatz, konkret jene „Fieberhitze“, an welcher der Protagonist stellvertretend zu Grunde gehen muss, damit das Publikum gesundet. So lassen sich per analogiam auch die Räuber als „pathographischer Grundriss“ („morbi Ichnographia“)191 lesen, der die Krankheit des Protagonisten „von ihrem ersten Angriff bis zum letzten Abklingen“ verfolgt. Die Schaubühne wird zur Klinik, in der sich der letale Fall eines hitzigen Fiebers studieren lässt, das paradoxerweise den „kalte(n), hölzerne(n)“192 Radikalaufklärer trifft. Pathologie und Poetik sind einander verpflichtet, und dies nicht nur motivisch, sondern strukturell – ut febris poesis. 3. Die Anthologie als Anthropologie. Schillers frühe Lyrik

3. Die ›Anthologie‹ als Anthropologie 3.1. Phantasien

Der Tod, schreibt Benno von Wiese, ist in den Laura-Gedichten der Anthologie auf das Jahr 1782 „der unheimlich anwesende, unerwünschte Gast“.193 Es ist daher nur folgerichtig für den Regimentsarzt und Angehörigen des „äskulapischen Orden(s)“, wenn die Sammlung auch –––––––––––––– 189 190 191 192 193

SW, Bd. 5, S. 1081 (§ 10). NA 22, 131. SW, Bd. 5, S. 1058. NA 3, 14. Wiese: Schiller, S. 126.

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„meinem Prinzipal dem Tod zugeschrieben“ wird.194 Der Arzt als Zuarbeiter des Todes – auf diesen Gedanken, der in der Anthologie in verschiedenen satirischen Epigrammen weitergeführt wird, fällt von den Räubern wie von den medizinischen Schriften ein eigenes Licht, das die Ebene der „reinen Fachsimpeleien“ und die Analogie der „studentischen Bierzeitung“ durchaus übersteigt.195 Auch in der Anthologie zeigt sich Schiller als poeta medicus, auch sie ist in ihren anthropologischen Konturen nur als konzertierte Aktion des Dichter-Arztes denkbar. Kontinuitäten zu den Räubern sind unübersehbar. Spielerisch schlüpft Schiller noch einmal in die Rolle des Franz Moor und stellt sich als „umgekehrter“ Arzt vor, der „unsterbliche Fehde deiner Erbfeindin Natur“ geschworen habe, „sie zu belagern mit Medikamenten Heereskraft, eine Wagenburg zu schlagen um die Stahlische Seele“.196 Treibt die Vorrede mit dem Tod ihr satirisch-mutwilliges Spiel (etwa mit der Bitte, der Tod wolle diese Anthologie nicht verschlingen wie die „Sächlein der Vorgänger“, z.B. Stäudlin), so stimmt sie doch ein unfrohes „Hauptthema“197 der Sammlung an, das in einer Serie von „Todesgesänge(n) in barocker Motivik“198 kulminiert. Die Anthologie weist innerhalb von Schillers Lyrik „die reichste Bebilderung des Todes“ überhaupt auf.199 –––––––––––––– 194 NA 22, 83. Der Text ahmt Claudius’ Vorrede zum Wandsbecker Boten (1774) und deren Monolog über „Freund Hain“ nach. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 226. Zur Anthologie Ebd. S. 225-236; Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen/Basel 2005, S. 182-197; Kurscheidt, Georg: Schiller als Lyriker. In: Ders. (Hg.): Friedrich Schiller: Gedichte. Frankfurt /Main 1992, S. 749-803, hier S. 781-785; ders.: Anthologie auf das Jahr 1782. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 491-505; Oellers, Norbert: Kommentar zu Schillers Lyrik. In: NA 2/II B, S. 299-323; Hettner, Hermann: Schillers Anthologie. In: Sturm und Drang. Hg. von Manfred Wacker. Darmstadt 1985, S. 397409; Wiese: Schiller, S. 115-135; Fechner, Jörg-Ulrich: Schillers ‚Anthologie auf das Jahr 1782‘. Drei kleine Beiträge. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 291-303; Mommsen, Katharina: Nachwort zu: Dies. (Hg.): Friedrich Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782. Stuttgart 1973 (= Sammlung Metzler 118), S. 3*-21*; dort S. 6*-12* eingehend zur Vorrede. 195 Mommsen: Nachwort, S. 7. 196 NA 22, 83. 197 Mommsen: Nachwort, S. 8 198 Kurscheidt: Schiller als Lyriker, S. 782. Hier gilt allerdings (mit Gerhard Storz: Der Dichter Schiller. Stuttgart 1959, S. 199): „Solche Ausblicke bleiben letztlich im Unbestimmten.“ Genaueres bei Andrea Bartl: Schiller und die lyrische Tradition. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 117-136, hier S. 123-128. Dort jedoch S. 126 auch das Eingeständnis, „wie wenig gesichert gerade die These ist, Schillers Lyrik beruhe in manchem auf barocken Strukturen.“ Stäudlin hatte jedenfalls dieselbe Intuition. In seinem Gedicht Das Kraftgenie verspottet er Schiller als den größten Geist „seit Vater Lohenstein“ (v. 3). 199 Bartl: Schiller und die lyrische Tradition, S. 127.

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Im Kontext dieser lyrischen „Stilübungen“200, die das Gedicht zur „Aufgabe und Probe, nicht zuletzt formal-technischer Art“201, und den Autor zum „poetischen Stimmenimitator hohen Ranges“202 werden lassen, bilden diese lyrischen Thanatopoesien, zu denen Stücke wie Gruppe aus dem Tartarus, Die Pest, Eine Leichenphantasie zählen, eine Gruppe eigenen Rechts und Charakters, die an allen thematischen Blöcken der Sammlung – Liebeslyrik, Hymnik, Lehrdichtung, Zeitkritik und Satire203 – partizipieren. Die Anthologie umfasst „nahezu sämtliche Formtypen der zeitgenössischen Lyrik“204, bietet „schroffe Antithesen von Vernunft und Mechanik, von Idealismus und Naturalismus, von Geist und Brunst, von Ewigkeit und Chaos“.205 Es dominiert der Gestus der Improvisation, der „Ordnungslosigkeit“206 und varietas. Inhaltlich spannt sich der Bogen von „Paradieseskinder-Phantasien“ (Die Kindermörderin) über platonische Vereinigungsvisionen bis zu lyrischer Totenbeschwörung. Der Flug der Phantasie zählt nicht nur zu den wichtigsten Motiven, er ist das zentrale Thema der Sammlung. Darüber hinaus konstituiert er eine eigene Gruppe von Texten mit dem Untertitel Phantasie.207 Es handelt sich um die Stücke Morgenphantasie, Die Herrlichkeit der Schöpfung, Phantasie an Laura, Eine Leichenphantasie (1780) sowie Die Pest. Eine Phantasie. Die Gattungsbezeichnung Phantasie schafft einen doppelten Bezug – zu Musik und Anthropologie. Zunächst und vor allem handelt es sich nicht um eine literarische sondern eine musikalische Form. Phantasie bezeichnet in dieser Tradition Improvisation. Um eine „Fantasie“ handelt es sich, Sulzer zu Folge, wenn der Artist „nicht ein schon vorhandenes Stük spielt, sondern eines, das er währendem Spielen erfindet“. Alle „auf diese Weise gespielten Stüke werden Fantasien genennt, was für einen Charakter sie sonst an sich haben.“208 Solches Stegreifspiel gewinnt zeitgenössisch den Mehrwert des Regelfreien und Intuitiven, des empfindsam träumerischen Versinkens in die Wollust des Wohllautes. Schon Johann Mattheson empfiehlt 1739, beim Fantasieren durch –––––––––––––– 200 201 202 203 204 205 206 207

Ebd. S. 120. Storz: Der Dichter Schiller, S. 200. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 235. Ebd. S. 226. Ebd. Wiese: Schiller, S. 119. Kurscheidt: Anthologie, S. 499. Von ihr hat die Forschung – abgesehen von Joachim Bernauer: ‚Schöne Welt wo bist du? Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin 1995 (= Philologische Studien und Quellen 138), S. 70 – kaum Notiz genommen. 208 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, 368.

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„betrübte Ausdrückungen dem Hertzen Lufft“ zu machen, wenn man „traurig und gekränckt“ sei.209 Dies geschieht, wenn Lady Milford in einem freien, aber reizenden Negligé, die Haare noch unfrisiert, […] vor dem Flügel [sitzt] und phantasiert“.210 Die trancehafte Versunkenheit in die Improvisation wird in der Literatur der Zeit an musikalischen Genies wie Carl Philipp Emanuel Bach immer wieder beschrieben.211 In Laura am Klavier wird diese Symptomatik von der Dichtung nachvollzogen, insofern ist Schillers Einbürgerung des Begriffs nur folgerichtig. Mit seinen lyrischen „Fantasien“ kreiert Schiller eine neue lyrische und „erfahrungsseelenkundliche“ Subspezies. Zwar bringt die empfindsame Lyrik der siebziger Jahre immer wieder Gedichte An die Phantasie heraus (Hölty, Matthisson), als Genrebezeichnung scheint sie jedoch Schillers Erfindung zu sein.212 Diesem ambivalenten Genre haftet ein nosologischer Schatten an. Phantasieren bedeutet eben auch Verlust der Selbstkontrolle oder ins Wahnhafte gesteigerte Vision. Am Anthologie-Gedicht Die Pest wird der Zusammenhang zur Fieberschrift manifest. Der Text bietet nicht nur „babylonische Turmbauten im Bildlichen“213, sondern ist ein Versuch in poetischer Arzneikunst. Schiller nutzt sein medizinisches Wissen, um eine horrible, proto-expressionistische Todes- und Endzeitvision zu entwerfen: Gräßlich preisen Gottes Kraft Pestilenzen würgende Seuchen, Die mit der grausen Brüderschaft Durchs öde Thal der Grabnacht schleichen. 214

Eingerahmt durch den doppelten Verweis auf Gott wird ein malignes Krankheitsgeschehen in seiner psychophysischen Wechselwirkung vorgeführt. Wie die seelischen die tierischen Empfindungen begleiten, hatte Schiller in § 19 des Versuchs ausgeführt: Gezeigt wird, wie die –––––––––––––– 209 Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Das ist: Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739, S. 107. 210 NA 5, 25. 211 „Während dieser Zeit gerieth er dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung, daß er nicht nur spielte, sondern die Miene eines ausser sich Entzückten bekam. Seine Augen stunden unbeweglich, seine Unterlippe senkte sich nieder und seine Seele schien sich um ihre Gefährten nicht weiter zu bekümmern.“ Bitter, Carl Hermann: Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bach und deren Brüder. Bd. 2. Berlin 1868, S. 99. 212 Zu prüfen wäre, ob Matthissons Gedicht „Phantasie“ bereits auf Schiller reagiert. Vgl. Friedrich Matthisson: Gedichte. Hg. von Gottfried Bölsing, 2 Bde. Tübingen 1912, hier Bd. 1, S. 221. 213 Dyck: Die Gedichte Friedrich Schillers, S. 8. 214 NA 1, 116.

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Krankheit sich zunächst „in die verborgensten Winkel der Maschine schleich(t)“215, um dort die „Lebenskraft der Nerven [zu] untergraben“. Die nahe Auflösung kündigt sich durch eine „Revolution im Karakter“ an. Die Seele beginnt, „den Fall ihres Gefährten in dunkeln Ahndungen voraus zu empfinden“216, so lacht der „Wahnsinn in das Angstgestöhne“ (v. 7). Es kommt zu Pulsrasen und Beklemmung („Bang ergreifts das klopfende Herz“; v. 4). Die Erkrankten werden, wie Schiller mit Bezug auf den „grosse(n) Arzt“ Sydenham ausführt, von „Vorschauer(n) (Horrores)“ heimgesucht. Schiller hatte diese Symptomatik der Angst- und Kälteschauer bereits in der Fieberschrift analysiert und mit einem ausführlichen Zitat aus Sydenham belegt. Wie hier die Algores zu feindlichen Invasoren des geschlossenen Säftekörpers werden, stilisiert Schiller im Anthologie-Gedicht die Pestilenzen zu Dämonen und apokalyptischen Würgeengeln. Was in der Fieberschrift nur ästhetisch-rhetorische Zugabe war, rückt hier ins Zentrum: Die Krankheit als maligner Genius, der sich in den Körper einschleicht, um seinen „Ruin“ herbeizuführen. Auch bei der eigentlichen Pointe des Gedichts reichen sich poeta medicus und medicus poeta die Hand. Kristallisieren sich in der Fieberschrift die Zweifel an der zweckmäßigen Einrichtung der Weltordnung an Sydenhams „vis medicatrix naturae“, so wird die Frage nach der Theodizee gestellt nun offen. Das Ergebnis ist eine Art paradoxes Enkomium, ein ironisch-sarkastisches Lob des Übels, in dem Gott nicht mehr seiner Güte, sondern seiner schieren Kraft wegen gepriesen wird. Die Ausnahme- und Auflösungszustände, welche die „Grenzlinie der Gesundheit“ überschreiten, werden in Schillers lyrischen Phantasien nicht nur beschrieben, sie sind auch Modus der Beschreibung selbst. Anthropologie und Poetik stehen sich konträr bzw. komplementär gegenüber: „Die Extremisierung der Gefühlslagen“217 in der frühen Lyrik macht die Aufhebung der Mittellage und die Trennung des commercium zum lyrischen Prinzip. Dies geschieht einerseits durch Krankheit und Tod, andererseits durch ‚Entgeisterung‘ und Aufstieg zum Einen, so in den Laura-Gedichten. In jedem Fall entwickelt Schiller einen eigenen Typus von Rollendichtung, der dynamisch und performativ diesen gleichsam zentrifugalen Prozess der psychophysischen Desintegration einfängt und abbildet. Begleitet wird dieses discidium mentis et corporis regelmäßig von Visionen und Delirien, von Fieber und „Phantasien“. Die „Phantasien“ sind Fieber–––––––––––––– 215 NA 20, 65. 216 Ebd. 217 Koopmann, Helmut: Schillers Lyrik. In: Ders. (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 303-325, hier S. 308.

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lyrik, und Schiller weist auf diese Affinität in seiner Selbstbesprechung ausdrücklich hin, wenn er betont, die Laura-Gedichte seien „mit brennender Phantasie und tiefem Gefühl geschrieben […], aber überspannt sind sie alle und verraten eine allzu unbändige Imagination“.218 Dies führt zu einer paradoxen Rollenverteilung: Dichter und Kritiker spalten sich in Partialinstanzen auf. Im Rezensenten lebt dabei der Arzt fort, der sich selbst als Schwärmer denunziert.219 Die SelbstRezension setzt mit ihrer fingierten Spaltung des Autor-Ichs in zwei personae die „vielfache Spaltung seines Ichs“220 innerhalb der Anthologie fort und wird strategisch zum Medium psychohygienischer Abwehrarbeit – Kritik als Katharsis. Dies verbindet sie mit den dialogischen Formen des Frühwerks, den Philosophischen Briefen und den eigentlichen Dialogen (Spaziergang unter den Linden, Der Jüngling und der Greis, das Philosophische Gespräch im Geisterseher). Der Autor spaltet sich in die Antitypen von Materialist und Idealist, von „Febrizitant“ (d.h. Sprecher) und Arzt (d.h. Rezensent), eine Rolle, die der Literaturkritik eine psychopathologische Semantik verleiht.221 Die Bürger-Rezension wird dies bestätigen. 3.2. Pathologischer Petrarkismus Die Beziehung zur medizinisch-anthropologischen Tradition ist jedoch nur eine Seite. Dass die Laura-Gedichte darüber hinaus die Tradition des Petrarkismus voraussetzen, ist schon im Namen der Geliebten angedeutet. Das Neue liegt in der Verbindung beider Diskurse zur Spielform eines pathologischen Petrarkismus, der Schillers eigenen Beitrag zum sog. „zweiten Petrarkismus“ darstellt.222 Tatsächlich –––––––––––––– 218 NA 22, 133. 219 Vgl. Otto, Regine: Schiller als Kommentator und Kritiker seiner Dichtungen von den „Räubern“ bis zum „Don Carlos“. In: Weimarer Beiträge 22 (1976), S. 24-41. 220 Vgl. Julius Petersen: Nachwort zur Faksimile-Ausgabe der Anthologie (Stuttgart 1932), S. 11. 221 In dieser Doppelrolle von (kritischem) Arzt und (poetischem) Fieberzustand spiegelt sich idealtypisch die von Freud bemerkte „Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren.“ Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 221. 222 Korch, Katrin: Der zweite Petrarkismus. Francesco Petrarca in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Aachen 2000; Aurnhammer, Achim (Hg.): Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Tübingen 2006 (= Frühe Neuzeit 118), allerdings ohne Beitrag zur Anthologie; Ders. (Hg.): Petrarca in Deutschland. (Katalog zur) Ausstellung zum 700. Geburtstag (20. Juli 2004). Heidelberg 2004.

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kehren in den Laura-Gedichten nicht wenige Elemente des ‚ersten‘ Petrarkismus wieder, auch wenn Schiller weniger auf „direkte oder indirekte Nachahmung Petrarcas“223 denn auf Anschluss an jene Entwicklung sinnt, die mit einem „idyllisch-mystisch verklärte(n) Petrarca-und-Laura-Kult im Frankreich der 1760er Jahre“224 eingesetzt hatte. In Deutschland fand dieser empfindsame Petrarkismus seinen Gründungstext in einer Klopstock-Ode mit dem Titel Petrarch und Laura (1748; gedr. 1771).225 Eine Vermittlerrolle könnten Autoren wie Johann Peter Uz, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, J.M.R. Lenz oder Ludwig Hölty gespielt haben. In der deutschen Lyrik um 1770 waren „Petrarca und seine Laura-Liebe so allgegenwärtig, daß ihn Gleim geradezu in den Kreis der lebenden Poeten einreihte“.226 Gleim war es auch, der gleichzeitig mit Klopstock und möglicherweise durch eigene Lektüre des Canzoniere inspiriert systematische Annäherungen an Petrarca unternahm, die dann in der Sammlung Petrarchische Gedichte (Berlin 1746) zusammenflossen.227 Auch hier handelte es sich weniger um literarische imitatio als um Nachvollzug exemplarischer Lebensund Liebesformen: „Petrarca und Laura wurden als das große Liebespaar rezipiert“.228 So treten bei den genannten Autoren weniger die Texte als die Person Petrarcas und seiner Geliebten in Erscheinung. Diese Züge lassen sich gut bei Hölty zeigen. Die Ode Laura etwa, in der Logik des Canzoniere ein Stück in Morte di Madonna Laura, enthält im Wesentlichen bereits das Arsenal motivischer und struktu–––––––––––––– 223 Regn, Gerhard: Petrarkismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, S. 911-921. Schillers Petrarkismus ist und bleibt eine der bekanntesten Unbekannten der Forschung. Hier gilt Analoges wie zur Barockrezeption. Erst in Ueber naive und sentimentalische Dichtung tritt Petrarca als Autor ins Blickfeld, bezeichnenderweise in einer Unterscheidung zwischen „überspannter Empfindung“ und dem „Überspannten in der Darstellung“: „Es ist keine Täuschung, was Heloïse für Abelard, was Petrarch für seine Laura, was S. Preux für seine Julie, was Werther für seine Lotte fühlt, und was Agathon, Phanias, Peregrinus Proteus (den Wielandischen meyne ich) für ihre Ideale empfinden; die Empfindung ist wahr, nur der Gegenstand ist ein gemachter und liegt außerhalb der menschlichen Natur.“ NA 20, 484. 224 Becker-Cantarino, Barbara: „Petrarca und Laura“. Erotische Performativität und Imaginationen bei Gleim und Klopstock. In: Aurnhammer, Achim: Petrarca in Deutschland. Ausstellung zum 700. Geburtstag. Heidelberg 2004, S. 297-312, hier S. 311. 225 Auch für Klopstock gilt, dass seine „Ode ohne eine Lektürekenntnis des Canzoniere erfolgte.“ Fechner, Jörg-Ulrich: Klopstocks Petrarch und Laura (und die Nachfolger – und die Folgen?). In: Aurnhammer: Katalog – Petrarca in Deutschland, S. 327. Und weiter (S. 347): „Ihre Verwendung der Namen von Petrarca und Laura ist Bildungsgut und bleibt insgesamt unspezifisch und unverbindlich […] Das Gedicht ist weder petrarkisch noch petrarkistisch und erst recht nicht antipetrarkistisch.“ 226 Becker-Cantarino: Erotische Performativität, S. 297. 227 Fechner: Klopstocks Petrarch und Laura, S. 341f.; Aurnhammer: Katalog – Petrarca in Deutschland, S. 78f. 228 Becker-Cantarino: Erotische Performativität, S. 298.

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reller Möglichkeiten, auf das Schillers Laura-Gedichte in der Anthologie zurückgreifen werden: Elegische Stimmung, somnambule Todesvisionen und –sehnsüchte, optische und akustische Halluzinationen („nächtlich hör ich ihr Schallen“). In der Struktur ein dynamischer, durch Bewegung auf Bewegung („Rührung“) des Lesers zielender Sprachfluss, in dem sich der Tränenfluss resp. -strom spiegelt. Imaginiert werden Aufschwünge, Grenzüberschreitungen, Selbstliquidierungen im Sinne eines empfindsamen Ozeanismus, in dem sich Körperströme und Schriftfluss229 verbinden: Du Bothin Gottes! Wonne mir, Wonne mir, Ich ströme, kommst du, kniend, wo Laura kniet, Anbetung über sie, und Andacht, Wann sie vom Kelche des Bundes trinket.230

In Der Traum kommen imaginäre Himmelsreisen hinzu, in denen sich christliche und literarische Reminiszenzen, Eden und Elysium zu einer „erotische(n) Utopie“231 verbinden. Entscheidend – auch für Schillers Laura-Gedichte – war jedoch ein anderer Aspekt: Die Umdeutung des Konzepts der Schmerzliebe („dolendi voluptas“) vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Anthropologie und Ästhetik. Die semantischen wie sentimentalen Antinomien der Gefühlswechsel („contrari affetti“) geraten nun in das Einflussfeld einer gleichermaßen antinomischen doppelten Ästhetik. Die antithetische Struktur der petrarkistischen Liebe wird der Theorie der „vermischten Empfindungen“ inseriert. Auch die petrarkistische Schmerzlust ist eine „gemischte Empfindung des Leidens und der Lust am Leiden“232, wie Schiller – Petrarcas Stichwort paraphrasierend – in Ueber den Grund des Vergnügens schreibt. Schon bei Hölty ist diese Integration des Petrarkismus in den Kontext der ästhetischen Diskussionen um die LustUnlust-Empfindungen von Rührung und Erhabenem vollzogen. Die Laura-Liebe weckt jenen „delightful horror“ („süßre Schauer“; Laura, v. 13), der für das Erhabene seit Edmund Burke konstitutiv ist.233 –––––––––––––– 229 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 87-94. 230 Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Hg. von Wilhelm Michael. 2 Bde. Weimar 1914, Bd. 1, S. 93. 231 So die Formulierung in der wegweisenden Studie von Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971 (= Germanistische Abhandlungen 37), S. 211. 232 NA 20, 138 (Ueber den Grund des Vergnügens). 233 Für Burke ist die Liebe eine typische vermischte Empfindung: „Die Leidenschaft der Liebe hat ihren Ursprung in einem positiven Vergnügen; sie ist wie alles, was daraus hervorwächst, geeignet, mit einer Art von Unlust vermischt zu werden, – wenn nämlich die Idee ihres Objekts im Gemüt gleichzeitig mit der Idee erregt wird, es unwiederbringlich verloren zu haben.“ Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übers. von Friedrich

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Stellt man die Anthologie in diese doppelte Fluchtlinie des zweiten Petrarkismus und der Ästhetik der vermischten Empfindungen, so wird die Verspätung deutlich, mit der Schiller auf den lyrischen Geschmackswandel des vorausliegenden Jahrzehnts reagiert. Zwei spezifische Eigenheiten sind dabei hervorzuheben. Sie betreffen einerseits die Genealogie der Schiller’schen Ästhetik, die in den Laura-Gedichten noch nicht als doppelte, sondern als „einfache“ in Erscheinung tritt, in dem Sinne, dass ihre Komponenten – das Schöne und das Erhabene – noch funktional verbunden sind. Andererseits lässt sich der Laura-Zyklus einem „pathologischen Petrarkismus“ zuordnen, wie ihn Barbara Beßlich im Hinblick auf J.M.R. Lenz’ Komödie Der Engländer (1777), die nicht zufällig eine „dramatische Phantasei“ untertitelt ist, beschrieben hat.234 Hinzu kommt, dass Schiller seinen Laura-Liedern eine zyklische Dimension verleiht. Er schließt damit an die älteren petrarkistischen Sammlungen an, die einen charakteristischen „Ereigniszusammenhang“235 und ein „narratives Substrat“ als Strukturprinzip voraussetzen.236 Diese zyklische Organisation gilt jedoch mit Einschränkungen. Einerseits finden sich die Laura-Gedichte über die Sammlung ––––––––––––––

Bassenge. Hg. von Werner Strube. Hamburg 21989 (= Philosophische Bibliothek 324), S. 87. 234 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. Bd. 1. München/Wien 1978, S. 317. Dazu Beßlich, Barbara: Lenz und Petrarca – Stationen einer literarischen Begegnung zwischen Anakreontik und Selbstkritik des Sturm und Drang. In: Aurnhammer (Hg.): Petrarca in Deutschland, S. 361-374, hier S. 370-374; einen vergleichbaren Ansatz zur Engführung von Lyrik und Anthropologie, der die „formale Störung der Bildlogik“ zu erklären sucht, findet sich bei Hannelore Schlaffer: Die Ausweisung des Lyrischen aus der Lyrik. Schillers Gedichte. In: Buhr, Gerhard / Kittler, Friedrich A. / Turk, Horst (Hg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 519-532, hier S. 526: „Offenbar folgt Schiller ganz dem Gebot der Odentheorie des Boileau und holt sich die Legitimation für die Steigerung des „beau désordre“ ins Chaotische aus der Assoziationenlehre seines Lehrers Abel.“ 235 Regn: Petrarkismus, S. 911; im Blick auf den „ersten“ Petrarkismus vgl. Regn, Gerhard: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Parte prima der Rime. Tübingen 1987 (= Romania Monacensia 25). 236 Der Begriff nach Hempfer, Klaus W.: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Stempel, Wolf-Dieter / Stierle, Karlheinz (Hg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München 1987 (= Romanistisches Kolloquium 4), S. 253-277, S. 266. Folgende Texte sind dem Komplex der Laura-Liebe zuzuordnen: Die Entzükung (NA 1, 23-24) – noch außerhalb der Anthologie; Fantasie – an Laura (NA 1, 46-48); Laura am Klavier (NA 1, 53f.); Die seeligen Augenblike (NA 1, 64f.); Vorwurf – an Laura (NA 1, 92-94); Das Geheimnis der Reminiszenz – An Laura (NA 1, 104-108); Melancholie an Laura (112-115); außerhalb der Anthologie in der Thalia (1786) publiziert ist Freigeisterei der Leidenschaft – Als Laura vermählt war im Jahr 1782 (NA 1, 163-165). Erwähnt wird Laura ferner in Resignation (1786).

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verstreut, manche sind ihr sogar aus- bzw. vorgelagert. Andererseits treten alle äußeren Ereignisse mehr noch als bei Petrarca hinter die „Geschichte einer Seele im Konflikt zwischen irdischer und himmlischer Liebe“ zurück237. Was Schiller analog zu Petrarca zeigt, ist eine Folge antinomischer Stimmungen zwischen Entzückung und Melancholie, die weniger einen Ereigniszusammenhang als ein Empfindungsgeschehen, gleichsam die Geschichte einer Weltanschauung (vergleichbar den Philosophischen Briefen) bezeichnen. Wie im Canzoniere bestehen Beziehungen zwischen Liebeslyrik und Platonismus, bei beiden „aus zweiter Hand“.238 Die AnthologieGedichte setzen die in den Philosophischen Briefen entfaltete neuplatonisch-kosmologische Liebesmetaphysik fort; deren Schlagworte („Unsterblichkeit“, „Vervollkommnung“, „Gottähnlichkeit“) werden in den Laura-Gedichten nicht nur thematisiert, sondern in Extremisierung der Klopstockschen Theorie der Sprachbewegung performativ vollzogen. Wenn Liebe in den Philosophischen Briefen die „Leiter“ ist, „worauf wir emporklimmen zu Gottähnlichkeit“239, dann gilt dies in gesteigerter Form auch für die Laura-Lieder. Sie kommen zudem ohne ontologische Zwischen- und Trittstufen aus, indem sie den Liebenden im „Wirbel“ der Ekstase zur Anschauung des Göttlichen „über diese Welt […] flüchten“. Das sind die „seeligen Augenblike“, die das gleichnamige Gedicht schildert.240 Die zentrale Figur dieser Texte ist die Entgrenzung. Die lyrische persona überschreitet im Willen zur Apotheose nicht nur die Erscheinungswelt, sondern auch die „Grenzlinie der Gesundheit“ im Sinne des Versuchs ueber den Zusammenhang. Vergleicht man diesen Liebestraum mit Höltys Traum, so zeichnen sich bei analoger Ausgangslage und verwandter, ja „familienähnlicher“ Motiv- und Empfindungsstruktur die stilistischen Eigenheiten nur umso deutlicher ab. Sie bestehen vor allem in einem Mehr an Bewegung, einer Intensivierung und Beschleunigung der äußeren wie inneren Dynamik. Wo beim Hainbündler nur ätherische „Ahnungen“ (Laura) schweben oder ein „leiser Fittig“ den Träumenden sanft „umweht“ (Der Traum), da stürzt Schiller seine Ich-persona in den „Flammenwind“ (v. 30) eines delirierenden Fiebertraums, dessen halluzinativer Charakter gleich einleitend mehrfach betont wird (v. 2: „wähn’ ich“, v. 4: „träum’ ich“; –––––––––––––– 237 So Gerhart Hoffmeister: Petrarca. Stuttgart/Weimar 1997 (= Sammlung Metzler 301), S. 93. Vgl Staiger, Emil: Friedrich Schiller. Zürich 1967, S. 106: „Die Liebespfeile, die er [Schiller] versendet, schießen über das Ziel hinaus in imaginäre kosmische Fernen, vor denen Laura sich verliert.“ 238 Hoffmeister: Petrarca, S. 95. 239 NA 20, 124. 240 NA 1, 64.

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v. 9: „Ras’ ich“). Die Sprache gerät in denselben Schwindel und Taumel wie der Liebende, sie entlädt sich „in einem funkensprühenden Magnetfelde“ […], in dem „geladene Energiebündel vertikal aufschießen“.241 Dies trifft ganz wörtlich zu: Der Blickwechsel der Liebenden führt buchstäblich zu elektrischen Entladungen, bei denen „Wollustfunken aus den Augen regnen“ (v. 28). Die Fetischisierung der Augen, die schon bei Petrarca und im Petrarkismus geläufig ist, wird hier auf ein Extrem getrieben. Der lockende ist dabei zugleich der böse Blick. Das Gefühlsgeschehen, das hier vor Augen geführt wird, lässt sich gut mit dem Begriff der „Konvulsion“, eines „höchste(n) augenblickliche(n) Vigor(s)“ fassen, von dem im Versuch (§ 16) als Grenz- bzw. Auflösungsphänomen der psychophysischen „Harmonie“ die Rede ist.242 Die „Überfunktion des Stils“243 ist somit nicht nur Manier. Sie besitzt mimetische Qualität, indem sie eine „graphica descriptio“ des Krankheitsbildes leistet und den Sprecher als Fieberkranken charakterisiert. Die rhetorische Hypertrophie soll die Hypertrophien der Lebenskräfte darstellen, in denen die Fieberschrift den Auslöser der Erkrankung ausgemacht hatte. Hier fällt mancher Satz, der geradezu wie ein Zitat aus dem medizinischen Zusammenhang anmutet. Wenn etwa diagnostiziert wird: „Wilder flutet zum beklommenen Herzen, Wie Gewapnete zur Schlacht, das Blut“ (v. 33f.)244, so setzt dies die Beschreibung der Blutfülle („plethora“) in § 4 des Fiebertraktats voraus. Die Blutfülle, so heißt es hier, sorgt für eine Überfülle der Lebensgeister („vires“), eine „erhöhte Lebensenergie“ („exaltatum vigorem“). Blutüberfülle erzeuge, so die Fieberschrift weiter, einen Zustand der „höchsten Lebenskraft“ („Vis summa vitalis“) und einen „Geist, der stark zur Leidenschaft neigt“ („animus ad Exaestuationes facillimus“)245. Dieser Zustand einer erhöhten Reizbarkeit und psychophysischen Aktivität überschreitet die Grenze zum Pathologischen: „Diese Verhältnisse liegen dem Körper zugrunde, der vom entzündungsartigen Fieber ergriffen wird“.246 Die weiteren Symptome decken sich exakt mit denen der seeligen Augenblike. Das Herz zieht einen größeren Teil der Lebenskräfte an sich, schlägt „kräftiger und schneller und erzeugt zahlreichere und größere Wogen von Blut“, so –––––––––––––– 241 242 243 244

Dyck: Die Gedichte Friedrich Schillers, S. 7f. NA 20, 61. Nach Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/Main 1964, S. 546. SW, Bd. 5, S. 1072: „Stimulum autem Spiritus animales densiore agmine ad loca stimulata rapere supra monitum est […] Vires animales in impetum aguntur, quasi peregrinum quid intus lacessat.“ 245 Ebd. S. 1068. 246 Ebd. S. 1069.

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dass „eine größere Menge Blutes zu dem Ort geworfen wird, an dem das Hindernis festsitzt“.247 Die Lebenskraft ist „über die Maßen angestachelt“ („vis Vitalis enormiter exaltata“)248, dies ist auf eine der „Gelegenheitsursachen“ zurückzuführen, die Schiller in § 6 erwähnt hatte: die „allzu heftigen Wallungen des Blutes, zu denen man Gemütsbewegungen ungestümerer Natur rechnet“249, aber auch einen „den Genuss erhitzender Getränke“ oder einen „maßlosen Liebesgenuss“ („Venerem immodice celebratam“250). 3.3. Diätetik und Exzess An dieser Stelle wird deutlich, dass die Pathologie der Fieberschrift auf dem Fundament der Diätetik ruht. Diätetik, so der Zedler-Eintrag (s.v. Diät, Dieta), bezeichnet dabei „eine vernünftige Ordnung in Essen und Trincken, zur Erhaltung der menschlichen Gesundheit, darinne bestehend, daß solche Speisen erwehlet werden, die dem Leibe nicht schädlich, sondern zuträglich und gute Nahrung zu geben“. Hinzu komme der „rechte Gebrauch […] derer Gemüthsbewegungen“.251 Schon in § 5 hatte Schiller als eine der pathogenen Hauptursachen des entzündlichen Fiebers die Fettleibigkeit ausgemacht, und dies zu einer beiläufigen Invektive gegen eine Lebensform gemacht, die dazu treibe, „das Leben bei so vielen Gastmählern zu verbringen“ oder „den schlaffen Körper reichlich in Muße zu betten“.252 Welch be–––––––––––––– 247 Ebd. S. 1072: „Cor itaque majori sibi Virium parte vindicata validius celeriusque micat, plures atque majores eodem tempore emittit sanguinis undas, plus sanguinis ad locum cui obstaculum inhaeret projicitur, dum semper minus expediri potest.“ 248 Ebd. S. 1074. 249 Ebd. S. 1070: „Exagitationes sanguinis nimiae, quo referas animi pathemata ferociora.“ 250 Ebd. 251 Johann Heinrich Zedler: Universal-Lexikon. Bd. 7, S. 733. 252 SW, Bd. 5, S. 1066: „Obesitas contra in eos potius decumbit adultos, qui Vitam tantis conviviis transigunt, nec minus facile concoquunt, largo praeterea otio corpus laxum reponunt.“ Aus medizinisch-diätetischer Sicht wird hier Hofkritik als Kritik an einer hedonistisch-epikureischen Lebensform geübt. Mit der Fettleibigkeit ist ein Thema gefunden, das sich bis in die ästhetischen Schriften hinein fortsetzen wird. In einer bemerkenswerten Fußnote zu Ueber Anmut und Würde kommt Schiller auf das Thema „Obesität“ erneut zurück, ersetzt die diätetische Begründung nun jedoch durch die ästhetische (NA 20, 274): „Daher man auch mehrenteils finden wird, daß solche Schönheiten des Baues sich schon im mittlern Alter durch Obesität sehr merklich vergröbern, daß, anstatt jener kaum angedeuteten zarten Lineamente der Haut, sich Gruben einsenken und wurstförmige Falten aufwerfen, daß das Gewicht unvermerkt auf die Form Einfluß bekömmt und das reizende mannichfache Spiel schöner Linien auf der Oberfläche sich in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fette verliert. Die Natur nimmt wieder, was sie gegeben hat.“

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deutende Rolle die Diätetik in der medizinischen Ausbildung der Karlsschule einnahm, zeigt eine Dissertation, die Schillers Freund Emanuel (Immanuel) Gottlieb Elwert ein Jahr zuvor (1779) vorgelegt hatte. Elwert, der 1775, nach Verlegung der Akademie von der Solitude nach Stuttgart, mit Schiller und vier weiteren Kommilitonen von der Jurisprudenz zur Medizin gewechselt hatte,253 gab ihr den programmatischen Titel Dissertatio medico-diaetetica de vitae ratione hominis naturae convenientissima (Stuttgart 1779).254 „Im Allgemeinen trifft es zu, dass diejenigen Menschen am gesündesten sind und am längsten leben, denen das Leben [ruhig] und ohne starke Gefühlsverwirrungen dahinströmt“.255 Auch Elwert steht unverbrüchlich auf dem Boden der psychophysischen Wechselwirkung, der commerciumLehre.256 Mehr als einmal, schreibt er, habe man die Erfahrung gemacht, dass auch ein Exzess der Freude töten kann („nimium gaudium occidisse non solitaria docuit experientia“), daher müsse „Mäßigung der Affekte“ das wichtigste Ziel sein.257 In einem eigenen Kapitel erörtert Elwert sodann den „schädigenden Einfluss der Leidenschaften“ (§16: „De funesto pathematum influxu“) und betont, dass „heftigere geistige Erschütterungen plötzliche und sichtbare körperliche Schäden und schreckliche Krankheiten hervorrufen können“.258 Eine Quelle für solche Affekte ist die Lektüre von empfindsamer Literatur, in der „alle seelischen Extremlagen ausgemalt seien“. Zumal junge Frauen müsse man bis zu einem gefestigteren Alter von aller Romanlektüre abhalten, um nicht den Anlass zu Hysterien zu geben.259 Schillers Laura-Texte zählen zu dieser Gruppe von Texten, vor denen Elwert seine Zöglinge bewahren will. Seine Einlassungen spiegeln den medizinischen Erwartungshorizont der Zeit wieder, vor –––––––––––––– 253 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 92f. 254 Ihre Grundgedanken popularisiert Elwert in einem Artikel im Schwäbischen Magazin von gelehrten Sachen. 11. Stück, 1779, S. 737-748 mit dem Titel „Allgemeine diätetische Betrachtungen von den Leidenschaften.“ Riedel: Anthropologie, S. 30f. 255 Elwert: Dissertatio, S. 46: „Generatim autem verum est sanissimos homines esse & maxime longaevos, quibus vita fluit, vel nullis affectibus fortioribus turbata.“ 256 Ebd. S. 45: „Quid intermedium illud Ens sit, simplex cum composito nectens, corpus cum non corporeo, qua ratione fieri possit, & quomodo actu contingat, ut commercium animus cum corpore alat, hujus jam nunc loci non est disquirere. Sufficiat mihi paucis indigitare, quam arctum sit illud commercium, & ad tuendam sanitatem quaedam inde deducere corollaria.“ 257 Ebd. S. 47. 258 Ebd. S. 48: „[S]ubitaneas & evidentes in corpore noxas, dirosque morbos producere posse graviores animi concussiones quascunque, quis inficiabitur?“ 259 Ebd. 51: „Arduum autem pro puellarum inprimis educatione momentum est, a librornm (!), in quibus omnia in extremis depicta sunt animi pathemata, eas arcere lectione, dum confirmatae per constitutam aetatem sint, quot enim non hysteriis ansam praebuisse fabularum romanensium praematuram lectionem experientia probavit?”

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dem sich die „seelische Extremlagen“ der Schiller’schen Lyrik als pathologische Extremisierungen abheben. Zielen die medizinischen Schriften auf das Normale, so zeigt die Lyrik das pathologische Überschreiten des mittleren Zustands. Insbesondere der bereits oben angesprochene § 16 des Versuchs ueber den Zusammenhang liest sich wie ein Entwurf zu den Seeligen Augenbliken. Dort heißt es warnend und ganz im Sinne des Freundes Elwert: „Die Freude tödet, wenn sie zur Ekstasi hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude geräth“.260 Die seeligen Augenblicke schildern solche Paroxysmen der Freude und Entzückung, in denen die physische Maschine des Menschen an den Rand der Selbstzerstörung geführt wird. Wo die „Seelen wie entbunden sich begegnen“ (v. 29), werden sie zugleich vom Körper entbunden. Die Vereinigung der Liebenden erzwingt die Dissoziation des „ganzen Menschen“, die Schiller nun wieder mit den petrarkistischen contrari affetti und „gemischten Empfindungen“ („Qualentzücken“, „Paradiesesschmerzen“; v. 31) beschreibt. Zu den Exzessen der Freude kommen die „Exzesse in allen sinnlichen Lüsten“ hinzu.261 Was den Seelenzustand des lyrischen Ichs im Sinne der Diätetik zu einem pathologischen macht, ist eine Disposition zu Wollust und Sinnlichkeit. Hier trifft das Urteil der Selbstrezension ins Schwarze, bieten doch die Seeligen Augenblike mehr als „eine schlüpfrige Stelle in platonischem Schwulst verschleiert“262, mehr als eine Stelle, an der „noch im Übersinnlichen […] sinnlich geschwärmt und im Sinnlichen die Pforte zur Ewigkeit aufgerissen [wird]“.263 Die neuplatonisch-kosmologische Liebesspekulation kann nicht den sinnlichen Sinn dieser „Elisiumssekunde“ verdecken. Von Beginn an wird hier am (eigenen) Fall und Exempel vorgeführt, wie „Zerrüttungen im Körper […] das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen, und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen“ können264. Es geht um nichts anderes als die „natürlichen Folgen der Unmäßigkeit“.265 Das lyrische Ich zeigt sich dem Leser als ein „durch Wollüste ruinierter Mensch“, der „leichter zu Extremis gebracht werden“ könne „als der, der seinen Körper gesund hält“.266 Der platonisierende Impuls zur (Selbst-)Vergöttlichung wird durch diesen Exzess im Sinnlichen wie Übersinnlichen durchkreuzt. Man –––––––––––––– 260 261 262 263 264 265 266

NA 20, 61. NA 20, 64. NA 22, 133. Wiese: Schiller, S. 118. NA 20, 65. NA 20, 63 NA 20, 65.

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muss dazu nicht einmal zwischen den Zeilen lesen. Offen ist (v. 11) vom „wollustheiße(n) Munde“ der Geliebten die Rede, von der erotogenen Wirkung des Blickes. Keineswegs bleibt es bei dem – für den Petrarkismus obligatorischen – distanzierten Austausch der Blicke, der die Strophen 1-4 mit insistierender Nennung beherrscht.267 Bei Schiller wird daraus ein (ganz unpetrarkischer) Dreischritt vom Blick (visus) über Kuss (osculum) zum coitus. Der Aufstieg zum Elysium ist in Wirklichkeit ein Abstieg in die „Wollust“: Wenn dann, wie gehoben aus den Achsen Zwei Gestirn, in Körper Körper wachsen, Mund an Mund gewurzelt brennt, Wollustfunken aus den Augen regnen, Seelen wie entbunden sich begegnen In des Athems Flammenwind – – – (NA 1, 64; v. 25-30)

„Elisiumssekunde“ und „Pause“, die an dieser Stelle „den Sinnen droht“, sind nichts anderes als Pause und Peripetie der sexuellen Erfüllung. Die seeligen Augenblike sind eine „Verherrlichung der geschlechtlichen Liebe“268, ein Gedicht über Sinnes- als „Daseinstrunkenheit“.269 Die unio mystica ist ein coitus, der in seiner physiologischen Symptomatik von der „Blutfülle“ über den „Schwindel“ (v. 36) bis hin zur Beinahe-Ohnmacht mit medizinisch-empirischer Genauigkeit und gleichsam im Selbstversuch eingefangen wird: Eine Pause drohet hier den Sinnen Schwarzes Dunkel jagt den Tag von hinnen, Nacht verschlingt den Quell des Lichts – Leises .. Murmeln ... dumpfer.. hin .. verloren.. Stirbt ... allmälig .. in den trunknen ... Ohren ... Und die Welt ist .... Nichts.... (NA 1, 65; v. 37-42)

Die medizinische Analyse der seelisch-körperlichen Ekstasen findet sich in § 25 des Versuchs, der sich der Frage widmet, ob der „Zustand der grösten Seelenlust“ zugleich „der Zustand des grösten körperli–––––––––––––– 267 Die Stufenleiter, die hier erklommen wird, entspricht den quinque lineae amoris (fünf Stadien der Liebe) der alteuropäischen Liebe. Sie gehen auf Donats Terenz-Scholien zurück. Vgl. im „Commentarius antiquior“ zu Terenz’ Eunuchus IV, 2, 12: „Quinque enim lineae sunt amoris, scilicet visus allocutio tactus, osculum sive suavium, coitus.“ Hehn, Karl: Quinque lineae amoris. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 29 (1941), S. 236-246; Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 501f.; Schlaffer: Musa iocosa, S. 76ff. 268 Gombrich, Ernst H.: Das Symbol des Schleiers. Psychologische Betrachtungen zu Schillers Dichtung. In: Ders.: Gastspiele. Aufsätze eines Kunsthistorikers zur deutschen Sprache und Germanistik. Wien/Köln/Weimar 1991 (= Literatur in der Geschichte / Geschichte in der Literatur 22), S. 89-110, hier S. 99. 269 Wiese: Schiller, S. 124.

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chen Wohls“ sein könne270. Überschreiten die Nervenbewegungen einen „gewissen Grade der Moderation“, so können sie „wohl höchste Aktivität, höchste augenblikliche Vollkommenheit seyn, aber dann sind sie Exzeß der Gesundheit, dann sind sie nicht mehr Gesundheit“.271 Was folgt, entspricht genau der lyrischen Symptomatik der Seeligen Augenblike: „So hat z.E. der Körper des entkräfteststen Wollüstlings im Momente der Ausschweifung seine höchste Harmonie erreicht, aber sie ist nur augenbliklich, und ein desto tieferer Nachlaß lehrt zur Genüge, daß Ueberspannung nicht Gesundheit war.“272 Dieser „Nachlaß“ steht auch im Gedicht am Ende: „Aber ach! Ins Meer des Todes jagen / Wellen Wellen“ (v. 52f.). Dies liegt darin begründet, dass „der übertriebene Vigor der physischen Aktionen den Tod so sehr beschleunigt als die höchste Disharmonie oder die heftigste Krankheit“.273 Die Ambivalenz solcher Vereinigungsphantasien unterstreicht, wie nahe sich Anthologie und Anthropologie in ihrer Diagnostik kommen. Dennoch sind auch die Unterschiede hervorzuheben. Zu den Vorzeichen der Laura-Dichtung gehört, dass sie das philosophische (Liebesmetaphyik) und anthropologische (Fieberdissertation, Versuch) Wissen immer auch literarisch reflektieren, indem sie die seelischen Extremlagen ins Zwielicht eines lyrischen Rollenspiels tauchen, das zwischen Nosologie und Poetologie schwankt. Was im Menschenwissen noch „Exzeß“ war, ist in der Lyrik schon poetische Strategie. Wie der Arzt vor dem Krankenbett des „nosocomium academicum“ steht, so tritt der Autor in Fantasie an Laura gleichsam vor sich selbst hin und stellt die Frage nach der Ätiologie der eigenen Krankheit: Und was ists, das, wenn mich Laura küsset, Purpurflammen auf die Wangen geußt, Meinem Herzen raschern Schwung gebietet, Fiebrisch wild mein Blut von hinnen reißt? Aus den Schranken schwellen alle Sennen, Seine Ufer überwallt das Blut, Körper will in Körper über stürzen, Lodern Seelen in vereinter Glut. (NA 1, 64; v. 25-32)

Es gehört zur widersprüchlichen Affektstruktur der frühen Lyrik, wenn sich in ihr Delirium und Diagnose, die Kälte des pathognomischen Blicks und das selbst induzierte Feuer der Leidenschaft überla–––––––––––––– 270 271 272 273

NA 20, 57. NA 20, 73. Ebd. Ebd.

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gern. Die „Ausweisung des Lyrischen“274 aus dieser Lyrik setzt mithin die Einführung des Diagnostischen voraus. Das Ich der LauraGedichte ist immer zugleich Arzt und Patient, die Texte schwanken in ihrem Habitus zwischen analytischer Kälte und poetischem Furor der Leidenschaft und Imagination. Die Ich-persona wird zum pathologischen casus verallgemeinert und gewinnt Objektivität als „Durchgang für Enthüllungen und Rühmungen, die anderen als persönlichen Sinn haben“.275 Die Laura-Gedichte sind lyrische Selbstversuche mit dem Ausnahmezustand, „poetische Experimentierräume“, in denen das medizinische Wissen der Dissertationen vielstimmigen „Dilemmalösungen“ zugeführt wird.276 Wo der Mediziner betont, „dass schon in die Idee der Gesundheit […] die Idee einer gewissen Temperatur der natürlichen Bewegungen wesentlich eingeflochten ist“, zeigt die Lyrik die Folgen des Gleichgewichtsverlustes, der „Unmäßigkeit“.277 3.4. Laura am Klavier In die Symptomatik des Gleichgewichtsverlustes werden auch die Kunst und das Schöne hineingezogen. Beide gemeinsam sorgen in der „Fantasiesonate“278 Laura am Klavier für jene gefährlichen Exzesse der sinnlichen Überspannung, die als „Tonwollust“ (Herder) oder „Wollust des Gehörs“ (Sulzer) der zeitgenössischen Musikästhetik wohl bekannt sind.279 Wie die lyrische Operette Semele stellt Laura am Klavier den „vewegenen“ Versuch dar, „die sinnliche Macht der Musik in Worte und Verse umzusetzen“.280 Musik ist jedoch in anthropologischer Sicht ein gefährliches Spiel. Der wohl temperierte Mensch wird bei Schiller durch das wohl temperierte Klavier der Geliebten über jene „Schranken“ getrieben, die der Mensch „nicht überschreiten darf, –––––––––––––– 274 275 276 277 278

H. Schlaffer: Ausweisung. Storz: Der Dichter Schiller, S. 201. Oesterle: Exaltationen, S. 213. NA 20, 63. Fähnrich, Hermann: Schillers Musikalität und Musikanschauung. Hildesheim 1977, S. 37. 279 Herder, Johann Gottfried: Viertes Kritisches Wäldchen. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877-1913, Bd. 4, S. 3-198, hier S. 114f. Zu Herders Musikologie Torra-Mattenklott, Caroline: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002 (= Theorie und Geschichte der schönen Künste 104), S. 130-146; zu Laura am Klavier vgl. Korch: Der zweite Petrarkismus, S. 172-179. 280 Finscher, Ludwig: Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers Semele. In: Aurnhammer u.a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt, S. 148-155, hier S. 153.

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ohne unterzugehen“.281 Laura am Klavier ist ein poetologischer und anthropologischer Text. Die Gewalt der Musik282 ist – dies führt der Text vor – in der Lage, den Grundsatz der Temperatur und des mittleren Zustands, die offizielle Diätetik und Ästhetik für „seelige Augenblike“ außer Kraft zu setzen. Musik ist Treibsatz zum „Flug zur Vollkommenheit“283 und Sinne verwirrende Droge, aber auch magisch-theurgische Praktik, die am Ende in einer Art musikalischem Gottesbeweis die subjektive Evidenz eines höheren Wesens vermittelt („Weg! Es ist ein Gott“). Man könnte Laura am Klavier Schillers erste und – zumindest für die vor-ästhetische Phase – wegweisende Reflexion über die Zwingkraft der Musik nennen. Nimmt man diesen Beitrag ernst, so muss die Behauptung, Schiller habe sich für die Theorie der Musik „erst ab 1793 zu interessieren“ begonnen, relativiert werden.284 Zwar sind dem Gedicht kaum Hinweise auf konkrete musikalische Sachverhalte zu entnehmen, wohl aber erhellende Spekulationen über die anagogischen und psychagogischen Potentiale der Tonkunst285, die – nach dem Schema ut musica poesis – als poetologische Standortbestimmung des Lyrikers Schiller gelten können. Diese Proto-Theorie der Musik in Laura am Klavier lässt sich drei Traditionen zuordnen: 1. einer neuplatonisch-pythagoreischen, 2. einer empfind–––––––––––––– 281 Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 37 schließt aus Schillers Charakteristik der Klangwirkung, dass es sich bei Lauras Klavier um „Cembalo, Clavichord und Kielflügel“ gehandelt haben könnte. 282 Vgl. dazu die anregende Studie von Nicola Gess: Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800. Freiburg i. Br. u.a. 2006 (= Berliner Kulturwissenschaft 1), die jedoch kaum auf die Epoche vor 1800 eingeht. 283 NA 20, 40. 284 Dahlhaus, Carl: Formbegriff und Ausdrucksprinzip in Schillers Musikästhetik. In: Ders.: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988, S. 67-77, S. 67: „Schiller […] begann sich für die Theorie der Musik erst zu interessieren, als er zu der Überzeugung kam, daß er sie in dem ästhetischen System, das er zu entwerfen versuchte, berücksichtigen mußte.“ Dies schien gerechtfertigt durch eine Aussage gegenüber Körner (11.1.1793): „An musikalischen Einsichten verzweifle ich, denn mein Ohr ist schon zu alt; doch bin ich gar nicht bange, daß meine Theorie der Schönheit an der Tonkunst scheitern werde.“ 285 Brusniak, Friedhelm: Schiller und die Musik. In: Koopmann (Hg.): SchillerHandbuch, S. 167-188, S. 172. Zum Thema ‚Schiller und die Musik’ liegt eine reiche Literatur vor (vgl. die Bibliographie bei Brusniak S. 187-189), in der jedoch die implizite Musikästhetik der Anthologie und der zahlreichen, über die frühen Dramen verstreuten Musikmotive nicht systematisch zur Kenntnis genommen wird. Aus der Vielzahl der Titel seien die folgenden herausgegriffen. Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 34-45; Gilbert, C.E.S.: Schiller’s conception of the interrelation of music and literature, with special reference to the significance of music in his plays. Sheffield 1977 hingewiesen. Zur Verwurzelung Schillers in der empfindsamen Musikästhetik Riedel, Wolfgang: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch, S. 410-439, hier S. 423-439.

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samen, 3. einer diätetisch-anthropologischen, die hier nacheinander kommentiert werden. Zunächst (1.) die neuplatonisch-pythagoreische Linie: Schillers frühe Spekulation über Musik ist Spekulation über Harmonie. Sie steht in einer auf die Spätantike (Macrobius, Aristides Quintilianus, Boethius) zurückgehenden pythagoreisch-neuplatonischen Tradition, die in der Musik die „sinnlich begreifbare Magie der Zahl“ erkennt: „Das Sein der Dinge und der Welt ist Harmonie, Einigung des Verschiedenen“.286 Musik ist Mystizismus der Zahl, spekulative Kosmologie, fundiert in Mathematik und Arithmetik. Als solche wird sie zur „universalen Ordnungswissenschaft“, zur „musica philosophica“, wie noch G.A. Baumgarten definiert.287 Die antike Musikologie ist geprägt vom dualistischen Weltbild des spätantiken Neuplatonismus bzw. Neupythagoreismus. Hier gilt der Vorrang der theoretischen vor der praktischen Musik. Boethius unterscheidet zwischen musica mundana (Musik des Weltalls, Sphärenharmonie), musica humana (Musik des Menschen, Harmonie zwischen Leib und Seele – der „wohl temperierte Mensch“) und musica instrumentalis (die vom Menschen erzeugte Kunst). Der biblische Topos, wonach Gott den Kosmos nach „Maß, Zahl und Gewicht“ eingerichtet habe (Sapientia 11,21), gestattet die Einholung dieser Tradition in die mittelalterliche Ontologie und Theologie. In dieser Verbindung lebt die Lehre von der Sphärenharmonie in der Neuzeit fort: als spekulative Geheimwissenschaft (Agrippa von Nettesheim, Robert Fludd), aber auch in der Astronomie. Noch Kepler hält in seinen Harmonices mundi libri V (1619) die Lehre von der Sphärenharmonie der Planeten aufrecht. Der neuzeitliche Rationalismus seit Descartes wird die Priorität der mathematisch-spekulativen Musik noch einmal untermauern. Leibniz spricht von der Musik als „der geheimen arithmetischen Übung des unbewusst zählenden Geistes“.288 Wie sehr Schiller mit dieser Tradition vertraut war, belegen die „seelenvolle(n) Harmonien“ (v. 15) von Lauras Klavierspiel, durch die sich kosmische Räume und kosmogonische Visionen einstellen. Musik wird ganz in platonischer Tradition zum Medium des Aufstiegs (bzw. der Rückkehr) vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. Die Ord–––––––––––––– 286 Bimberg, Siegfried / Scholtz, Gunter: Musik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel 1984, Sp. 242-257, hier Sp. 242. 287 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Philosophia generalis. Halle u. Magdeburg 1770 (Ndr. Hildesheim 1968), § 148, S. 65. 288 „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.“ Leibniz, Gottfried Wilhelm: Epistolae ad diversos […]. Hg. von Christian Kortholt. Leipzig 1734, S. 241 (epist. 44; vom 17.4.1712).

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nung des Sonnen- und Planetensystems – mit Kepler gesprochen: die „harmonice mundi“ – ersteht qua Musik aus des „Chaos Riesenarm“ (v. 19). ‚Harmonie‘ bezeichnet in den Laura-Gedichten einerseits die Musik, andererseits die Liebe („Sympathie“), die Schiller als wesensverwandte Vereinigungs- und Schwerkräfte versteht, die den Kosmos „in trauter Harmonie“ zusammenhalten: „Sphären ineinander lenkt die Liebe, / Weltsysteme dauren nur durch sie.“289 Wie die Liebe nimmt die Musik den Rang „eines gottgegebenen Naturgesetzes“ ein, „dessen Aufhebung die Ordnung der Schöpfung zusammenbrechen ließe“.290 Schon Fantasie an Laura verbindet beide Komponenten zu einer erotisch-musikalischen Kosmologie, die amor mundanus und musica mundana aufeinander abstimmt. Die Ordnung des „Weltsystem(s)“ ist dynamische, musikalische Tanz-Ordnung, „Wirbel“ (v. 1) und „Ringgang“ (d.h. Reigentanz). Noch in der Elegie Der Tanz wird „die drehende Schöpfung“ des Tanzes zum Sinnbild für die „Harmonien des Weltalls“ (v. 27), den „wirbelnde(n) Tanz, der durch den ewigen Raum / Leuchtende Sonnen wälzt in künstlich schlängelnden Bahnen“ (v. 30f.).291 In Phantasie an Laura enthält die Vision des harmonisch-musikalischen Kosmos’ eine polemische Tendenz, die in den Göttern Griechenlandes aufgenommen wird. Sie richtet sich gegen die Vertreter einer mechanistischen Physik in der Tradition Newtons („Newtone“), die das Weltall zum „Uhrwerk“ herabsetzen, das ohne okkulte Kräfte wie die „Göttin“ (v. 21) Liebe und ohne jeden spirituellen Zusammenhalt auskommt. Das neuzeitliche physikalische Weltbild bedeutet nicht nur Entmythologisierung (dies steht im Laura-Gedicht noch nicht im Vordergrund), sondern auch Ent-Seelung der Weltenharmonie zum „Chaos“ und „Riesenfall“. Hinter solchen Überlegungen wirkt die „Überzeugung von der realen Analogie, wenn nicht gar Identität von Liebe und“.292 Dies bedeutet jedoch keine einfache Ver–––––––––––––– 289 Fantasie an Laura; NA 1, 46, v. 15f. 290 Riedel: Anthropologie, S. 183. 291 NA 1, 228. Barkhoff, Jürgen: Tanz der Körper – Tanz der Sprache. Körper und Text in Friedrich Schillers Gedicht ‚Der Tanz‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 147-163; Golz, Jochen: Nemesis oder die Gewalt der Musik. In: Oellers, Norbert (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996 (= RUB 9473), S. 114-122; Riethmüller, Albrecht: Friedrich Schiller: ‚Der Tanz‘. Die Harmonie des Rhythmus. In: Ders. (Hg.): Gedichte über Musik. Quellen ästhetischer Einsicht. Laaber 1996, S. 66-90. 292 Riedel: Anthropologie, S. 183 (und weiter S. 182-198); McCarthy, John A.: Kopernikus und die bewegliche Schönheit. Schiller und die Gravitationslehre. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 15-37, S. 26: „Deshalb ist die klare Dialektik zwischen der

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söhnung mit dem Weltbild der „Newtone“, im Gegenteil. Keineswegs übersetzt Schiller einfach einen physikalischen Sachverhalt qua „symbolischer Operation“ in einen poetisch-mythologischen. Vielmehr wird im Namen des alten gegen das neue, im Namen des poetischen gegen das naturwissenschaftliche Weltbild Front gemacht. Schon die Laura-Gedichte – nicht erst die Götter Griechenlandes – hegen revisionistische Sehnsüchte. Sie predigen die Regression zu einem Status quo ante frühneuzeitlicher Kosmologie, der hinter Newton zurückgreift auf die Keplersche harmonice mundi und die in ihr gelöste hermetisch-spekulative Tradition. Was Schiller aus und gegen Newton für sich rettet, ist eben jene „qualitas occulta“ und „Fernwirkung“ („actio in distans“), für die ihr Entdecker gerade keine physikalisch-mechanistische Theorie angeben konnte oder – im Sinne der Maxime „hypotheses non fingo“ – wollte.293 So trägt der Mechanist Newton „zur Unterminierung des Mechanizismus wesentlich bei, indem er die Anziehungskraft, also sein oberstes physikalisches Prinzip, mechanizistischer Erklärung entzieht.“294 Die Schwerkraft als Fernkraft ist das Skandalon und „monstre métaphysique“ (Maupertuis) des Newtonschen Weltbildes, das den Revisionisten wie Schiller die Gelegenheit bot, im Gegenzug das hermetische Substrat einer neuplatonischen Kosmologie zu restituieren.295 (2.) Die Linie der empfindsamen Musiktheorie: Schließen die kosmologischen Visionen von Laura am Klavier an vormoderne Traditionen an, so verweist die psychagogische Wirkung des Klavierspiels auf die empfindsame „Standarddefinition“296 der Musik als Sprache der Empfindung (der Leidenschaften, des Herzens usw.), wie sie seit der musikalischen Reform um 1770, für die vor allem Carl Philipp Emanuel Bach steht, im Schwange war. Wirksam wird sie z.B. in Herders Polemik gegen die „Harmonisten“, die aus „todter Regelmä–––––––––––––– 293

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Negativität toter Uhrenmechanik und dem exzessiven Enthusiasmus typisch für Schillers Schriften der 1780er Jahre.“ Vgl. den berühmten Satz in einem Brief an Bentley (17.1.1692): „You sometimes speak of Gravity as essential and inherent to Matter. Pray do not ascribe that Notion to me; for the Cause of Gravity is what I do not pretend to know and therefore would take more Time to consider ist.“ Cohen, Bernhard (Hg.): Isaac Newton’s Papers and Letters in Nature and Philosophy. Cambridge/MA 1958, S. 298. Vgl. Saporiti, Katia: Kausalität und Naturgesetz bei Berkeley. In: Hüttemann, Andreas (Hg.): Kausalität und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2001, S. 169-224, hier S. 212; Jammer, Max: Gravitation. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel 1974, Sp. 863-866, hier Sp. 866. Kondylis: Aufklärung, S. 218. Ebd. S. 219. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 432.

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ßigkeit […] eine todte Folge todter Regelmäßigkeiten“ extrapolieren. Mathematik und Physik trügen „kein Jota zur Philosophie des tonartig Schönen“ bei.297 Die Musik wechselt ihren Systembezug. Aus einem mathematischen wird ein ästhetisches Phänomen.298 In der aisthesiologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts nimmt die Musik eine der Lyrik analoge Sonderstellung innerhalb der Künste ein, weil sie sich nicht auf Mimesis reduzieren lässt, sondern auf Darstellung und „lebendige(n) Ausdruck des […] inneren Seyns“299 zielt. Im Gegensatz zur diskursiven Begriffssprache entspricht sie der verlorenen adamitischen „Sprache […], die man in Elysen spricht“ (Laura am Klavier, v. 40).300 In der Musik verwirklicht sich eine doppelte Utopie: Die einer universalen und die einer medienfreien Kommunikation, in der Stimmungs- und Schwingungszustände gleichsam analog, d.h. ohne Rekurs auf übersetzende Zeichen und Repräsentation ausgetauscht werden. Als eine Sprache ohne (künstliche) Zeichen fasst auch Schiller die Musik auf. Laura am Klavier setzt den semiotischen Antagonismus von analoger und repräsentierender Kommunikation, eine mediologische Zwei-Sprachen-Lehre voraus. Als Ausdruckskunst steht sie den mimetischen Künsten gegenüber und berührt sich andererseits mit der Lyrik. Im Laufe der 1770er Jahre wird daher die Theorie der Lyrik sukzessive auch auf die Musik übertragen, dies unter selektivem Anschluss an die älteren Traditionen musikalischer Rhetorik und Affektenlehre301. Wie der Gesang „allemal aus der Fülle der Empfindung“ entspringt, so werden die lyrischen Gedichte „allemal von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht“, sie sind „Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung einer fröhlichen, oder zärtlichen, oder andächtigen, oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemessenen Gegenstand.“ Musik hat ihren Zweck nicht in Bezeichnung und Mitteilung, sondern „gefällt sich selbst“, ist augenblickliche und „vorübergehend(e)“302 Eruption von Empfindungen und hat so die „Natur des empfindungsvollen Selbstgespräches“. Lyrische Gedichte –––––––––––––– 297 298 299 300

Herder: Sämmtliche Werke ed. Suphan, Bd. 4, S. 113 bzw. S. 91. Scholtz: Musik, Sp. 248f. Herder. Sämmtliche Werke ed. Suphan, Bd. 15, S. 240. Zimmermann, Christine: Unmittelbarkeit. Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1995 (= Europäische Hochschulschriften Bd. I/1521) 301 Sulzer stellt dazu fest: „Der allgemeine Charakter dieser Gattung [sc. der lyrischen Gedichte; J.R.] wird also daher zu bestimmen seyn, daß jedes lyrische Gedicht zum Singen bestimmt ist. […] Um also diesen allgemeinen Charakter des lyrischen zu entdeken, dürfen wir nur auf den Ursprung und die Natur des Gesanges zurük sehen.“ Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 726. 302 Ebd. S. 727

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sind „Spiegel“ von Seelenzuständen, aus denen der empirische Psychologe „das menschliche Gemüth in seinen verborgensten Winkeln“ zu erkennen vermag.303 Schillers frühe Theorie der lyrischen Dichtkunst wie seine Theorie der Musik wandelt „unverkennbar auf den Spuren Sulzers“.304 Zwanglos lassen sich alle Elemente aus Laura am Klavier auf die Allgemeine Theorie der Schönen Künste zurückführen. Auch für Sulzer ist Musik „verständliche Sprache der Empfindung“305 bzw. „Sprache der Leidenschaften“.306 In doppelter Weise erfüllt sie die Voraussetzungen idealer „Mitteilung“. Im Hinblick auf das commercium schafft sie die „ganz unmittelbare Verbindung zwischen dem Gehör und dem Herzen“, zwischen Wahrnehmung und (dunkler) Erkenntnis; im Hinblick auf die ästhetische Kommunikation sorgt sie dafür, dass Gefühlslagen unmittelbar, d.h. medien- und störungsfrei transportiert werden. Musik wirkt qua Resonanzschwingung, also durch affektive Übertragung und actio in distans: „jede Leidenschaft kündiget sich durch eigene Töne an, und eben diese Töne erweken in dem Herzen dessen, der sie vernimmt, die leidenschaftliche Empfindung, aus welcher sie entstanden sind“.307 Auch Sulzer sieht in der Musik eine eine „Art der Bezauberung oder Ergreifung der Sinne“.308 Schiller spricht vom „Zauber, der zum Geist monarchisch zwingt den Geist“.309 „Man wird“, stellt Sulzer fest, „von keiner andern Kunst sehen, daß sie sich der Gemüther so schnell und so unwiederstehlich bemächtige, wie durch die Musik geschieht“.310 Wo Schillers lyrische persona sich „itzt zur Statue entgeistert, Izt entkörpert“ sieht (v. 2f.), spricht Sulzer von der Wirkung der Musik als einer „Entzükung“, welche die Zuhörer „versteinert“.311 Die Musik ist in ihrer Wirkung also durchaus ambivalent. Gerade die „Musik der Neuern Zeiten“ birgt „die Gefahr des „Mißbrauch(s)“, da sie durch die „Ueppigkeit der nichts sagenden und blos das Ohr küzelnden Melodien“312 rein sinnlich und das heißt nur auf die „Wollust des Gehörs“313 zielt. –––––––––––––– 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313

Ebd. S. 726f. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 438. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 783. Ebd. S. 784. Ebd. S. 781. Ebd. S. 783. Fantasie an Laura; NA 1, 46; v. 3f. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 788. Ebd. Ebd. S. 793. Ebd. S. 791.

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Von hier aus lässt sich eine dritte Komponente der Schiller’schen Musikästhetik fassen; auch sie weist auf Sulzer zurück. Neben die empfindsame Linie der Empfindungssprache tritt eine Diätetik der Musik, die nun auf den empirischen Psychologen Sulzer und an die engen Beziehung zwischen Ästhetik und Anthropologie in dieser Zeit hindeutet. Sulzer weiß genau um den „Einflus der Musik auf gewisse Krankheiten“.314 Dieser Einfluss ist jedoch ambivalent. Sulzer hält es für ausgemacht, dass „Menschen in schweeren Anfällen des Wahnwizes durch Musik etwas besänftiget, gesunde Menschen aber in so heftige Leidenschaft können gesezt werden, daß sie bis auf einen geringen Grad der Raserey kommen“.315 Physiologischer Grund für diese Wirkung ist die Reizbarkeit der Nerven: „Musik dringet ein, weil sie die Nerven angreift“316 oder – mit Schiller – an „tausend Nervgeweben“317 rüttelt: Da sie mit einer Bewegung der Luft verbunden ist, welche die höchst reizbaren Nerven des Gehörs angreift, so würket sie auch auf den Körper, und wie sollte sie dieses nicht thun, da sie selbst die unbelebte Materie, nicht blos dünne Fenster, sondern so gar feste Mauren erschüttert? Warum sollte man also daran zweifeln, daß sie auf empfindliche Nerven eine Würkung mache, die keine andere Kunst zu thun vermag, oder daß sie vermittelst der Nerven eine zerrüttete fiebrische Bewegung des Geblüthes, in Ordnung bringen könne, und, wie wir in den Schriften der Parisischen Academie der Wissenschaften finden, einen Tonkünstler, von dem Fieber selbst befreyt habe? 318

Das Gegenteil dieser therapeutisch-eurhythmischen Wirkung zeigt sich in Laura am Klavier. Die musikalisch induzierten Ekstasen nähern sich in der Tat „bis auf einen geringen Grad der Raserey“; statt jedoch durch „Freude“ zu therapieren, überspannt und überreizt die „Wollust“ der Töne die Saiten der Seele.319 Die Musik – und damit zugleich Schillers Lyrik – überschreitet die „Grenzlinie der Gesundheit“. Lauras Klavierspiel gefährdet das „commercium mentis et corporis“, indem es das „heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unsers Daseyns so sehr verlangt“ durch einen „Exzeß der Gesundheit“320 untergräbt. Es ist ein Spiel um „Tod und Leben“ (v. 4): Wenn dein Finger durch die Saiten meistert – Laura, itzt zur Statue entgeistert, Izt entkörpert steh ich da.

–––––––––––––– 314 315 316 317 318 319 320

Ebd. S. 785. Ebd. Ebd. S. 789. NA 1, 53, v. 5. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 789. NA 20, 58. NA 20, 73.

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Du gebietest über Tod und Leben, Mächtig wie von tausend Nervgeweben Seelen fordert Philadelphia; – (NA 1, 53; v. 1-6)

Musik wird hier zur magischen Praxis. Zu ihrem Vergleich muss der berüchtigte Magier Philadelphia (alias Jacob Meyer) herhalten, jener Scharlatan und Wundertäter aus der Familie der Gassner und Schröpfer, dem Lichtenberg sein berühmtes avertissement gewidmet hatte.321 Musik wird zur Theurgie („zwingst du sie“). Laura steht „mit höhern Geistern […] im Bunde“ (v. 38), ist die „Zauberin“ (v. 13), die durch Töne „entgeistert“322 und hypnotisiert, eine umgekehrte Sirene, die ihr Opfer nicht in die verhängnisvolle Tiefe lockt, sondern per Elevation zum „ewgen Wirbelgang“ der Sphären befördert. Musik ist halluzinative Kraft und „wollüstig Ungestüm“ (v. 16), in dem sich erotische und anagogische Wirkung, pythagoreische Musiktheorie und platonische Liebesmetaphysik verbinden. Der Versuch ueber den Zusammenhang spricht im Vorgriff auf Freuds „ozeanisches Gefühl“323 von der Sehnsucht „ins Unendliche aus[zu]fließen“.324 Andererseits ereignet sich hier ein Kunstexzess, der die „tausend Nervgewebe“ des primären wie des sekundären Zuhörers, des lyrischen Ichs und des Lesers, überspannt. Neuplatonismus wird hier zur Neurose – im zeitgenössischen Sinn von „Nervenkrankheit“, wie sie die an der Karlsschule maßgebliche Neuropathologie eines William Cullen konzipierte.325 Überspannung, Überreizung, „Phrenesie“ sind die Folgen einer Kunst, die auf physiologische Übertragung und Wechselwirkung, Einstimmung und Mitschwingung zwischen Klaviersaiten und Nervensaiten rechnet. Nur so kann sie ihren unmittelbaren, physischen Einfluss („influxus physicus“) auf den Zuhörer ausüben. Diese Resonanz-Theorie und Neurologie der Musik setzt zwingend den Primat der Instrumentalmusik gegenüber der Vokalmusik voraus.326 Um Sprache des Herzens zu sein, darf Laura sich keiner Sprache – und sei es auch der lyrischen – bedienen. Schon hier gilt: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr“.327 Schil–––––––––––––– 321 Hochadel, Oliver: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003, S. 258. 322 NA 1, 53 v. 2. 323 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 423 (Das Unbehagen in der Kultur). 324 NA 20, 69. 325 Riedel: Anthropologie, S. 7f.; Matussek, Paul / Red.: Neurosen (I-II). In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6, 1984, Sp. 760-766, hier Sp. 762: „Cullen verstand also unter der Vielzahl der von ihm als Neurosen bezeichneten Krankheitsbilder sowohl solche mit als auch ohne begleitende / verursachende organische Veränderungen.“ 326 Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip, S. 74-77. 327 Epigramm Sprache. NA 2/1, 322.

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ler teilt damit eine zeitgenössische Tendenz, die von der Vokalmusik weg zur „Rechtfertigung der modernen freien Instrumental-Musik als Kunst sui generis“ führt.328 Dies setzt Musik und Lyrik in ein widerspruchsvolles Verhältnis: das lyrische Gedicht ist Sprache, und kann daher nicht Sprache der Seele sein, sondern lediglich deren Übersetzung. Zugleich liegt in dem Versuch, das Erlebnis der Musik zu objektivieren, der doppelte Anspruch der Lyrik, zugleich Musik sein zu können und doch deren Gefährdungspotentiale einzudämmen. In der musikalischen Sprache verliert die Sprache der Musik ihre sinnlichwollüstigen Anteile. So ereignet sich in Stücken wie Laura am Klavier ein regelrechter Paragone zwischen den Medien und Künsten, dessen Ausgang offen scheint. An den Delirien der Musik schärft sich bereits der Gedanke der ästhetischen Distanz, auch wenn es bis in die neunziger Jahre dauern wird, bis Schiller das epistemische Modell der Kunst von Übertragung, Resonanz und Analogie auf Zeichen, Medium und Repräsentation umstellen und unter dem Banner der ästhetischen Freiheit versammeln wird. An die Stelle des schwachen tritt dann das starke und ‚dichte‘ Medium, die Freiheit von Sprache wird in eine Freiheit durch Sprache umgewertet.329 Dieser Prozess kündigt sich an einem beiläufigen Motiv an. Bis in die achtziger Jahre hinein sind Saiteninstrumente bei Schiller ubiquitär. Dabei fällt eine signifikante Vorliebe für die Saiteninstrumente wie die Gitarre („Laute“), die von seiner Frau gespielte Mandoline oder das Klavier (Cembalo, Clavichord, Fortepiano) auf. Erwähnt wird gelegentlich die „hohe Inspiration“, die er sich von ihnen verspricht.330 Die Frau, die, oft in anziehendem Äußeren und „reizenden Negligé, die Haare noch unfrisiert vor dem Flügel [sitzt] und phantasiert“, zählt zu den Stereotypen weiblicher Empfindsamkeit.331 „Saitenspiel“ ist im Frühwerk eine komplexe Metapher für die störungsfreie Harmonie von commercium und Kommunikation. Musik besitzt hier eine anthropologische und mediologische Dimension.332 Produktionsästhetisch scheint das Gedicht aus selbstinduzierter Schwingung hervorzugehen („Elisische Gefühle drängen / Des Herzens Saiten zu Gesängen“333). In Die Herrlichkeit der Schöpfung entwirft Schiller den Gedanken einer autophonen Welt; sie offenbart sich selbst durch ihr –––––––––––––– 328 Bimberg / Scholtz: Musik, Sp. 249. 329 Dieser ästhetische Wandel steht im weiteren Bezugsraum eines epistemologischen, den Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 357-363 erläutert. 330 An Huber, 13.9.1785; NA 24, 20. Brusniak: Schiller und die Musik, S. 171. 331 Vgl. die Reaktion von Amalie in Kabale und Liebe (NA 3, 45): „Aufspringend, entzükt. und von itzt an in seinen Armen auf ewig, Pause. Sie geht ans Klavier, und spielt.“ 332 Nachweise bei Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 35f. 333 NA 1, 12 (Von der École des Demoiselles; v. 1f.).

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Spiel „auf der Laute der Natur“. Die Natur übernimmt die Funktion der Äolsharfe:334 Und welche Melodien Dringen herauf? welch unaussprechlicher Klang Schlägt mein entzüktes Ohr? [...] Der grose Lobgesang Tönt auf der Laute der Natur! [...] In Harmonien, Wie einen süßen Tod verlohren, preißt Den Herrn des Alls mein Geist! (NA 1, 56, v. 46-51)

Die Resonanz der Saiten konnotiert reine (Ur-)Natur, Austausch unterhalb der oberen Vermögen und des Bewusstseins. Dies gilt auch für die Schwingungen zwischen den befreundeten, narzisstisch ineinander sich spiegelnden Seelen der Freunde. So kann Karlos mutmaßen, dass „die schaffende Natur / Den Rodrigo im Karlos wiederholte, / und unsrer Seelen zartes Saitenspiel / am Morgen unsres Lebens gleich bezog“.335 Es ist daher nur konsequent, wenn sich auch das pessimistische Bild des zerrissenen Saitenspiels als Ausdruck von Hemmung und Trennung der Seelenresonanz findet, etwa in einer emblematischen Szene von Kabale und Liebe (III, 4).336 Wo die „trennende“ Stunde sich abzeichnet, misslingt der sympathetische Ausdruck der Seele im Saitenspiel. Ferdinand, so schreibt die Regieanweisung vor, „hat in der Zerstreuung und Wut eine Violine ergriffen, und auf derselben zu spielen versucht – Jetzt zerreißt er die Saiten, zerschmettert das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter aus.“337 Ins Poetologische wird das Bild der fracta cithara in Melancholie an Laura gewendet, wenn der Versuch „Götterfunken aus dem Staub zu schlagen“ die Saiten des Dichters überreizt und zerreißt: „Ach die kühnste Harmonie / Wirft das Saitenspiel zu Trümmer“.338 –––––––––––––– 334 Schiller verwendet sie ein einziges Mal in Würde der Frauen, auch hier als Ausdruck einer aufs höchste gesteigerten Empfindungsfähigkeit und Reizbarkeit: „Aber, wie leise vom Zephir erschüttert / Schnell die äolische Harfe erzittert, / Also die fühlende Seele der Frau.“ Zur Topik vgl. Braungart, Georg: Poetische Heiligenpflege: Jenseitskontakt und Trauerarbeit in An eine Äolsharfe. In: Mayer, Mathias (Hg.): Gedichte von Eduard Mörike. Stuttgart 1999 (= RUB 17508), S. 103-129. 335 Don Karlos I, 2; NA 6, 18; v. 224-227. 336 Nachweise bei Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 35f.; zur Tradition vgl. auch Hess, Günter: ‚Fracta Cithara‘ oder Die zerbrochene Laute: zur Allegorisierung der Bekehrungsgeschichte Jacob Baldes im 18. Jahrhundert. In: Haug, Walter (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979 (= Germanistische SymposienBerichtsbände 3), S. 605-631; Hammerstein, Reinhold: Von gerissenen Saiten und singenden Zikaden. Studien zur Emblematik der Musik. Tübingen/Basel 1994. 337 NA 5, 58. 338 NA 1, 115, v. 90-94; vgl. noch Don Karlos IV, 24 (NA 6, 272; v. 5158-5163): „Gehört die süße Harmonie, die in / dem Saitenspiele schlummert, seinem Käufer, / der es mit taubem Ohr bewacht? Er hat / das Recht erkauft, in Trümmern es zu schlagen, /

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Die skeptischen Töne, die sich schon hier in den Topos musikalischer Unmittelbarkeit mischen, werden in Schillers klassischer Dichtung das Bild des Saitenspiels (fast) völlig verschwinden lassen. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Thekla ist die letzte, die in einem Schiller’schen Drama zum Saitenspiel greift – um ihrer melancholischen Resignation auf die Liebe Ausdruck zu verleihen. „Eine Gitarre liegt auf dem Tische, sie ergreift sie, und nachdem sie eine Weile schwermütig präludiert hat, fällt sie in den Gesang“.339 Spätestens mit dem Wallenstein ist das Saitenspiel zum Emblem der empfindsamen, tendenziell weiblichen Seele geworden, nicht mehr universales Modell zwischenmenschlicher Kommunikation. Im Frühwerk ist das noch anders. Schon die Dissertationen zeigen, wie sich Mediologie und Anthropologie durchdringen. Das Paradigma des Saiteninstruments spielt eine zentrale Rolle bei dem Versuch, die notorische Kluft zwischen Subjekt und Welt, d.h. das commercium-Problem in seiner wahrnehmungspsychologischen Facette einzufangen.340 Auch hier lässt sich von einer Proto-Ästhetik sprechen. Sie handelt von jenen Übertragungsvorgängen, die auch in der Anthologie verhandelt werden. „Empfindung ist Schwingung eini––––––––––––––

doch nicht die Kunst, dem Silberton zu rufen/ Und in des Liedes Wonne zu zerschmelzen.“ 339 Die Piccolomini, III, 7; NA 8, 129. 340 Auf die metaphorologische und aisthesiologische Bedeutung des Begriffs ‚Stimmung‘ und seine Karriere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts macht David Wellbery in seinem grundlegenden Artikel ‚Stimmung‘. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2003, S. 703-733 aufmerksam; vgl. den klassischen Essay von Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the word ‚Stimmung‘ (1944/45). Hg. von A. Granville Hatcher. Baltimore 1963. Wellbery betont, dass in Sulzers StimmungsArtikel ein „diskursgeschichtliche(r) Wendepunkt“ vollzogen sei, „an dem Traditionsbestände einer spekulativ-symbolischen Theologie in Instrumente einer reflektierten ästhetischen Theorie transformiert werden.“ Im Kern läuft dies auf eine Entmetaphorisierung der bei Sulzer – und vor allem bei Schiller – noch massiv präsenten metapherngeschichtlichen Residuen („Weltharmonie“) hinaus, durch die der Begriff für neue semantische und ästhetische Funktionen gewissermaßen ‚frei’ würde. Wellbery kommt es dabei auf die Wendung vom „objektiven Sinn“ zur „Subjektivierung des Begriffs“ (S. 707) an, vom Gestimmt-Werden zum Gestimmt-Sein. Trifft dies zu, wäre Schillers Stimmungsbegriff gewissermaßen vor-modern oder vor-subjektiv, da er einerseits physiologisch, andererseits kosmologisch verankert ist. Die Wahrheit liegt jedoch in der Mitte. Auch im Hinblick auf den Stimmungsbegriff muss man von einer „doppelten Ästhetik“ Schillers ausgehen, nämlich in werkchronologischer Hinsicht. Zwischen den Laura-Gedichten (die Wellbery nicht diskutiert) und der ästhetischen Theorie vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Wenn Schiller im 20. Ästhetischen Brief von der „mittlere(n) Stimmung“ des Gemüts als einem Zustand der „realen und aktiven Bestimmbarkeit“ (NA 20, 375) spricht, so ist hier die „Loslösung desselben [sc. Stimmungsbegriffes] vom Herkunftsbereich der musikalischen Praxis“ jedenfalls vollzogen (Wellbery S. 710).

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ger Saiten, und das zerschlagene Klavier tönt nicht mehr“, weiß schon der dilettierende Arzt Franz Moor.341 Gleichzeitig schreibt der Mediziner Schiller: Man kann in diesen verschiedenen Rüksichten Seele und Körper nicht gar unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die neben einander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret, und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen und eben diesen Ton nur etwas schwächer angeben. So wekt, vergleichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten. Diß ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Principien des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht. Der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen.342

Diese Verwendung des Beispiels Bezeichnet einen vollständigen Paradigmenwechsel gegenüber der Philosophie der Physiologie. Dort hatte Schiller die Frage, ob der Nerv „eine elastische Saite sei“343, also die These einer Schwingungs- und Stimmungsübertragung vom Sinneseindruck zum „Denkorgan“, wie sie Charles Bonnet vertrat (Essai analytique sur les facultés de l’âme), noch unter heftiger Polemik gegen den „französische(n) Gaukler“344 zugunsten einer spekulativen „Mittelkraft“ zurückgewiesen.345 Im Versuch kehren sich die Verhältnisse –––––––––––––– 341 NA 3, 121; umgekehrt ist die erste Leidenschaft der jugendlichen Luise Millerin „Auf dem unberührten Klavier der erste einweihende Silberton!“ (NA 5, 74) 342 NA 20, 63f. Zum psychophysischen Begriff der Sympathie und seiner ideen- und medizinhistorischen Herleitung eingehend Riedel: Anthropologie, S.121-129. Vgl. Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 41, Sp. 747 (s.v. „Sympathie“): „Zu den Arten der Sympathie gehöret auch auf gewisse masse daß Merckmahl, so sich an musicalischen Instrumenten ereignet. Man wird gewahr, wenn in einem Zimmer ein gewisses Instrument gerühret wird, und ein anderes seines gleichen hengt an der Wand, so klinget dasselbe auch, ob es schon niemand angreifft, noch deutlicher aber ereignet es sich, wenn sie beyde auf dem Tische liegen, und auf einerley Art gespannet sind.“ Alt: Schiller, Bd. 1, S. 246 verweist auf eine Formulierung des Göttinger Popularphilosophen Johann Georg Feder (Deutsches Museum, 1776; nach Sauder, Gerhard (Hg): Empfindsamkeit. Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980, S. 55): „Fast scheint es, daß eben so mechanisch fremde Empfindungen in uns übergehen, als eine tönende Saite gleiche Schwingungen in gleichartigen Saiten hervorbringt.“ 343 NA 20, 16. 344 NA 20, 22. 345 NA 20, 24: „Wenn ich zwei Klaviere neben einander stelle, und auf einem derselben eine Saite rühre, und einen Ton angebe, so wird auf dem andern Klavier die nehmliche Saite und keine andere, ohne mein Zutun zittern, und eben den Ton, freilich matter, angeben. Wir könnten also sagen: die Stelle des ersten Klaviers vertritt die Welt, so wie sie sich in den sinnlichen Organen befindet, die Stelle der Luft den Nervengeist. Die Stelle des zweiten Klaviers das Denkorgan.“ Dasselbe Exempel ist schon in § 7 (NA 20, 17) angelegt: „Ich höre einen Schall, wenn ich das Zittern der Luft empfinde. Da aber die Schwingungen der Luft immer mehr ermatten, je weiter

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um, das Gedankenexperiment wird umgewertet. Das sympathetische Vermögen als „Quidproquo für ‚Zusammenhang’“346 übernimmt die Funktion der obsoleten Mittelkraft. Dies impliziert eine Verschiebung im Modell der Kommunikation. Von Repräsentation wird auf Analogie, von vermittelter auf unmittelbare, d.h. medienfreie Übertragung umgestellt. Commercium wie Kommunikation sollen nun – so das Postulat – ohne ein drittes und mittleres auskommen.347 Ist die Mittelkraft ein Medium, dessen „Veränderungen […] Zeichen äußerlicher Veränderungen“ darstellen, also Außenwelt symbolisch repräsentieren, so vollzieht sich Kommunikation durch Sympathie immateriell und immediat, indem sie ohne den Umweg über ein repräsentierendes Symbolsystem auskommt. Entscheidend ist, dass sich diese sympathetische actio in distans auf physiologischer Basis, in Gefühl und Empfindung, und damit gänzlich unwillkürlich und unbewusst, aber auch unwiderstehlich vollzieht – daher der Vergleich mit dem magischen Zwang. 3.5. Klassische Musikästhetik Der frühe Schiller, so lässt sich resümieren, versteht die Musik und damit auch ihre lyrische Schwesterkunst als magisch-hypnotische Praxis, als Faszination im ursprünglichen Wortsinn. In Laura am Klavier ist die Magie der Musik aufs Engste an die des bannenden (‚bösen’) Blicks gebunden. In dieser radikalen Sinnlichkeit sieht der spätere Schiller denn auch die bedenkliche Gefahr der Musik. Selbst „die geistreichste Musik [steht] durch ihre Materie noch immer in einer größern Affinität zu den Sinnen […], als die wahre ästhetische Freyheit duldet.“348 Sie ist, zumindest der Tendenz nach, eine Kunst der Nähe, des Austauschs, der unbewussten Wechselwirkungen. Wenn es daher Ziel aller Kunst ist, dass „das Gemüth des Zuschauers und Zuhörers […] völlig frey und unverletzt bleib(t)“, dann muss die Musik eine prekäre Kunst sein, weil sie nicht „Freyheit von Leidenschaften“349, sondern diese Leidenschaften selbst induziert. Im 22. Ästheti–––––––––––––– 346 347

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sie sich von den zitternden Saiten entfernen, daß wir also kaum die nächste empfinden würden, so musten Unterkräfte des Ohrs die Schwingungen erhöhen.“ Riedel: Anthropologie, S. 127. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 246 sieht hier mit Foucault „das metaphysisch geprägte Denken in Ähnlichkeiten, das im vorkantischen Zeitalter nochmals eine Brücke zu den Wissensordnungen des 17. Jahrhunderts schlägt.“ Dies bezieht sich auf Foucault: Ordnung der Dinge, S. 46-77. NA 20, 381. NA 20, 382.

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schen Brief, der „zentralen Äußerung über Musik in Schillers Schriften“350, wird daher der nur auf den ersten Blick paradoxe Vorschlag unterbreitet, die Formlosigkeit, „Stoffartigkeit“ und „blinde“ Macht der Musik zu domestizieren.351 Er läuft hinaus auf den Versuch, die einst von Lessing postulierten Grenzen der Künste im Hinblick auf ihre „Wirkung auf das Gemüth“ wieder zu transzendieren. „Darin eben zeigt sich der vollkommene Styl in jeglicher Kunst, daß er die specifischen Schranken derselben zu entfernen weiß, ohne doch ihre specifischen Vorzüge mit aufzuheben“.352 Schiller bezieht dies auf die drei Grundkünste Musik, Plastik und Dichtung. Für die Musik bedeutet dies, ihren Mangel an Form und Struktur durch „Errichtung einer Gegeninstanz“353, d.h. durch Anlehnung an die Plastik zu kompensieren: „Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt werden, und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken“.354 Dieser Gattungs- und Mediensynkretismus hat seinen Grund im doppelten Makel der Musik, a) eine moderne Kunst und b) eine Kunst der Bewegung zu sein. In Schiller’scher Phrasierung könnte man sagen: Musik ist Spiel der Leidenschaften, nicht Spiel der Leidenschaften. Im musikalischen Exkurs der Matthisson-Rezension wird Schiller daher von der idealen Musik fordern, „Form der Empfindungen zu sein“, welche „die innern Bewegungen des Gemüts durch analogische äußere zu begleiten und zu versinnlichen“ weiß. Nur so wird der Tonsetzer zum „wahrhaften Seelenmaler“, der sich „wo nicht dem plastischen Künstler, der den äußern Menschen, doch dem Dichter, der den innern zu seinem Objekte macht, getrost an die Seite stellen.“355 Es geht also – mit Kants Überlegungen zur Einteilung der schönen Künste gesprochen (§ 51 KdU) – um die Verwandlung einer bloß „angenehmen“ in eine „schöne Kunst“, die nicht im „bloßen Sinneneindruck, sondern als die Wirkung einer Beurteilung der Form im Spiele vieler Empfindungen anzusehen“ ist.356 –––––––––––––– 350 Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip, S. 68. 351 Vgl. An Körner 10.3.1795; NA 22, 295 (Anmerkungen zu Körners Aufsatz über die Musik): „Was ich indeß vorzüglich vermißte und daher zu beherzigen bitte, ist der materielle Teil der Musik, auf welchem allein ihre ganze spezifische Macht beruht […] Aber weil in dem Reich der Schönheit alle Macht, insofern sie blind ist, aufgehoben werden soll, so wird die Musik nur ästhetische durch Form. Die Form aber macht keineswegs, daß sie als Musik wirkt, sondern bloß, daß sie bei ihrer musikalischen Macht ästhetisch wirkt. Ohne Form würde sie über uns blind gebieten; ihre Form rettet unsere Freiheit.“ 352 NA 20, 381. 353 Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip, S. 69. 354 NA 20, 381. 355 NA 22, 272. 356 KdU § 51. Kant: Werke, Bd. 8, S. 428.

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Schillers klassische Musikästhetik bleibt auch deswegen „in ihren Grundlagen auf einer vorklassischen Stufe stehen“357, weil sie im Bann des ästhetischen Klassizismus steht bzw. aus ihm konzeptionell hervorgeht. Aus der Allianz von Lyrik und Musik ist eine von Musik und Plastik geworden. Sie strebt durch Übertragung Winckelmannscher Kategorien („Ruhe“, „Kontur“, „Form“ etc.) nach einem Ideal des Plastischen, in dem die magisch-sinnliche und hedonistische Natur zugunsten formaler Bestimmungsmerkmale (Komposition und mathematische Struktur als Äquivalente von Kontur und Form) sublimiert werden. Es ist kaum zu übersehen, dass damit auch die Lehren aus der Laura-Dichtung gezogen werden, in der die Musik als Fieberund Halluzinationskunst figuriert. Hier stand eben das im Zentrum, was der klassische Schiller an der „Musik der Neuern“ perhorreszieren wird, die Tatsache nämlich, dass diese es „vorzüglich nur auf die Sinnlichkeit anzulegen“ scheint und damit „dem herrschenden Geschmack“ entgegenkommt, „der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will.“ Aus diesem Grunde werde „alles schmelzende […] vorgezogen, und wenn noch so großer Lerm in einem Conzertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird.“358 Was im An–––––––––––––– 357 Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip, S. 73 358 NA 20, 200. Es fällt nicht leicht zu präzisieren, an welche neuere Musik und Komponisten Schiller bei seiner Beschreibung gedacht haben mag. Namen nennt Brusniak: Schiller und die Musik, S. 175-178. Bekannt ist seine Verehrung für Christoph Willibald Gluck († 1714), dessen Iphigenie er etwa Haydns Schöpfung vorzog. Gemeint war jedoch vor allem Mozart. Dies geht aus einer Gesprächsnotiz hervor, die der Weimarer Kammermusiker und Daniel Gotlieb Schlömilch (1775-1861) um 1861 mitteilt: „Über Musik unterhielt sich Schiller sehr gern“, wird da berichtet. Insbesondere über die neueren Tendenzen. „Es waren nämlich von Wien und Dresden aus auch auf den mittel- und süddeutschen größeren Theatern die Mozartschen Opern so beliebt und heimisch geworden, daß alle anderen derartigen Werke in den Hintergrund verdrängt wurden.“ NA 42, 368. Aus dieser Konstellation mag Schillers Gegensatz von Anciens und Modernes hervorgehen: „Der Name Mozart beherrschte eben alles, und es bestand auf diesem Kunstgebiet zwischen dem Alten und Neuen ein ganz ähnlicher Kampf, wie jetzt [d.h. um 1860] zwischen den Wagnerschen Opern und denen jener ältern Zeit.“ Schiller beharrt in dieser Querelle auf seiner einmal gefassten Vorliebe für die ‚ältere’ Musik Glucks: „Aus diesen Unterhaltungen leuchtete aber unverkennbar hervor, wie ungern Schiller es sah, wenn in jenem Enthusiasmus für Mozart die älteren Gluckschen Werke vergessen werden wollten und wenn dieselben nicht zu derjenigen Anerkennung gelangten, welche sie – seiner Meinung nach – wert waren.“ Schlömilch belegt dies mit einer Unterhaltung über den Don Giovanni, der seit dem 30.1.1792 wiederholt in Weimar gespielt worden war (NA 42, 678), mithin sehr wohl im Hintergrund der kritischen Bemerkungen in Ueber das Pathetische stehen könnte. Schelling berichtet, dass Schiller inspiriert von einer Don Juan-Aufführung im Hause Hufelands (20.3.1801) selbst mit dem Gedanken gespielt habe, den Stoff auf der Basis von Lorenzo da Pontes Libretto zu bearbeiten. Von diesem Unternehmen zeugt noch ein erhaltenes Balladenfragment (NA 2/1,

II. Philosophischer Arzt und ›poeta medicus‹

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schluss an diese Stelle folgt, ist eine zur Karikatur gesteigerte pathognomische Studie über die Effekte „schmelzender“ Musik.359 Sein Bericht liest sich wie die Reminiszenz der musikalischen Ekstasen, welche die literarische Laura einst mit ihrem Klavierspiel provoziert hatte, wie eine Palinodie der eigenen lyrisch-musikalischen Jugend. Die Analyse der Symptome deckt sich teilweise mit den diätetischen Überlegungen zu den Folgen der „Unmäßigkeit“ und „Exzesse(n) in allen sinnlichen Lüsten“.360 „Schmelzende Musik“, im Übermaß genossen, zeitigt ähnliche Effekte der „Berauschung“ wie „übermäßiger Genuss des Weines und des Weinbrands“ oder „maßloser Liebesgenuss“361: Ein bis ins thierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Athem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Princip der Freyheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird.362

Damit ist ein vollständiger Paradigmenwechsel gegenüber der frühen Musikästhetik vollzogen. Anders als in Laura am Klavier ist Musik nicht mehr Stimulus der Vergöttlichung, sondern deren Hindernis, beraubt sie den Menschen doch seiner geistigen zugunsten seiner „thierischen“ Natur. Die Musik muss sich gleichsam zur Plastik transzendieren, um als Kunst im gesteigerten Sinne noch legitim sein zu können. Dass dies auf eine Aporie zuläuft, muss kaum betont werden. Die neue Reserve gegen die neueste Musik schlägt sich wiederum unmittelbar in den Dramen nieder. So bedeutend die Musik in dramaturgischer Hinsicht für die klassischen Dramen bleibt, so ist sie doch als Motiv und Metapher klar auf dem Rückzug. Ähnliches gilt für den Kult der (mit-)schwingenden Saiten und Saiteninstrumente. Anders als Amalia, der das Spiel auf Laute und Klavier zum Medium ––––––––––––––

359

360 361 362

422f.). Vgl. die Gespräche mit Goethe am 6.6.1797. Immerhin: Schiller bleibt auch nach 1800 in Fragen der Musik ein Ancien, der darauf beharrt, „daß Gluck recht wohl dem Mozart an die Seite gestellt werden könne“ (NA 42, 368). Valentin, Erich: Mozart und Schiller. In: Ders.: Zeitgenosse Mozart. Augsburg 1971, S. 40-51. Vgl. einen Brief von Voß an Ernestine Boie (18.9.1773): „Ich wurde genöthigt, auf dem Klavier zu spielen. Vielleicht verschaffte die Musik den andern einige Linderung, mir selbst, der jeden schmelzenden Affect ganz annehmen mußte, um ihn wieder auszudrücken, schlug sie nur tiefere Wunden.“ Joh. Heinrich Voß: Briefe. Hg. von Abraham Voß. 4 Bde. Halberstadt 1829-1833, hier Bd. 1 (1829), S. 222. NA 20, 63 bzw. 64. De discrimine febrium (SW, Bd. 5, S. 1070): „[U]sum Calidorum vini praesertim ejusdemque spiritus, Venerem immodicam celebratam.“ NA 20, 200 (Ueber das Pathetische).

3. Die ›Anthologie‹ als Anthropologie

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einer „elysischen“ Herzenssprache wird, oder Karl, der sich mit der Laute „zurük[zu]lullen“ hofft zu alter „Kraft“363, verzichtet Schiller nun auf kammermusikalische Elemente auf offener Szene – Theklas elegisches Lied zur Gitarre (III, 6) stellt, wie erwähnt, eine Ausnahme dar. Das lakonische Schlusswort in dieser Angelegenheit findet sich, wie so oft, im Schema über den Dilettantismus. Hier wird noch einmal der Gegensatz von musica vetus und musica nova im Hinblick auf die musikalische Kultur in Deutschland aufgegriffen. In der „alte(n) Zeit“ sei von der Musik „größerer Einfluß aufs leidenschaftliche Leben durch tragbare Saiteninstrumente“ ausgegangen, die als „Medium der Galanterie“ dienten, heute herrsche das „Klimpern“.364

–––––––––––––– 363 NA 3, 107. 364 SW, Bd. 5, S. 1051.

III. Panopticum und Perspektiv.

Die Archäologie der Schaubühne

III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne 1. Der durchdringende Blick

1. Der durchdringende Blick

Es gibt gute Gründe, sich dem Komplex der Schiller’schen Dramatik und Dramentheorie einmal nicht von der „ewigen Querelle du théâtre“1 her zu nähern, deren „Schlußwort“2 in der Schaubühnen-Rede (1785) gesprochen wird3, bzw. von der Kategorie des Erhabenen her, die Schiller in einer Reihe von Schriften nach dem Studium der Kantischen Kritik der Urteilskraft diskutiert.4 Weniger das „bunte Patchwork“5 von Topoi aus der Theaterdebatte des 18. Jahrhunderts steht im Folgenden im Blickpunkt als die sozialen Praktiken, die Schillers Theorie der Schaubühne voraussetzen und mitformen. Ausgangspunkt ist die These, dass die Schaubühne sich am Ende des 18. Jahrhunderts innerhalbe eines Dispositivs entfaltet, das sie mit verwandten Feldern anschauender Erkenntnis in der sozialen Praxis sowie in den populären Medien der verbindet. Schiller hat in seiner Rede kaum zufällig den deutschen Begriff der Schaubühne dem schon damals gebräuchlicheren ‚Theater‘ vorgezogen. Mit dieser Wahl wird der Aspekt des Sehens, die Theatralität des Theaters markant in den Vordergrund gerückt. In der Metaphorik des scharfen, perspektivisch geleiteten Blicks hat die Schiller’sche –––––––––––––– 1 2 3 4

5

Zelle, Carsten: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch, S. 343-358, hier S. 345. Riedel, Wolfgang: Schriften zum Theater, zur bildenden Kunst und zur Philosophie vor 1790. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 560-574, hier S. 561. Pikulik, Lothar: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Hildesheim 2007 (= Medien und Theater / Neue Folge 9). Dazu zusammenfassend Barone, Paul: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Freiburg i. Br. 2004; Riedel, Wolfgang: „Weltgeschichte ein erhabenes Object“. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Alt, Peter-André / Košenina, Alexander / Reinhardt, Hartmut / Riedel, Wolfgang (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Würzburg 2002, S. 193-214; Piñero Costas, Trinidad: Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik. Berlin/New York 2006. Zelle: Schaubühne, S. 345.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Schaubühne ihr eigentliches, d.h. ihr mediales Sinnzentrum. Es ist daher kein Zufall, wenn die Anschauung selbst wieder in ihr zum Thema und Problem wird. Dies geschieht in einem Motiv, das überall im Frühwerk die Funktion eines meta-theatralischen Symbols erfüllt, gemeint ist das Motiv des allsehenden oder all-durchdringenden Blicks. Es verbindet so heterogene, zeitlich-stilistisch disparate Texte wie die Schaubühnen-Rede, den Don Karlos oder das Polizey-Fragment; noch in der klassischen Vorliebe für das Modell der „tragischen Analysis“ lebt es fort. Die folgenden Überlegungen zu Schillers Dramatik zwischen Räubern und späteren Dramenfragmenten spüren der pragmatischen und diskursiven Funktion des Dramas als einer öffentlichen „Anstalt“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach. Es wird sich dabei zeigen, dass nicht nur die Schaubühne von Anschauungsformen der gesellschaftlichen Kontroll- und Überwachungsinstitutionen beeinflusst ist, sondern diese selbst an Konventionen und Konzepte der zeitgenössischen Dramatik anschließen. Wo die Schaubühne zum Panoptikum wird, kann sich umgekehrt das Panopticon als Schaubühne organisieren. Das Emblem der Aufklärung ist weniger das Licht als der panoptische Blick, der das allsehende Auge Gottes beerbt. Sehen ist Macht, Gesehen werden Ohnmacht. Neben der theologischen zeigt sich hier eine psychobiographische Erfahrung, die in den Texten zwischen Räubern und Don Karlos immer wieder durch- und abgearbeitet wird.6 Es ist eine Welt, die sich aufteilt in Wächter und Bewacher, Observierende und Observierte. Archetyp dieses Aufsehers dürfte niemand anders als der herzogliche Psychologe Carl Eugen sein, dem Schiller in der Vorrede zum im Versuch ueber den Zusammenhang das „durchdringende Auge eines Menschenkenners“ attestiert. So ist es im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten nur folgerichtig, wenn dem „tiefen Blik, mit dem Sie [der Herzog; J.R.] die Seele aller ihrer Zöglinge durchschauen“7, noch die Blickstrukturen der Werke folgen, wenn sich in der Flucht des Prinzen vor dem übermächtigen Vatergott Schillers eigene Flucht vor einem Herzog spiegelt, der wie „ein Vater unter seinen Söhnen zu wandeln“ pflegte.8 Die Architektur der Solitude übersetzt diesen Willen zur Übersicht in den Raum: Von der Rotunde in der Akademie aus, wo der Herzog zu speisen pflegte, konnte dieser durch drei Türen jederzeit den anliegenden Speisesaal –––––––––––––– 6

7 8

Vgl. Brittnacher, Hans Richard: Agonie und Anarchie. Zur Autopsie der Macht in zwei Fragmenten Schillers (Die Polizey und Der Geisterseher). In: Feger, Hans / Brittnacher, Hans Richard (Hg.): Die Realität der Idealisten – Friedrich von Schiller – Wilhelm von Humboldt – Alexander von Humboldt. Weimar 2008, S. 267-284. NA 20, 37. Ebd.

1. Der durchdringende Blick

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übersehen.9 Das Unbehagen, dem taxierenden Blick ausgeliefert zu sein, wird von hier zur motivischen Konstante in Schillers Werk. „Ich habe hier einen verborgenen Aufseher in Venedig“, ruft der Prinz im Geisterseher aus10 – und hat damit objektiv Recht. Im Aufsatz Ueber das teutsche Theater imaginiert Schiller einen Schauspieler, der aus der somnambulen Einheit mit seiner Rolle erweckt wird durch das Gefühl: „Man beobachtet mich“.11 Immer wieder wird bei Schiller fixiert und anvisiert, der durchbohrende Blick ist ein szenischer Topos des jungen Schiller, etwa im Fiesko: „Verrina blikt jeden vest und durchdringend an“12, Ohne Zweifel findet diese Ökonomie der Blicke ihren Höhepunkt im Don Karlos, Schillers Drama der höfischen Kultur und prudentia, das als Spiel der physiognomischen Penetration bezeichnet werden kann. Philipp ergründet „den Infanten mit einem durchdringenden Blick“13, oder der Marquis „ruht mit einem durchdringenden Blick auf dem Prinzen, der ihn zweifelhaft ansieht“.14 „Der Infant – Ich kenn ihn – ich durchdringe seine Seele“15, behauptet Pater Domingo und unterstreicht damit den Zusammenhang von Inspektion und Inquisition. Der physiognomische Tiefenblick gehört ins Arsenal anthropologischer Methoden, die hier einer kriminalistischen und geheimdienstlichen Aufklärung zugeführt werden. Schon der Karlsschüler weiß, dass durch den psychophysischen Konsensus und „Nervenzusammenhang“ dem Kennerblick „die geheimsten Rührungen der Seele auf der Aussenseite des Körpers geoffenbahrt“ werden, „die Leidenschaft […] selbst durch den Schleier des Heuchlers“ dringt.16 Dass dies nicht nur „der unentbehrlichste Leitfaden im gesellschaftlichen Leben“17 ist, sondern von kriminalistischer Relevanz, erweist sich im Verbrecher. Hier wird der Blick des Menschenkenners zur Voraussetzung der Detektion. Die vordetektivische Kriminalerzählung findet Spuren vor allem am Körper, als Zeichen verhüllter Identität. Der „Torschreiber“, den „eine vierzigjährige Amtsführung […] zum unfehlbaren Physiognomen aller Landstreicher erzogen“ hat, verfügt eben über den „Falkenblick des Spürers“, der in der Lage –––––––––––––– 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Uhland, Robert: Geschichte der hohen Karlsschule in Stuttgart. Stuttgart 1953, zwischen S. 80 und 81. NA 16, 51. NA 20, 84. Fiesko I, 12; NA 4, 34. NA 6, 72. NA 6, 145. NA 6, 124. NA 20, 68 (Versuch ueber den Zusammenhang). Ebd.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

ist, Delinquenz durch Physiognomik zu erweisen.18 Aufklärung bedarf hier der „Aufmerksamkeit“, jener anthropologischen Schlüsselkompetenz, die im Verbrecher wie im Geisterseher zur detektivischen wird.19 Schiller, der Flüchtling, weiß aus eigener Erfahrung um die Gefahr des detektorischen Blicks, dem er selbst bei seinem Entweichen nach Mannheim entgeht. Schlechter ergeht es seinem Sonnenwirt: Die „burleske Wahl seiner Kleidungsstücke“ zusammen mit einem „Gesicht, worauf so viele wütende Affekte, gleich den verstümmelten Leichen auf einem Walplatz, verbreitet lagen“, informiert zuverlässiger als jedes Papier.20 Anders als der entwendete Pass, den der Sonnenwirt mit sich führt, sprechen die Züge eine deutliche und unverstellbare Sprache, die durch Physiognomik – als Lügendetektor und Röntgenstrahlen des 18. Jahrhunderts – entschlüsselt werden kann. Der Schluss des Verbrechers ist auch deshalb lehrreich, weil er das große Thema der verhüllten bzw. enthüllten Identität, der Anagnorisis und Anamnesis, die im Modell der „tragischen Analysis“ zum Strukturideal klassischer Dramatik erwachsen wird, ein erstes Mal durchspielt. Wie König Ödipus ist der Sonnenwirt auf der Flucht vor seiner schuldbeladenen Identität, wie bei Sophokles ist das Bekenntnis zur eigenen Person gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der Schuld und dem Selbstopfer zur Rettung der Ordnung – diesem Schema entspricht ja auch ganz der Schluss der Räuber. Dieser Konnex von Identität und Moralität ist freilich nur plausibel, wenn man die Diskrepanz zwischen Kontrollbegehren und realen Überwachungsmöglichkeiten des Staates am Ende des 18. Jahrhunderts bedenkt. Solange nämlich Pass- und Kontrollwesen als Effektoren von Identität noch keine feste, zwischen den Kleinstaaten abgestimmte und homogene Form angenommen haben, bleibt die Praxis der Identitätsfeststellung in der Lebenswirklichkeit schmerzlich bestimmt „von jenem Nebeneinander von umfassendem obrigkeitlichem Kontrollanspruch und lückenhafter und widersprüchli–––––––––––––– 18 19

20

Erhellend Cusack, Andrew: „Der Schein ist gegen Sie“. Physiognom and honour in Schiller’s „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. In: The Modern Language Review 101 (2006), S. 759-773. Vgl. Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008; dies. Aufmerksamkeit. Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert. In: Steigerwald, Jörn / Watzke, Daniela (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg 2003, S. 55-74; van Laak, Lothar: Literarisches Wahrnehmen – ästhetisches Handeln. Zum Stellenwert der Aufmerksamkeit im Prozeß der Aisthesis. In: Apel, Friedmar / Braungart, Wolfgang / Ridder, Klaus (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 193-217. NA 16, 26.

1. Der durchdringende Blick

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cher Praxis“21, die dem Zufall oder eben dem Falkenblick die okkasionelle Enthüllung des Simulanten überlassen muss. Wie instabil diese Praxis war, lässt sich daran ablesen, dass die physiognomische Detektion schon im Geisterseher, der ja gleichfalls ein Roman über die verhüllte Identität (des Armeniers) ist, wieder misslingt. Hier zeichnet es diesen „verborgenen Aufseher“, Mentor und Erzieher aus, dass er sich allen Blicken entzieht, seine Identität damit so opak bleibt wie die Züge seines Gesichtes. Die Unergründlichkeit des Armeniers besteht in der Unlesbarkeit seiner Physiognomie, die „so viele Züge und so wenig Charakter“ zeigt, zugleich unter- und überdeterminiert ist. Es ist die kalte Maske des Bösen, der ausgeglühten Passion: „Alle Leidenschaften schienen darin gewühlt und es wieder verlassen zu haben. Nichts war übrig als der stille, durchdringende Blick eines vollendeten Menschenkenners, der jedes Auge verscheuchte, worauf er traf“.22 Im Spiel der physiognomischen Lektüren nimmt der Armenier eine absolute Spielleiterposition ein. Sie zeichnet sich durch vollständige Unlesbarkeit aus. Eben dies macht sie zum Zeichen vollendeter Unmenschlichkeit und Seelenlosigkeit. Wie aktuell die Frage der verhüllten Identität war, zeigen die Überlegungen, die Johann Gottlieb Fichte gleichsam im bürokratischen Nachgang seiner Philosophie des absoluten Ichs im Rahmen seiner Rechts- und Staatsphilosophie ausführt. Das Ich setzt hier nicht das Nicht-Ich, sondern dieses setzt durch territorialen Akt das Ich als dieses Ich. In der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796) wird in der Passfrage das Verhältnis von Individuum und Staat bürokratisch konkret. Der Pass ist das Symbol und positive Stigma der Vergemeinschaftung. Er ist zugleich Ausweis von Identität und Individualitätsurkunde: „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch“23, und – so wäre zu ergänzen – der Mensch wird nur durch Pass zum Bürger. Kein Wunder also, wenn Fichte energisch fordert: Die Hauptmaxime jeder wohleingerichteten Polizei ist nothwendig folgende: Jeder Bürger muß allenthalben, wo es nötig ist, sogleich anerkannt werden können, als diese oder jene Person: Jeder muß immerfort einen Paß bei sich führen, ausgestellt von seiner nächsten Obrigkeit, in welchem seine Person genau beschrieben sei; und dies ohne Unterschied des Standes. 24

–––––––––––––– 21 22 23 24

Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004, S. 161. NA 16, 53. Zahn, Manfred: Einleitung in: Ders. (Hg.): Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1960 (= Philosophische Bibliothek 256), hier S. XVIII. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 289.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Wiedererkennung ist eine Frage der mimetischen Präzision, daher solle man neben die „bloß wörtlichen Beschreibungen einer Person“, die „immer zweideutig bleiben“, bei ausgewählten „wichtigen“ Personen „statt der Beschreibung ein wohlgetroffenes Portrait einfügen“.25 Dass solche Passporträts in der Realität schnell zu Passepartouts der Täuschung werden konnten, zeigt sich wiederum im Geisterseher, wo der Prinz durch ein solches Porträt seines verschiedenen Freundes, in das der Sizilianer nur „eine flüchtige Ähnlichkeit“26 gebracht hat, getäuscht wird. Technisch und institutionell sind Fichtes Passpläne zu ihrer Zeit „eine utopische Vorstellung“27 oder – wie Hegel noch 1820 schreibt – philosophieferne „Ultraweisheit“.28 Fichte selbst verband mit seiner Passphilosophie die Hoffnung, den Dingen und Individuen Namen und damit dem Staat Ordnung zu geben: „Die Quelle alles Übels in unseren Notstaaten ist einzig, und allein die Unordnung, und die Unmöglichkeit, Ordnung zu schaffen“29, es sei denn, mag man ergänzen, die höhere Ordnung und Sichtbarkeit der Kunst, deren allsehendes Auge dort höhere Polizeidienste und Gerichtsbarkeit leistet, wo die praktischen Observationsmöglichkeiten des Staates an ihre Grenzen stoßen. Das Auge der Dichtung sieht weiter als die „Augen der Polizei“30. 2. Die Polizey

2. ›Die Polizey‹

Die zuletzt zitierte Wendung findet sich in einem Projekt der klassischen Periode mit dem Arbeitstitel Die Polizey, das Schiller seit Oktober 1797 parallel als Tragödien- und Komödienentwurf ausarbeitet.31 In diesem Großstadtpanorama wird die Obsession der Beobachtung zum eigentlichen Zentrum. In diesem Sinne handelt es sich um eine Reflexion auf die Anschauungsform der Bühne in polizeilicher Hinsicht – Meta-Theater der öffentlichen Ordnung. Schauplatz des –––––––––––––– 25 26 27 28 29 30 31

Ebd. NA 16, 71. Groebner: Der Schein der Person, S. 163. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 18321845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/Main 1979 (= Theorie-Werkausgabe), Bd. 7, S. 25. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 296 Die Polizey; NA 12, 100. Zur Entstehungsgeschichte des Stücks NA 12, 429-432; vgl. auch meinen Kommentar in SW, Bd. 3, S. 947-951. Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses. Tübingen 2000 (= Hermaea 83), S. 144-192; Springer: Legierungen aus Zinn und Blei, S. 58-75.

2. ›Die Polizey‹

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Stückes ist das Paris Ludwigs XIV., das sich Schiller durch Louis Sébastien Merciers vielbändiges Tableau de Paris (gelesen 1788) erschloss.32 Hier fand Schiller die Darstellung einer omnipräsenten Polizei, deren mächtiger Alleinherrscher und Organisator (zwischen 1697-1720) der legendäre Marc René d’Argenson war. Dem Zuschauer sollte das „Getriebe der ungeheuren Stadt“ und die „Räder der großen Maschine“ vorgeführt werden.33 Es war ein ambitioniertes Unternehmen, Hofmannsthal spricht von einem „antizipierte(n) Balzac“34. In einem Brief an die zukünftige Schwägerin Caroline von Beulwitz schreibt Schiller: „Wer Sinn und Lust für die große Menschenwelt hat, muss sich in diesem weiten, großen Element gefallen; wie klein und armselig sind unsre bürgerliche und politische Verhältnisse dagegen! […] Ich habe einen unendlichen Respect für diesen großen, drängenden Menschenocean, aber es ist mir auch wohl in meiner Haselnußschaale.“35 Das Phänomen des urbanen Raumes erschließt sich für Schiller in der Metapher des „Menschenozean(s)“. Großstadt wird zum ästhetischen Gegenstand, indem sie – metaphorisch – in Natur überführt wird, Zivilisation kommt mit ihrem anderen zur Deckung. Größe und Unüberschaubarkeit der Stadt werden, da sie die comprehensio aesthetica verhindern, dem „Theoretischerhaben“36 zugeschlagen. Der Raum der äußersten Naturferne wird zum Urwald, in dem Argensons Agenten „die Spur des Wildes“ aufnehmen und der „Mörder […] durch alle seine Schlupfwinkel aufgejag(t)“ wird, bis er „endlich in ihre Schlingen“ geht. D’Argenson vertritt eine posthumane Sicht auf den Menschen. „Der Mensch wird von dem PolizeyChef immer als eine wilde Thiergattung angesehen und eben so behandelt“.37 Die Stadt ist eine komplexe Metapher in Schillers Werk. Sie vertritt die Welt in ihrer „Allheit“, in der selbstverständlich auch „geheime Gesellschaften“38 nicht fehlen. –––––––––––––– 32

33 34 35 36 37 38

Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Nouvelle édition corrigée & augmentée. 8 Bde. Amsterdam 1782/83, Bde. 9-12 Amsterdam 1788 (Ndr. Genf 1979). Auswahl in Ders.: Mein Bild von Paris. Mit dreiundvierzig Wiedergaben nach zeitgenössischen Kupferstichen. Übertragen von Jean Villain. Frankfurt/Main 1979. Zu Schillers Mercier-Lektüre vgl. Stettenheim, Ludwig: Schillers Fragment „Die Polizey“ mit Berücksichtigung anderer Entwürfe des Nachlasses. Diss. Rostock 1893, S. 41-48. Schäffner, Wolfgang / Vogl, Joseph: Polizey-Sachen. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 47-65. Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 351; vgl. ebd. S. 425: Für solche „grosse Verhältnisse“ hatte Schiller, wie schon Hofmannsthal gesehen hat, „ein Auge, damit steht er fast allein unter den Deutschen.“ An Caroline von Beulwitz; 27.11.1788; NA 25, 146. NA 20, 172 (Vom Erhabenen). NA 12, 93. NA 12, 92.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Das Stichwort der comprehensio aesthetica bezeichnet den archimedischen Punkt des Stückes. Es kreist um das Problem der Anschauung und der Sichtbarkeit. Die Ausgangsfrage lautet: Wie lässt sich ein Standpunkt einnehmen und durchsetzen, von dem aus der ordnende (gleichsam zentralperspektivische) Blick auf ein amorphes Gebilde wie die Großstadt Paris fällt? Die Lösung liegt in der Konstruktion einer olympischen Position, einer Teichoskopie moderner und gleichzeitig metaphysischer Qualität, die Allwissenheit garantiert. Diese „Allwissenheit“ – das traditionelle Prärogativ Gottes (bzw. der Götter) – wird nun modernisiert und säkularisiert. Bei Schiller wird sie dem Polizeileutnant d’Argenson zugeschrieben, der nicht nur Polizist, sondern auch „Beichtvater“ ist, welcher „die Schwächen und Blößen vieler Familien“ kennt39. Man denke an die Rolle Domingos und des Großinquisitors im Don Karlos. In ihren Methoden sind Geheimbund, Geheimpolizei und Geheimverbrechen ohnehin ununterscheidbar: „Das organisierte Verbrechen und die organisierte Polizei stehen einander gleichermaßen verkleidet und unablässig beobachtend gegenüber“.40 Schiller taucht die Pariser Polizei und den Justizapparat in ein mythisches Licht: „Die Polizey erscheint hier in ihrer Furchtbarkeit, selbst der Ring des Gyges scheint nicht vor ihrem alles durchdringenden Auge zu schützen“.41 Die Großstadt ist ein ungeheurer Underground. Wenn das Venedig des Geistersehers ein ungeheures Labyrinth ist, so ähnelt Paris einer Kaverne, „unterhöhlt, die Steine sind über der Erde, es steht auf Höhlen“.42 Im Polizey-Fragment verwandelt sich die Intrige von einem Instrument der „höfischen Rationalität in die Beobachtungs-, Überwachungs- und Verfolgungstätigkeit des modernen Justizapparats“.43 Die Schaubühne wird hier zum Panopticum, zum Drama der Information und der Inquisition, das die „Vortheile der dramatischen Methode, die Seele –––––––––––––– 39 40 41 42

43

NA 12, 95. Von Matt, Peter: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2008, S. 407. NA 12, 96. NA 12, 97. Das ist säkularisierte vanitas-Topik, wie sie das Gedicht Melancholie bietet. „Unsre stolz aufthürmenden Palläste, / Unsrer Städte majestätsche Pracht / Ruhen all auf modernden Gebeinen“ (NA 1, 112f; v. 21-23). Die unterhöhlte Stadt als Metapher findet sich bei Goethe in einem Brief an Lavater vom 22.6.1781: „Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.“ WA, Abt. 4, Bd. 5, S. 149. Von Matt: Intrige, S. 407.

2. ›Die Polizey‹

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gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“44, weidlich ausnutzt. Im Polizey-Projekt sehen wir den klassischen Schiller Seite an Seite mit seinem Kontrahenten Fichte, der nur wenig früher (1796) in seinen Grundlagen des Naturrechts die Struktur des Polizey-Entwurfs vorwegnimmt: „In einem Staate von der hier aufgestellten Konstitution hat jeder seinen bestimmten Stand, die Polizei weiß so ziemlich, wo jeder Bürger zu jeder Stunde des Tags sei“.45 Das gelingt selbst dem „alles durchdringenden Auge“ von Schillers d’Argenson nicht, der am Ende doch die „Spur des Wildes“ verliert. Das Drama, das sie bewahrt, stellt sich damit als Beobachtungsdispositiv über die Polizei, die es ihrerseits beobachtet. Die Schaubühne bewahrt die Übersicht, wo sie den Institutionen der Aufsicht längst abhanden kommt. Anlass und Berechtigung des Stückes gehen gerade von dieser Überlegenheit der Schaubühne über die öffentliche Observation – der Polizey über die Polizei – aus. Das Drama kommt in Gang, weil die Welt – mit Fichte gesprochen – in „Unordnung“ gerät und selbst die Polizei die Fäden aus der Hand verliert. Dass nämlich „das Verbrechen […] in einem solchen Staate etwas höchst Ungewöhnliches“ sei, wird durch Schillers Skizze ausdrücklich widerlegt, und in dieser Widerlegung liegt zugleich seine Daseinsberechtigung und Funktionsbestimmung. Dieses Verbrechen ist in der Polizey so naturwüchsig wie die Stadt selbst, es ist die Wurzel der Gesellschaft. „Es gleicht einem ungeheuren Baum, der seine Äste weitherum mit andren verschlungen hat, und welchen auszugraben man eine ganze Gegend durchwühlen muß“.46 Kein Wunder, dass Schiller zur Aufdeckung des Verbrechens einer Großorganisation aus „Abteilung und Unterabteilung“, aus „Offizianten“, „Kundschafter(n)“ und „Angeber(n)“ [d.h. Denunzianten; J.R.] bedarf, die selbst „geheimnißvolle Wege nehmen“ und „auch nicht immer die Formen beobachten“ müssen.47 So verliert sich allmählich die Differenz von Jäger und Wild, Geheimpolizei und Geheimbund, schon im Geisterseher tritt der Armenier selbst als „Offizier der Staatsinquisition“ in Erscheinung.48 Hier, in der Frage des of–––––––––––––– 44 45 46 47

48

NA 3, 5 (Vorrede zur ersten Auflage der Räuber). Zur Poetik und Literaturgeschichte des Verhörs vgl. Niehaus, Michael: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München 2003. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 296. NA 12, 96f. NA 12, 93. Der Mohr im Fiesko spielt und reflektiert diese Informantenrolle: „Das sind die Spionen und Maschinen. Bedeutende Herren, denen die Großen ein Ohr leihen, wo sie ihre Allwissenheit hohlen; die sich wie Blutigel in Seelen einbeissen, das Gift aus dem Herzen schlirfen und an die Behörde speien.“ NA 4, 28 (I, 9). NA 16, 66.

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fenen oder verdeckten Agierens, trennt sich Fichte, der Idealist der Überwachung, von Schiller, dem poetischen Realisten des Überwachungsstaates, der seine Polizei „unter der Maske und still“ agieren lässt, wie dies schon die „Maske“ – alias der Armenier – im Geisterseher praktiziert. Hegel stimmt dieser Politik bei, scheint es ihm doch „etwas Widriges, wenn man überall Polizeibeamte sieht. Darin wäre die geheime Polizei das beste, man soll nicht sehen, daß sie eine Beaufsichtigung ausübe, die doch notwendig ist. Aber das Verborgene hat den Zweck, daß das öffentliche Leben frei sei“.49 Wo Fichte dekretiert, dass „es in dem Gange der hier beschriebenen Polizei keiner Spione, keiner heimlicher Auflaurer bedarf“50, setzt Schiller das filigrane Räderwerk einer Behörde in Gang, die im Notfall auch vor „schlimme(n) Mittel(n)“51 nicht zurückschreckt. Die Legitimation hierzu zieht sie aus der bonum-durch-malumDialektik der Theodizee: Die Polizei muss „oft das Übel zulassen, ja begünstigen und zuweilen ausüben, um das Gute zu tun“.52 Die Begründung und Rechtfertigung der Polizeiarbeit führt damit in metaphysisches Gelände. Der Entwurf sah daher auch eine „Szene Argensons mit einem Philosophen und Schriftsteller“, welche die „Gegenüberstellung des Idealen mit dem Realen“, mithin also jenen „psychologische(n) Antagonism“ des Essays Ueber naive und sentimentalische Dichtung aufnahm. Vielleicht war diese Szene als Streitgespräch mit Fichte über die Prinzipien der „Polizey“ konzipiert, in dem sich „die Überlegenheit des Realisten über den Theoretiker“ an der Frage, „ob man die Wahrheit laut sagen“ dürfte, erweisen sollte. Für Fichte stand dies außerhalb jeder Diskussion. Die Strategie der Polizei muss darauf abstellen, dass die Bürger „unbefangen ihre Gedanken über die Regierung und ihre Pläne gegen sie entdecken, und ihre eigenen Verräter werden“.53 Schillers und Fichtes Polizei-Visionen stehen erkennbar im Horizont eines politisch-naturrechtlichen Diskurses, führen – dies bliebe zu diskutierten – möglicherweise sogar einen unmittelbaren Dialog. Dennoch unterscheiden sie sich in ihrem praktisch-institutionellen Staatsverständnis grundlegend. Fichtes Idealstaat ist ein kristallines Gebilde. Es ist bestimmt von allseitiger Transparenz und Offenheit, eine prästabilierte Harmonie aus gläsernem Bürger und allse–––––––––––––– 49 50 51 52 53

Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/1818). Hamburg 1983, S. 163. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 296. NA 12, 96. NA 12, 93. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 296.

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hendem „Auge der Aufsicht“.54 Die Polizei ist bei Fichte das „Verbindungsmittel zwischen der executiven Gewalt und den Unterthanen“. Sie ermöglicht „Wechselwirkung zwischen souveräner Gewalt und gesellschaftlichem Kräftefeld“.55 Mit ihren Informanten und Offizianten ist die Polizei demnach ein soziales Medium, das „Störungen“ der gesellschaftlichen Zirkulationen verhindert und commercium wie Kommerz garantiert.56 Auch hier gilt die Analogie von Körper und Staat. Die „Kanäle“ der Information sind die Lebensadern des Gesellschaftskörpers, sein Nervensystem, das zwischen empirischer Wahrnehmung („Data“57) und regulierender Staats-Vernunft vermittelt. Schillers Polizeipoetik bleibt damit strukturell im Bannkreis des commercium-Problems: Sie verschiebt die Vermittlungs- und Mitteilungsproblematik auf den sozialen Körper des Staates. In ihm ist die Polizei jene „Mittelkraft“, die zwischen der Tiernatur des Menschen („wilde Tiergattung“) und seinem geistigen „Auge“ durch eine höhere Kybernetik vermittelt. Was Schiller in § 4 der Philosophie der Physiologie formuliert, kann daher als Strukturmodell und Matrix für die Funktion der Polizei im Dramen-Entwurf gelesen werden. Denn auch sie, die Polizei, gehört zu jenen „mechanische(n) Unter- und Schutzkräfte(n), die den Bau des „Organs“ ausmachen. Auch sie bildet eine „Kette von Kräften“58, die den Geist des Staates mit seinem Körper verbindet. Wo Schiller das commercium-Problem als Kommunikationsproblem formuliert, etabliert er ein Grundschema, das in Texten wie Geisterseher, Fiesko, Don Karlos oder im Polizey-Fragment nur noch – im Sinne der organologischen Metapher vom „politischen Körper“59 oder „Körper des Staats“60 – auf den „Bau“ der Gesellschaft übertragen und verschoben werden musste, um hier zum Drama der gelenkten Kommunikation geformt zu werden: „Ohne die Mittelkraft kommt keine Vorstellung in die Seele“, ohne die Polizei keine „Data“ in die Schaltzentrale eines Generalleutnants, in dem man eine doppelte Idealisierung der Geistposition im Körper und der Autorposition im Text selbst erblicken darf. –––––––––––––– 54 55 56

57 58 59 60

Ebd. S. 297 Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 53. So hat die Polizei auch ökonomische „Geschäfte“: sie hat „für die Bedürfniße der Stadt so zu sorgen, daß das Nothwendige nie fehle und daß der Kaufmann nicht willkürliche Preise setze. Sie muß also das Gewerb und die Industrie beleben, aber dem verderblichen Misbrauch steuern.“ NA 12, 92. NA 12, 91. NA 20, 15. NA 20, 314 (3. Brief). SW, Bd. 5, S. 15 (Der Verbrecher aus verlorener Ehre)

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Neben die organologische Metaphorik tritt bei den Zeitgenossen die kosmologische und metaphysische, von der bereits kurz die Rede war. D’Argenson ist bei Schiller primum movens und Maschinist eines Gebildes, das vor allem Kosmos – Ordnung und Artefakt – ist bzw. sein soll. Der Staat ist zugleich Maschine und Mikro-Kosmos: Alle Kraft- und Informationsstrahlen, die von der Peripherie ausgehen, müssen zum Generalleutnant [der Polizei] führen […] Er setzt all die Räder in Bewegung, deren Gesamtheit die Ordnung und die Harmonie hervorbringt. Die Wirkungen seiner Verwaltung sind mit nichts besser zu vergleichen als mit der Bewegung der Himmelskörper.61

Es ist nicht zu übersehen, dass dieser Entwurf nur ein Ideal ist. In der öffentlichen wie in der dramatischen Praxis ist das reibungslose Funktionieren der Mittel- und Schutzkräfte eine Herausforderung, zumal wenn man, wie Schiller in seinen Polizei- und Passpoesien, nicht auf Jena und Weimar, sondern auf die Groß- und Hauptstädte (Venedig, Paris, Moskau) blickte. Dramatisch bleibt das Verhältnis von „Person und Staat“62 wie auch die Pass-Frage jedoch weiterhin virulent, und dies buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Noch 1805 kann der vorgebliche Demetrius nicht anders als durch kumulativen Beweis identifiziert werden, durch „Bürgen“ und „Eideshelfer“ sowie durch materielle Erkennungszeichen wie ein „Kreuz von Gold mit kostbarn Edelsteinen“, besetzt mit „neun Smaragden, die mit Amethysten durchschlungen waren“, die als Theaterrequisiten hinter den Stand des zeitgenössischen Passwesens zurückfallen.63 Vielleicht hat auch Schiller erkannt, dass die vollkommene Transparenz der Beobachtung der Literatur ihren Spielraum entzieht. Formuliert findet sich diese Pointe bei Friedrich Schlegel, in den Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur. Wenn erst jeder Reisende durch Biographie und Physiognomie auf seinem Pass identifizierbar werde, sei, so Schlegel, auch nichts mehr übrig, was Anlass und Stoff für Romane liefern könne. „Im geschlossenen Handelsstaat und bei vollkommener Polizei“ seien Romane schlechthin unmöglich.64 Die Ordnung des Kunstwerks bedarf der Unordnung der Welt. Die höhere Sichtbarkeit, die es ermöglicht, erwächst kompensatorisch aus der Trübe der Verhältnisse. Aus diesem Unbehagen an den schwebenden Identitäten erwachsen der Literatur ihre Themen und –––––––––––––– 61 62 63 64

Nicolas-Toussaint Des Essarts: Dictionnaire universel de Police 1787, S. 322. Nach Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main 1994 (zuerst dt. 1977, frz. 1975), S. 274. Suppanz: Person und Staat. Vgl. die akribisch vermerkten äußeren Beweise für Demetrius’ Identität. NA 11, 265 (Rand). Nach Groebner: Schein der Person, S. 163.

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Energien. Die „drohende Unsichtbarkeit“65 der Gauner, Betrüger und impostores aller Couleur sind der lebensweltliche Humus für die literarischen Imaginationen verdeckter, verkannter und enthüllter Identitäten. Kein Wunder also, dass der Hochstapler (als Passbetrüger) zum kriminellen und dramatischen Phänotyp um 1800 avanciert. Schillers Vorliebe für das „tragische Sujet des entdeckten Verbrechens“66 mit seiner konstitutiven Anagnorisis ist „im klassischen Zeitalter der Identifikation“67 mehr als klassizistischer Sophokles-Spleen. Neben dem erhabenen Verbrecher steht gleichrangig der verkleidete68. Dies gilt schon für Karl Moor, der verkappt in sein Vaterhaus zurückkehrt, um mit seinem echten Ab- und Passbild konfrontiert zu werden, ebenso für Fiesko, der den Staatsstreich als Komödie inszeniert, schließlich in existentieller Dringlichkeit für die Spätfragmente Warbeck und Demetrius, in denen Identität, Identifizierung und Intrige im Motiv des „betrogenen Betrügers“ eine untrennbare Einheit eingehen69. In diesem Zusammenhang gewinnt das ehrwürdige Element der Anagnorisis neues Interesse als Problem einer passlosen Gesellschaft.70 In dieser Welt ist der Schauspieler das Maß des Menschen. Hypokrisie ist die Verhaltenslehre einer Welt der universellen Verstellung, die als Umkehrung der Hoffnungen auf eine bürokratische Stabilisierung von Ich und Identität gelesen werden darf. Dasein heißt eine Rolle spielen, und so bietet Schiller etwa im Fiesko und im Geisterseher Theater im Theater, Schauspieler, die Schauspieler spielen, Hypokrisie in Potenz. –––––––––––––– 65 66 67 68 69 70

Ebd. Oehme, Matthias: ‚Tragisches Sujet des entdeckten Verbrechers‘. Moderner Stoff und klassische Form in Dramenfragmenten Schillers. In: Impulse 10 (1987), S. 45-74. Groebner: Schein der Person, S. 165. Aber auch die „unaufhörliche(n) Verkleidungen der Polizey-spionen“ (NA 12, 98). Die Polizei „besoldet Masken an den Festen, um ein Schauspiel der öffentlichen Freude zu geben“ (NA 12, S. 99). Robert: Selbstbetrug und Selbstbewusstsein. Kennedy, Philip F. (Hg.): Recognition: The Poetics of Narrative. Interdisciplinary Studies on Anagnorisis. New York u.a. 2009 (= Studies on Themes and Motifs in Literature 96); für die deutsche Literatur steht eine neuere Darstellung aus. Vorläufig Pape, Walter: ‚So hat mich nicht getäuscht die Stimme der Natur‘. Inzest und Anagnorisis in der deutschen Komödie und Tragödie des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Bluhm, Lothar (Hg.): Daß gepfleget werde der feste Buchstab. Festschrift für Heinz Rölleke zum 65. Geburtstag am 6. November 2001. Trier 2001, S. 61-75; Ricœur, Paul: Parcours de la reconnaissance. Paris 2004; Wunberg, Gotthard (Hg.): Wiedererkennen – Literarische und ästhetische Wahrnehmung in der Moderne. Tübingen 1983; Peil, Dietmar u.a. (Hg.): Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Tübingen 1998; Cave, Terence: Recognitions. A study in Poetics. Oxford u.a. 1988; Janke, Wolfgang: Anagnorisis und Peripetie. Studien zur Wesensverwandlung des abendländischen Dramas. Diss. Köln 1955.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Dass die wahren Identitäten am Ende aufgeklärt werden, ist als ästhetische Kompensation einer Wirklichkeit zu verstehen, deren Räderwerk zunehmend als undurchsichtig, unlesbar oder vieldeutig empfunden wurde. Schillers Observationsphantasien und Fichtes Forderung nach Einführung des Personalausweises reagieren auf dasselbe Unbehagen angesichts eines sozialen Kontrollverlustes, der sich ästhetisch als Verlust von Perspektive und Totaleindruck artikuliert. In dieser Situation gewinnt noch die paranoide Beklemmung, observiert und kontrolliert zu werden, den Rang eines metaphysischen Trostes. Der Intrigant (resp. der Verschwörer, Inquisitor, Polizist oder „Staatskünstler“71) als quasi-göttlicher Maschinist ist eine Instanz der metaphysischen Selbstbehauptung und Entschädigung des modernen Menschen. Er ist es, der das Planlose mit seinem Plan ordnet, Kontingenz in Providenz – und sei sie noch so diabolisch – verwandelt. Schillers Schwäche für geheime Gesellschaften, Geheimpolizisten und Observateure wird damit auch als Symptom (s)einer Glaubenskrise kenntlich. Die göttlichen Prädikate der Allwissenheit und Allsichtigkeit werden durch Säkularisierung gerettet; sie gehen an menschliche Aufsichts-Instanzen über, deren Macht nun als tremendum in einer Mischung aus Lust und Schauer beobachtet wird. Die Intrige als menschliches Mach- und Kunstwerk rettet vor dem Sturz in den bodenlosen Abgrund einer Welt, die nicht mehr Kosmos ist, sondern Chaos zu werden droht.72 So sehr Schiller im sechsten Ästhetischen Brief den „neue(n) Geist der Regierung“ beklagt, der mit seiner „groben Mechanik“ nach Art eines „kunstreichen“ und „lichtscheuen Uhrwerk(s)“73 den Menschen „durch Klassifizierung“74 ent-individualisiert, kontrolliert und parzelliert, so bleibt doch der Figur des Mechanikers und „Staatskünstlers“ selbst als machinator mundi eine Instanz der metaphysischen Rückversicherung75. –––––––––––––– 71 72

73 74 75

NA 20, 317 (4. Brief). Wichtige Anmerkungen zur Funktion der Intrige bei Schiller bietet Peter-André Alt: Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie des Intriganten im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur (IASL) 29 (2004), S. 1-28. NA 20, 323 (6. Brief) NA 20, 324. Vgl. Carl Schmidts Beobachtung: „In der Vorstellung einer geheimen, ‚hinter den Kulissen’ ausgeübten Macht, die sich in den Händen weniger Menschen vereinigt, und es ihnen ermöglicht, mit überlegener Bosheit unsichtbar die Geschichte der Menschen zu lenken“, verbindet sich „ein rationalistischer Glauben an die bewußte Herrschaft des Menschen über die geschichtlichen Ereignisse mit einer dämonischphantastischen Angst vor einer ungeheuren, sozialen Macht und oft noch mit dem säkularisierten Glauben an eine Providenz.“ Schmitt, Carl: Politische Romantik. Berlin 31968 (zuerst 1919), S. 115f.

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Immerhin: der Polizey-Stoff liest sich wie ein großes Dementi jener berühmten zeit- und kulturkritischen Tiraden des sechsten Briefes. Die Klage über die „Zerrüttung“ des „inneren“ bzw. „ganzen Menschen“, der an ein „kleines Bruchstück des Ganzen“76 gefesselt ist, lässt sich unter Abzug des deklamatorischen Pathos auch als Fortsetzung der Reflexion über das obrigkeitlich fest-gestellte Individuum lesen. Schiller beklagt, was Fichte dann gut ein Jahr später fordert, nämlich, dass der „karge fragmentarische Antheil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft“, nicht von „Formen“ abhinge, „die sich selbstthätig geben“, sondern von solchen, die „ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben“ würden.77 3. Don Karlos als Drama der Inquisition

3. ›Don Karlos‹ als Drama der Inquisition

Man sieht, wie sich in solchen Variationen des allsehenden Blicks metaphysische und bürokratische Beklemmungen überlagern. Es wäre jedoch voreilig, im Regiment des durchdringenden Blickes lediglich ein Motiv unter anderen zu erblicken, zumal ein Motiv des jungen Schiller. Vielmehr handelt es sich um eine thematische Obsession, die sich buchstäblich vom ersten bis zum letzten Text, dem Demetrius, in immer neuen Anläufen verfolgen lässt.78 Hier wirkt ein analytischer Blick für jenen „neuen Geist der Regierung“, der zugleich Abscheu und Faszination weckt, ablesbar an der Spannung zwischen Ästhetischen Briefen und Polizey-Fragment. Immer wieder sind es Welten, die von den Asymmetrien des Sehens, von der Paranoia des Panoptismus bestimmt sind.79 In ihnen zeigt sich die Spur der eigenen Erziehung. Friedrich Kittler bringt es auf den Punkt: Schillers „Schaubühne ist

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78

79

NA 20, 323. NA 20, 323f. Der Begriff wird von Schiller noch in einem weiteren Sinne verwendet, der dem modernen soziologischen Begriff des „Skripts“ entspricht. Adelung definiert Formular als „die vorgeschriebene Weise einer Handlung, Rede oder Schrift“, gebraucht. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […] 2 Bde. Leipzig 21793 und 1801, hier Bd. 2, S. 248. Ein Beispiel für die insistierende Metaphorik des Ausleuchtens letzter Winkel bietet der Versuch ueber den Zusammenhang (NA 20, 55): „Die verhohlensten Winkel der Natur werden durchsucht, die Scheidekunst zertrümmert die Produkte in ihre lezte Elemente, und schafft sich eigene Welten, Goldmacher bereichern die Naturgeschichte, der mikroskopische Blik eines Swammerdamms ertappt die Natur bei ihren geheimesten Prozessen.“ Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251-292.

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eine moralische Anstalt namens Carlsschule“80 und – so wäre zu ergänzen – ihre „Mikrotechnik“ der Beobachtung wird bei Schiller zum Thema und metaästhetischen Grundprinzip.81 Der allgegenwärtige Blick ist nicht mehr Signum einer Gottheit, die „vorgestellt in ihrer Allwissenheit […] alle Krümmungen des menschlichen Herzens durchleuchtet“82, sondern wird zum Vorrecht von Beobachtern innerhalb wie außerhalb des Textes. Noch die nach-Kantische Theorie des Erhabenen reflektiert solche Asymmetrien, indem sie den Blick des allwissenden Kontrolleurs wiederum ins Religiöse zurückspielt. Diese Gottheit ist nicht so sehr fern und übermächtig als eine Aufseherinstanz, welcher der Mensch in schlechthinniger Blöße gegenübersteht. Als Nachfolger des Armeniers, den er zugleich inspiriert hatte, repräsentiert diese Gottheit eine „Macht“ […], „die unser physisches Schicksal in ihrer Gewalt hat“ und vor deren Wirkungen schlechthin „keine physische Sicherheit“ bestehen kann.83 Wo der späte Schiller wenigstens in der „moralische(n) Sicherheit“ ein subjektives Geländer der „Gemüthsfreyheit“ findet, bleibt im Geisterseher nur das erdrückende Bewusstsein, auf der metropolitanen Schaubühne Venedig in einer „Komödie“ bzw. „Farce“ mitzuspielen, die sich als echtes und endloses Simulakrum erweisen wird. Im Fall des Geistersehers verteilen sich dabei psychobiographische und poetologische Interessen in einer Art Doppelprojektion auf die beiden zentralen Gestalten. „Eine Geburt des Herzogs kann gar nicht umhin, totales Theater zu spielen“.84 Schiller ist, mit anderen Worten, zugleich Prinz und Armenier, „Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung“ und allmächtiger Spielleiter. Beide Instanzen sind komplementäre Aufspaltungen einer psychischen Grunderfahrung, die sich auf den Panoptismus der Karlsschule zurückführen lässt. Die Eleven waren hier nicht nur dem unsichtbaren Auge des Herzogs ausgesetzt, sondern auch der ambivalenten Erfahrung, selbst zugleich Beobachteter und Beobachtender ihrer Mitschüler zu sein. Im Armenier des Geistersehers kehrt diese Konstellation wieder. Schiller entwirft ihn als Oberaufseher, Erzieher und Spielleiter. Theatralität ist das Signum dieser Welt; ihre Grundunterscheidung ist die zwischen Akteur und Regisseur, Opfer und Täter, Überwacher und Überwachtem. Wenn „alle psychischen Kuren […] als dramatische Inszenierungen“ verfah–––––––––––––– 80 81 82 83 84

Kittler, Friedrich: Carlos als Carlsschüler. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 241-275, hier S. 272. NA 20, 91 (Schaubühne). NA 20, 182 (Vom Erhabenen). Ebd. Kittler: Carlos als Carlsschüler, S. 249.

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ren85, wie Kittler schreibt, dann folgen alle dramatischen Inszenierungen dem Prinzip des Panopticon, sofern sie poetische „Maschine(n) zur Scheidung des Paares Sehen / Gesehen werden“86 darstellen. Nicht nur die „moralische Gerichtsbarkeit“87, sondern auch die Vision der Supervision zählt zu den großen Tröstungen, die von Schillers Schaubühne ausgehen. Wie der Armenier in Personalunion die Funktionen des „Staatsinquisitors“, Beichtvaters, Erziehers, des Autors und Regisseurs in sich vereinigt, so gehen im Dramatiker Schiller Pädagoge, Politiker und Polizei-Wissenschaftler eine höhere Einheit ein. Wie die Polizei so die Poetik. Diese Erkenntnis gilt vor allem für den frühen Dramatiker. Hier wirkt eine Inspiration, die mit den Begriffen Anthropologie und empirische Psychologie nur unzureichend beschrieben ist. Schiller hat sie mehrfach charakterisiert, zuerst in den Vorreden zu den Räubern. Dort ist vom „großen Vorrecht der dramatischen Manier“ die Rede, „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“88 oder „das Laster […] mitsamt seinem ganzen innern Räderwerk“ zu entfalten.89 Die Privatisierung der Moral hat die Moralisierung des Privaten und Persönlichen zur Folge. Die Gemütserregung des Theaters verdankt sich der „Gemütsspionage“, einer „Ausspähungskunst des Innern“90, die Schiller auf direktem Wege zur rezeptionsästhetischen Maxime und Methode erhebt. So wird das Theater zum „Bestiarium von Verbrechern“91, zu einer Menagerie der Erfahrungsseelenkunde. Es gewinnt jene „Laboratoriumswirklichkeit“92, die den Zuschauer selbst in jene komfortable Position des alles sehenden Beobachters rückt, die ihm selbst – wie den Figuren – für gewöhnlich verwehrt bleibt. Das Experiment zielt darauf, „ausserordentliche Menschen auch dem durchdringendsten Geisterkenner [zu] entblössen“.93 Diese dramatische Methode verbindet den empirischen Psychologen mit dem Historiker und dem Kriminalis–––––––––––––– 85 86 87 88 89 90

91 92 93

Ebd. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 259. Koselleck, Reinhard: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/Main 1973 (zuerst 1959) (= stw 36), S. 61. NA 3, 5 (Vorrede zur ersten Auflage der Räuber) Ebd. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werke, Bd. 10, S. 640. Košenina, Alexander: Gläserne Brust, lesbares Herz: Ein psychopathographischer Topos im Zeichen physiognomischer Tyrannei bei C. H. Spiess und Anderen. In: German Life and Letters 52 (2003), S. 151-165. Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 56. Im Sinne von Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. München 1971, S. 139: „Welt verengt sich zur Laboratoriumswirklichkeit, die genau auf die zu erwartenden Reaktionen der Figuren berechnet ist.“ NA 3, 5.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

ten, daher enthält die Räuber-Vorrede bereits die Poetik des Verbrechers und des Geistersehers. Hinzu kommt die Rolle des „philosophischen Arztes“. In einer später gestrichenen Passage des Verbrechers heißt es: Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das hellste Licht in der Phisiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen, und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektionsberichten des Lasters – sich Belehrungen holen.94

Was die Vorrede zu den Merkwürdigen Rechtsfällen Pitavals ankündigt, liest sich wie eine Inhaltsangabe des Geistersehers: „Das geheime Spiel der Leidenschaft entfaltet sich hier vor unseren Augen, und über die verborgenen Gänge der Intrige, über die Machinationen des geistlichen sowohl als weltlichen Betruges wird mancher Strahl der Wahrheit verbreitet“. „Die Schaubühne“ ist demnach „ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele“.95 Von hier ergeben sich strukturelle Beziehungen zum Komplex der ‚Disziplinen‘, die Foucault als lückenloses Beobachtungsnetzwerk charakterisiert hat. Die neuen Observationstechniken gewinnen bei Schiller einen „konstitutiven Ort in der Theorie der Ästhetik, wie umgekehrt das Theater und der Roman als neue Kontrolltechniken etabliert werden“.96 Dieses „große empirische Erkennen“, schreibt Foucault, „das die Dinge der Welt überzogen und in die Ordnung eines unbegrenzten, die ‚Tatsachen’ feststellenden, beschreibenden und sichernden Diskurses transkribiert hat, dieses empirische Modell hat zweifellos sein Operationsmodell an der Inquisition“.97 Schiller spürt dieser Institution daher zwischen dem Don Karlos und der Geschichte des Abfalls der Niederlande immer wieder nach. Unternimmt das Drama den Versuch, „in Darstellung der Inquisition, die prostituirte Menschheit zu rächen, und ihre Schandfleken fürchterlich an den Pranger zu stellen“98, so vollzieht der Geschichtsschreiber den genealogischen Zusammenhang von Aufklärung, Inquisition und Heilsbürokratie nach. Ausdrücklich benannt wird er im ersten Buch der Geschichte des Abfalls der Niederlande, das die Geschichte des Inquisitionsgerichts als einem der zentralen Provokateure der Rebellion widmet.99 „Inquisiti–––––––––––––– 94 95 96 97 98 99

NA 16, 405. NA 20, 95. Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 56. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 289f. NA 23, 81. NA 17, 56-65.

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on hat es gegeben, seitdem die Vernunft sich an das Heilige wagte, seitdem es Zweifler und Neuerer gab“.100 Ihren historischen Ausgangspunkt hat sie in der Reconquista und in der Notwendigkeit, dem über Jahrhunderte gewachsenen arabisch-jüdisch-christlichen Synkretismus, der „trüben Mischung ungleichartiger Gesetze und Sitten“ zur Klärung zu verhelfen, „die Wurzel der alten Religion auszureuten“.101 Schon hier bewährt sie sich als Psychochirurgie: „In den verborgensten Tiefen der Seele mußte sie seine geheimen Wurzeln ablösen“.102 Fortan ist der repressive, ja totalitäre Charakter der Inquisition unumstößlich, von „despotischer und hierarchischer Unterdrückung“ ist die Rede103. „Bis ins Gebiet der geheimsten Gedanken dehnte es [das Inquisitionsgericht; J.R.] seine unnatürliche Gerichtsbarkeit aus“, soziale und affektive Beziehungen werden infiltriert und mediatisiert, das Auge der Inquisition ist überall oder gibt dies wenigstens vor: „Ein dunkler Glaube an seine Allgegenwart fesselte die Freiheit des Willens, selbst in den Tiefen der Seele“.104 Diese vermutete Allgegenwart versklavt das Gewissen, indem sie ihm – wie die Schaubühne im Aufsatz – „ausgesuchten und unterirdischen Schrecken“ einimpft, „von den Phantomen entlehnt, die sie selbst in einer kranken und kindischen Einbildung niederlegte“.105 Die Inquisition zielt also auf eine Selbstprogrammierung der Seele, deren Wirkungen unter den Stichworten Disziplinargesellschaft (Foucault) oder Zivilisierung (Elias) diskutiert worden sind. Schiller hat diesen historischen Vorgang in seinem Inquisitionskapitel klar und hellsichtig, den Spuren von Voltaires Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations folgend106, nachgezeichnet. Aufklärung zeigt hier ihr despotisches Gesicht, erst recht, wenn mit der „große(n) Glaubensrevolution durch Luther und Kalvin“107 die Inquisition ihre zugleich politische wie theologische Reinigungsfunktion zurückgewinnt. Schillers Analyse zeigt eine geheime Staatspolizei, deren ubiquitäres Wirken zur Erosion von Gemeinschaft führt: „Ein ansteckendes Mißtrauen vergiftete das gesellige Leben, die gefürchtete –––––––––––––– 100 101 102 103 104 105 106 107

NA 17, 57. NA 17, 57 bzw. 58. NA 17, 58. NA 17, 59: „Die Vernunft unter den blinden Glauben herab zu stürzen, und die Freiheit des Geists durch eine todte Einförmigkeit zu zerstören, war das Ziel, worauf dieses Institut hinarbeitete.“ Ebd. Ebd. Eder, Jürgen: Schiller als Historiker. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 653698, hier S. 667. NA 17, 60.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Gegenwart eines Lauschers erschröckte den Blick im Auge“.108 Mag die Inquisition „das historische Böse“109 sein, so ist sie doch eine Institution mit Zukunft, die säkularisiert in der modernen Geheimpolizei fortleben wird. Die vollständigste poetische Analyse des Komplexes „Überwachen und Strafen“ stellt dann, wie angedeutet, der Don Karlos dar.110 Selten ist die Beklemmung des höfischen Lebens, der ständige Wille zum wie die Furcht vor dem wechselseitigen Ausspähen und Ergründen des Anderen derart nachdrücklich geschildert worden wie in dieser dramatischen Studie über frühmoderne ‚Verhaltenslehren der Kälte‘111. Der Hof von Spanien ist ein großes Observatorium, das „Züge einer psychiatrischen Anstalt“112 trägt. „Allwissenheit schwebt um mich“, ruft der Prinz im Geisterseher nach der ersten Begegnung mit dem Armenier aus. Es ist eben jene Allwissenheit, mit der am Ende des Don Karlos der Großinquisitor seinen Zögling Philipp düpiert, der sich selbst noch Mitte des dritten Aktes für „eines Pulses Dauer nur Allwissenheit“ herbeigefleht hatte113 – vergebens, denn, so weiß Philipp wenig später: „allwissend ist nur Einer“, und das ist nicht Gott, sondern die Inquisition, die in Gestalt des blinden (!) Großinquisitors als eines neuen Teiresias auftritt. Der König, der seine Augen verschließt („Ein Blick entlarvte Ihnen den Ketzer“114) und der „blind(e)“ Großinquisitor – auch das ist Wiederholung einer klassischen Konstellation – der des Sophokleischen Oedipus Rex. Was dort Nemesis hieß, ist hier an die Registratur der Casa Santa gebunden. Noch der Herrscher ist ein Beherrschter und als solcher ein Beobachteter. Die Schaubühne zeigt im Großinquisitor ihre eigene inquisitorische Funktion als blinden Fleck. Die Spannung zwischen Blindheit und Erhellung ist auch die paradoxale Achse dieser gespenstischen Schlussszene. Der Blinde ist der wahre ‚Seher’ bzw. Aufseher, der Sehende ist der Blinde, dessen Blick durch Wunschprojektion abgelenkt wird: „Ich sah in seine Augen […] Ihre Augen sind erloschen“ (v. 6101; 6104). Dies aber befähigt ihn zum ‚wahren’ Sehen: „Mich hintergeht man nicht. Sie sind durchschaut“ (v. 6130f.). Auch der König wird so zur Marionette, gebun–––––––––––––– 108 109 110 111

NA 17, 62. Eder: Schiller als Historiker, S. 667. Kittler: Carlos als Carlsschüler, bes. S. 250ff. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main 1994. 112 Kittler: Carlos als Carlsschüler, S. 265. 113 NA 6, 151 (v. 2994f.). Vgl. im Monolog III, 5: „[D]enn ich bin nicht wie du [sc. die Vorsicht] allwissend.“ 114 NA 6, 328 (v. 6054f.)

3. ›Don Karlos‹ als Drama der Inquisition

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den ans „Seil“ einer polypenartigen Heilsbürokratie, die sich anmaßt, die Rolle der göttlichen Providenz auszufüllen: „Sein [Posas; J.R.] Leben“, eröffnet der Großinquisitor einem verblüfften König, „liegt angefangen und beschlossen in der Santa Casa heiligen Registern“ (v. 6044f.). In diesen Registern begegnen sich Heilsgeschichte und Bürokratie. Wie die „Schreibtafel“ des Königs, der als absoluter Weltenrichter Namen von Begünstigten notiert und wieder „löscht“ (III, 5)115, nehmen die Archive der Inquisition in säkularer Form die Idee des Lebensbuches auf. Die drohende Verheißung der Dies irae-Sequenz („liber scriptus proferetur, in quo totum continetur“) wird den Verhältnissen einer vormodernen Geheimbürokratie angepasst, die sich anmaßt, aus der Vergangenheit die Zukunft zu extrapolieren. So geht die Rolle des allwissenden Gottes, den in den Räubern noch die Vertreter von Moral und Religion, Pastor Daniel und Pastor Moser beschwören, beim desillusionierten Schiller der frühen achtziger Jahre auf zutiefst menschliche Organe, Institutionen und Dispositive über.116 Die Vorsehung wird durch eine säkulare Heilsbehörde fortgeführt und damit verabschiedet.117 Das Familiengemälde weitet sich zur Studie über die „Technologie der Individuen“.118 In dieser zeitgemäßen Form eines großen Welttheaters vergibt nicht mehr Gott selbst, sondern sein blinder und zugleich allwissender Stellvertreter die Rollen. Liegt nicht schon in der christlichen Idee des Lebensbuches, in dem schlechthin „alles enthalten ist“, die Vision einer totalen Individualisierung, einer lückenlosen Bilanz der heilsrelevanten Aktiva und Passiva begründet? Der Gott, der alles sieht, ist zugleich ein feiner Registrator, der einer anonymen Heilsbürokratie vorsteht. Im Lebensbuch, das zur Anklageschrift wird, verwirklicht sich zum ersten Mal die Idee „einer infinitesimalen Kontrolle“.119 Immerhin: Im Geisterseher entfaltet Schiller im historischen Panthersprung von der Ära Philipps II. zum Venedig der Gegenwart eine Archäologie der modernen sekundären Welt als bürokratisches Simulakrum, das im Geis–––––––––––––– 115 Don Karlos III, 5; Regieanweisung nach v. 3319 (NA 6, 167): „Er öffnet eine Schatulle, die sehr stark verschlossen ist, und nimmt eine Schreibtafel heraus.“ 116 Vgl. noch in Vom Erhabenen (NA 20, 181): „Die Gottheit, vorgestellt in ihrer Allwissenheit, die alle Krümmungen des menschlichen Herzens durchleuchtet, in ihrer Heiligkeit, die keine unreine Regung duldet, und in ihrer Macht, die unser physisches Schicksal in ihrer Gewalt hat, ist eine furchtbare Vorstellung und kann deswegen zu einer erhabenen Vorstellung werden.“ 117 Von Matt: Intrige, S. 211. 118 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 288. 119 Ebd. S. 274.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

terseher die paranoiden Züge eines gigantischen Panoptikums annimmt. Was im Don Karlos und im Abfall der Niederlande die Dominikaner sind, wird hier von den Jesuiten auf der einen, der geheimen Staatsinquisition auf der anderen Seite vertreten. Der mysteriöse Armenier des Geistersehers ist denn auch nicht zufällig sowohl Emissär der katholischen Seite als auch „Offizier der Staatsinquisition“, ein zeitgenössischer Wiedergänger des Großinquisitors.120 4. Poetik und Panoptikum

4. Poetik und ›Panoptikum‹

Wie in Madrid so in Mannheim. Als Schiller am 26.6.1784 vor die kurfürstliche deutsche Gesellschaft in Mannheim tritt, um für die Wirkung einer „guten stehenden Schaubühne“ (Titel) zu werben, zeichnen sich die Methoden der Inquisition bereits ab. Sie firmieren unter dem Titel: „Vorteile der dramatischen Methode“. Der Fortschritt der Methode liegt darin, dass die Schaubühne den Hebel der Untersuchung vom Physischen ins Psychische umlegt. Die Folter, der noch Prinz Karlos am Ende des Stückes entgegen geht, wird ersetzt durch ein Inquisitionstheater, das vor virtueller Gewalt nicht zurückschreckt, in dem „das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt, und die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamanthus Gericht hält“.121 Inspiration der Schaubühne sind eben jene terreurs der Religion, die sechs Jahre später als historisches Böses abgekanzelt werden. Aufklärung und Gegenaufklärung nähern sich in ihren Psychotechniken an. Die Schaubühne setzt auf den religiösen Aberglauben, indem sie „Gemählde von Himmel und Hölle“ aufbietet, jene „Schreckbilder“ also, von denen die religiöse Erziehung des Prinzen im Geisterseher geprägt sein wird. Das bedeutet nichts anderes, als den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, erklärt jedoch auch die heimliche Schadenfreude und Sympathie, mit der Schiller die verhasste, in ihrer ‚zweckmäßigen‘ Bosheit122 aber doch bewunderte –––––––––––––– 120 NA 16, 66. 121 NA 20, 91. 122 Für die Inquisition gilt hier dasselbe wie für den „erhabenen Verbrecher“ oder den „konsequenten Bösewicht“, dem Schiller eine – für seine praktische Dramatik – aufschlussreiche Reflexion in Ueber den Grunde des Vergnügens widmet. Die Ambivalenz, die Schiller den Figuren und Instanzen des Bösen entgegenbringt, gilt auch für die großen Intriganten wie den Armenier oder aber Institutionen wie die Inquisition: „Die höchste Consequenz eines Bösewichts in Anordnung seiner Maschinen ergötzt uns offenbar, obgleich Anstalten und Zweck unserm moralischen Gefühl widerstreiten.“ NA 20, 145. Der Grund ist, dass es sich um eine „geistreiche Bosheit“ handelt,

4. Poetik und ›Panoptikum‹

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Inquisition am Ende des Karlos als Siegerin aus dem Spiel der Intrigen hervorgehen und die dilettantischen Überwachungs- und Registraturmethoden des Königs düpieren lässt. Wo ein Polizeileutnant zum „Beichtvater“ werden kann123, der durch „Allwissenheit“ in „Erstaunen und Schrecken versetzt“, kann der Beichtvater zum Geheimpolizisten werden, dem am Ende tatsächlich ein Opfer gescheiterter Erziehung dargebracht werden muss124. Das poetologische Manifest dieses „Beobachtungsdispositivs“ ist die Schaubühnenrede. Sie entwirft eine Dramentheorie, deren zentrale Elemente „polizeilicher Natur“125 sind. Die Schaubühne wird zum Inspektionsraum, der Schaugericht und Gerichtsschau gleichermaßen sein will. Kein Wunder, dass das Einzugsgebiet der Schaubühne mit dem Aufgabenfeld der Polizei im Dramen-Entwurf beinahe koextensiv ist, „Verpolizeilichung der Ästhetik“ und „Ästhetisierung der Polizei“ sind zwei Seiten einer Medaille.126 Beide versehen als „moralische Anstalt“ zugleich Erziehungs- und Korrektivfunktion, beide „erleichter(n) der Regierung gar sehr ihr Geschäfte, das Volk durch Gesetze zu lenken“, indem sie den „sensus decori“ schärfen.127 Wie die Polizei im Rahmen der Disziplinierung zunehmend „eine positive Rolle spiel(t)“128, d.h. neben die Funktion der Gefahrenabwehr auch die der Prävention tritt, so plädiert Schiller nun dafür, die bloß „verneinende(n) Pflichten“ der politischen Gesetze auf „wirkliches Handeln“ auszudehnen.129 Die Geschäfte der Polizei im Dramenentwurf setzen fort, was die Schaubühnen-Rede als Aufgabe des Theaters reklamiert hatte. Im Polizey-Fragment werden der Polizei „Maßregeln gegen alle die Gesellschaft störende Mißbräuche“, „die Beschützung der Schwachen gegen die Bosheit und die Gewalt“, vor allem aber, qua „moralische Anstalt“, die „Reinigung der Sitten […] von öffentlichem Scandal“130 zugewiesen – alles Funktionen, die auch dem Theater zufallen sollen. Im Fall der Schaubühne ist die negative Funktion der Polizei Voraussetzung der positiven, ihr Effekt ist „heilsamer Schauer“.131 Die –––––––––––––– 123 124 125 126 127 128 129 130 131

bei der dem „consequenten Bösewicht die Besiegung des moralischen Gefühls“ als Stärke angerechnet wird (ebd. S. 146). NA 12, 95. NA 16, 159. Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 62. Ebd. S. 57. Kant: Werke, Bd. 8, S. 445 (Die Metaphysik der Sitten). Hegel: Grundlage des Naturrechts, S. 270. NA 20, 91. NA 12, 93. NA 20, 92.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Gerichtsbarkeit der Bühne wird damit als Sondertribunal kenntlich, dem der Dramatiker als Geheimpolizist der Weltgeschichte bei seinen Ermittlungen zuarbeitet.132 Nicht die Weltgeschichte, wohl aber die Schaubühne erweist sich als Weltgericht, indem sie „die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl reißt“.133 Wie die Offizianten d’Argensons „ganz Paris durchwühl(en)“134, um die „Spur des Wildes“ in seinem „Schlupfwinkel“135 aufzunehmen, so durchforstet der dramatische Sonder- und Seelenermittler die Weltgeschichte nach ungelösten Fällen, setzt die Gerichtsbarkeit der Bühne „bis in die verborgensten Winkel des Herzens“ fort, verfolgt den Gedanken bis an die innerste Quelle.136 Schiller macht die Schaubühne zur Polizeischule, die „uns das Geheimniß verrathen“ soll, die Lasterhaften „ausfündig und unschädlich zu machen“.137 Angesichts der medialen wie epistemologischen „Komplizenschaft von Autor und Polizey“138 können Schaubühne und „Audienzsaal des Polizeylieutenants“139, Autor und Polizei-Chef bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen. Es überrascht daher wenig, wenn sich d’Argenson ein „Gefühl für das Schöne“ bewahrt hat, bei einer im Übrigen skeptischen Anthropologie, die „ungläubiger gegen das Gute und gegen das Schlechte toleranter geworden ist“.140 Kein Wunder also, dass zur „Polizierung unsres Jahrhun-

–––––––––––––– 132 Praktisch zeigt sich diese Funktion am Ende von Kabale und Liebe, wenn die tödlichen Ergebnisse der privaten Intrige durch Wurm öffentlich gemacht werden. „Weckt die Justiz auf! Gerichtsdiener, bindet mich! Führt mich von hinnen! Ich will Geheimnisse aufdecken, daß denen, die sie hören, die Haut schauern soll“! (NA 5, 106). So gilt die Maxime der Schaubühnenrede auch umgekehrt: Die Gerichtsbarkeit der Bühne endet dort, wo die der weltlichen Gesetze (wieder) beginnt bzw. – dramaturgisch gewendet – der private Innenraum durch „Volk und Gerichtsdiener“ geöffnet und die Szene zum Tribunal wird. Wo der ideale Protagonist der „erhabene Verbrecher“ ist (Selbstrezension der Räuber; NA 22, 118), wird das Drama idealiter zur verdeckten Polizeiarbeit, an deren Ende Dramatiker und Justizapparat sich die Hand reichen, der Verbrecher sich freiwillig den Organen der weltlichen Gerichtsbarkeit überstellt. An dieser Vision einer Justiz- und Polizeipoesie ändert sich bis zuletzt wenig. Die viel zitierte Forderung aus der Vorrede zur Braut von Messina – „Der Dichter muß die Palläste wieder aufthun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen“ (NA 10, 12) – wiederholt nur den Standpunkt der Schaubühnenrede. 133 NA 20, 92. 134 NA 12, 97. 135 NA 12, 93. 136 NA 20, 91. 137 NA 20, 95. 138 Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft. München 2005, S. 129. 139 NA 12, 91. 140 NA 12, 92.

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derts“141, wie es bei Sulzer heißt, die „Policey des Schauspiehls“142 entscheidend beiträgt. Diese höhere Synergie im Zeichen des „Beobachtungsdispositivs“143 ist im Begriff Schaubühne angelegt. Er bezeichnet im Sprachgebrauch der Zeit zunächst den Bühnenraum selbst, also den „Platz auf welchem das, was im Drama vor den Augen der Zuschauer geschieht, verrichtet wird“.144 Diese lokale Bedeutung ist in der Rede nicht nur eine Metapher. Anders als in Ueber das gegenwärtige deutsche Theater (1782) geht es nicht um Elemente des Spiels, sondern des Schauens. Nicht um die performative Seite der Bühne (Schauspiel), sondern um die Institution („Anstalt“) Theater in ihrer Medialität und Materialität, denn, so weiß auch Sulzer, „die Beschaffenheit der Schaubühne hat einen großen Einfluß auf die vollkommene Aufführung des Drama“.145 Dass die Bühne „ein offener Spiegel des menschlichen Lebens“ sein soll, „auf welchem sich die geheimsten Winkelzüge des Herzens illuminiert und fresko zurückwerfen“, war schon das Credo des früheren Beitrages gewesen. Das Theater des 18. Jahrhunderts setzt auf eine „gänzlich neue Sichtbarkeit“.146 Ihre Funktion besteht darin, Evidenz durch Komplexitätsreduktion zu gewährleisten. Die Schaubühne ist ein Experimantal- und Ordnungsraum, in der Welt und Geschichte parzelliert und klassifiziert („in kleinen Flächen und Formen aufgefaßt“) werden und so noch „dem stumpfesten Auge –––––––––––––– 141 Nach Müller, Peter (Hg.): Deutsche Literatur von Lessing bis Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. 2 Bde. Berlin/Weimar 1978, hier Bd. 1, S. 329. 142 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s.v. Schauspiehl), Bd. 2, S. 1023. Freilich verteidigt Sulzer – anders als Schiller – die Funktion des delectare: „Der Schauplatz ist vornehmlich ein Ort des lebhaften Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten“ (ebd. S. 1024). 143 Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 54. 144 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s.v. Schaubühne), Bd. 2, S. 1016. Vgl. Adelung, s.v. Schaubühne: „Eine Bühne, auf welcher ein Ding zur Schau ausgestellet, oder eine Handlung zur Schau verrichtet wird; doch nur noch in engerer Bedeutung von derjenigen Bühne, auf welcher Schauspiele vorgestellet werden, und welche oft auch nur die Bühne, mit einem Griechischen Ausdrucke aber das Theater genannt wird.“ Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 3, S. 1379. 145 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s.v. Schaubühne), Bd. 2, S. 1016. 146 Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 131. Dieses Seelentheater bedurfte dazu einer neuen Illuminationstechnik, die für eine ausreichend intensive Beleuchtung der Schauspieler sorgte. Dazu ebd. S. 131-133. Der Chemiker Lavoisier schlägt 1781 vor, „den Aktör in das gehörige Licht zu stellen[…] seine kleinsten Bewegungen, die geringste Veränderung in seinen Gesichts-Zügen, alles dieses muß bemerket werden können, nichts muß davon dem Zuschauer entgehen. Jedermann weiß, daß gerade in diesen kleinen Umständen die Vollkommenheit des Spiels liegt.“ Antoine-Laurent Lavoisier: Ueber die Erleuchtung der Schauspiel-Säle. In: Magazin für die bürgerliche Baukunst. Hg. von Gottfried Huth. Bd. 2,2. Weimar 1796, S. 19-29, hier S. 25. Zitiert nach Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 132.

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übersehbar zu Gesichte lieg[en].“147 Die Schaubühne, so heißt es vier Jahre später, ermöglicht „Anschauung und lebendige(n) Gegenwart“ zum Zweck der Einübung in bürgerliche Fertigkeiten, in Schillers Worten: „Menschen- und Volksbildung“.148 Ästhetisch steht hier die Frage der Unmittelbarkeit und damit der Komplex der „Darstellung“ (evidentia, Vor-Augen-Stellen) im Raum: „So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und daurender als Moral und Gesetze“.149 Damit formuliert Schiller sein dramenästhetisches Fundamentalgesetz, das in Varianten von der frühesten bis in die späteste Phase umspielt wird: „Der Weg des Ohrs ist der gangbarste und nächste zu unsern Herzen“ (Ueber das gegenwärtige deutsche Theater)150 oder: „Ungleich stärker affizieren uns Leiden, von denen wir Zeugen sind, als solche, die wir erst durch Erzählung und Beschreibung erfahren“ (Ueber die tragische Kunst; publ. 1792).151 Es handelt sich um einen viel zitierten Topos der zeitgenössischen Dramentheorie. Er geht zurück auf einen, wie Sulzer bemerkt, „oft zur Unzeit angeführten Ausspruch des Horaz“ aus der Ars poetica (v. 180f.), der wie eine einschränkende Seitenbemerkung zum ut pictura poesis-Grundsatz wirkt.152 Sulzer selbst zitiert ihn mehrfach: „Segnius irritant animos demissa per aurem / Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus“.153 Zu Deutsch: „Schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verläßlichen Augen gebracht wird“ und „was sich der Zuschauer selbst vermittelt“.154 Im Kontext der Ars poetica geht es dabei um die Differenzierung der dramatischen Elemente von Spiel („Darstellung“) und Bericht („Erzählung“): „aut agitur res in scaenis aut acta refertur“ (v. 179). Hier kommt die Frage des decorum bzw. des indecorum zum –––––––––––––– 147 NA 20, 79. 148 NA 20, 91. Vgl. Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 133: „[Die Bühne; J.R.] entbirgt im Zusammenspiel mit dem Dramentext das physiognomische Spiel der Schauspieler zu einer Sichtbarkeit, die wie die nächtliche Straßenbeleuchtung zugleich eine polizeyliche Überwachung ist.“ 149 NA 20, 91 Vgl. Mercier: Mein Bild von Paris, S. 14: „Was ist die lange kette deiner trockenen Grundsätze gegen den beredten Maler, der das Gemälde mit allen seinen Farben ausgeputzt darstellt.“ 150 NA 20, 85. 151 NA 20, 383. 152 Sulzer: Allgemeine Theorie des Schönen Künste, Bd. 1, S. 37 (s.v. Allegorie). 153 Ebd. Bd. 1, S. 461 (s.v. Gesang). Schon bei Burke: Vom Erhabenen und Schönen, S. 95, der seinerseits auf Dubos verweist. 154 Zitiert nach der Ausgabe und Übersetzung von Eckart Schäfer: Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1972 (= RUB 9421), S. 14-17.

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Tragen, eine wenig beachtete, für das 18. Jahrhundert jedoch zentrale Stelle zur Ästhetik des Hässlichen und Widrigen.155 Die Horazstelle ist nicht nur von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis von Auge und Ohr156, sie ist auch die Keimzelle für Schillers Reflexionen auf das Problem der ästhetischen Distanz, die bei Schiller sowohl als mediales wie als gattungspoetologisches Problem mit erheblicher Reichweite begegnet. Das Distanz- bzw. Unmittelbarkeitsproblem erscheint bei ihm auf zwei Ebenen. 1. Innerhalb der Erzähltheorie, als Unterscheidung unterschiedlicher narrativer Strategien. In diesem Sinne entwickelt die Einleitung zum Verbrecher eine Thermodynamik des Erzählens zwischen Engagement und Analyse: „Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten“.157 2. Als Differenzkriterium zwischen Erzählung und Drama – wieder unter verdeckter Anspielung auf Horaz: Die Epopee, der Roman, die einfache Erzählung rücken die Handlung, schon ihrer Form nach, in die Ferne, weil sie zwischen den Leser und die handelnden Personen den Erzähler einschieben. Das Entfernte, das Vergangene schwächt aber, wie bekannt ist, den Eindruck und den theilnehmenden Affekt; das Gegenwärtige verstärkt ihn. Alle erzählende Formen machen das Gegenwärtige zum Vergangenen; alle dramatische machen das Vergangene gegenwärtig.158

Dies ist jedoch nur die eine, d.h. binnenästhetische Ableitung des Sichtbarkeitsproblems. Die Emphase der Anschauung ist nicht abzulösen von ihren Funktionen, die Technik der Darstellung nicht von ihrer Politik. Dass das Schlagwort von der „moralischen Anstalt“ gleichsam „rückwirkend die Dramentheorie einer gesamten Epoche“ zusammenfasst,159 bedarf einer wesentlichen Einschränkung. Sie hat die spezifisch institutionelle Wendung zu berücksichtigen, die Schiller der Querelle du théâtre in seiner Schaubühnenrede gibt. An der Oberfläche ein eklektisches Ensemble bekannter Argumente, äußert sich –––––––––––––– 155 Ebd. v. 182-187, S. 14-17: „Doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte noch öffentlich menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche, nicht in einen Vogel sich Prokne verwandle noch Kadmos in eine Schlange.“ 156 Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990. 157 NA 16, 8. Aurnhammer, Achim: Engagiertes Erzählen: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Aurnhammer u.a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt, S. 254-270; Köpf, Gerhard: Erzählstrategie und ‚republikanische Freiheit des lesenden Publikums‘. In: Literatur für Leser 2 (1978), S. 93-113. 158 NA 20, 165. 159 Zelle: Schaubühne, S. 356.

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in ihr doch ein ganz neues Erziehungs- und „Staatsbegehren“160, das die Schaubühne zur autonomen Säule des Staates erhebt. Schon Mercier nennt das Theater das „Meisterstück der Gesellschaft“161, ihren geheimen Mittel- und „Vereinigungspunkt, wo sich die Menschen versammeln, und wo sie einstimmig ihre Stimme erheben können“.162 Für Mercier ist das Theater vor allem eine Schule des Umgangs, der „sympathetischen und unwiderstehlichen Regung“ des Mitleids, die Menschenbildung durch „Seelenerweichung“ erreichen will.163 Sowohl die anthropologische als auch die politische Dimension gewinnen bei Schiller eine entschiedenere Note. Aus der Erziehung zu „Empfindlichkeit“ wird eine „Schule der praktischen Weisheit“, die nicht gegen die „weltlichen Geseze“ und die Gerichtsbarkeit aufgeboten wird, sondern diese „unterstützt“, „begleitet“ und „(ver)kleidet“.164 Keineswegs tritt sie, wie Kosellecks These von der „indirekten Gewalt“ der Moral suggeriert, als „Antipode der bestehenden Herrschaft auf“.165 Schiller geht es nicht um Begrenzung, sondern Ausweitung der öffentlichen Einflusszone auf jene Ränder der sozialen Erfahrungswelt, an denen „keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesez mehr vorhanden ist“.166 Sie wirkt, wie die Polizei, positiv und negativ, „verhütend und [rächend]“.167 In dieser Zuspitzung auf die Polizierung des Menschen liegt der eigentliche Akzent der Schaubühnenrede, die weniger ein ästhetischer als ein soziologischer Traktat zu nennen ist. Nicht um Ästhetik, sondern um Institutionen geht es hier, und so liegt der sekundäre Titel „die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“, den Schiller für die Kleineren prosaischen Schriften wählt, schon 1784 in der Luft. Von ihm aus zeigt sich, wie konkret die Rede von der „Schule der praktischen Weisheit“ in der Tat gemeint war. Eine ‚Anstalt‘ ist, nach Adelung, „eine jede nach gewissen Regeln mit Personen und Sachen gemachte Einrichtung.“ Die Schaubühne stellt sich damit in eine illustre Reihe mit „Justiz-Policey-Manufactur-Anstalten“, „Collegia, Innungen und Zünfte(n), Manufacturen, Arbeits-Zucht- und Waisenhäu–––––––––––––– 160 Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 52. 161 [Mercier-Wagner] Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen mit einem Anhang Aus Goethes Brieftasche. Faksimiledruck nach der Ausgabe 1776 mit einem Nachwort von Peter Pfaff. Heidelberg 1967, S. 6. 162 Ebd. S. 5. 163 Ebd. S. 15. 164 NA 20, 93. 165 Koselleck: Kritik und Krise, S. 83. 166 NA 20, 92. 167 NA 12, 93.

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ser(n), Kunst- und Werkschulen.“168 Zugleich sind damit jene Institutionen benannt, die Jeremy Bentham 1787 als Ziele einer neuartigen Schau-Architektur ausgemacht hat, deren Titel lautet: Panopticon; or Inspection House: containing the Idea of a new Principle of Construction applicable to any sort of Establishmensts, in which Persons of any Description are to be kept under Inspection; and in particular to Penitentiary-Houses, Prisons, Houses of Industry, Work-Houses, Manufactures, Mad-Houses, Lazarettos, Hospitals, and Schools.169

Das Prinzip dieses neuen Gebäudetypus ist seit Foucaults klassischer Darstellung in Überwachen und Strafen geläufig: Es handelte sich um eine kreisförmige Anlage von Räumen, in deren Zentrum ein Beobachterturm die ungehinderte Sicht auf das Geschehen in den Zellen gestattete, während umgekehrt die Beobachter selbst unsichtbar blieben (nach dem Grundsatz: „seeing without being seen“). Das Panopticon ermöglichte auf diese Weise eine lückenlose Überwachung der Gefangenen bzw. Arbeiter, Schüler usw., die nun buchstäblich bis in die „verborgensten Winkel“ des Raumes und der Seele dringen konnte. Hier wurde jener „allsehende“ Blick, von dem Schillers Polizeichef d’Argenson im Paris des 17. Jahrhunderts noch träumt, architektonische Realität. Wie die „gesetzgebende Gewalt“ ihre Aufschlüsse in den „Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten“ sucht, so folgen Schaubühne und Straftheater einer gemeinsamen „panoptischen“ Vision, in der ästhetische und politische Steuerung eng ineinander greifen. Nur drei Jahre vor Benthams Panopticon letters hat Schiller deren Prinzip bereits für das Theater gewonnen. Die Schaubühne wird zum virtuellen, phantasmagorischen Gefängnis, in dem der Zuschauer „kühne Verbrecher“170 beobachten und studieren kann, wie der ungesehene Aufseher des Benthamschen „Inspection-House“ vom zentralen Beobachtungsturm aus die Insassen seiner Anstalt beobachtet. Kein Wunder, dass Schiller als dramatischer Anstaltsleiter sein „Verzeichnis von Bösewichtern“ immer bereit hält, seine Bühne eine Obsession für den „erhabenen Verbrecher“ hegt, mithin tragische Größe aus krimineller Energie ableitet, die noch post mortem Strafverfolgung nach sich zieht. Wie wenig Schaubühne von inspection-house, die Loge von jenem lodge trennt, von der aus der Benthamsche „allsehende“ Observator seinen „perfect view“ und seine „apparent omnipresence of the in–––––––––––––– 168 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 376. 169 Bentham, Jeremy: The Panopticon Writings. Edited and Introduced by Miran Boževič. London/New York 1995, S. 54. 170 NA 20, 92.

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spector“171 über die Insassen seiner Anstalt ausübt, kann eine Umkehrprobe belegen. Denn keineswegs ist das inspection-house ein sinistres, vor der Öffentlichkeit verborgenes Verlies oder Lager, ganz im Gegenteil: „The doors of these establishments will be, as without very special reasons to the contrary, the doors of all public establishments ought to be, thrown wide open to the body of the curious at large“.172 Auch das Panopticon ist eine ästhetische Anstalt, die der „publicity“173 bedarf. Wie das Theater sich dem „unwiderstehliche(n) Hang nach dem neuen und außerordentlichen“ verdankt, so zieht das Panopticon die Schaulust „spontaner Besucher“ in ihr Überwachungskalkül („system of inspection“) ein. Ihr Besuch dient nur scheinbar der „gratification of their own particular curiosity“, in Wirklichkeit verstärken sie durch ihre Anwesenheit die lückenlose Überwachung der Beobachtungspersonen und des untergeordneten Personals.174 Das inspection-house ist nicht nur ein „Laboratorium der Macht“175, sondern auch ein Unterhaltungsbetrieb, in dem neben der moralischen auch ästhetische Erziehung qua Seh-Schulung betrieben wird – prodesse et delectare. Die Beobachter werden, so Bentham, bewusst von der Welt isoliert, damit sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Beobachten selbst konzentrieren: „Secluded oftentimes, by their situation, from every other object, they will naturally, and in a manner unavoidably, give their eyes a direction conformable to that purpose, in every momentary interval of their ordinary occupations“.176 Der vollkommene Blick des Beobachters ähnelt dem Blick aus dem Fenster, „the great and constant fund of entertainment to the sedentary and vacant in towns.“ Zeigt die Bühne ein „Gemählde“, so das Panopticon eine „zwar begrenzte aber doch sehr abwechslungsreiche und vielleicht nicht ganz und gar unvergnügliche Szene („not altogether an unamusing one“).177 Kurz: Das Panopticon ist eine ästhetische Anstalt – und umgekehrt. Beide gründen in demselben Ideal des objektiven Sehens und Beobachtens, der dank einer souveränen Beobachterposition jederzeit in der Lage ist, „in die verborgensten Winkel des Herzens“ vorzudringen, um einen „Gedanken bis an die innerste Quelle“ zu verfolgen.178 Was Panopticon und Schaubühne –––––––––––––– 171 172 173 174 175 176 177 178

Bentham: The Panopticon Writings, S. 46. Ebd. S. 48. Ebd. Ebd. S. 47: „The satisfying that general curiosity, which an establishment, on various accounts so interesting to human feelings, might naturally be expected to excite.“ Foucault: Überwachen und Strafen, S. 263. Bentham: The Panopticon Writings, S. 45. Ebd. NA 20, 91.

5. Guckkästen, Spiegel und ›tableaux vivants‹

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verbindet, ist eine transzendentale Ästhetik, die einen apriorischen Raum der reinen Anschauung ausweist: „Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden“179; sie ist ferner eine Anstalt des rationalistischen Blicks, wie ihn August Langen in seiner Studie über die Anschauungsformen der deutschen Dichtung im 18. Jahrhundert idealtypisch beschrieben hat.180 Für beide gilt: „The essence of it consists, then, in the centrality of the inspector’s situation, combined with the well-known and most effectual contrivanes for seeing without being seen“.181 5. Guckkästen, Spiegel und tableaux vivants

5. Guckkästen, Spiegel und ›tableaux vivants‹

Schaubühne und Panopticon gehören ein- und derselben DiskursFormation und Technologie des Blicks an; beide stehen – hier wäre Foucault zu ergänzen – im Bann des ästhetischen Apriori des vollkommenen Blickes, der nicht denkbar ist ohne 1. die von August Langen aufgewiesenen Anschauungsformen des Rationalismus (Zentralperspektive, Rahmenschau, Totaleindruck etc.) und 2. ohne jene populären Medien, in denen sich diese „Anschauungsformen“ zum Zweck des Amüsements und der reinen Augenlust ausprägen. Wie das Panopticon das Panorama voraussetzt182, so ist die Schaubühne „ein Guckkasten in vergrößertem Maßstabe“183, in dem der Dichter „Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend, Torheit und Weisheit in tausend Gemälden faßlich und wahr an dem Menschen vorübergehen“ lässt. Wie der Guckkastenmann führt auch der Dichter „die Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung in rührenden, erschütternden Gemälden an ihm [dem Zuschauer; J.R.] vorüber“.184 Für Schiller ist die Rede vom „poetischen Gemälde“ mehr als konventionelle Mi–––––––––––––– 179 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 259. 180 Langen, August: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934 (Ndr. Darmstadt 1968). 181 Bentham: The Panopticon Writings, S. 43. 182 Bentham stellte sich vor, dass Zuschauer durch einen unterirdischen Gang in den Zentralraum gelangen. „Darum ist anzunehmen, daß er die Panoramen kannte, die gerade damals (das erste stammt aus dem Jahre 1787) von Barker erbaut wurden.“ Auch bei ihm nahmen die Besucher „den Platz des souveränen Blicks ein.“ Foucault: Überwachen und Strafen, S. 266 Anm. 12. Zum Verhältnis von Panorama und Panopticon Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/Main 1980, S. 35: „Was Bentham wollte, war die radikale Säkularisation der göttlichen Allschau, die Demokratisierung des göttlichen Blicks durch Internalisierung.“ 183 Langen: Rahmenschau und Rationalismus, S. 83. 184 NA 20, 98.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

mesis- und Paragone-Topik. Dies belegt schon die Frequenz und Intensität, mit der Schiller sich – immerhin achtzehn Jahre nach Lessings Laokoon – auf die Analogie von Bild und Bühne beruft. Schiller ist hier kein Einzelfall. August Langen betont, dass „Bild und Illustration für die Kultur des 18. Jahrhunderts ein Element von kaum zu überschätzender Bedeutung wurden“.185 Dies gilt insbesondere für die Wahrnehmung des Dramas als einer intermedialen, aus Anschauung und Sprache bestehenden Form. Schiller ist dieser Zusammenhang stets bewusst; mehrfach wendet er etwa die Technik der lebenden Bilder (tableaux vivants) an, vor allem an Aktschlüssen: So erstarren etwa im Fiesko die Verschwörer einmal „in todter Pause und schauervollen Gruppen“186, am Ende bleiben alle „in starren Gruppen stehn. Der Vorhang fällt“.187 Von den frühen bis zu den klassischen Dramen zeigt sich eine ungebrochene Vorliebe für Choreographien und Gruppenfigurationen. Lebende und stehende Bilder finden sich in Kabale und Liebe (Beginn von Szene I, 4) oder im Don Karlos; noch in der Braut von Messina inszeniert Schiller Figurengruppen von „statuenhafter Attitüde“, die sich an den vertrauten Affektmodellen der Laokoon-Gruppe oder der Niobiden-Darstellungen orientieren.188 Das Stück schließt mit einer solchen zum lebenden Kunst-Bild geronnenen Pathosformel: „Er [Don Cesar; J.R.] durchsticht sich mit einem Dolch und gleitet sterbend an seiner Schwester nieder, die sich der Mutter in die Arme wirft“.189 Der Einrichtung lebender Bilder auf der Bühne korrespondiert die zeitgenössische Praxis der Buchillustration. Für sie steht Daniel Chodowiecki, der mit seinen Kupferfolgen „die Gestaltung des Prinzips der Rahmenschau in Reinkultur“190 verwirklichte. Auch zu Kabale und Liebe verfasste er eine zwölf Blätter umfassende Folge von Radierungen.191 Sofern sich die Situationsbilder der Illustratoren „wenig von dem zeitgenössischen Bühnenbild“ unterscheiden, kann Schiller buchstäblich von den „auf der Schaubühne aufgestellten Gemähl–––––––––––––– 185 186 187 188 189 190 191

Langen: Rahmenschau und Rationalismus, S. 87. NA 4, 113 (V, 12). NA 10, 121 (V, 17). Pfotenhauer: Würdige Anmut, S. 177 Anm. 44. NA 10, 125. Langen: Rahmenschau und Rationalismus, S. 93. Vll. Engelmann, Wilhelm: Daniel Chodowiecki’s sämmtliche Kupferstiche. Leipzig 1926, S. 283f. (Nr. 541); Bauer, Jens-Heiner: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Das druckgraphische Werk. Hannover 1982. Zu Chodowieckis Romanillustrationen Beaujean, Marion: Chodowiecki und die zeitgenössische Romanliteratur. In: Hinrichs, Ernst (Hg.): Daniel Chodowiecki (1726-1801). Kupferstecher – Illustrator – Kaufmann. Tübingen 1997 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 22), S. 143-156 (mit weiterer Literatur).

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de(n)“192 wie von einer Sequenz illustrierter Situationsbilder sprechen. Dramatisches Bild und Bild des Dramas kommen einander entgegen. Das dramaturgische Mittel der lebenden Bilder ist so vertraut, dass es in den Philosophischen Briefen bereits ins Allegorische ausgeweitet werden kann: „Tode (sic) Gruppen sind wir – wenn wir hassen, / Götter, wenn wir liebend uns umfassen“.193 Die Idee des belebten und bewegten Bildes, die in der Topik der literarischen Ekphrasis seit der Antike angelegt ist, wird hier für Schillers Liebes- bzw. Hassphilosophie fruchtbar gemacht. Choreographisch umgesetzt findet sich die Erstarrung zur „toten Gruppe“ in der oben erwähnten Szene des Don Karlos, in der Karlos im Angesicht seines Vaters verstummt und erstarrt; auch die Granden fallen in „ein allgemeines Erstarren“194, der König steht „ohne Bewegung“, „den Blick starr auf den Boden geheftet“.195 Von den Dramenillustrationen führt ein direkter Weg zum Guckkasten. Er diente als ein Theater en miniature, in dem neben Stadtansichten auch die illustrierten Szenenbilder eines Hogarth und anderer betrachtet werden konnten. Die starke Einrahmung der Szenen im Guckkasten suggerierte den Eindruck, dass „der Gegenstand vom Beschauer entfernt wie in einer Nische stehend […] erscheint“.196 Für Langen ist der Guckkasten (auch „optischer Kasten“ oder „Raritätenkasten“ genannt), das „wohl bedeutsamste Symbol für den psychologischen Vorgang der Aufnahme im Rationalismus des 18. Jahrhunderts“.197 Hierbei handelt es sich um einen Kasten, in dessen Wände zwei jener optischen Gläser, welche die Dinge vergrößern, eingelassen sind. Durch sie könnt ihr bewundern: Konstantinopel, Peking, Moskau und Madrid, die Schlacht bei Fontenoy und wie Ludwig XV. sie höchstselbst gewinnt, ein Seegefecht mit rauchenden Kanonenschlünden […] So reist der Pariser, ohne große Kosten und ohne jeden Un-

–––––––––––––– 192 NA 20, 92. 193 NA 1, 110 (v. 25f.). In der frühen Lyrik ist das Prinzip der lebenden Bilder etwa in Gruppe aus dem Tartarus gegenwärtig (NA 1, 109), das sich als Ekphrasis einer Höllenvision gibt. 194 NA 6, 302 (Regieanweisung nach v. 5610). 195 NA 6, 303 (Regieanweisung nach v. 5636). 196 Langen: Rahmenschau und Rationalismus, S. 88. 197 Ebd. S. 31. Zum Guckkasten (in Auswahl) Sztaba, Wojciech: Die Welt im Guckkasten. Fernsehen im achtzehnten Jahrhundert. In: Segeberg, Harro (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996 (= Mediengeschichte des Films 1), S. 97-112; Füsslin, Georg: Der Guckkasten. Einblick – Durchblick – Ausblick. Stuttgart 1995; Ganz, Thomas: Die Welt im Guckkasten. Zürich 1994, bes. S. 49-74; Geimer-Stangier, Mia / Mombour, Eva Maria: Guckkasten. Siegen 1991. Zotti Minici, Carlo A.: Il mondo nuovo. Le meraviglie della visione dal ’700 alla nascita del cinema. Mailand 1988.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

fall zu riskieren, rund um die Welt; er erschaut in dieser Wunderkiste Länder, die er sonst sein Leben nicht zu sehen bekäme […].198

Zedlers Universal-Lexikon erklärt in seiner Auflage von 1741 den Guckkasten als Kasten, in welchem diese oder jene alte oder neue Geschichte im kleinen und durch dazu verfertigtes Puppenwerck, so gezogen werden kann, vorgestellet wird. Es pflegen gemeine Leute, so mehrentheils Italiäner von Geburth, mit solchen Kasten die Messen in Deutschland zu besuchen, auf den Gassen herum zu lauffen und durch ein erbärmliches Geschrey: Schöne Rarität! Schöne Spielwerck! Liebhaber an sich zu locken. Die vors Geld hinein sehen. Weil nun solche Dinge mehr vor Kinder als erwachsene und angesehene Leute gehören, so pfleget man daher Dinge, die man herunter und lächerlich machen will, Schöne Raritäten, schöne Spielwerck zu nennen.199

Der Guckkasten steht als Leitmedium und -metapher hinter jenen Phantasien der Seeleninspektion und -sektion, die Schiller seine „dramatische Methode“ nennt. Die literarische Anthropologie der Bühne wird durch eine mediale unterstützt. Literatur wird zum Spektakel für Erwachsene, zum „Guckkasten in vergrößertem Maßstabe“200, in dem „Kopie(n) der wirklichen Welt“ gezeigt werden.201 Der Dramatiker ist nicht nur Menschenmaler, sondern auch Kollege des „Savoyarden“ und seiner „ambulante(n) Oper“.202 Dies bestätigt schon die Frequenz, mit der in der Schaubühnenrede optische Medien als Metaphern wiederkehren. Dem frühen Schiller der Schaubühnen-Rede scheint die Familienähnlichkeit von kleinem und großem Welttheater noch unbedenklich.203 Ausdrücklich ist in Ueber das gegenwärtige teutsche Theater vom „Savoyardenkasten der Komödie“ die Rede, wird das Drama als „offener Spiegel des menschlichen Lebens“ bezeichnet, „auf welchem sich die geheimsten Winkelzüge des Herzens illuminiert und fresko zurückwerfen“.204 –––––––––––––– 198 Mercier: Mein Bild von Paris, S. 295f. 199 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 30, Graz 1961, Sp. 891. 200 Langen: Rahmenschau und Rationalismus, S. 83. 201 NA 3, 5. 202 Mercier: Mein Bild von Paris, S. 295. 203 Mercier kommentiert die Affinitäten zwischen Guckkasten und Theater als „Bildungsmedien“ in dem oben zitierten Kapitel seines Tableau de Paris mehrfach ironisch: „Er braucht weder Muskeln noch Schauspielern noch Billettkontrolleuren Gage zu bezahlen, besorgt alles selber, sogar die Texte und Kommentare, mit denen er der bunten Bilder Reigen beredt begleitet, hat er selbst gemacht, und nicht zuletzt stemmt er auf eigener Schulter sein Theaterchen von Platz zu Platz.“ Mercier: Mein Bild von Paris, S. 297. 204 NA 20, 79.

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Vollends in der Schaubühnen-Rede wird das Theater zur optischen bzw. katoptrischen Magie, auf deren „Wink“ das Vergangene ein neues phantasmagorisches Leben gewinnt: „Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben“.205 Dichtung als Geisterbeschwörung und Nekyia, als lichtmagische Operation, die – wie Odysseus bei Homer (Odyssee 11) – durch nekyomantische Beschwörung die lebendige Gegenwart der Toten erwirkt. Solch magisch-animistische Phantasien rücken den Dichter in die Nähe des Geistersehers: „Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsezen verfluchen wir ihr Gedächtniß“.206 Gut zwanzig Jahre später ist Schiller die forcierte Affinität solcher, der eigenen, Praktiken zum Jahrmarkt unangenehm geworden, Der „Krieg“ der Kunst gegen den „Naturalism“207, den Schiller anlässlich der Braut von Messina führt, ist daher auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Guckkastenästhetik und ein medialer Distinktionskampf, in dem der Illusionist vom Dichter, das „ambulante“ Straßentheater von der echten „stehenden Schaubühne“ als gesellschaftlicher Institution abgetrennt werden soll. „Von der Poesie und von der dramatischen insbesondere verlangt man Illusion, die, wenn sie auch wirklich zu leisten wäre, immer nur ein armseliger Gauklerbetrug“ – d.h. eine lichtmagische Operation – „seyn würde“.208 Mit seiner Begeisterung für den Guckkasten als analogon theatri stand Schiller keineswegs allein da. Schon der junge Goethe hatte die Gleichung von Guckkasten und Theater in seiner Rede Zum Schäkespears Tag (1771) aufgegriffen, wenn er „Schäkespears Theater“ als einen „schöne(n) Raritätenkasten“ bezeichnet, „in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt“.209 Dass Goethe zeit seines Lebens mit optischen Medien wie der Laterna magica liebäugelte, zeigt etwa die HelenaBeschwörung in Faust II, die als Phantasmagorie inszeniert werden sollte, man hat nicht zu Unrecht von Goethes „Traum von einem Faust-Film“210 gesprochen. Dass Schiller sogar mindestens ein eigenes –––––––––––––– 205 206 207 208 209 210

NA 20, 92. Ebd. NA 10, 11: „dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären.“ NA 10, 10. Goethe: Werke (HA), Bd. 12, S. 226. Gaier, Ulrich: Goethes Traum von einem Faust-Film. In: Ders.: Fausts Modernität. Essays. Stuttgart 2000, S. 92-136; zur Laterna magica Helmut Schanze: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung. Tübingen 1989, S. 179ff.

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III. ›Panopticum‹ und ›Perspektiv‹. Die Archäologie der Schaubühne

Gedicht über den Guckkasten verfasst hat, ist dagegen weniger bekannt. Die Schaubühne als Schaukasten – auf diese Beziehung kommt Schiller im Herbst 1796 zurück, als er von dem Verleger Johann Karl Philipp Spener (1749-1827) gebeten wird, zur Neujahrsausgabe seines Guckkastenmannes einen „Einladungszettel“ zu verfassen.211 Schiller antwortet mit einem Gedicht mit dem Titel Spiel des Lebens. Es scheint nur auf den ersten Blick ein kurioser Anachronismus, ein Rückfall in die obskure, lichtscheue Sphäre der Sizilianer und Savoyarden aus der Geisterseher-Phase. Obwohl es sich um ein Auftragspoem handelt, blitzt die bleibende Schwäche des eingeschworenen Distanzästhetiker und Anti-Naturalisten für das Medium auf: Wollt ihr in meinen Kasten sehn? Des Lebens Spiel, die Welt im kleinen, Gleich soll sie eurem Aug’ erscheinen; Nur müßt ihr nicht zu nahe stehn, Ihr müßt sie bei der Liebe Kerzen Und nur bei Amors Fackel sehn. Schaut her! Nie wird die Bühne leer: Dort bringen sie das Kind getragen, Der Knabe hüpft, der Jüngling stürmt einher, Es kämpft der Mann, und alles will er wagen. 212

Noch um 1800 kann daher das große Welttheater in metaphorische Beziehung zum ‚kleinen’ Kasten gesetzt werden. Spiel des Lebens wie das verwandte Poesie des Lebens (entst. 1795) sind Seitenstücke zum Wallenstein-Prolog, der noch immer von der großen Verwandtschaft zwischen Schaubühne und Schaukasten, dramatischem Gemälde und populärer Bilderkette weiß. Noch immer geht es darum, „den großen Gegenstand in einer Reihe von Gemälden […] vor Euren Augen abzurollen“, dies verbindet sich jedoch nun mit der Mahnung, das Theater möge „die Täuschung, die sie schafft, / Aufrichtig selbst zerstör(n) und ihren Schein / Der Wahrheit nicht betrüglich unterschieb(en)“.213 Der Schein ist spätestens seit den Ästhetischen Briefen zur ästhetischen Transzendentalie geworden, die sich nicht mehr an den populären Medien der Illusion, sondern an Kants Apriori der Anschauung in der „transzendentalen Ästhetik“ orientiert. Dies läuft auf eine vollständige Inversion hinaus: War der Zuschauer der Schau–––––––––––––– 211 Brief von Spener, 20.8.1796; NA 36/I, S. 308f., hier S. 308. 212 NA 1, 152. Den Einspruch gegen derlei Darbietungen formuliert ein unbekannter Sprecher im Gedicht Poesie des Lebens, das gleichsam das medienkritische Gegenstück zu Spiel des Lebens darstellt: „Wer möchte sich an Schattenbildern weiden, / Die mit erborgtem Schein das Wesen überkleiden, / Mit trügerischem Besitz die Hofnung hintergehn.“ NA 1, 433. 213 NA 2/1, v. 136-138.

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bühnenrede gebannt und gefangen durch den Zauber der Bühne, so eröffnet ihm die Kunst des Scheins nunmehr qua Distanz von der Natur ein Refugium der Freiheit. Die „Gleichgültigkeit gegen die Realität und das Interesse am Schein [ist] eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur“.214 Der Schein wird – wie die Kunst insgesamt in den Künstlern – zum Ausweis der dignitas hominis. Das „Reich der Schatten“ ist eine „Mittelwelt“215, ein Refugium der Freiheit.216 Um so wichtiger ist es da, die Grenze zum Illusionismus als Täuschung zu ziehen und darauf hinzuweisen, dass „hier nur von dem ästhetischen Schein die Rede ist“ und „nicht von dem logischen, den man mit demselben verwechselt“, und der daher „bloß Betrug“217 ist. Die Umwertung des Scheins vom Medium der Fesselung zum Medium der Freiheit ist vollzogen – doch damit greifen wir schon auf das Thema des Geistersehers voraus.

–––––––––––––– 214 NA 20, 399. 215 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 57. 216 Schiller greift diesen Komplex der Freiheit durch den Lichtschein der Bühne zusammen mit der Vorstellung der (licht-)magischen Nekyia auch in dem 1800 entstandenen Prolog-Gedicht An Goethe – als er den ‚Mahomet’ von Voltaire auf die Bühne brachte auf. Auf Thespis’ „leicht gezimmert(em)“ Wagen befinden sich „nur Schatten und Idole.“ Das Reich der Bühne ist eine „Idealwelt“, die „aufrichtig“ ihren Scheincharakter ausstelle. Am Ende wird Voltaire als „abgeschiedner Geist“ beschworen. 217 NA 20, 399f.

IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. Der Geisterseher

IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹ 1. Zeitroman und Skeptizismus

1. Zeitroman und Skeptizismus 1.1. Der Don Karlos-Komplex

Schillers Haltung zum Geisterseher darf im vollen psychologischen Sinn als ambivalent bezeichnet werden. Der Genugtuung über das „schrecklich viel(e) Aufsehen“1, das die ersten Lieferungen in der Thalia erregen, stehen Äußerungen des Missfallens an der „Leerheit“ des Projekts gegenüber.2 Sie werden den langjährigen (1786-1789) Entstehungsprozess eines Buches begleiten, das Schiller als „Schmiererei“, „Farce“3 oder bestenfalls als „Aufsatz“4 qualifiziert: „Dem verfluchten Geisterseher kann ich bis diese Stunde kein Interesse abgewinnen; welcher Dämon hat ihn mir eingegeben“.5 Wenn der Romancier in Ueber naive und sentimentalische Dichtung als „Halbbruder“ des Dichters diskreditiert wird, so darf dies auch als selbstkritischer Reflex der eigenen Erfahrungen mit dem Genre bewertet werden. Allzu sehr schien Schiller dieser „philosophische Mantel-und Degen“6 eine Konzession an den Markt, der durch „Materialität (des) Innhalts“7 auf niedere, d.h. „stoffartige Wirkung“ abzielte.8 Es war der Versuch, in einer finanziellen Notsituation, in der bereits der Abbruch der literarischen Arbeit drohte, forsch auf den „ökonomischen Ruhm“9 zu set–––––––––––––– 1 2 3 4 5 6

7 8 9

NA 16, 415. An Körner, 22.1.1789; NA 16, 418. An Lotte und Caroline, 12.2.1789; NA 16, 420. An Körner 8.8.1787; NA 16, 414. Körner spricht spontan davon, Schiller solle sich „einmal im edlen Lustspiel versuchen.“ NA 16, 415. Oesterle, Kurt: Taumeleien des Kopfes. Schillers Hemmungen, einen Roman zu beenden, und die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist der Theorie. In: Lüdke, Martin / Schmidt, Delf (Hg.): Siegreiche Niederlagen. Scheitern. Die Signatur der Moderne. Hamburg 1992, S. 42-61, hier S. 47. NA 20, 462. Körner vom 13.7.1800; NA 12, 172f. Oesterle: Taumeleien, S. 49.

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zen, sich die eigene Entschuldung zu „erschreiben“10, und das bedeutete ganz konkret, „die Beitische Schuld und noch andere Posten zu tilgen, welche in Dresden ausstehen“.11 Aus der ökonomischen Not wird eine ästhetische Tugend. „Lache mich aus, so viel Du willst“, schreibt er an Körner, „ich arbeite ihn ins Weite, und unter 30 Bogen kommt er nicht“.12 Noch wird die „Katastrophe“ für die Buchausgabe aufgespart. Die Auflösung soll Schiller zugleich die Auslösung aus den eigenen Schulden bringen. Während die „Forderung der Leser nicht befriedigt [wird], die den weiteren Verlauf gern wissen möchten“, kann Schiller die materiellen Forderungen seiner Gläubiger nunmehr erfüllen.13 Schiller spielt auf Zeit, und so erfolgt der Plan, den Roman „mehr ins Große“ auszuführen14, aus einem diffusen Gemisch aus ökonomischen und philosophischen Motiven, das sogleich als Motiv in den Roman selbst eingeht. In dem Maße, wie sich der Prinz in Schulden und Abhängigkeiten, das „Gewebe“ des Betrugs verstrickt, erschreibt sich sein Autor jene ökonomische Freiheit, die wiederum eine Freiheit zur ästhetischen Autonomie, zur Kunst und Klassizität ist.15 Denn Schiller weiß, was das Publikum – und er selbst – gerne lesen: „Cagliostros und Starks, Flamels, Geisterseher, geheime Chronicken, Reiseberichte, allenfalls pikante Erzählungen, flüchtige Wanderungen durch die jetzige politische und in die alte Geschichtswelt“.16 Im und am Geisterseher stellte sich für Schiller zum ersten Mal die Frage nach der Legitimität des Populären, die nur wenige Jahre später in der Kritik an Bürger als –––––––––––––– 10 11 12 13 14 15

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NA 16, 416. An Körner 1.10.1788; NA 16, 417. An Körner 12.6.1788; NA 16, 416. Ebd: „Ich schmachte nach dem Augenblick, wo ich anfangen kann, Schulden zu bezahlen, und dies will erschrieben sein.“ An Göschen, 19.6.1788; NA 16, 416. Symbolisch werden dem Protagonisten die eigenen Schulden überschrieben. Ein klarer Fall von Projektion mit Abwehrfunktion: „Des Prinzen Schatulle ist erschöpft“, heißt es zu Beginn des zweiten Buches, „was er durch eine weise Ökonomie seit Jahren erspart hat, ist dahin“ (NA 16, 120). Der Autor entschuldet sich, indem er seinem Stellvertreter die eigenen Schulden aufbürdet. Die wiederkehrenden Hinweise auf seine finanzielle Notlage illustrieren wie kein anderes Motiv den Niedergang des Prinzen, seinen Charakterwandel von Askese zu Ausschweifung, von bürgerlicher „wieser Ökonomie“ zu einer Lebensform, die in spätfeudaler Gewohnheit die eigenen „Einkünfte überschreite(t)“, wie Schiller dies am Hofe Karl Eugens selbst miterlebt hatte. (NA 16, 154). Schuld und Schulden sind gekoppelt, Verschwendung ist das eigentliche Verbrechen. Am Ende des Textes sind „seine Schulden […] bezahlt“ (NA 16, 158) – ebenso wie die des Autors, und so erlahmt der ökonomische Impuls zum Temporalisieren, während sich der philosophische in Form des Philosophischen Gesprächs wieder regt. An Körner 12.6.1788; NA 25, 70.

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„Volkssänger“ aufbrechen sollte. Was Bürger zur Last gelegt wird, „sich ausschließend der Fassungskraft des großen Haufens zu bequemen“17, einem, nach Schillers Auffassung, „gemeinen Ziele“ zu dienen, das die „Würde der Kunst“ verletzt, musste auch für die eigene Arbeit am Geisterseher gelten. Statt auf Klassizität setzte Schiller hier vorerst auf „Celebrität“18. Aus ökonomischem Kalkül wird er zum „Alltagspoet(en)“, der das „Leidenschaftsbedürfnis“ seiner Leser um seiner selbst willen stimuliert und „sich nicht selten mit dem Volk [vermischt].“19 Der Geisterseher bleibt für seinen Autor ein Versuch, „mit den Resultaten des Tiefsinns zu spielen“, ein Buch, in dem sich polare Gegensätze und Möglichkeiten der Schiller’schen Poetik berühren – Trash und Klassizismus, Pulp fiction und Propyläen. Gewiss: ein Seitenwerk, „mit der linken Hand“20 geschrieben, aber doch auch ein Schlüsselroman, nicht nur im Sinne der Cagliostro- und Geheimbundhysterie21, der er seinen unmittelbaren Erfolg verdankt, sondern auch im Hinblick auf die Genealogie der Schiller’schen Ästhetik, die sich – dies die These der folgenden Abschnitte – mit und durch den Geisterseher zu wandeln, ja zu konstituieren beginnt. Seine Keimzelle hat der Roman in einem Brief, den Schiller im Anfang März 1783 aus Bauerbach an Reinwald schreibt. Für den Plan eines „Friedrich Imhof“, auf den er „mit starken Schritten los gehen will“, bittet er den Freund um Material über „Jesuiten und Religionsveränderungen – überhaubt über den Bigottismus und seine Verderbnisse des Karakters“.22 Reinwald übersendet daraufhin Constantin de Rennevilles L’inquisition française ou l’histoire de la Bastille (zuerst 1721) in deutscher Übersetzung, die Schiller bis Ende des Monats –––––––––––––– 17 18 19 20 21

22

NA 22, 248. Dies in einem Referat eines Gesprächs mit Herder. NA 16, 414. Vgl. an Körner, 15.5.1788; NA 16, 415f.: „Soviel ist indessen gewiß, daß ich mir diesen Geschmack des Publikums zu Nutzen machen und so viel Geld davon ziehen werde, als nur immer möglich ist.“ Mayer, Mathias: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Stuttgart 1995, S. 226. Müller-Seidel, Walter: Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik. In: Brummack, Jürgen (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 136-163; Kiefer, Klaus K.: Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht: Zur Cagliostro-Rezeption Goethes und Schillers im zeitgenössischen Kontext. In: Richter, Karl / Schönert, Jörg (Hg.): Klassik und Moderne. Stuttgart 1983, S. 207-227; Treder, Uta: Wundermann oder Scharlatan? Die Figur Cagliostros bei Schiller und Goethe. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 79 (1987), S. 30-43; Kiefer, Klaus (Hg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. München 1991 (= Bibliothek des 18. Jahrhunderts). NA 23, 69.

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durcharbeitet.23 Zwar wird der Friedrich Imhof schon Ende März zusammen mit den Vorarbeiten zu Maria Stuart „zurückgelegt“24; dennoch zeichnen sich in Schillers historischen Lektüren zu diesem Komplex bereits Eckpunkte des Romanprojekts ab. Der Brief an Reinwald eröffnet ein Themen- und Motivfeld, in dem sich die „weltanschauliche Gemengelage“25 der unruhigen, von ökonomischen wie artistischen Selbstzweifeln geprägten Halbdekade zwischen Bauerbach und dem ersten Umzug nach Weimar situieren. Sie lagern sich um ein Zentrum, das durch den Don Karlos bezeichnet wird, und so könnte man aufs Ganze bezogen von einem Don Karlos-Komplex sprechen, in dessen Mittelpunkt die Frage (oder Dialektik) der Aufklärung steht. Was diese Entwürfe verbindet, ist die Tatsache, dass sie allesamt „den religiösen Fanatismus mehr oder weniger berührten“.26 Ein neues Thema erscheint am Horizont. Schiller entdeckt bei den Vorstudien zu Maria Stuart das Thema der Religion(en) und der Konfession(en), die als treibende (Gegen-)Kraft hinter dem Prozeß der Aufklärung erkannt werden. An diesem Don Karlos-Komplex partizipieren folgende Entwürfe: 1. der Don Karlos selbst, der zwischen 1783 und 1787 in einem zähen Schreib- und Konzeptionsprozess entsteht, in dem sich, wie Schiller im ersten Brief über Don Karlos schreibt, „in mir selbst vieles verändert [hat]“.27 2. Sein narrativer „Halbbruder“, der Geisterseher (im Wesentlichen zwischen 1786 und 1789), dessen erster Teil zuerst in der Thalia im unmittelbaren Anschluß an das Thalia-Fragment des Don Karlos gedruckt wird.28 3. Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788), die Zeit und Thema des Don Karlos im historiographischen Gewand wieder aufnimmt. 4. Eine Folge von Briefen über den Don Karlos (1788), welche die Frage nach Dialektik und Despotie der Aufklärung im Hinblick auf die Figur des Marquis Posa noch einmal – und offenbar im Licht des Geistersehers – zuspitzen. Hinzu kommen 5. die im Jahr 1788 (durch Körner) neu aufgenommenen Philosophischen Briefe, die der Geisterseher als „Schwärmerroman“ und „Ge–––––––––––––– 23 24 25 26 27 28

Vgl. den Kommentar in NA 23, 292-294. NA 23, 292. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 262. Hanstein, Adalbert von: Wie entstand Schillers Geisterseher? Berlin 1903, S. 4. NA 22, 138. Der Geisterseher. Aus den Papieren des Grafen von O. In: Thalia 1787 (1. Bd., 4. Heft), S. 68-94.

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schichte einer Weltanschauungskrise“29 kongenial fortsetzt, dies vor allem im 1789 geschriebenen Philosophischen Gespräch, das als Antwort auf Körners Raphael-Brief von 1788 (erschienen Thalia, Heft 7, 1789) konzipiert war. Schiller schreibt mit dem Geisterseher den „Roman einer Aufklärung“30 neu, den die Philosophischen Briefe begonnen und ihrerseits abgebrochen hatten. Beide Texte kreisen um die Folgen von „Scepticismus und Freidenkerei“, die schon in der Vorerinnerung der Philosophischen Briefe als „die Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes“ bezeichnet werden.31 Im Geisterseher rückt der geheimnisvolle Armenier in die Rolle des Raphael; als „‚umgekehrter‘ Anthropologe und negativer ‚philosophischer Arzt’“32 tritt er zugleich die Nachfolge Franz Moors an.33 Im Prinzen wiederum kehren Züge des enttäuschten, durch die radikale Aufklärung desillusionierten Schwärmers Julius wie des Infanten Karlos wieder. Alle drei Texte – Philosophische Briefe, Geisterseher, Don Karlos – sind geprägt von Erziehungsprozessen, letztere in der Spielart der „Prinzenerziehung“34. Im zweiten Buch des Geistersehers wird sie entschieden durch das Medium der Kunst und des Schönen betrieben. Die Empfänglichkeit des Prinzen fürs Sinnliche wird zum Widerhaken einer schwarzen Variante „ästhetischer Erziehung“, die katholische (und klassische!) Ästhetik zum Instrument der finalen, dann nur mehr angedeuteten Konversion werden lässt35. Der Geisterseher wird so zu einer Parabel über die Macht von Kunst und Medien, zur Reflexion über das Verführungspotential der zur Kunst befreiten und ‚rehabilitierten’ Sinnlichkeit. Durch sie endet der traumatisierte Pietist als libertiner Kryptokatholik und Materialist mit Verschwörungs- und Usurpationsplänen, in denen die Machenschaften des zaudernden Revolutionärs und Epikuräers Fiesko wiederkehren.

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Riedel: Anthropologie, S. 242. Riedel: Kommentar, Bd. 5, S. 1159. NA 20, 108. Riedel: Anthropologie, S. 244. Ebd. Beaujean, Marion: Zweimal Prinzenerziehung. Don Carlos und Geisterseher. In: Poetica 10 (1978), S. 217-235. Schon Hofmannsthal hat gesehen, wie sehr die Wendung des Prinzen zur Kunst eine Wendung zur „Hingabe und Fülle des Katholizismus“ bedeutet. Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, S. 353.

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1.2. Ein metaphysischer Detektivroman Unter den im Musenalmanach 1797 gedruckten Xenien findet sich (Nr. 316) ein Stück mit dem Titel Roman, das Schiller in der Ausgabe der Gedichte von 1805 (Zweiter Teil) mit zu einer längeren Elegie namens „Jeremiade“ zusammenfasst. Philosophischer Roman, du Gliedermann, der so geduldig Still hält, wenn die Natur gegen den Schneider sich wehrt. 36

Schillers Spott richtet sich hier gegen die Vertreter des älteren philosophischen (Erziehungs-)Romans, der in der Phase der Xenien neue Popularität gewonnen hatte37 und von Autoren wie Ignaz Feßler, Professor für Orientalistik in Lemberg, theoretisch verteidigt worden war38. Gemeint waren Texte wie der Theodor des Christian Friedrich Sintenis (1750-1820), Johann Jakob Duschs (1725-1787) voluminöse Geschichte Carl Ferdiners (1776-1780) oder Friedrich Bouterwerks Paullus Septimius, oder das letzte Geheimnis des Eleusinischen Priesters (1795). Das Verdikt über den philosophisch-didaktischen Roman à la Sintenis und Dusch gewinnt im Rückblick auf den Geisterseher den Charakter eines kritischen Autodafés. Hier wird der Stab über ein Genre gebrochen, in dessen Zentrum nicht die Versinnlichung eines Systems in einer Fabel, sondern dessen Kritik als System, die „Paroxysmen des Zweifels“ stehen.39 Schillers philosophische Jugendromane sind die melancholischen, durch „Resignation“ und „Skepticism“ gezeichneten Brüder des Erziehungsromans alten Zuschnitts. Positive Lehre ist ihre Sache nicht mehr. Sie betreiben die dunkle Didaxe des desengaño. Als „negativer Bildungsroman“40 steht der Geisterseher in der doppelten Genealogie des Werther und des Agathon. Mit letzterem teilt er nicht nur die psychologische Methode, sondern auch die Auseinandersetzung mit „eine(r) einseitige(n) und schwankende(n) Philosophie“41, wie sie die Extreme von Materialismus (Hippias) und Idealismus bzw. Platonismus (Agathon) verkörpern. Wie im Agathon ist Philosophie nicht nur zentrales Thema, sondern auch Problem im –––––––––––––– 36 37 38 39 40 41

NA 1, 348. Vgl. den Kommentar in NA 2 II A, 567. Im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (1796, Bd. 1, S. 242-268) erschien sein Beitrag An die ästhetischen Kunstrichter der Deutschen, in dem er die Gattung des lehrhaften historisch-philosophischen Romans verteidigte. NA 20, 108. Weissberg, Liliane: Geistersprache. Philosophischer und literarischer Diskurs im späten achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 1990, S. 94. NA 20, 107.

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Geisterseher. Der philosophische Roman wird zum Roman der Philosophie. Neben die thematische Vielfalt tritt die der Formen und Gattungsbezüge. Schiller hat ein Gattungsamphibium geschaffen, das mindestens zwei wenn nicht drei oder mehr Subspezies des modernen Romans nachhaltig geprägt hat. Er ist „kritischer Zeit- und Gesellschaftsroman“42, anthropologisch-erfahrungsseelenkundliche Studie im Stile des Verbrechers aus verlorener Ehre, vor allem aber Gattungszwitter aus gothic novel, Detektiv- und Kriminalroman. In dieser Mischung bietet der Text „ein zitathaftes Kompendium zeitgenössischer Erzählformen“43, das den europäischen Schauer- und Intrigenroman des achtzehnten Jahrhunderts mit dem romantischen verbindet. In all diesen Subgenres – Geheimbund-, Schauer- und Kriminalroman – wird der Geisterseher in Deutschland Tradition bilden. Dies gilt vor allem für den sog. Bundes- oder Geheimbundroman, dessen Impulsgeber Schiller für Deutschland wird44. Angesiedelt zwischen Reportage und Kolportage, zwischen pragmatischer Geschichtsschreibung und Memoires-Genre, leistet der Roman „die ästhetische Funktionalisierung realer Versatzstücke im Rahmen einer genuin literarischen Wirklichkeit des Romans“45, der die Rezeption der Geheimbundthematik im Roman des späten 18. Jahrhunderts nachhaltig bestimmen wird. Umso verwirrender ist es, dass sich der Tendenzroman einer klaren Tendenz verweigert. Während der Protagonist nach Aufklärung und Wahrheit strebt, verliert sich die Handlung mehr und mehr im Dunkel der Intrige. So bleibt unentschieden, ob das Thema Aufklärung des Aberglaubens oder Aufklärung als Aberglauben heißen soll. Folgt der spätere klassische Detektivroman einem Spannungsbogen, der sich mit dem aristotelischen Schema von aporia (Rätsel) und lysis (Lösung) beschreiben lässt46, so bleibt der Geisterseher eben diesen –––––––––––––– 42 43 44

45 46

Riedel: Anthropologie, S. 242. Käuser, Andreas: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main u.a. 1989 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 24), S. 189-240, hier S. 225. Haas, Rosemarie: Die Turmgesellschaft in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der Romantheorie im 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1975 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B: Untersuchungen 7), S. 10. Schiller habe, „indem er den Geheimbund zum Handlungsträger seines Romans machte, als erster die kompositorischen Möglichkeiten des Motivs entdeckt“. Ebd. S. 12. Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987 (= Hermaea 53), S. 318. Der Begriff der Aporie zählt zu den zentralen Konzepten der aristotelischen Logik und Dialektik. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Aporie, Aporetik. In: Historisches Wörter-

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Analyseprozess über weite Strecken schuldig, indem er nur dessen beide Enden – das Rätsel des Eingangs und den gelösten Schluss – bietet, ohne den Weg der Auflösung zu explizieren. Stehen Kriminalroman und Detektivgeschichte in aristotelischer Tradition47, so folgt Schillers Text jener der Skeptiker, die auf dem „Gleichgewicht der Gründe“, d.h. auf dubitatio und Epoché beharren48. Man könnte daher den Geisterseher als aporetischen Detektivroman bezeichnen. Der Versuch des Prinzen „meine Zweifel [zu] zerstreu(en)“ und „die Decke von meinen Augen“ zu ziehen, um „Überzeugung“ zu gewinnen,49 misslingt. Aus dem methodischen Zweifel des Protodetektivs, der dem Sizilianer im Verhör auf die Schliche zu kommen sucht, erwächst der „Paroxysmus des Zweifels“, durch den Schiller den Prinzen – und sich selbst – im Philosophischen Gespräch hindurchführt.50 Eine detektivische Analysis in Analogie zu jener „tragischen“, die Schiller ins Zentrum seiner klassischen Dramatik rücken wird, bleibt dem Prinzen wie dem Leser im Geisterseher verweigert. Das „tragische Sujet des entdeckten Verbrechens“51 realisiert sich jedoch nicht im Geisterseher, sondern in analytischen Stücken wie der Braut von Messina, im Demetrius, der Polizey oder in den Kindern des Hauses. Führt das Drama konsequent zu Auflösung und Entdeckung, so bleiben die Dinge im Roman unenthüllt. Die Frage nach der Existenz einer Geisterwelt und der möglichen oder unmöglichen Verbindung mit ihr wird nicht beantwortet. Auch der Aufschluss über die Intrigenmechanik mit ihren politischen Weiterungen wird verweigert. Schiller schreibt einen Schlüsselroman ohne „Schlüssel“52. Sein Reiz besteht darin, dass „er, als Fragment, dem Verstand einen ungelösten ––––––––––––––

47 48 49 50 51 52

buch der Philosophie. Bd. 1. Basel 1971, Sp. 447f. Sie resultiert aus der „Gleichheit konträrer Argumente“ (Aristoteles, Topica VI, 6; 145b 16-20), die den Anfang und Ausgangspunkt eines gegebenen „Problems“ darstellen. Die Untersuchung besteht nun darin, diese unterschiedlichen Meinungen methodisch gegeneinander abzuwägen und so durch Schärfung des Problems die Lösung vorzubereiten. In dieser dialogischen, tentativ-vergleichenden Struktur liegt eine Analogie zum Verfahren des Detektivromans, dessen Ermittlungen sich im „Abwägen gegensätzlicher Auffassungen“ (Sp. 448), Hypothesen und Rekonstruktionen konstituiert. Die Aristotelische Aporetik bietet eine erkenntnistheoretische Beschreibung des Detektivischen an, die sich der abduktiven Methode eines Charles Sanders Pierce alternativ zur Seite stellen ließe. Vgl. die launige Vorlesung von Dorothy L. Sayers: Aristoteles über Detektivgeschichten. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München 1998 (= UTB 8147), S. 13-22. Vgl. Waldenfels: Aporie, Aporetik, S. 448. NA 16, 56. NA 16, 418. NA 12, 464. NA 16, 45.

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Rest, der Mystifikation eine Zuflucht ließ“.53 Die Suspension der Wahrheitsfrage wird zum Mittel von suspense. Wenn Aufklärung „Befreiung vom Aberglauben“ ist54, dann ist der Geisterseher beides zugleich und damit ‚ambivalent’: ein Stück Aufklärung und Gegenaufklärung. „Ein Buch, das“, wie E.T.A. Hoffmanns Obrist Viktor von S. im Elementargeist feststellt, „gerade deshalb, weil es nicht vollendet ist, dem Geist einen Stoß gibt, so daß er rastlos fortarbeiten muß in ewigen Pendulschwingungen“.55 Die Rezeption des Romans in Deutschland bringt diese Unentschiedenheit, diesen „chimärische(n) Grenzstatus“ zum Austrag.56 Indem sich jede Fortschreibung des Textes zur Konkretisierung dieser Leerstelle genötigt sieht, wird der Geisterseher zum Modellfall der Rezeptionsanalyse. Dieser „ungelöste Rest“ stürzt, um ein Wort Goethes über das Ende seines Geheimbundromans Wilhelm Meisters Lehrjahre zu zitieren, jedoch schon in diesem Fall die „Summe“ insgesamt um.57 In diesem Sinne erfüllt die erste mysteriöse Begegnung mit dem Armenier Todorovs Definition des Fantastischen als „l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel“.58 Im Falle des Geistersehers wirkt diese Unschlüssigkeit dreifach: auf den Prinzen, den Leser und den Autor selbst, der seiner eigenen „planlos“ begonnenen Handlung unschlüssig gegenübersteht. Neben die hésitation tritt der Aufschub. So darf als auktoriales Bekenntnis gelesen werden, wenn der Prinz resig–––––––––––––– 53 54 55 56

57

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Haas: Die Turmgesellschaft, S. 13. Kant: Werke, Bd. 8, S. 390 (KdU § 40). E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin 1963, Bd. 6, S. 406. Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main 1994, S. 18. Zu den Kontinuationen Bußmann, Walter: Schillers „Geisterseher“ und seine Fortsetzer. Ein Beitrag zur Struktur des Geheimbundromans. Göttingen 1961; Bauer, Waldemar: Untersuchungen zum Verhältnis des Wunderbaren und Rationalen am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, dargestellt an Schillers ‚Geisterseher‘. Diss. Hannover 1978. Es wäre reizvoll, Schillers briefliche Auseinandersetzung mit dem Wilhelm Meister einmal enger auf die Folie seiner eigenen Erfahrungen mit dem Genre des Geheimbundromans zu beziehen. Schon für den Geisterseher gilt ja, dass „er Maschinen hat, die in gewissem Sinne die Götter oder das regierende Schicksal darin vorstellen.“ „Die Mächte des Turms“ ähneln darin den Intrigen des Armeniers, der negative Erziehungsroman geht dem positiven voraus. Schiller erkennt in Goethes Entwurf dieselbe strukturelle Problematik, denselben Hang zur Meta-Komödie. Wie der Geisterseher durch die Makrointrige zur „Farce“ wird, so droht aus dem „geheimen Einfluß“ des Turms „bloß ein theatralisches Spiel und ein() Kunstgriff“ zu werden (an Goethe, 8.7.1796; NA 28, 252). Beinahe ironisch mutet es angesichts der oben beschriebenen Ambivalenzen des Geistersehers an, wenn Schiller Goethe dazu auffordert, den „Ideengehalt“ des Meisters zu klären. „Die Winke sind sehr schön, nur nicht völlig begriffen“ (S. 253). Todorov, Tzvetan: Introduction a la littérature fantastique. Paris 1970, S. 29.

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niert bekennt: „Die Zeit wird dieses Geheimnis aufklären oder auch nicht aufklären“.59 Das dénouement der Intrige scheint die erstere Lösung, d.h. die der Auflösung zu privilegieren, doch nur an der Oberfläche. Das hastig antizipierte Ende reduziert das Geheimnis auf den Geheimbund. Das „Licht“ der Wahrheit erhellt das Dunkel des Betruges. Jede Unschlüssigkeit scheint in der Evidenz der „Weltintrige“60 aufgelöst, und so neigt sich der Geisterseher eindeutig der Variante des „explained supernatural“ zu: „In seinen [des Armeniers; J.R.] Armen finden sie den Prinzen, der seit fünf Tagen – die erste Messe hörte“.61 Damit mündet die unerhörte Geschichte wieder in jene Tendenz ein, die der Graf von O** zu Beginn seiner Memoires vorgibt. Von der „Kühnheit des Zwecks“ ist da die Rede, „den die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen im Stande ist“. Es gehe um einen „Beitrag zur Geschichte des Betrugs [= Seite des Armeniers; J.R.] und der Verirrungen des menschlichen Geistes“ [= Seite des Prinzen; J.R.]“.62 So scheint das Experiment mit dem Wunderbaren und Phantastischen am Ende doch „eingebunden in eine stabile Ordnung der Vernunft“.63 Wie Wielands Don Sylvio ist der Geisterseher angelegt als eine „Geschichte, in der alles Wunderbare natürlich zugeht“, ein Enttäuschungsroman, der die Blend- und Gaukelwerke der jesuitischen Intrige durchkreuzt, dabei jedoch auch die Illusion „mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen“ als „Lieblingsschwärmerei“ denunziert.64 Am Ende des zweiten Buches, das den Bogen in die Gegenwart des Schreibenden schlägt, spricht er von einer „unerhörte(n) Teufelei“, einem „Bubenstück“, das mit dem „schreckliche(n) Schicksal“ und Ende des Prinzen, der den Thron durch ein „Verbrechen“ usurpiert, bereits als abgeschlossen vorgestellt wird.65 Die erzählte Handlung jedoch liefert an keiner Stelle eine Aufklärung über den Armenier, seine Vorgeschichte, Identität und Machinationen.66 –––––––––––––– 59 60 61 62 63 64 65 66

NA 16, 102. Von Matt: Intrige, S. 245-250 („Der Weltintrigant“). NA 16, 159. NA 16, 45. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 579. NA 16, 56. NA 16, 102. Storz: Der Dichter Schiller, S. 193: „Nur scheinbar erfolgt ein Akt der Zerstörung, vielmehr wird durch die Manipulation mit dem Zweifel die Eigentümlichkeit des Okkulten verstärkt, und mit dem Vorwärtsschreiten der rationalen Argumentation scheint seine Hintergründigkeit in gleichem Maße zu wachsen.“ Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 242 stellt fest: „Der transzendentale Erzählhorizont reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit des Erzählten wie des Erzählens selbst.“

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So trifft eben nur zum Teil zu, dass Schiller mit dem Geisterseher „zum Mitbegründer des Kriminalromans wurde“.67 Argumente für eine solche Lesart lassen sich jedoch finden.68 Wie der Detektivroman fällt der Geisterseher mit der Leiche ins Haus. Das „X vor Beginn“69 stellt die erste Begegnung mit dem mysteriösen Unbekannten dar, welche die Voraussage vom baldigen Tod des Cousins und Thronfolgers mit sich bringt. Ihre rationale Auflösung wird am Ende des ersten Buches, im „detektivischen Gespräch“70, versucht, gerät dann jedoch aus dem Blick, um bis zum Abbruch des Textes ungeklärt zu bleiben. Formal ist in dieser Unterhaltung bereits die Dialogstruktur der Detektivgeschichte angelegt. Im Bericht des Grafen von O** ist die „Watson-Perspektive“ präfiguriert.71 Gerade im detektivischen Gespräch wird jedoch der letzte Aufschluss über die Wahrheit verfehlt, und der Bericht des Grafen von O** zeigt post festum, wie sich der „kleine Sieg, den seine Vernunft über diese schwache Täuschung davon getragen“ in Wahrheit als Pyrrhus-Sieg und Baustein der Intrige erweist. Die Suche nach dem Licht macht blind gegenüber der Intrige. Kommt dann noch „modernste Lektüre“ hinzu, die den „Kopf mit Zweifeln“72 anfüllt, wird der Scharfsinn blind für jene rationale Perspektive, die der Graf von O** dem aufgeklärten Leser empfiehlt. Der verhinderte Detektiv wandelt sich zum Libertin „des Geistes und der Sitten“73 – auch dies wird sich bei Dupin und Sherlock Holmes fortsetzen. Schiller erfindet, so könnte man resümieren, den Detektivroman, um ihn sogleich als Krisensymptom zu denunzieren. Eben noch Dupin, ist der Prinz im nächsten Moment schon vom Armenier düpiert. Das Verhör des als Betrüger entlarvten Sizilianers erfüllt eine spezifische Funktion, auf die der Mentor, Graf von O**, am Ende des ersten Buches ausdrücklich hinweist. Die lange Unterredung werde zitiert, „weil sie die Schwierigkeiten zeigt, die bei dem Prinzen zu be–––––––––––––– 67 68 69 70 71

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Käuser: Physiognomik, S. 236. Haslinger, Adolf: Schiller und die Kriminalliteratur. In: Sprachkunst 2 (1971), S. 173187. Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Verfremdungen I. Frankfurt/Main 1962, S. 52. Deinet, Klaus: Der Geisterseher. München 1991 (= Oldenbourg-Interpretationen 45), S. 31-37. Haslinger: Schiller und die Kriminalliteratur, S. 175; Mergenthaler, Volker: Sehen Schreiben – SchreibenSehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002 (= Hermaea 96), S. 184: „In der ersten Phase seines Bildungsweges soll er jene Kräfte entwickeln, die Poes Auguste Dupin zum ersten vollgültigen literarischen Detektiv machen werden.“ NA 16, 105 bzw. 106. NA 16, 106.

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siegen waren“.74 Einmal mehr erweist sich der Glaube an die Vernunft als trügerisch. Die Erziehung zur Kritik ist Teil des Masterplans, den der Armenier mit dem Prinzen im Sinn hat, ein „Bildungsvorgang“, in den „diabolisch sein eigentliches Verhängnis einkalkuliert“ ist.75 Im Geisterseher ist detektivische Analyse und Anamnese ein Baustein der Intrige, nicht Struktur des Romans. Noch fehlt der autonome und ex-zentrische Ermittler, der von seinem archimedischen Beobachterstandpunkt aus das Geschehen rekonstruiert. Der Prinz gewinnt dem Gesamtentwurf der Intrige gegenüber keine Distanz zur analytischen Übersicht, weil er selbst in ihren Fäden gefangen und Partei im Verfahren ist. Er ist in Personalunion „Hauptfigur der Handlung und Hauptfigur der Reflexion“.76 Am Ende bewahrheitet sich so das Hamlet-Wort, das der Prinz unmittelbar nach der Begegnung mit dem Armenier zitiert: „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als wir in unsern Philosophien träumen“.77 Was Alewyn für den Schauerroman feststellt, gilt also sinngemäß auch für den Geisterseher. Auch er bezeichnet eine „Abstinenzneurose der alternden Aufklärung“78, einen metaphysischen horror vacui, der dazu führt, dass in den „Visionen von globalen Hyperintrigen“79 säkulare Kompensate von Vorsehung eingeführt werden: „Schiller dekonstruiert die Vorsehung“, schreibt Peter von Matt, nur um die Rolle des Maschinisten auf säkulare Lenkungsinstanzen zu übertragen.80 Hier besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zur Resignation in metaphysicis. Die Intrige wird „zur Säkularisationsgestalt des Schicksals“ und als solche zum „Motor von Schillers Dramaturgie“.81 Der Prinz erweist sich auch darin als Protodetektiv, dass er der professionellen, allgegenwärtigen und geheim operierenden „Staatsinquisition“ als ermittelnder Dilettant gegenübersteht. Der Prinz vereinigt in sich verschiedene Kompetenzen, die im 19. Jahrhundert den klassischen Detektiv kennzeichnen werden. Vorerst sind sie jedoch gleichsam desintegriert; sie entfalten sich nicht systematisch, in konzentrierter Ermittlungsarbeit, sondern verstreut an –––––––––––––– 74 75 76 77 78 79 80 81

NA 16, 102. Haslinger: Schiller und der Kriminalroman, S. 184. Zimmermann, Hans Dieter: Schema-Literatur: ästhetische Norm und literarisches System. Stuttgart 1979 (= Urban-Taschenbücher 299), S. 103f. NA 16, 49. Alewyn, Richard: Die Anfänge des Detektivromans. In: Žmegač, Victor (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt/Main 1971, S. 185-202, hier S. 199. Von Matt: Intrige, S. 246. Ebd. S. 215. Ebd. S. 213.

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verschiedenen Stellen im Handlungsverlauf. Man sieht hier die Figur des Detektivs in statu nascendi. Der Prinz verkörpert drei Funktionen: 1. den Kritiker, der – analog zur zeitgenössischen Romandebatte – das Wahrscheinliche gegenüber dem Wunderbaren einfordert. Diese Seite kommt in der Beurteilung der Novelle des Sizilianers im Gefängnis zum Tragen, die der Prinz kritisch auf Unstimmigkeiten und verräterische Details der Kausalzusammenhänge durchleuchtet. 2. den Arzt, der sich in der mutmaßlichen Auflösung der Todesprophetie des Anfangs zeigt. 3. den Philosophen bzw. Theosophen (im Sinne der Philosophischen Briefe), der nicht nur metaphysisch, sondern nun auch kriminalistisch „rükwärts forscht“.82 Wenn der Prinz „zum geheimen Theologen [wird], der die verborgenen Pläne der Gottheit erraten möchte“83, so folgt er darin dem Julius der Philosophischen Briefe84. Dieser hatte eingangs der Theosophie als „Beruf aller denkenden Wesen“ angegeben, „in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensetzung, das Gesez in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rükwärts auf seinen Grundriß zu übertragen“.85 Die Theosophie formuliert damit einen in der historischen Logik der Philosophischen Briefe bereits überwundenen Erkenntnisoptimismus, einen Glauben an die Lesbarkeit jener „große(n) Zusammensetzung, die wir Welt nennen“.86 Gott spricht die Symbolsprache der Mathematik. Das Buch der Natur ist ein schwieriger und ‚chiffrierter’, aber doch lesbarer Text; er dient der Kommunikation nicht der Geheimhaltung. Alle „Fehlschlüsse und Täuschung“, auch die Kontingenz unserer Begriffe und „Idiome“87, können der Erkenntnis Gottes nichts schaden, vielmehr führten „alle Schlangenkrümmungen der ausschweifenden Vernunft in die gerade Richtung der ewigen Wahrheit“.88 Der „Kalkul“ der „menschliche(n) Vernunft“, wenn sie das Unsinnliche mit Hilfe des Sinnlichen ausmißt, und die Mathematik ihrer Schlüße auf die verborgene Phisik des Uebermenschlichen anwendet“, scheint – vorerst – aufzugehen.89 Am Ende wird immerhin nahegelegt, dass sich dieser widersprüchliche metaphysische Opti–––––––––––––– 82 83 84 85 86 87 88 89

NA 20, 116 (Philosophische Briefe). Wiese: Schiller, S. 313. Riedel: Anthropologie, S. 239-248, Zitate S. 242. NA 20, 113. NA 16, 115. NA 21, 127. NA 21, 126. NA 21, 127.

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mismus einem fröhlichen Dilettantismus, d.h. der Tatsache verdankt, dass Julius „ein Fremdling in manchen Kenntnissen“ ist und von sich bekennen kann: „ich habe keine philosophische Schule gehört, und wenig gedrukte Schriften gelesen“.90 1.3. Lesesucht und Klassizität Das unterscheidet ihn von seinem Gegenspieler im Geisterseher, der sich, nach Auskunft seines Mentors, auf „die modernste Lektüre“ – d.h. Materialisten wie Helvétius oder La Mettrie – verlegt habe, welche ihn „beinahe mit gar keinem wohltätigen Begriffe bereichert, wohl aber seinen Kopf mit Zweifeln“ angefüllt habe.91 Ein vorhandener „Lieblingshang […], der ihn immer zu allem, was nicht begriffen werden soll, mit unwiderstehlichem Reize hinzog“, wird dabei von einer „schlimme(n) Hand“ bewusst verstärkt, „die bei der Wahl dieser Schriften im Spiel“ ist. „Nur für dasjenige, was damit in Beziehung stand, hatte er Aufmerksamkeit und Gedächtnis“.92 Man sieht: Die „Zweifelsucht“ des Prinzen ist Symptom von Lesesucht.93 Die Umpolung des Pietisten zum Katholiken erfolgt im Durchgang durch einen Nullzustand von Skeptizismus und Atheismus. Die Emissäre der Gegenaufklärung sind dabei der (radikalen) Aufklärung selbst auf den Fersen. Die Extreme Aberglaube und alter Glaube, Freigeisterei und religiöse Schwärmerei berühren sich und fallen in der Intrige zusammen94. Mit seiner wahllosen bzw. fehlgeleiteten Lektüre teilt der Prinz das Schicksal vieler Figuren der frühen Dramen, bei denen die späterhin geforderte „republikanische Freiheit des Lesers“ in Anarchie umschlägt. Warnende Beispiele wie Karl Moor oder Luise Millerin lassen im Umkehrschluss Konturen einer Lese-Diätetik und

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NA 21, 127. NA 16, 105 bzw. 106. NA 16, 105f. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 393-430; König, Dominik von: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert, Herbert G. (Hg.): Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 1976. Hamburg 1977, S. 89-124. Dass die Umerziehung als Zerrbild „höherer Bildung“ (NA 16, 105) auf das Konto der „schwarzen Kohorte“ der Jesuiten geht, ergibt sich im Rückschluss aus einem Brief an Körner vom 10.9.1787, in dem Schiller Bodes Eindrücke aus Paris stichwortartig referiert. Darunter befindet sich auch der Hinweis auf die Aktivitäten des „Catholizismus.“ Die „jetzige Anarchie der Aufklärung“ sei mithin „der Jesuiten Werk“ (NA 24, 153).

1. Zeitroman und Skeptizismus

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ars bene legendi auf anthropologischer Grundlage durchscheinen95. Aufgeklärte Lektüre bedarf einer Schulung der Urteilskraft; sie erzieht zur Ausübung der freien Wahl gegenüber dem wahllosen Lesen. Zur Lesesuchtdebatte trägt der Geisterseher in doppelter Weise bei. Negativ durch einen pathologischen Fall von Fehllektüre, positiv in der eigenen Wandlung zur Klassizität, die sich Schiller in und an der verdeckten Selbstanalyse des Geistersehers erschreibt. Von der modernsten gilt es zur ältesten Literatur zurückzugehen, von der unkritischen zur kritischen, von der extensiven zur intensiven Lektüre.96 „Ich lese fast nichts als Homer“, schreibt Schiller an Körner in dem wichtigen poetologischen Brief vom 20.8.1788: In den nächsten 2 Jahren, habe ich mir vorgenommen, lese ich keine moderne Schriftsteller mehr. Vieles, was Du mir ehmals geschrieben, hat mich ziemlich überzeugt. Keiner thut mir wohl; jeder führt mich von mir selbst ab, und die Alten geben mir jetzt wahre Genüße. Zugleich bedarf ich ihrer im höchsten Grade, um meinen eigenen Geschmack zu reinigen, der sich durch Spizfündigkeit, Künstlichkeit und Witzeley sehr von der wahren Simplizität zu entfernen anfieng. Du wirst finden, daß mir ein Vertrauter Umgang mit den Alten äuserst wohltun – vielleicht Classicität geben wird.97

Es ist kein Zufall, dass beide Dokumente einer Lebens- als Lesekrise derselben Stimmung ihres Autors entspringen. Die auch biographisch enge Verflechtung beider Komplexe zeigt sich in dem Umstand, dass derselbe (!) Brief an Körner, der die Bekehrung zur Antike enthält zugleich die Fortsetzung des Geistersehers ankündigt, jenes zweite Buch also, an dessen Beginn prompt die zitierte Kritik an der „modernsten“ Lektüre des Prinzen steht. Hier spricht weniger der Graf von O** als Schiller, der Konvertit des Klassizismus, der die Lehren aus der Kata–––––––––––––– 95 96

97

Döring, Sabine: Lust und Last der Lektüre. Leseakte in Schillers Dramen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), S. 171-186. Dabei darf der Rekurs auf die Alten nicht den Fehler Karl Moors wiederholen, der sich in seiner Begeisterung für Plutarch, Homer u.a. zu einem „wilden“ Klassizismus hinreißen lässt. Dieser zielt auf unkritische, distanzlose und zudem dilettantisch Identifikation und imitatio, die sich in nichts von bloßer Hybris und Größensucht unterscheidet. Der viel zitierte Satz (I, 2): „Mir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von grossen Menschen“ (NA 3, 20) zeigt ja in aller Deutlichkeit das Paradox eines Handelns, das den Willen zur Größe eben jenem mimetischen Impuls von Papier und Tinte verdankt, der im selben Atemzug perhorresziert wird. So betrachtet, ist die Ausrichtung an antiken Modellen (Brutus und Cäsar, Hektor und Andromache) nirgends ausgeprägter als in den Räubern, dem Drama der missglückten imitatio, dessen Held gleichsam im Wiederholungszwang der Postfiguration gefangen ist. Die republikanisch-römische imitatio, die auch den Fiesko bestimmt, erweist sich für die Helden als verhängnisvoll, weil sie Orientierungsmodelle schafft, gegen die sich die Prätention eigener Größe nur als Größenwahn erweisen kann. NA 25, 97.

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

strophe seines literarischen Alter Ego zieht.98 Schillers Situation ist also paradox: als Autor muss er selbst an der Produktion jener infektiösen Literatur arbeiten, vor der er sich selbst unausgesetzt warnt. Aus dieser Aporie kann nur der Sprung in die Klassizität helfen, und so durchlebt der Prinz im zweiten Buch eben jene ästhetische Erziehung, die Schiller als evolutionäre Leistung und Wirkung der Kunst herausstellt – nicht ohne dabei die moderne katholische Bildkunst in eine prekäre Nähe zu Sinnlichkeit, Hedonismus und Libertinage zu rücken. Was Not tut, so könnte man den Geisterseher wie den Brief zur Klassizität deuten, sind nicht nur andere sondern weniger Texte, intensive statt extensive Lektüre, eine generelle Lesediät, die den konzentrierten Kanon als Purgativ gegen die Symptome „religiöser Melancholie“ einsetzt. Die Lektüre der Klassiker soll diätetisch-therapeutisch aus dem „Labyrinth“ des Zweifels und aus jener „religiösen Melancholie“ heraushelfen, in die sich der Prinz wie sein Autor zwischenzeitlich verirrt haben. Es kommt daher einer „apotropäische(n) Maßnahme“99 gleich, wenn der Autor nun den eigenen Weg von dem seiner Figur trennt. Während Schiller sich in Volkstedt und Rudolstadt der Lektüre antiker, d.h. jetzt griechischer Autoren (Plutarch, Homer) widmet, Euripides’ Iphigenie in Aulis und dann auch Szenen aus den Phönizierinnen des Euripides übersetzt und Ende des Jahres von Karl Philipp Moritz neue klassizistische und autonomieästhetische Impulse erfährt, lässt er den Prinzen zum stellvertretenden Opfer einer fragwürdigen katholischen Kunst-Erziehung werden, in der wiederum die prekäre Nähe der klassizistischen Sinnlichkeit zu Libertinage, Erotik und Epikureismus aufscheint. 2. Der Geist der Kunst

2. Der Geist der Kunst 2.1. Die Geburt des Scheins

Schillers klassische „Kunst des Scheins“, wie sie der 26. ästhetische Brief formulieren wird, steht in einer verdeckten Genealogie, die mit dem Hinweis auf Kant keinesfalls zu erschöpfen ist.100 Zwei Anre–––––––––––––– 98

Ein Brief an Charlotte deutet den Interessenkonflikt und die eingetretene Wendung an: „Ich habe jetzt eine gar angenehme Beschäftigung bei meinem Euripides, die mir lieber ist als alle Geisterseher.“ Brief vom 16.10.1788; NA 25, 118. 99 Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207 Anm. 30. 100 Am ehesten einschlägig sind hier Überlegungen aus Kants später Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hier finden sich im ersten Buch aufschlussreiche Thesen zum „künstlichen Spiel mit dem Sinnenschein“, die versuchen, zwischen „Blendwerk“ und „Augenverblendnis“ (praestigiae) und legitimer „Täuschung“ (illusio) zu

2. Der Geist der Kunst

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gungen, von denen bereits die Rede war, stehen dabei im Blickpunkt: 1. die mediologischen Beziehungen zwischen Literatur und Illusionskünsten, Schaubühne und Zauberlaterne. 2. eine philosophische Filiation, die in die mediologische hinein verwoben ist. Schillers Theorie des ästhetischen Scheins ist – dies als These – Derivat seines Platonismus, der wiederum im Horizont der Schaubühnenästhetik und ihrer optischen Trickkiste (Hohlspiegel, „Savoyardenkasten“) steht. Beide Komponenten wirken mit, als Schiller 1786 daran geht, im ersten Buch des Geistersehers jenen Sizilianer auftreten zu lassen, dessen Geisterstunde zum Prototyp aller literarischen Geisterbeschwörungen und Séancen in der deutschen Literatur wird. Es ist die Chronologie einer verleugneten Verwandtschaft, die Heterogenese der Weimarer Klassik aus dem „Fragwürdigsten“, zugleich der Versuch, eine erste Skizze zu einer vorerst ungeschriebenen Mediengeschichte der Weimarer Klassik vorzulegen. Denn „der Prinz wird in der Beschwörung nicht mit Geistern, sondern mit dem Geist der Medien konfrontiert.“101 Diese Konfrontation ereignet sich im ersten Buch des Geistersehers.102 Ausgangspunkt ist eine bunte, internationale Abendgesellschaft, an der auch der Prinz neben solch schillernden Figuren wie dem Musikus und dem Abbé teilnimmt. Die Frage nach dem Übernatürlichen steht im Raum. Diskutiert wird über das Rätsel des verlorenen Schlüssels zu einer Schatulle, den der Prinz in einer bei einer Lotterie gewonnenen Tabatiere wiederfindet. Solche „geheimen Künste“ liefen „auf eine Taschenspielerei“ hinaus, heißt es; der Abbé, immerhin katholischer Geistlicher, der „schon viel Wein bei sich hatte“, betätigt sich als radikaler Aufklärer und Materialist und „forderte das ganze Geisterreich in die Schranken heraus“. Allein der Prinz zeigt Skepsis gegenüber der Skepsis, indem er fordert, dass „man sein Urteil über diese Dinge zurückhalten müsse“.103 Im Fortgang des Erzählten wird die Strategie des Erzählers deutlich. Die anfängliche curiositas verfliegt angesichts der dramatischen Ereignisse während der Séance, ––––––––––––––

unterscheiden: „Illusion ist dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist“ – in Schillers Terminologie: „ästhetischer Schein.“ Dagegen wird die „Bezauberung (fascinatio)“ gesetzt, ein „Blendwerk der Sinne, von dem man sagt, daß es nicht mit natürlichen Dingen zugehe“, also etwa der „Betrug, den die Bauchredner, die Gaßnere, die Mesmerianer u.d.g. vermeinte Schwarzkünstler verübten.“ Kant: Werke, Bd. 10, S. 441. 101 Bartels, Klaus: Proto-kinematische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts. In: Segeberg, Harro: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996, S. 113147, hier S. 142. 102 Ebd. S. 140. 103 NA 16, 54.

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in der sich das Wunderbare für alle zu manifestieren scheint. Der Schwenk vom rationalistischen Unglauben zum Wunderbaren wird in der wechselnden Charakterisierung des Sizilianers deutlich. Anfangs noch als „Avantürier“ bezeichnet, erscheint er am Ende in der Tat als „Magier“, der eine Erscheinung ins Werk setzt, die von Anfang an im diffusen Zwielicht von aristokratischem Divertimento, artistischem Kunststück und faustischer Totenbeschwörung steht. Der Prinz unternimmt ein Experiment in Sachen Metaphysik: es gibt der eigenen „Lieblingsschwärmerei“ nach, d.h. dem Wunsch, „mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen“. Wie die Schaubühne wird das Experiment angetrieben von Schaulust, einem „allgemeine(n) unwiderstehliche(n) Hang nach dem neuen und außerordentlichen“.104 Der neue Prinz Hamlet sucht Wahrheit in der Erscheinung: „Vor jetzt nur eine Probe Ihrer Kunst. Lassen Sie mich eine Erscheinung sehen“.105 Die „Kunst“ dieser Kunst ist es, Aufklärung durch Verdunklung bringen. Es geht darum, in „dieser wichtigen Materie es zu einer Überzeugung zu bringen“, die eigenen „Zweifel“106 zu zerstreuen. Der Prinz geht dabei einen Weg, den auch Schillers Ästhetik einschlagen wird. Die Erscheinung des verstorbenen Freundes, die der Sizilianer ins Werk setzt, unternimmt als eine Art ästhetischer Gottesbeweis den Versuch, von der sinnlichen Evidenz zur Evidenz des Geistigen, der Vernunft, aufzusteigen. Der Prinz „will Wahrheit“107, was bleibt, ist jedoch der Schein, nämlich jener der Zauberlaterne, die sich der „Wahrheit betrüglich unterschiebt“, und nun echte Geister „ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel“108 beschwört. Schiller entnimmt, wie schon Ernst Weizman zeigen konnte109, die wichtigsten Zutaten der Geisterseher-Szene der von Gotthard Hafner herausgegebenen Onomatologia curiosa, artificiosa et magica oder Gantz natürliches Zauberlexicon (zuerst 1764).110 Ihr folgt die Sé–––––––––––––– 104 105 106 107 108 109

NA 20, 90. NA 16, 56. Ebd. NA 16, 57. NA 20, 92. Weizman, Ernst: Die Geisterbeschwörung in Schillers Geisterseher. In: Jahrbuch der Goethegesellschaft 12 (1926), S. 174-193. 110 Die eingehendste Würdigung der technischen und poetologischen Implikationen nimmt Mergenthaler: Sehen Schreiben, S. 19-101 vor; vgl. weiterhin Bartels: protokinematische Effekte, S. 140-147; Kittler, Friedrich: Die Laterna magica der Literatur. Schillers und Hoffmanns Medienstrategien. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 219-237. Einen Überblick über die zeitgenössische „Ästhetik des Künstlichen“ und ihre Medien bietet auch Jörg Traeger: Grenzformen der Kunst in der Goethezeit. Zur Ästhetik des Künstlichen. In: Hinrichs, Ernst (Hg.): Daniel Chodowiecki

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ance des Geistersehers in Wortlaut und Tendenz.111 „Die Einstellung der ‚Onomatologia’ zur naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise entspricht durchaus in jedem Punkte den Ideen der Aufklärungszeit“112, ihr Ziel ist Rückführung des Wunderbaren auf das Natürliche, Rationale. Ähnliches gilt für Schillers weitere Quellen wie Christian Benedict Funks Natürliche Magie oder Erklärung verschiedner Wahrsager- und Natürlicher Zauberkünste (1783), der in seiner Einleitung postuliert, dass „die Zauberey zu allen Zeiten nichts anders als eine Art von Experimentalphysik gewesen ist“113 und im Kapitel Die Aeromantie oder Luftzauberey114 die Beschwörung abwesender Personen erläutert. Funk sowie der Onomatologia in Wieglebs Redaktion verdankt Schiller auch den wichtigsten Bestandteil der Beschwörung, die Projektion des vermeintlichen Geistes Lanoy mit Hilfe einer „Zauberlaterne“, deren Mechanismus und Einsatz der Sizilianer später im Gefängnis erläutern wird.115 Die Zauberlaterne ist keine Zauberei, und so erweist sich die Séance als protokinematische Veranstaltung: „Das Licht löschte aus, und an der entgegenstehenden Wand über dem Kamine zeigte sich eine menschliche Figur, in blutigem Hemde, bleich und mit dem Gesicht eines Sterbenden“.116 Die Enthüllung der technischen Apparatur durch den Sizilianer wird zum technischen Exkurs über optische Medien. Verborgen hinter den aufgehobenen Dielenbrettern bleibt die am Fenster eingefügte Laterna magica unbemerkt. Bedient wird sie von einem Gehilfen, der mit einer Leiter außen am Fenster emporsteigt.117 Um die Illusion von Leben und Bewegung zu erzielen, greift der Sizilianer auf die Technik des sog. Nebelbildverfahrens zurück, bei dem das Licht durch das Projektionsmedium hindurch auf Rauch, Nebel oder auch bewegliche Schleier fiel, so dass sich „nicht die Gestalt, sondern der Rauch, der von ihrem Scheine beleuchtet war“118, bewegte. Ein weiterer Gehilfe, der sich im Schornstein versteckt hält, leiht Lanoy seine Stimme, indem er auf die abgeredeten Fragen des Magiers nach einer zuvor verabredeten Zeitspanne antwortet. –––––––––––––– 111 112 113 114 115 116 117 118

(1726-1801). Kupferstecher – Illustrator – Kaufmann. Tübingen 1997 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 22), S. 181-265. Schiller dürfte wohl die dritte Auflage von 1784. Hg. von Johann Christian Wiegleb, verwendet haben. Weizman: Geisterbeschwörung, S. 180 Anm. 2. Funk: Natürliche Magie, S. IV. Ebd. S. 92. NA 16, 70. NA 16, 61. Vgl. die technische „Auflösung“ der Erscheinung NA 16, 70ff. NA 16, 71.

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Schiller zeigt sich wohl informiert über die Funktionsweise der Laterna magica, deren Technik und Effekte ihn anhaltend interessieren. Friedrich Ludwig Göritz berichtet, Schiller habe, als er im Winter 1792 in Jena an die Fortführung des Geistersehers dachte, mit der Zauberlaterne experimentiert: „Einen Winter hindurch wurden Versuche mit der Laterna magica gemacht, wie man Geister erscheinen lassen und ihnen sonderbare Gestalten geben könne, weil er den zweiten Teil des Geistersehers bearbeiten wollte“.119 Schiller teilt die Faszination der Zeit für die Laterna magica, die noch um 1800 ihre Nähe zu Magie und Zauberei nicht verloren hat. Hinter dem Sizilianer dürfte eine Figur wie der vormalige Leipziger Gastwirt und spätere Illusionist Johann Georg Schröpfer stehen, der die Projektionstechnik bereits in den siebziger Jahren zur Perfektion gebracht hatte. Die Schilderung der Séance im Geisterseher „stimmt in groben Zügen mit den Schröpferschen Inszenierungen überein.“120 Im Billardzimmer seines Hauses hatte dieser mit Hilfe von Hohlspiegel- und Laterna-magica-Projektionen „nekromantische Séancen“ veranstaltet.121 Fasten, berauschende Getränke und besondere Essenzen im Rauch unterstützten beim Zuschauer die phantasmagorische Wirkung.122 Nachdem Schröpfer sich 1774 aus Geldnot erschossen hatte, war eine ganze Reihe von Schriften, darunter auch Schillers oben genannte Quellen, im Druck erschienen, in denen das Geheimnis der Geisterbeschwörungen sich als Trickbetrug enthüllte. Die Séance steht im Schiller’schen Ideenkosmos dieser Jahre in einer doppelten Beziehung zum Theater und zur Religion, die beide im Schaubühnenessay von 1784 hinsichtlich ihrer imaginativen Fähigkeiten sinnlicher „Anschauung und lebendige(r) Gegenwart“ eng verbunden werden. Zweifellos gilt: „Schiller [...] lockt das merkwürdige Zwielicht von magischem Experiment und illusionistischem Schein“.123 Kein Wunder also, dass die Anstalten des Sizilianers – wenngleich grotesk verzerrt – die Verwandtschaft von Schaubühne und liturgischem Zeremoniell evozieren. Es ist eine schwarze Messe, deren parareligiöser bzw. parachristlicher Charakter sich in den Requisiten („ein Altar, mit schwarzem Tuch behangen“, eine „chaldäische Bibel“, ein „silbernes Kruzifix“, „Spiritus“ und „Olibanum“) deutlich verrät, ein schwarzes Abendmahl, berechnet auf „den sinnli–––––––––––––– 119 120 121 122

NA 16, 447. Bartels: protokinematische Effekte, S. 142. Ebd. S. 141. Vgl. die Anordnungen des Grafen in Goethes Revolutionskomödie Der Groß-Cophta (I, 1): „Gebot er uns nicht Fasten, Eingezogenheit, Enthaltsamkeit.“ Goethe: MA Bd. 4/1, S. 10. 123 Wiese: Schiller, S. 319.

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chen Theil des Volks“, wie es im Schaubühnen-Aufsatz heißt. Was für die Religion gilt, gilt für die Zauberkünste des Sizilianers allemal: „Sie wirkt durch das Sinnliche allein so unfehlbar“.124 So befolgt der Scharlatan nur die Anweisungen des Schaubühnentheoretikers, indem er sich Religion und Ästhetik kurzschließt, sich der apotropäischen Bilder der Religion und „ihre(r) Gemählde von Himmel und Hölle“ bedient, die doch wie die Operationen des Sizilianers nur „Räzel ohne Auflösung, Schreckbilder und Lockungen aus der Ferne“ darstellten.125 Wo die sinnliche Evidenz des Göttlichen verwehrt bleibt, springt die ästhetische Evidenz der Kunst in die Bresche. Zwischen der Kunst der Zauberlaterne und dem Zauberschein der Kunst besteht dann eine Familienähnlichkeit, die lediglich durch den Willen zur Trennung von ‚ästhetischem‘ (also legitimem) und ‚logischem‘ (also betrügerischem) Schein, wahrem und falschem Zauber auseinander gehalten wird.126 2.2. Ästhetischer und logischer Schein Das zentrale Motiv der Geisterbeschwörung ist schon 1784 als Ziel der dramatischen Kunst fixiert: „Die Ewigkeit entläßt einen Todten, Geheimnisse zu offenbaren, die kein Lebendiger wissen kann, und der sichere Bösewicht verliert seinen letzten gräßlichen Hinterhalt, weil auch Gräber noch ausplaudern“.127 Gemünzt ist das auf Franz Moor, Lady Macbeth u.a., es gilt jedoch auch für den Marquis von Lanoy und sein Geheimnis. Schaubühne und Geisterschau betreiben beide Illusionismus als Nekyomantie, beide operieren mit jenem Hohlspiegel, mit dem schon Athanasius Kircher in seiner Ars magna lucis et umbra experimentiert hatte. Der Magier ist damit nicht nur Geschöpf, sondern buchstäblich eine Projektion des Dichters, wie umgekehrt die Schaubühne zur Variante der Laterna megalographica wird. So ist es mehr als ein bizarres Bild, wenn der Autor in der Erinnerung an das Publikum zum Fiesko (1783) gleichsam in der Rolle –––––––––––––– 124 NA 20, 91. „Den empirischen Beweis liefert eine Stelle aus Hoffmanns Majorat: „Als ich jenes Buch gelesen, das die Beschwörungsformeln der mächtigsten schwarzen Kunst selbst zu enthalten scheint, hatte sich mir ein magisches Reich voll überirdischer oder besser unterirdischer Wunder erschlossen, in dem ich wandelte und mich verirrte, wie ein Träumer.“ Hoffmann: Poetische Werke, Bd. 6, S. 407. 125 NA 20, 91. 126 Schmitz-Emans: Zwischen wahrem und falschem Zauber, S. 38. Weitergeführt in dies.: Die Zauberlaterne als Darstellungsmedium. Über Bildgenese und Weltkonstruktion in Schillers Geisterseher. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 375-399. 127 NA 20, 96.

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

des Sizilianers glänzt, der ja seinem Publikum ebenfalls „einen elektrischen Schlag“128 versetzt. In ungebrochener Identifikation mit seiner Figur, die dem Wahn huldigt, „die unbändigen Leidenschaften des Volks, gleich soviel stampfenden Rossen, mit dem weichen Spiele des Zügels zu zwingen“, schwelgt Schiller, der Zauberer, in der Macht der Magie, der Publikumsverhexung: Heilig und feierlich war immer der stille der grose Augenblick in dem Schauspielhaus, wo die Herzen so vieler Hunderte, wie auf den allmächtigen Schlag einer magischen Ruthe, nach der Fantasie eines Dichters beben – wo, herausgerissen aus allen Masken und Winkeln der Natürliche Mensch mit offenen Sinnen horcht – wo ich des Zuschauers Seele am Zügel führe, und nach meinem Gefallen, einem Ball gleich dem Himmel oder der Hölle zuwerfen kann.129

Die elektrisierende Wirkung der Kunst appelliert an eine ausgesprochene Modewissenschaft des 18. Jahrhunderts – die Elektrizität.130 Das Phänomen elektrischer Übertragungen und Entladungen beschäftigt den Arzt und Dichter nachhaltig. Schon 1782 redigiert er für sein kurzlebiges Wirtembergisches Repertorium einen in der Kaiserlichen Reichs-Oberpostamtszeitung (25.8.1781) erschienen Beitrag über „Elektrizität als Heilmittel“, ein seit Franz Anton Mesmer allenthalben diskutiertes therapeutisches Verfahren.131 Im Hinblick auf solche Parallelen scheint die Auffassung, daß Schiller die Laterna magica „nicht als die Erzählung strukturierendes –––––––––––––– 128 NA 16, 72. 129 NA 22, 90f. (Fiesko, Erinnerung an das Publikum). Noch der Ende 1791 entstandene Aufsatz Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, mit dem Schiller nach dem Kant-Studium seine dramenpoetische Reflexion fortsetzt, enthält trotz „Kantische(m) Einfluß“ (4.12.1791, an Körner) den vertrauten Gedanken der dramatischen Wirkmagie: „Der große Haufe erleidet gleichsam blind die von dem Künstler auf das Herz beabsichtigte Wirkung, ohne die Magie zu durchblicken, vermittelst welcher die Kunst diese Macht über ihn ausübte.“ NA 20, 147. 130 Hochadel: Öffentliche Wissenschaft, S. 44ff. Vgl. die folgende Briefstelle (an Körner, 3.7.1785; NA 24, 8): „Mein Gefühl war beredt und theilte sich den anderen elektrisch mit.“ Ganz analog Goethe in Wilhelm Meister: „Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volke erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben“ (HA, Bd. 7, S. 106). Deutlicher noch als Metapher poetisch-rhetorischer Wirkungen bei E.T.A. Hoffmann: „So sollte diese Glut meiner Rede wie in elektrischen Schlägen Aureliens Inneres durchdringen und sie sich vergebens dagegen wappnen. – Ihr unbewußt sollten die in ihre Seele geworfenen Bilder sich wunderbar entfalten und glänzender, flammender in der tieferen Bedeutung hervorgehen, und diese ihre Brust dann mit den Ahnungen des unbekannten Genusses erfüllen, bis sie sich, von unnennbarer Sehnsucht gefoltert und zerrissen, selbst in meine Arme würfe.“ Hoffmann: Poetische Werke, Bd. 2, S. 87f. (Die Elixiere des Teufels). 131 NA 22, 72.

2. Der Geist der Kunst

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Prinzip verwendet, sondern eher als Motiv“132, fraglich. Vielmehr bietet es sich an, die Episode der Geisterbeschwörung mit Monika Schmitz-Emans als „metapoetisches Gleichnis“133 zu lesen. Der Roman berührt damit eine ästhetische Kardinalfrage des klassischen Schiller, die in dieser expliziten Form noch gar nicht gestellt ist, nämlich die Differenz zwischen betrügerischem und aufrichtigem, „ästhetischem“ und „logischem Schein“. Mit dem Geisterseher wird Schiller in aestheticis zum Platoniker, der sich mehr und mehr vom „Affentalent gemeiner Nachahmung“ distanzieren wird.134 Der Sizilianer als Herr der Erscheinungen scheint den platonischen Vorbehalt gegen die Kunst als Phänomen dritter ontologischer Klasse zu bestätigen, mehr noch: er scheint in seiner Geisterschau das Höhlengleichnis als proto-kinematische Urszene und -metapher direkt zu zitieren.135 Auf diese Weise lässt sich der Roman als eine „Parabel über die Dichtung“ bezeichnen, „insofern diese auf Illudierung zugleich setzt und diese doch überwindet“.136 Der Autor befindet sich in einer paradoxen Lage. Er verheißt Desillusionierung und produziert doch wieder – Illusion. So bleibt die Frage, ob „die Aufklärung als Destruktion des falschen Scheins selbst eine Illusion (ist)“, notwendig offen.137 Erzeugt wird so eine reflexive Spiegelstruktur, in der immer wieder die Möglichkeit kritischer Desillusionierung zugleich behauptet und negiert wird.138 Monika Schmitz-Emans hat dies mit dem Hinweis auf Schillers ästhetische Theoriebildung verbunden. Dichtung ziele nicht auf Illusion ab, sondern erziehe zur kritisch-reflektorischen Distanz gegenüber dem ‚bloßen’ Schein, der Illusion, wie sie die Laterna magica repräsentiere. Daraus lässt sich schließen, dass „über die Problematisierung visueller Wahrnehmung das Problematische des Erzählens, von Textproduktion und -rezeption enggeführt“ wird.139 Die ästhetische Wahrnehmung, die sich auf den einen Sinn beschränkt, bedarf der domestizie–––––––––––––– 132 Bartels: Proto-kinematische Effekte, S. 140. 133 Schmitz-Emans: Zwischen wahrem und falschem Zauber, S. 34. 134 NA 20, 477 (Ueber naive und sentimentalische Dichtung). Vgl. die Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst, der sich auch gegen den „gemeinen Geschmack“ der „Niederländischen Mahler“ wendet, im Übrigen aber mehr auf stoffliche Aspekte eingeht. NA 20, 241. 135 Schon in Platons Höhlengleichnis „gehört gohßw und mimhthßw zusammen“, ist die Täuschung der Gefangenen das Werk von „Gauklern“ und Effekt von „Jahrmarktsbudenzauber.“ Burkert, Walter: GOHS. Zum griechischen ‚Schamanismus‘. In: Rheinisches Museum N.F. 105 (1962), S. 36-55. 136 Schmitz-Emans: Zwischen wahrem und falschem Zauber, S. 38. 137 Ebd. S. 41. 138 Ebd. S. 43 139 Mergenthaler: Sehen Schreiben, S. 81

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

renden Korrektur durch die Reflexion. Sinnliche evidentia wird zur Sinnestäuschung ohne die Evidenz des Verstandes. An der Figur des Sizilianers entscheidet sich, folgt man dieser Lesart, die Möglichkeit von Aufklärung. Er ist in seiner Doppelrolle als Illusionist (Zauberlaterne) und Wortmagier (Armenier-Novelle) der dunkle Bruder des Dichters. Seine zweifelhafte Kunst reflektiert wie in einem Zerrspiegel den Kernbestand der ästhetischen Überzeugungen des frühen Schiller. Der Geisterseher gewinnt auf diese Weise die Funktion eines Reflexionsmediums in aestheticis, in dem nunmehr implizit Voraussetzungen der zeitgenössischen Ästhetik wie Mimesis, Wirkungsprimat und magische Metaphorik vor dem beunruhigenden Hintergrund der grassierenden Scharlatane vom Schlage eines Schröpfer, Gassner oder Cagliostro neu und erstmals kritisch reflektiert werden. Dennoch ließe sich ein Einwand gegen die „metapoetologische“ Lesart erheben, der ihren poetologischen Status betrifft. So hat Monika Schmitz-Emans durchgehend Positionen der neunziger Jahre (Gegensatz von ‚ästhetischem‘ und ‚logischem‘ Schein) rückdatiert und damit die Kehre ignoriert, die sich in Schillers Auffassung vom Charakter der Dichtung vollzieht. Tatsächlich bestehen zwischen beiden Texten und ihrer Schein-Ästhetik genealogische Bezüge, ein Umschlag findet statt, der durch den Geisterseher selbst eingeleitet wird. Hier setzt eine Linie ein, die über Bürger-Rezension, Ästhetische Briefe und Vorrede zur Braut von Messina die Idee einer Abstandsästhetik entfaltet140. Sie bedeutet einen Paradigmenwechsel von einer Ästhetik des Zaubers (des influxus, des Zwangs) zu einer Ästhetik der Distanz (der Freiheit). Wo der Sizilianer im Geisterseher sein Publikum in den magischen Zirkel141 bannt, dispensiert ihn der wahre Künstler im Namen des ‚ästhetischen Zustandes‘: „Das Gemüt des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehn“.142

–––––––––––––– 140 In Anlehnung an die Sprach- und Kommunikationstheoretischen Überlegungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. 141 Vgl. Straberger-Schuster, Marianne: Kreis. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 5. Berlin/Leipzig 1933 (Ndr. Berlin 1987), S. 463-478, hier bes. S. 465f.: „Durch Einschließen in einem K(reis) bekommt man das Eingeschlossene in seine Gewalt […]. Beschworene Geister werden in einem K(reis) gebannt, damit sie dem Beschwörer nicht schaden können.“ 142 NA 20, 382.

2. Der Geist der Kunst

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2.3. Der Zauberkreis der Dichtung Die Zeit der Magie scheint 1795 vorbei, die Reinigung der Zauberästhetik zugunsten „ästhetischer Reinigkeit“ und „wahre(r) ästhetische(r) Freyheit“ vollzogen.143 Die neue Ästhetik nimmt sich vor, auf Abstand zu bleiben und entsagt daher aller medialen Gewaltanwendung. Die Kommunikation ist auf den Radius des Buchmarktes zerdehnt, die archaisch-rituelle Interaktion unter Anwesenden, wie sie die Schaubühne voraussetzt, aufgehoben. Für diesen Befund scheint zu sprechen, dass Schiller in der Rezension zu Goethes Egmont (verfasst im Juli 1788) das Finale des Stückes ablehnt, jene Traumvision des Helden, die Goethe als veritable Phantasmagorie geplant hatte.144 In der Regieanweisung heißt es: „Eine glänzende Erscheinung zeigt sich. Die Freiheit in himmlischem Gewand, von einer Klarheit umflossen, ruht auf einer Wolke. Sie hat die Züge von Klärchen“.145 Verteidigte Madame de Staël diese Vision als „éclat céleste“, so empfand Schiller sie als „Salto mortale in eine Opernwelt“, der sich „an Natur und Wahrheit“ zugunsten eines „witzigen Einfall(s)“ versündigt.146 Das Theater als Projektionsmaschine scheint 1788 bereits indiskutabel, die Affinität der Schaubühne zu den Schaustellern, die Goethe zu seiner Farce Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (1773/1778) gereizt und Schiller selbst in der Mannheimer Rede metaphorisch ausgekostet hatte, wird zunehmend verdächtig. Es ist kein Zufall, dass diese Krise der Zauberpoetik zugleich die Krise und den Abbruch der Schiller’schen Produktion in diesen Jahren bedeutet. In ihrer Folge verschiebt sich der ästhetische Schein vom theaterpraktischen zum kunsttheoretischen Problem. Die Phantasmagorien der frühen Bühne lösen sich im Feld Kantischer Transzendentalästhetik auf, um in den Kallias-Briefen plötzlich in der Formel der „Freiheit in der Erscheinung“ ihr visionäres und theophanes Eigenleben wiederzugewinnen. So ist es nur scheinbar verwunderlich, dass auch nach dem „theoretischen Moratorium“147 der Zauber des Zaubers, die alte magia poetica fortdauert. Das Übersinnliche, Zauber und Magie spielen in Schillers klassischen Dramen als Elemente einer Poetik des Wunderbaren eine oft unterschätzte Rolle, die sich kontinuierlich von Wallensteins Astrologie über Johanna, die Zauberin, bis hin zur sinisteren Magie –––––––––––––– 143 144 145 146 147

NA 20, 380 bzw. 381. Traeger: Grenzformen der Kunst, S. 197. HA, Bd. 4, 452f. NA 22, 209. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 365.

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des Orakelwesens in der Braut von Messina verfolgen ließe.148 Überraschender ist es schon, dass der Zauber – insbesondere der des „katoptrischen Theaters“ – auch als wirkungspoetische Kategorie aufersteht, sobald die Produktion wieder anhebt. Dass Schillers erstes Gedicht nach der sechsjährigen Abstinenz ein antiplatonisches Plädoyer fürs Schattentheater bzw. „Schattenbilder“ ist (Poesie des Lebens), wurde bereits erwähnt. Dass auch der „magische Bannkreis“ der Kunst seine metaphorologische Auferstehung feiert – und dies nur drei Jahre nach dem ästhetischen Gewaltverzicht – wirkt dann jedoch befremdlich angesichts einer entwickelten Ästhetik der Distanz. An dieser Stelle scheint eine grundsätzliche Doppeldeutigkeit und Unentschiedenheit der Schiller’schen Ästhetik auf, die – so scheint es – bis zum Schluss einen Keil zwischen theoretischen Einlassungen und praktischer Theaterarbeit treibt. Schiller schwankt anhaltend zwischen einer Ästhetik der Nähe und einer Ästhetik der Distanz. Die Freiheit des Lesers findet ihre Grenze am Einflusswillen des Künstlers, der nicht anders denn als magische actio in distans oder eben als Zauberkreis und Phantasmagorie zu denken ist, wobei dann im Einzelfall offen bleiben muss, ob der Betrachter – wie in der Jungfrau von Orleans – „durch Zaubers Macht geblendet“ ist oder „ihr ganzer Zauber […] euer Wahn“ ist.149 Ein Stück wie die Jungfrau lässt sich dann als Frage nach dem Status des Schönen, seiner magischen und täuschenden Gewalt lesen. Wie die schöne Griechin im Geisterseher ist Johanna, die Zauberin, ein „Medieneffekt“ des Autors Schiller.150 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass der Prolog zum Wallenstein (1798) nicht einfach mechanisch eine alte Topik aufgreift. Er bedeutet vielmehr die feierliche Rückkehr des Sizilianers und seiner Projektionskünste: So stehe dieser Kreis, die neue Bühne Als Zeugen des vollendeten Talents. Wo möcht es auch die Kräfte lieber prüfen, Den alten Ruhm erfrischen und verjüngen, Als hier vor einem auserles’nen Kreis, Der rührbar jedem Zauberschlag der Kunst, Mit leisbeweglichem Gefühl den Geist In seiner flüchtigsten Erscheinung hascht? 151

Die Kunst als magische Operation – dies ist präzise die leitende Metapher der frühen Bild-Poetik. Sie steht im Mittelpunkt einer Wirkästhetik, die auf sinnliche Beeinflussung und Täuschung zielt. Bezogen –––––––––––––– 148 149 150 151

Eine Studie zum Wunderbaren bei Schiller fehlt. Jungfrau, II, 10. NA 9, 235; v. 1802 bzw. V, 5; NA 9, 300, v. 3219f. Kittler: Laterna magica, S. 228. NA 2,1, S. 61; v. 24-31.

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bleibt sie auf Gattungen, die durch die performative Präsenz des Sprechaktes charakterisiert sind, also Dramatik und Lyrik. Sofern sich beide „ins Ohr schreiben“152, sind beide Schwesterkünste. In der Lyrik, wo sich das Schema zuerst findet, wirken ältere Traditionen nach, v.a. die Symbiose von Musik und Dichtung. Lauras magisches Tastenspiel schildert die Effekte der Kunst ebenso wie das Gedicht Die Macht des Gesanges.153 Dichtung ist ein „Regenstrom aus Felsenritzen“, der „mit Donners Ungestüm“ (v. 1f.) auf den überraschten Wanderer, d.h. Zuhörer, einströmt. Magier und Geisterseher, der er ist, weiß sich der Dichter „verbündet mit den furchtbarn Wesen, die still des Lebens Faden drehn“ (v. 12). Widerstand ist zwecklos: „Wer kann des Sängers Zauber lösen, Wer seinen Tönen widerstehn?“ (v. 13f.). Der Dichter ist ein Psychagoge bzw. Psychopompos wie Hermes / Mercur: Mit seinem „Stab“, so heißt es, „beherrscht er das bewegte Herz“ (v. 15f.). Wie der Sizilianer vermittelt der poeta vates als Medium und Mystagoge zwischen Welten und Zeiten, „taucht“ sein Publikum „in das Reich der Toten“ oder „hebt es staunend himmelwärts“ (v. 17 bzw. 18). Dieser poetische Mesmerismus dient nun immerhin einem guten Zweck, der „Wahrheit mächtgem Siege“ gegenüber dem „Werk der Lüge“ (v. 29f.). Die Macht des Gesanges führt exemplarisch das Selbstverständnis des frühen Lyrikers Schiller vor. Die Bildfelder von Magie und Zauber stehen im Zeichen einer resoluten Wirkstrategie, die ein Stück Dialektik der Aufklärung bezeichnet. Mediengewalt ist dort legitim, wo sie zum Guten und zur Wahrheit führt oder den entfremdeten Zustand des modernen Subjekts durch Rückführung „zu seiner Unschuld reinem Glück“ (v. 46) kompensiert. Der Zweck heiligt die Mittel, hier die Entmündigung durch die Sinnesdroge Dichtung. Ästhetische Kommunikation ist radikal asymmetrisch, Schiller wählt immer wieder drastische Wendungen aus dem Vokabular politischgesellschaftlicher Herrschaft und Disziplinierung – nicht ohne Grund ist einmal in den Laura-Gedichten vom ‚monarchischen‘ Zauber der Kunst die Rede.154 Um im Bild der influxus-Metapher zu bleiben: Kunst ist nicht mehr sanfte Berieselung, sondern dröhnender Wasserfall und ästhetische Infusion. Das frühe Konzept ästhetischer Erziehung, wie es die philosophischen Gedichte Ende der achtziger Jahre formulieren, kreist um die Idee der magia poetica. „Der Dichtung heilige Magie“, heißt es in der 1788/89 entstandenen Hymne Die Künst–––––––––––––– 152 Schneider, Johann Nikolaus: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800. Göttingen 2004 (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 9). 153 NA 1, 225. 154 NA 1, 46.

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ler, „dient einem weisen Weltenplane“, d.h. der ästhetischen Früherziehung der „staunenden Barbaren“ (v. 165). Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt, der Séance-Szene des Geistersehers, zurück, um nach der Funktion der neuen Medien für die Erzählökonomie des Romans zu fragen. Der Romantext mit seinen Requisiten und Verwicklungen ist „ein komplizierter Mechanismus von analoger Art wie die Trickinszenierung des Sizilianers“.155 Er erweist sich als literarische Phantasmagorie, in der die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung ständig unterlaufen, Aufklärung und Desillusionierung durch den Autor selbst hintertrieben wird. Kein Wunder, dass den Autor manche strukturelle Parallele mit dem Sizilianer – als Illusionist wie als Novellist (in der eingeschalteten Novelle) verbindet, sich „zu fast jedem Aspekt der Rahmenerzählung [...] ein Pendant in der Binnenerzählung“ benennen lässt.156 Tatsächlich lassen sich zahlreiche Unstimmigkeiten in der Erzählung des Sizilianers nachweisen, die diese als Fiktion ausweisen, ein Ergebnis, zu dem bereits der Prinz selbst in seiner Reaktion auf den Vortrag gelangt, wenn er feststellt: „Seine ganze Erzählung ist offenbar nichts als eine Reihe von Erfindungen, um die wenigen Wahrheiten aneinander zu hängen, die er uns preiszugeben für gut fand“.157 Bedeutet dies nun im postmodernen Umkehrschluss, dass auch der Rahmenbericht des Grafen allem Fiktionalitätsgefälle zum Trotz von Entstellungen und Verzerrungen gekennzeichnet ist, nach „Verifikation und Vervollständigung“ durch einen mündigen, aufmerksamen, ja detektivischen Leser verlangt?158 Trifft dies zu, wäre der erklärte Roman der Aufklärung nur ein Roman der Aufklärung, der sämtliche Unterscheidungen, die er an der Textoberfläche vornimmt – die Differenz zwischen ‚ästhetischem‘ und ‚logischem‘ Schein, Urbild und Abbild – in einer Strategie narrativer Verdunklung wieder aufhebt. „Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben endet also nicht in Kants bilderlosem Sittengesetz, sondern in einer Wirkungsästhetik, die den Priesterbetrug noch überbietet und Weimarer Klassik heißt“.159 Dies mag forciert anmuten, enthält jedoch einen wahren Kern. Die Zauberlaterne des Sizilianers bzw. des Armeniers enthält in nuce eine Vorahnung jenes „holden Zauberscheins“ der Dichtung, der als ästhetischer Schein – dies die Pointe der Ästhetischen Briefe – gerade nicht die Verwechslung –––––––––––––– 155 156 157 158 159

Mergenthaler: Sehen Schreiben, S. 39. Ebd. S. 89. NA 16, 92. Mergenthaler: Sehen Schreiben, S. 95. Kittler: Laterna magica, S. 228f.

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mit, sondern die Trennung von der Realität bewirken soll. Die Umund Aufwertung des Scheins, die hier vollzogen wird, beruht zwingend auf der Erfahrung des falschen Scheins der Schröpfer, Gassner und Konsorten, dessen magische Faszination dennoch – dies hat sich oben gezeigt – bestehen bleibt. Der Idealismus des Scheins geht genealogisch, d.h. in Umkehrung, Anziehung und Abstoßung hervor aus einer Spannung zu den Niederungen des Jahrmarkts, die Schillers Kunstkonzeption angetreten ist zu exorzieren. Noch in den Zeilen der Ästhetischen Briefe, die den ‚logischen’ Schein als „niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken“ (26. Brief) geißeln, schwingt die Erinnerung an den Geisterseher mit, ebenso wenn Schiller im neunten Ästhetischen Brief dem „jungen Freund der Wahrheit und Schönheit“ aufträgt: „Verjage die Willkühr, die Frivolität, die Rohigkeit aus ihren Vergnügungen, so wirst du sie unvermerkt auch aus ihren Handlungen, endlich aus ihren Gesinnungen verbannen“.160 Das fabula docet des Geistersehers wäre demnach die zugleich ästhetische wie politische Einsicht, dass eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch, Betrug und Wirklichkeit immer nur eine relative, gleichsam perspektivische sein kann. Schiller hat dem Geheimbundroman schon in seinem ersten Muster über die simple Unterscheidung von Schein und Sein, Betrug und Aufklärung hinausgeführt. Die Welt des Geistersehers ist ein ungeheures Simulakrum.161 Die Schwierigkeit, „eine absolute Ebene des Realen auszumachen“162, die den Abgleich von Kopie und Original berechtigt, beschreibt sowohl die Erfahrung des Prinzen als auch – mise en abyme – die des Lesers. Auch für Schiller gilt: „Da keine Realität mehr möglich ist, sind auch keine Illusionen mehr möglich“.163 Tatsächlich empfinden sich die Figuren als Marionetten einer fernen Regieinstanz, die Realität erweist sich – davon war zuvor bereits die Rede – als Fiktion eines Intrigantenpoeten, und zweifellos ist das Venedig des Karnevals der geeignete Ort für einen solchen Zeichen- und Realitätskollaps, für die „Agonie des Realen“, die auch der Prinz zu spüren bekommt. Schiller lässt den Sizilianer „alle technischen Register einer Laterna magica aber nur darum [ziehen], um entlarvt und von einem Simulakrum höherer Ordnung ersetzt werden zu können“.164 Die Welt der Masken scheint die –––––––––––––– 160 NA 20, 336 (9. Brief). 161 Im Sinne von Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Ders.: Agonie des Realen. Aus dem Französischen von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer. Berlin 1978, S. 7-69; hier S. 30: „Das Charakteristische an der Simulation ist die Präzession des Modells, aller Modelle, die über den winzigen Tatsachen kreisen.“ 162 Baudrillard: Präzession der Simulakra, S. 35. 163 Ebd. 164 Kittler: Laterna magica, S. 226.

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Matrixwelt des späten 18. Jahrhunderts, in der mediengestützte Informations- und Geheimdienste die „perphorierten Handlungssequenzen“165 aller Beteiligten überwachen. 3. Projektionskünste. Das philosophische Gespräch

3. Projektionskünste. Das ›philosophische Gespräch‹ 3.1. Theorie der Projektion

Dass die Zauberlaterne mehr ist als ein kursorisches Motiv, zeigt sich auch in jenem philosophischen Gespräch, das Schiller im Januar 1789 verfasst und sogleich im 6. Heft der Thalia drucken lässt. Als philosophische Antwort auf Körners Raphael-Brief von 1788 konzipiert166, stellt es gewissermaßen einen finalen Julius-Brief dar, der zugleich das Finale der vorkritischen Jugendphilosophie insgesamt bedeutet. Ein letztes Mal vor der Kant-Konversion steht die Metaphysikkritik im Zentrum, greift Schiller die Problematik von „Scepticismus und Freidenkerei“167, das zentrale Thema der Philosophischen Briefe, auf, das nun geradewegs auf eine „maligne Krise“168 namens „Freigeisterei“ zusteuert. Was narrativ im ersten Teil des Romans angelegt war, wird nun philosophisch expliziert. Das philosophische Gespräch korrespondiert dabei nach Funktion und Position mit dem detektivischen des ersten Buches. Ein Brief an Charlotte und Caroline, wenige Tage nach Fertigstellung des Textes verfasst, belegt, wie sehr das literarische Experiment einem philosophischen Selbstversuch gleichkommt: „er [der Geisterseher] hätte aber fast mein Christentum wankend gemacht, das, wie Sie wissen, alle Kräfte der Hölle nicht haben bewegen können“, nur um sogleich mit apotropäischer Geste zu bestreiten, dass „ich ganz so denken sollte wie der Prinz in der Verfinsterung seines Gemütes“.169 Schiller will die Auffassungen des Prinzen als Symptom, nicht als System verstanden wissen, kann jedoch nicht den Freund Körner täuschen, der die existentielle Verwicklung des Autors in seine Projektion beim Namen nennt: „Dich scheint manchmal eine einzelne Idee selbst interessiert zu haben, und indem Du Dich ihr überließest, vergaßest Du, daß es hier eigentlich bloß darauf ankam, die Denkart des Prinzen überhaupt zu schildern“.170 –––––––––––––– 165 166 167 168 169 170

Baudrillard: Präzession der Simulakra, S. 46. Thalia 1789, 2. Bd., 7. Heft, S. 110-120. NA 20, 108. Riedel: Anthropologie, S. 243. NA 16, 418. NA 16, 421.

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Es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, diese „Denkart“ des Prinzen, sein „System“ einer eingehenden ideen- und philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion zu unterziehen.171 Aus dem unsteten Gang der Argumentation sei lediglich eine jener Stellen herausgegriffen, die Körner in seinem Brief ausdrücklich als „dramatisch vortrefflich“ würdigt, die „Allegorie vom Vorhange“.172 Gemeint ist damit eine Stelle, die ein altes Argument der Religionskritik aufgreift: die Theorie der Übertragung.173 Im Zusammenhang geht sie aus der Teleologiekritik hervor. In einer scharfen Volte wendet sich der Prinz gegen die Schlussfolgerung des Prinzen, dass „alle Teile des großen Ganzen nur dadurch den Zweck der Natur befördern, daß sie ihrem eignen getreu bleiben“, dass sie also als kleine Zahnräder „nicht zu der Harmonie beitragen wollen dürfen, sondern daß sie es müssen“.174 Was dem Grafen „so schön, so hinreißend“175 scheint, ist dem Prinzen bloße Zutat des Menschen, mit Kant gesprochen: ein Akt der reflektierenden Urteilskraft oder – mit Schiller – des „Fieberwahns“: „Geben Sie dem Kristalle das Vermögen der Vorstellung, sein höchster Weltplan wird Kristallisation, seine Gottheit die schönste Form von Kristall sein“. Über die ersten und letzten Dinge bleiben nur Vermutungen: „Ich nehme ja nur hinweg, was die Menschen mit ihr verwechselt haben, was sie aus ihrer eignen Brust genommen und durch prahlerische Titel aufgeschmückt haben“176. Vergangenheit und Zukunft erscheinen dem Prinzen durch „zwei schwarze und undurchdringliche Decken“ verhüllt, „die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat“. Auf ihnen sehen viele „ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert […] sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen“.177 Die Allegorie des Vorhangs nimmt einen Gedanken auf, der sich schon in der Anthologie findet und der in den zeitgleich zum Geisterseher entstehenden Künstlern, erst recht dann in den Kallias-Briefen reflektiert wird. Im Begriff der „symbolischen Operation“ erreicht er poetologische Kon–––––––––––––– 171 Die beste Darstellung der philosophischen Zusammenhänge findet sich bei Riedel: Anthropologie, S. 239-248. 172 NA 16, 421. 173 Riedel, Wolfgang: Theorie der Übertragung. Empirische Psychologie und Ästhetik der schönen Natur bei Schiller. In: Bauereisen, Astrid / Pabst, Stephan / Vesper, Achim (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009, S. 121-138. 174 NA 16, 166. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Ebd.

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sequenz. Schiller umschreibt diesen Vorgang der Übertragung und Projektion mit Verben wie „leihen“, „beilegen“178, „verwandeln“ oder auch „bemalen“. In den Göttern Griechenlandes erscheint die Übertragung in proto-sentimentalischer Weise als Vorzug eines naiven Aberglaubens, der sich noch nicht selbst als Strategie durchschaut hat. Der personifizierende Blick des Griechen, der Dryaden und Oreaden in der Natur findet179, erscheint noch ohne sentimentalische Brechung und Reflexion. Es handelt sich also um eine Operation, die längst vor dem Kant-Studium und damit vor der Rezeption des berühmten § 59 der dritten Kritik („Das Schöne ist Symbol des Sittlich-Guten“) in Schillers Denken zentral ist.180 ‚Projektion‘ ist aus heutiger Perspektive ein hochgradig ambivalenter Begriff, dessen eigentliche Karriere erst im 19. Jahrhundert einsetzt.181 In den seltenen Belegen vor 1800 – Adelung erwähnt ihn gar nicht – begegnet er ausschließlich als Terminus technicus der Optik, etwa in Goethes Farbenlehre, wo es heißt, dass „das eine Licht den wießen Grund, worauf es fällt und den Schatten projiziert, einigermaßen färben müsse“182. Eine uneigentliche Verwendung des Projektionsbegriffs lässt sich kaum vor dem 19. Jahrhundert belegen. Schiller selbst spricht nie von Projektion, verwendet jedoch im einschlägigen Zusammenhang dessen deutsche Äquivalente ‚hinwerfen‘ oder –––––––––––––– 178 NA 20, 427: „So legen wir öfters einem Thiere, einer Landschaft, einem Gebäude, ja der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen die Willkühr und die phantastischen Begriffe des Menschen einen naiven Charakter bei.“ 179 NA 1, 190, v. 21f.: „Diese Höhen füllten Oreaden, / eine Dryas starb mit jenem Baum.“ 180 Kant: Werke, Bd. 8, S. 461. Wenn Schiller in den Kallias-Briefen definiert: Die Vernunft „leyht dem Gegenstand [...] ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen, einen Willen“ (NA 26, 181), so ist dies nur eine Reformulierung älterer Einsichten, die sich nun auf neuer – Kantischer – Grundlage bestätigt und begründet finden. 181 Der Projektionsbegriff teilt dieses Schicksal einer obskuren Herkunft mit Konzepten wie „Ästhetik der Distanz“ u.ä. Schon Feuerbachs sog. Projektionstheorie ist eine lexikalische Rückprojektion der Forschung auf der Grundlage der Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, während „Feuerbach selbst den Begriff der Projektion in seinen religionsphilosophischen Hauptwerken […] zur Erklärung religiöser Phänomene nicht heranzieht.“ Holzmüller, Thilo: Projektion – ein fragwürdiger Begriff in der Feuerbachrezeption? in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 28 (1986), S. 77-100, hier S. 78. Soweit ich sehe, existiert bislang keine Studie, welche die ideen-, medien- und wissensgeschichtlichen Filiationen des Projektionsbegriffs integral darstellt. Einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der Diskursformation um 1900 bietet Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung: Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i. Br. 2005; zur psychologischen Perspektive Neuser, Jürgen / Ahrens, Hans Joachim (Hg.): Projektion. Grenzprobleme zwischen innerer und äußerer Realität. Göttingen u.a. 1992; vgl. den Kurzabriss von Sass, Hans-Martin: Projektion. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 7. Basel 1987, Sp. 1458-1462. 182 MA Bd. 10, S. 869.

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‚auseinanderwerfen‘, die er – und dies scheinbar als erster – in jenem uneigentlichen Sinne einer „Hinauslegung eines subjektiven Vorganges in ein Objekt“183 verwendet, wie sie durch Freud und die Psychoanalyse später etabliert wird.184 Beide für die heutige Begriffsextension maßgeblichen Bedeutungen stehen in engem Zusammenhang, darüber hinaus in der Kontinuität der aufgeklärten Religionspsychologie. Noch die Psychopathologie des Alltagslebens (1901) lässt den Zusammenhang der Projektionsidee mit Traditionen der Mythen- und Metaphysikkritik erkennen: „Ich glaube in der Tat“, stellt Freud fest, dass „ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie“.185 „Als die Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich genötigt, die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielheit von Persönlichkeiten nach ihrem Gleichnis aufzulösen“.186 Die Analyse von Animismus, Anthropomorphismus und Aberglauben eröffnet die „dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychologische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten“, die Chance, „Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen“.187 Die ausführlichste Analyse des „animistischen Systems“ findet sich im dritten Abschnitt von Totem und Tabu („Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“). Hier wird bün–––––––––––––– 183 Carl Gustav Jung: Psychologische Typen. Zürich 1930, S. 657f. 184 In der Psychoanalyse bezeichnet Projektion die Operation, „durch die ein neurologischer oder psychologischer Tatbestand nach außen verschoben und lokalisiert wird“, im engeren Sinne eine „Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ‚Objekte’, die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert.“ Laplanche, Jean / Pontalis, JeanBertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1973, S. 399f. Freud hat das Problem der Projektion nie im Zusammenhang behandelt. Zum Fall Schreber erklärt er: „Aufmerksam geworden, daß es sich beim Verständnis der Projektion um allgemeinere psychologische Probleme handelt, entschließen wir uns, das Studium der Projektion, und damit des Mechanismus der paranoischen Symptombildung überhaupt, für einen anderen Zusammenhang aufzusparen.“ Freud: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 303. Ein unmittelbarer Einfluss Schillers auf Freud in der Frage der „symbolischen Operation“ ist nicht feststellbar. Ein wichtiger Vermittler der ästhetischen Theorie Schillers war Otto Rank; er machte Freud in einem der Mittwochstreffen des Wiener Kreises auf eine Stelle aus dem Körner-Briefwechsel aufmerksam (Brief an Körner vom 1.12.1788), die sich mit dem Verhältnis von unbewusster Ideengenese und rationaler Kritik im Schaffensprozess auseinandersetzt. Freud selbst sah in dem Passus „eine Rechtfertigung unserer psychoanalytischen Technik.“ Brief an C.G. Jung (5.3.1908). In: Sigmund Freud, C.G. Jung: Briefwechsel. Hg. von William McGuire und Wolfgang Sauerländer, gekürzt von Alan McGlashan. Frankfurt/Main 1984, hier S. 62. „Schiller wird zu einem Ahnherrn der Psychoanalyse.“ Vgl. Weissberg: Freuds Schiller. 185 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 287 (Zur Psychopathologie des Alltagslebens). 186 Ebd. S. 288. 187 Ebd.

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dig festgestellt, dass „der Mythus auf animistischen Voraussetzungen ruht“.188 Freuds Psychologie der „Vergeistigung der Natur“189 bezieht ihre Argumente aus der Ethnologie und Ethnosoziologie (Tylor: Primitive Cultures), die sich wiederum – hier schließt sich der Kreis zum 18. Jahrhundert und zu Schiller – auf die Mythen- und Religionskritik David Humes stützt. Einen ihrer Fundamentalsätze aus Humes Natural History of Religion (1757) zitiert Freud nach Tylor: „There is an universal tendency among mankind to conceive all beings like themselves and to transfer to every object those qualities with which they are familiarly acquainted and of which they are intimately conscious“.190 3.2. Kino im Kopf (Resignation) Man kann vermuten, dass Schiller diesen viel zitierten Satz aus Humes Hauptschrift, die er aus dem Philosophieunterricht an der Hohen Karlsschule kannte,191 im Sinn hatte, als er den Prinzen seine Überzeugung vom Projektionscharakter der menschlichen Ideen über ein höchstes Geistwesen als Weltenschöpfer formulieren ließ.192 Sie ist –––––––––––––– 188 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 96. 189 Ebd. S. 97. 190 David Hume: The Natural History of Religion. In: D.H.: Four Dissertations. London 1757, Diss. 1. Vgl. D.H.: The Philosophical Works. Hg. von Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose. Bd. 4. London 1898 (Ndr. Aalen 1964), S. 309-362, hier S. 317. Dt. Übers. D. H.: Vier Abhandlungen. Quedlinburg/Leipzig 1759, S. 1-156. Komm. Neuübersetzung: D.H.: Die Naturgeschichte der Religion. Hg. von Lothar Kreimendahl. Hamburg 1984. 191 Riedel, Wolfgang: Abschied von der Ewigkeit [Resignation]. In: Oellers, Norbert (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996 (= RUB 9473), S. 51-63, hier S. 60-63. Ein Reflex von Humes „hopes-and-fears“-These findet sich in Abels Philosophischen Säzen über die Religionen (1780), unter § 5 („Hoffnung, und am allermeisten Furcht“). Zu Abels Hume-Rezeption Riedel: Jakob Friedrich Abel, S. 440445. Vgl. S. 442 Anm. 178: „Vor dem Hintergrund der Abelschen Humerezeption sind m.E. auch Schillers literarische Skeptizismusexperimente und Metaphysikkritik in den Jahren vor seiner Kantlektüre zu sehen.“ Hierin wird ausdrücklich das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher einbezogen. Die Hume-Tradition spielt in der Studie von Matthias Schulze-Bünte: Die Religionskritik im Werk Friedrich Schillers. Frankfurt/Main u.a. 1993 (= Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik 7) keine Rolle. Der Verf. misst Schiller in anachronistischer Weise an der Religionskritik des 19. Jahrhunderts (Feuerbach, Marx). Zur HumePräsenz vgl. Brandt, Reinhart / Klemme, Heiner: David Hume in Deutschland. Literatur zur Hume-Rezeption in Marburger Bibliotheken. Marburg 1989; Gawlick, Günter / Kreimendahl, Lothar: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart/Bad Cannstatt 1987. 192 Wo Schiller das Beispiel des Kristalls und der Kristallisation verwendet, bietet Hume „Bäume, Berge und Flüsse“: Nicht allein „trees, mountains and streams are personi-

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nichts anderes als eine Reprise jener Religionskritik, die Schiller bereits in dem 1786 gedruckten Gedicht Resignation (gedr. 1786), dem „bedeutendste(n) Zeugnis religionspsychologischer Hume-Rezeption in der Literatur der deutschen Spätaufklärung“, formuliert hatte.193 An die Grundzüge der Humeschen Religionspsychologie ist hier nur zu erinnern: Religiöse Ideen gründen, so die Ausführungen in The natural history of Religion, in „Leidenschaften“ („passions“), in „hopes and fears“ (§ 2). Diese veranlassen die Einbildungskraft, Vorstellungen über die „Ursachen“ („unknown causes“) in der Natur zu generieren, die Hume als „sick men’s dreams“ (§ 15) bezeichnet. Schiller spricht von der „Phantasie des Träumers“ (Resignation, v. 59) und vom „Fieberwahn“ (Resignation, v. 59). Es sind buchstäblich „Affektprojektionen“.194 Der Begriff entspricht exakt der Metaphorik in Resignation. Was durch „hopes and fears“ ausgelöst wird, ist Kino im Kopf, und so ist es alles andere als zufällig, wenn Laterna magica und Höhlengleichnis als Bildsubstrat schon hier gegenwärtig sind. Sie spielen ihre Rolle im zweiten Teil dieser Phantasie. Er bietet eine Variation auf den Mythos von Herakles am Scheidewege. Im Angesicht der „ehrwürdige(n) Geistermutter Ewigkeit“ vergegenwärtigt sich der Sprecher die beiden Lebenswege zwischen „Hoffnung und Genuß“ (v. 90), zwischen den „Freuden“ (v. 35) der Immanenz und der „Wahrheit“ in der Transzendenz. Die Stimme der Welt ist dabei die Stimme der aufgeklärten Religionskritik, wenn man will: die Stimme Humes, der der Sprecher schließlich beipflichtet, bevor ein „Genius“ die Lösung durch eine rigorose „Wende in die Immanenz“ herbeiführt.195 Die Lehre der „Welt“ und der „Spötter“ (also: der Skeptiker, Materialisten und Epikuräer, historisch verkörpert in La Mettrie), ist eine Lehre vom Licht, das in die Höhle der Verblendung hinabsteigt und den Schein der Zauberlaterne durchbricht. Diese Verblendung, die „für die Wahrheit Schatten“ (d.h. Projektionen) zu bieten hat, ist Ergebnis von Täuschung und Selbsttäuschung. Zwei Ursachen wirken hier zusammen. Objektiv das Herrschafts- und Despotismusargument: Religion ist vinculum societatis, d.h. „stärkste und unentbehrlichste Stütze aller Verfassung“.196 Der Despot ähnelt den ––––––––––––––

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fied, and the inanimate parts of nature acquire sentiment and passion […] The absurdity is not the less, while we cast our eyes upwards; and transferring, as is too usual, human passions and infirmities to the deity“ (Hume: Natural history, S. 317). Vgl. Riedel: Jakob Friedrich Abel, S. 442 Anm. 178. Riedel: Abschied von der Ewigkeit, S. 63. Ebd. S. 61. Ebd. S. 56. NA 17, 396 (Die Sendung Moses). Vgl. die Schaubühnenrede (NA 20, 91): „Derjenige, welcher zuerst die Bemerkung machte, daß eines Staats festeste Säule Religion sei –

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

Sophisten im Höhlengleichnis von Platons Politeia, die den Religionsschrecken an die Wand malen. Subjektiv geht die Täuschung aus einem Wahn hervor, der Götter als „Retter des kranken Weltplans“ imaginiert, um die eigene Bedürftigkeit („Notdurft“) zu kaschieren. Religion dient der Kompensation, sie breitet schönen Schein über ein dürftiges Leben und ist so Trostmittel angesichts der drohenden Krise der Metaphysik. Zwischen Resignation (1786) und Künstlern (1789) lässt sich beobachten, wie der Anspielungskomplex des Platonischen Höhlengleichnisses übertragen, verschoben und radikal umgemünzt wird. Was in Resignation das Werk gezielter oder selbst induzierter Illusion ist – Religion als Kompensation uneingelöster Transzendenz („Ewigkeit“, „Wahrheit“, „Unsterblichkeit“), wird nun zur ureigensten Domäne der Kunst selbst. Die Idee der consolatio theologiae geht über in die der consolatio aesthetica, aus Religionskritik wird – unter Wahrung aller Konstanten im übrigen (Epoché, Schein, Laterna magica) – Kunsttheorie. Die Frage nach der Hinterwelt wird verschoben in die nach der „Zwischenwelt“197 des Scheins, die – wie das Reich der Schatten und die Ästhetischen Briefe zeigen – immer zugleich präsent und aufgeschoben ist. Wo die Künstler als wohlwollende Sophisten „mit lieblichem Betruge Elysium auf die Kerkerwand“198 malen, malt die religiöse Imagination „Riesenschatten unsrer eignen Schrecken / im hohlen Spiegel der Gewissensangst“.199 Schon in Resignation zeichnet sich dabei die Idee eines wohl organisierten Verblendungszusammenhangs ab, eines „Gaukelspiel(s), ohnmächtigen Gewürmen / von mächtigen gegönnt“ (v. 56f.), das die Weltintrige des Geistersehers antizipiert. Der Höhlenkomplex als Bildphantasie stellt sich daher noch in den Ästhetischen Briefen augenblicklich ein, wo es um das Verhältnis von Aufklärung und Kunst geht. Aufklärung zerstreut den „Dämmerschein dunkler Begriffe“. Ästhetische (Um-)erziehung bedeutet Kunst-, Bildund Medienerziehung. Sie soll das „angenehme Blendwerk ihrer Träume“ und die „betrügliche Sophistik“200 durch eine höhere ersetzen, die ihrerseits nicht ohne Einschluss- und Kerkerphantasien auskommt. Der Künstler ist der Nachfolger des Platonischen Sophisten, der sein Publikum zunächst einmal in die Höhlen des Scheins (d.h. auf die Bühnen und Textbühnen) bzw. in den Symbolwald führen –––––––––––––– 197 198 199 200

daß ohne sie die Geseze selbst ihre Kraft verlieren, hat vielleicht, ohne es zu wollen oder zu wissen, die Schaubühne von ihrer edelsten Seite vertheidigt.“ Eibl, Karl: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt/Main 2009 (= edition unseld 20). NA 1, 203, v. 76f. (Die Künstler). NA 1, 168; v. 64. NA 20, 331.

3. Projektionskünste. Das ›philosophische Gespräch‹

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muss: „Wo du sie findest, umgib sie mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet“.201 3.3. Poetische Optik und Dioptrik Kunst, so lässt sich zusammenfassen, wirkt wie ein optisches Glas, in dem sich die Strahlen brechen, die das „siegende Licht“ der Wahrheit aussendet.202 Schiller greift damit eine Metapher aus der Theosophie des Julius auf. Dort soll sie die These illustrieren, dass die Natur „ein unendlich getheilter Gott“ sei. Wie sich im prismatischen Glase ein weißer Lichtstreif in sieben dunklere Stralen spaltet, hat sich das göttliche Ich in zahllose empfindende Substanzen gebrochen. Wie sieben dunklere Stralen in einen hellen Lichtstreif wieder zusammen schmelzen, würde aus der Vereinigung aller dieser Substanzen ein göttliches Wesen hervorgehen. Die vorhandene Form des Naturgebäudes ist das optische Glas, und alle Thätigkeiten der Geister nur ein unendliches Farbenspiel jenes einfachen göttlichen Strales. 203

Am Phänomen der Lichtbrechung entfaltet Schiller eine platonische Liebesphilosophie, die sich poetisch als „Farbentheologie“204 erweist. In ihr verbinden sich newtonsche Optik und neuplatonische Vereinigungslehre. Refraktion und Projektion, Diffusion und Sammlung des Lichts werden zu Leitmetaphern einer Lehre, die ständig zwischen Trennung und Vereinigung ausgespannt ist. Ein erstes Mal gilt dies für den großen Brief an Reinwald (14.4.1783) aus der Frühphase des Don Karlos, in dem optisch-ästhetische Phänomene reichlich Verwendung finden. Alle Figuren sind buchstäblich Projektionen ihres Autors. Folgt man der Logik des Bildes, ist Dichtung nicht so sehr durchscheinendes Medium („medium diaphanum“205) wie z.B. Glas als vielmehr Prisma oder Hohlspiegel, der seelische Archetypen „vergrößert auseinanderwirft“206: –––––––––––––– 201 202 203 204 205

NA 20, 336 (9. Brief). NA 20, 334 (9. Brief). NA 20, 124. Im Sinne von Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987. Vgl. den entsprechenden Zedler-Artikel: „Diaphanum, Medium, wird in der Optic alles dasjenige genennet, was die Strahlen des Lichts durchfallen lasset, desgleichen sind die Lufft, Wasser, andere Liquores, Glas, Crystalle, Diamanten und so ferner“ (Bd. 7, S. 405 [768]). 206 NA 20, 322.

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

Gleichwie aus einem einfachen weisen Stral, je nachdem er auf Flächen fällt, tausend und wieder tausend Farben entstehen, so bin ich zu glauben geneigt daß in unsrer Seele alle Karaktere nach ihren Urstoffen schlafen, und durch Wirklichkeit und Natur oder künstliche Täuschung ein daurendes oder nur illusorisch – und augenblikliches Daseyn gewinnen. Alle Geburten unsrer Phantasie wären also zuletzt nur Wir selbst.207

Die Quelle der Refraktionsmetapher ist längst bekannt. Sie geht wohl auf Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767, dt. 1768) zurück, in der von den „Stralen, die gebrochen und zerstreut von einer dunklen und ungeglätteten Oberfläche kommen“ die Rede ist.208 Ist die Lichtbrechung bei Ferguson allenfalls eine kursorische Metapher, so wird sie bei Schiller zum allegorischen Brennpunkt ästhetischer wie theologischer Interessen. Die Bilder von Projektion und Refraktion, Lichtbrechung und -fokussierung gewinnen den Status von absoluten Metaphern, wo in platonischer Perspektive die Rückwendung zum Einen dargestellt wird.209 So greift das Finale der Künstler die oben zitierten Bilder von Prisma und Spiegel wieder auf: Wie sich in sieben milden Strahlen der weisse Schimmer lieblich bricht, wie sieben Regenbogenstrahlen zerrinnen in das weiße Licht: so spielt in tausendfacher Klarheit bezaubernd um den trunknen Blick, so fließt in Einen Bund der Wahrheit in Einen Strohm des Lichts zurück! (NA 1, 214; v. 474-481)

Das Prismenbild kehrt in der Bürger-Rezension wieder als zentrale Operation einer „Idealisierkunst“, mit deren Hilfe der Dichter „die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln“ hat210. Schreiben ist Katharsis und Purifi–––––––––––––– 207 NA 23, 79. 208 Vgl. NA 21, 164. 209 Vgl. NA 20, 164 (Ueber die tragische Kunst): „Der Künstler, wenn mir dieses Bild hier verstattet ist, sammelt erst wirthschaftlich alle einzelnen Strahlen des Gegenstandes, den er zum Werkzeug seines tragischen Zweckes macht, und sie werden unter seinen Händen zum Blitz, der alle Herzen entzündet.“ 210 NA 22, 253. Schiller nimmt damit eine Formulierung aus dem Brief an Reinwald vom 14.4.1783 auf, die dort klar in den theosophischen Kontext der Jugendphilosophie gehört: „[D]ie zerstreute Züge der Schönheit, die Glieder der Vollkommenheit in einen ganzen Leib aufzusammeln – das heißt mit andern Worten: Der ewige innere Hang, in das Nebengeschöpf überzugehen.“ NA 23, 80. Die Vereinigungsphilosophie im Umkreis der Philosophischen Briefe erscheint mithin in der Bürger-Rezension poetologisch ‚abgekühlt’ zum klassizistischen Gebot eklektischer Mischung, die „Vermischung“ und „Verwechslung“ der Wesen in der Liebe dient als Modell der ästhetischen Mitteilung.

3. Projektionskünste. Das ›philosophische Gespräch‹

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kation, Um- und Rückkehr zum Einen. Auf diese Weise kehrt der Künstler die existentielle Zerstreuung des Einen in das Viele um. In dem „einen Strohm des Lichts“ hebt sich das Individuationsprinzip der menschlichen Existenz auf. Der Autor sublimiert zunächst einmal sich selbst, bevor er andere, die Leser, erhebt. Schreiben ist „fortgesetzte Arbeit an sich selbst“211, asketische Selbstmodellierung – auch darauf wird zurückzukommen sein. Auch dort, wo nur mehr „Kantische Grundsätze“212 zu gelten scheinen, schieben sich Bilder einer allegorisch erhitzten Optik bzw. Katoptrik vor. An zentraler Stelle geschieht dies im sechsten der Ästhetischen Briefe, der sich jener „griechischen Natur“ widmet, in der sich „die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen“.213 Die griechische Welt bezeichnet eine historische Singularität, bei der die „vollständige anthropologische Schätzung“214 des Menschen episodisch verwirklicht ist. Sie ist zugleich Jugend- und Vollendungszeit der Menschheit. Der Brief enthält daneben eine Wissenschafts- und Methodenkritik, die den Geist einer zur „Spitzfindigkeit“ entarteten Spekulation für den Zerfall der inneren Harmonie des Menschen verantwortlich macht. In diesem Umkreis findet auch der Projektionsgedanke seine originär Humesche, wenngleich hauchzarte metaphorische Verwendung. Das griechische Denken kennt nicht die Zerrüttung des modernen Geistes in Poesie und Wissenschaft. Projektion, nicht Dissoziation war das Prinzip der griechischen Natur und Götterwelt. Die Vernunft der Griechen arbeitet, nimmt man Schillers Metaphorik beim Wort, wie jene Phantasmagorien von Göttern und Gespenstern, die der Belgier Etienne Gaspar Robertson (1763-1837) in dieser Zeit dem Publikum präsentierte.215 Die Vernunft „zerlegte“, wie Schiller schreibt, „zwar die menschliche Natur und warf sie in ihren herrlichen Götterkreis vergrößert auseinander“ – gemeint sind die verschiedenen Sektoren und Funktionsbereiche der Götter (Ares / Kriegskunst usw.).216 Schil–––––––––––––– 211 212 213 214 215

NA 20, 151 (Ueber die tragische Kunst). NA 20, 309. NA 20, 321. NA 20, 316 (4. Brief). Vgl. Jürgen Berger: Die Projektion. Anmerkungen zur Geschichte der Laterna Magica. In: Laterna Magica – Vergnügen, Belehrung, Unterhaltung. Der Projektionskünstler Paul Hoffmann (1829-1888). Eine Ausstellung des Historischen Museums Frankfurt. Frankfurt/Main 1981, S. 29-54, hier S. 42f. 216 Vgl. Hume: Naturgeschichte der Religion, S. 8 (§ 2): „Dementsprechend finden wir, daß sich alle Götzendiener nach der Abgrenzung der Wirkungsbereiche ihrer Gottheiten an denjenigen unsichtbaren Herrscher wenden, dessen Zuständigkeitsbereich sie unmittelbar unterstellt sind und in dessen Wirkungsbereich die Oberaufsicht über den Gang der Handlungen fällt.“

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lers Analyse dieses Vorgangs ähnelt der später von L. Feuerbach entwickelten217: Die griechischen Götter sind Projektionen mit anthropologischer Reichweite und Aussagekraft. Der Polytheismus erfüllt seinen Sinn darin, dass er verschiedene menschliche Lebens- und Wirkungsfelder differenziert. Diese Differenzierung bedeutet jedoch keine Fragmentierung, wie sie die Arbeitsteilung dem modernen Menschen bringt: Auch bey uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinander geworfen – aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammen zu lesen.218

Der inkommensurable Abstand zwischen griechischer und moderner Natur wird plausibilisiert durch zwei optische Instrumente, in denen die gegenläufige Richtungen von „Zerstreuung“ und „Sammlung“, von chorismos und methexis ihren Ausdruck finden. Geht die griechische Mythologie als verhüllte Anthropologie aus einer Projektion durch die Zauberlaterne der Phantasie bzw. der Poesie hervor, so steht die Moderne im Zeichen der Refraktion, welche die Totalität des Menschen (= des Lichts) in partikulare Bruchstücke (= prismatische Farben) zerlegt. Aufgabe der Kunst (= Hohlspiegel) ist es dann, diese Bruchstücke wie eine Sammellinse zu reintegrieren.219 Die Dichte der hier versammelten Belege berechtigt zu der Annahme, dass die Analogie von Kunst und Optik (Dioptrik, Katoptrik) für Schiller mehr war als eine ephemere Laune der poetischen („symbolischen“) Imagination. Die emblematische Bedeutung der Optik und ihrer Terminologie bleibt über die Kant-Lektüre hinaus bestehen, in der Analyse der Kallias-Briefe wird sie erneut aufgegriffen. Dort ist es nicht –––––––––––––– 217 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Nachwort von Karl Löwith. Stuttgart 1969 (= RUB 4571), S. 54: „Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen.“ 218 NA 20, 322. 219 Im Lichte solcher allegorisch-farbentheologischer Deutungen gewinnen auch Goethes Optika für Schiller ihren eigenen Reiz. Am 27.1.1797 vermeldet er an Goethe ein kleines Refraktionsexperiment mit einem gelben Glas: „Ich betrachtete damit die Gegenstände vor meinem Fenster, und hielt es soweit horizontal vor das Auge, daß es mir zu gleicher Zeit die Gegenstände unter demselben zeigte, und auf seiner Fläche den blauen Himmel abspiegelte, und so erschienen mir an den hochgelb gefärbten Gegenständen alle die Stellen hell purpurfarbig, auf welche das Bild des blauen Himmels fiel, so daß es schien, als wenn die hochgelbe Farbe mit der blauen des Himmels vermischt, jene Purpurfarbe hervorgebracht hätte.“ (NA 29, 39). Bei diesem Glas handelt es sich offenbar um einen jener „Lichtfänger“, von denen sich verschiedene noch heute in Schillers Nachlass befinden. Abbildung in: Gfrereis, Heike (Hg.): Autopsie Schiller. Eine literarische Untersuchung. Marbach 2009 (= Marbacher Magazin 125/126), S. 55.

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mehr das Bild des Hohl- und Konvexspiegels, sondern die Vorstellung des Kunstwerks als eines Repräsentationsmediums, das die Theorie des Kunstschönen zu einer durchaus Kant-fernen Mediologie und Metaphorologie erweitern. 3.4. Die Wende zur Ästhetik Welche technische und ästhetisch-epistemologische Faszination die Phänomene der Optik zeitlebens auf Schiller ausübten, scheint damit hinreichend deutlich. Die Grundlage dieser Reihe wird, wie gesagt, im Geisterseher bereitet. Was in den ästhetischen Abhandlungen nur mehr als Metapher und Gedächtnisspur assoziiert wird, erscheint hier noch in seiner Ambivalenz zwischen technischer Konkretion (Séance in Buch I) und allegorischer Dechiffrierung (Buch II). Wird in der Séance-Szene die Projektion gezeigt, so wird sie im philosophischen Gespräch des zweiten Buches gleichsam emblematisch gedeutet. Detektivisches und philosophisches Gespräch verhalten sich zueinander wie pictura und subscriptio. Erweist der Prinz und sein Autor im ersteren seinen technischen, so im letzteren seinen philosophischen Sachverstand in Sachen Projektion. Man könnte von einer Urszene der Schiller’schen Ästhetik sprechen, ihrer Geburt aus der metaphysischen Verzweiflung und ‚Resignation‘. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, ob der Mensch ein Wissen über Vergangenes und Zukünftiges haben könne. Der Prinz verneint diese Möglichkeit entschieden. „Zukunft! Ewige Ordnung! – Nehmen wir hinweg, was der Mensch aus seiner eigenen Brust genommen und seiner eingebildeten Gottheit als Zweck, der Natur als Gesetz untergeschoben hat – was bleibt uns dann übrig?“220 Wo über das Verhüllte nicht mehr gesprochen werden kann, muss die Hülle selbst in den Mittelpunkt treten, und so assoziiert der Prinz als „Medienmensch“221 ein Gleichnis, das ihm im Licht der vorausgehenden Handlung plausibel erscheinen muss: Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Ge-

–––––––––––––– 220 NA 16, 161. 221 Bartels: Proto-kinematographische Effekte, S. 143.

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stalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen.222

Technisch sieht es so aus, als beschreibe der Prinz „eine Projektionsanordnung mit Camera obscura und Hohlspiegel, möglicherweise auch mit Laterna magica“.223 Philosophisch-metaphorologisch präfiguriert der Abschnitt alle oben rekonstruierten Bilder und Überlegungen zum Projektionskomplex. Die Grundthese entstammt dem Gedicht Resignation, ebenso die Humesche Dialektik von „hopes and fears“ (hier: „Leidenschaft“). Gegenwärtig ist auch die poetologischpsychodynamische Projektionsthese des Reinwald-Briefes. An der Inszenierung des Betruges beteiligen sich gleichermaßen „Dichter, Philosophen und Staatenstifter“, vor allem aber Platons Sophisten, die im Geisterseher im Sizilianer ihren Nachfolger finden: „Auch manche Gaukler nutzten diese allgemeine Neugier und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen.“224 Was bleibt, ist die Welt der Erscheinungen, der Phantasmagorien. „Kein Toter kam aus seiner Gruft gestiegen“, war schon in Resignation zu lesen (v. 79). Dieser Gedanke kehrt nun wieder: Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke, keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles was man hörte, war ein hohler Widerschall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde; quid sit id, quod tantum perituri vident. Freilich gab es auch Ungläubige darunter, die behaupteten, daß diese Decke die Menschen nur narre und daß man nichts beobachtet hätte, weil auch nichts dahinter sei; aber um sie zu überweisen, schickte man sie eilig dahinter’.225

Der spiritistische Versuch, den der Prinz im Namen der Wahrheit in Buch I unternommen hatte, ist damit als reiner Medieneffekt abgetan. Der Blick auf die Hinterwelt wird verstellt durch die bunte Welt der Schattenbilder: „Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern, nicht hinter diese Decke blicken zu wollen – und das Weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen“.226 Was der Prinz hier in eigener Sache formuliert – Resignation auf die Erscheinungen – wird zum ästhetischen Imperativ bzw. Prohibitiv. Fortan gilt, dass nicht mehr hinter die Decke (den Schleier, die Hülle), sondern auf die Decke geblickt werden solle. Wird diese Weisung –––––––––––––– 222 223 224 225 226

NA 16, 166. Bartels: Proto-kinematographische Effekte, S. 144. NA 16, 166f. NA 16, 167. Ebd.

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missachtet, muss die Hybris der curiositas teuer bezahlt werden. Dies gilt für die astrologische Fehlprognose des Wallenstein so gut wie für die Enthüllung der Isis in Das verschleierte Bild zu Sais, das Schillers eigene metaphysische Ambitionen allegorisiert. Der Schleier der Isis ist das Gewand der Kunst.227 Mit den Worten Kassandras: „Nur der Irrtum ist das Leben / Und das Wissen ist der Tod“.228 Die Decke des Prinzen ist die Wand der Platonischen Höhle, auf welche die Gaukler (bzw. Philosophen oder Dichter) ihre kinematographischen Lichtspiele projizieren. Zugleich ist sie ein Theatervorhang, gegen den sich die Projektionen und Geisterbeschwörungen der Kunst abheben. Man denke an die metaphorische Kopplung von Schaubühne und Hohlspiegel. Das Bild der verhüllten Transzendenz bleibt im Gedächtnis – nicht nur bei Schiller. An zwei scheinbar heterogenen Rezeptionsbelegen zeigt sich seine suggestive Überzeugungskraft. Gemeinsam verweisen sie auf die Verschwisterung von Schaubühne und Schaustellerei, von Theater und Jahrmarkt, mit der wir diesen Exkurs begonnen hatten. Als Schiller im Mai 1793 parallel zum Essay Ueber Anmut und Würde einen Aufsatz über „pathetische Darstellung“229 beginnt, der unter dem endgültigen Titel Vom Erhabenen die „weiter(e) Ausführung einiger Kantischen Ideen“ enthält, kehren die Schatten und Projektionen der Geisterseher-Zeit umgehend zurück. Auch wenn die Schrift in der Tat kaum mehr als „ausführlicher Kommentar“ zu Kants Analytik des Erhabenen ist230 und aus diesem Grunde auch nicht in die Sammlung der Kleineren prosaischen Schriften aufgenommen wird231, ist er doch auch Exzerpt eigener Gedanken aus der vorkritischen Zeit. Unter die Rubrik des „Kontemplativerhabenen der Macht“ versammelt Schiller neben bedrohlichen Naturphänomenen (Abgrund, Vulkan usw.) über Kant hinaus auch das „Außerordentliche“ und das „Unbestimmte“, die beide „an sich gleichgültige Gegenstände der Natur“ durch Imagination „in furchtbare Mächte verwandeln“.232 Unter dem „Unbestimmten“ als „Ingrediens des Schrecklichen“ fasst Schiller auch „alles was verhüllt ist, alles Geheimnisvolle“ und belegt es mit –––––––––––––– 227 NA 1, 254-256. Dass es sich somit um ein meta-poetologisches Gedicht handelt, deutet schon von Wiese: Schiller, S. 605 an: „Der Dichter spricht das nicht selber aus, auch für sein Gedicht braucht er den „Schleier“, nur verrätselnd kann er auf das Furchtbare hindeuten, dessen Enthüllung er verbietet.“ 228 NA 2/1, S. 256; v. 59f. 229 An Körner, 27.5.1793; NA 26, 243. 230 NA 21, 184. 231 Hier nahm Schiller lediglich den zweiten Teil des Aufsatzes unter dem Titel Ueber das Pathetische auf. NA 21, 183f. 232 NA 20, 188.

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zwei Beispielen: der Aufschrift auf dem Tempel der Isis, von der schon Kant sagt, es sei „vielleicht […] nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden“.233 Bei Schiller: „Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben“.234 Es ist „eben dieses Ungewisse und Geheimnisvolle“, schreibt Schiller weiter, welches „den Vorstellungen der Menschen von der Zukunft nach dem Tode etwas grauenvolles“ verleihe, „Empfindungen“, die „in dem bekannten Selbstgespräch Hamlets sehr glücklich ausgedrückt“ seien. Hamlet – als dessen Seelenverwandten wir den Prinzen kennen gelernt haben – lenkt Schiller assoziativ auf den Geisterseher zurück, nämlich zu der auch vom Prinzen anzitierten „Beschreibung, die uns Tacitus von dem feierlichen Aufzug der Göttin Hertha macht“: [Sie] wird durch das Dunkel, das er darüber verbreitet, furchtbar erhaben. Der Wagen der Göttinn verschwindet im Innersten des Waldes, und keiner von denen, die zu diesem geheimnißvollen Dienst gebraucht werden, kommt lebend zurück. Mit Schauder fragt man sich, was das wohl seyn möge, welches dem, der es sieht, das Leben kostet, quod tantum morituri vident.235

Das Unbestimmte, das „fortdauernde Spannung“ erzeugt, ist ein Grenzphänomen des Ästhetischen, sofern es das Unsichtbare in die Ordnung der Sichtbarkeit einbrechen lässt.236 Kunst rückt eng an Kult und Religion heran, an jene „Mysterien, welche ein heiliges Grauen unterhalten, und so wie die Majestät der Gottheit hinter dem Vorhang im Allerheiligsten wohnet“.237 Zu diesem Zeitpunkt lag Schillers Auseinandersetzung mit den Isis-Mysterien in der Sendung Moses bereits zurück. Das Verschleierte Bild zu Sais spricht den Imperativ der Resignation, den das philosophische Gespräch erlassen hatte, in der Form einer „parabolischen“238 Ballade neuerlich aus. Die Geschichte des Prinzen wird hier im historisch-exotischen Kostüm neu erzählt als negatives Exempel von Neugier – curiositas. „Ich will Wahrheit“ – so hatte der Prinz sein Experiment mit den Geistern begründet. Des „Wissens brennende Begier“ (v. 43) treibt den Jüngling in der Ballade in die Hybris und nachfolgend in „tiefe(n) Gram und –––––––––––––– 233 234 235 236

Kant: Werke, Bd. 8, S. 417 Anm. (KdU § 49). NA 20, 191. Ebd. Zum Begriff des ‚Grenzphänomens‘ vgl. Riedel, Wolfgang: Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller. In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 59-71. 237 Ebd. 238 Der glückliche Begriff nach von Wiese: Schiller, S. 603.

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„frühe(s) Grab“ (v. 81)239. Statt „Elysiumssekunde“ und visio beata erfolgt die physische Repulsion durch den elektrischen Schlag („da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein“).240 Die Kommunikation mit der Geisterwelt scheitert, der Neugier folgt der Elektroschock auf dem Fuße. Geisterseherei und Fernsicht werden in der klassischen Lyrik zur lästigen, das Gemüt beschwerenden Bürde. In Kassandra (1802) brauchen die Geister nicht mehr gerufen zu werden, sie sind immer schon da. „Wo ich wand’re, wo ich walle, / Stehen mir die Geister da“.241 Gebannt wie die Höhlenbewohner Platons („nicht die Blicke darf ich wenden“) muss Kassandra ihre Television, ihren Trojafilm im Kopf aushalten. Dieser entpuppt sich jedoch als bittere Realität, in der Kassandra selbst ihr „Geschick vollenden“ muss242. Damit ist das Fortleben des Deckengleichnisses, das schon Körner solchen Eindruck gemacht hatte, jedoch keineswegs erschöpft. Zu den Paradoxien der Rezeption zählt auch der merkwürdige Befund, dass Schillers Projektionsmetapher ein Jahrzehnt später wörtlich wiederkehrt zur Charakterisierung jenes neuen Mediums, das der bereits erwähnte Etienne Gaspard Robertson unter der Bezeichnung „Phantasmagorie“ seit 1798 im Pariser Pavillon de l’Echiquier, seit 1799 in einem alten Kapuzinerkloster in der Nähe der Place Vendôme unter außerordentlichem Zuspruch des Publikums vorführte243. Robertsons Erfindung bestand darin, dass „er sämtliche denkbaren Bewegungstechniken mit der Projektion auf Rauch verband, was ein offenbar überwältigendes dreidimensionales Bilderlebnis ermöglichte“.244 Angeregt hatten ihn dabei dieselben Quellen, auf die sich auch Schiller im Geisterseher bezogen hatte (Kircher, Schott, Wiegleb). Seine Phantasmagorien leitete Robertson für gewöhnlich mit zwei stereotypen Ansprachen ein, von denen eine den Text des Deckengleichnisses wörtlich integriert. Eine größere Ironie scheint kaum denkbar: Gerade der Verzicht auf Geisterseherei wird zum Eintrittsbillet für ihre mediale Inszenierung. Die Kritik der Projektion legitimiert ihre eigene Technik. The experiments which you are about to witness must interest philosophy; here philosophy may witness the history of aberrations of the human spirit [„die Verirrungen des menschlichen Geistes“; NA 16, 45], and this is worth

–––––––––––––– 239 NA 1, 254 bzw. 255. 240 Nicht anders verläuft die Begegnung mit dem Übernatürlichen im Geisterseher (NA 16, 72): „Aber in eben dem Moment, als der Geist erschien, empfanden wir alle einen elektrischen Schlag.“ 241 NA 1, 258; v. 108. 242 Ebd. v. 119. 243 Zum folgenden Bartels: Proto-kinematographische Effekte, S. 144-146. 244 Ebd. S. 121.

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more than the political history of nations. The two great epochs of man are his entry of life and his departure froam it. All that happens can be considered as being placed between two black and impenetrable veils which conceal these two epochs, and which no-one has yet raised. Thousands of generations stand there before these black veils, torches in their hands, striving to guess what may be on the other side. Poets, philosophers, creators of states have in their dreams painted this future in colours gay or sombre, according to whether the sky over their heads was cloudy or serene. Many imposters have profited by this general curiosity to astonish the imagination subdued by the uncertainty of the future. But the most mournful silence reigns on the other side of this funerary crepe; and it is to fill this silence, which says so many things to the imagination, that magicians, sybils and priests of Memphis employ the illusions of an unknown art, of which I am going to try to demonstrate some methods under your eye.245

4. Libertinage und ästhetische Erziehung

4. Libertinage und ästhetische Erziehung 4.1. Kunstreflexion bei Schiller und Heinse

Mit dem Beginn des zweiten Buches wandelt sich nicht nur der Charakter des Prinzen, sondern auch der des Romans. Aus dem Detektivund Geheimbundroman mit spekulativ-metaphysischen Zügen wird ein Liebes- und Kunstroman. Beide zuletzt genannten Fäden verschlingen sich im fünften Brief des Barons von F**, der die erste Begegnung des Prinzen mit der schönen Fremden in der Palladio-Kirche Il redentore schildert. Man kann geradezu von dem Kunstkapitel des Geistersehers sprechen. Es relativiert erheblich Schillers spätere Aussage, er sei ein „Barbar in allem was die Kunst betrifft“.246 Der Brief stellt einen der wichtigsten frühen Beiträge Schillers zur zeitgenössischen Kunstdebatte dar. Wie der Brief eines reisenden Dänen enthält er eine Auseinandersetzung mit den Idealen des (Winckelmannschen) Klassizismus. Neu ist die Perspektive: anders als im Brief steht nicht die griechische, sondern die rinascimentale Kunst bzw. Malerei im Mittelpunkt. Damit wechselt der Blick von der antiken zur neueren Kunst und – dies ist entscheidend – zum Problem religiöser Kunst. Das Kunstkapitel des Geistersehers umkreist implizit ein Thema, das in der expliziten Ästhetik Schillers eine Leerstelle bezeichnet: das Problem der religiösen Kunst und umgekehrt der Kunstreligion. Schiller wendet sich damit einem Thema zu, das eine Dekade später durch Wackenroder und Tieck emphatisch in den Mittelpunkt des ––––––––––––––

245 Es entstammt der englischen Ausgabe seiner Mémoires récréatifs, scientifiques et anecdotiques d’un physicien-aéronaute. Paris 1831, Bd. 1. Zitiert nach Bartels: Protokinematographische Effekte, S. 145. 246 An Reinhart, 7. (oder 14.) 3.1803; NA 32, 22.

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frühromantischen Interesses rücken wird – die Frage des ‚ästhetischen Katholizismus‘. Anders als bei Wackenroder und Tieck erscheint dieser ästhetische Katholizismus jedoch als ambivalentes Phänomen, als Gefahr. Überblickt man die weitere Fall-Geschichte des Prinzen, so zeichnet sich ab, welchen Anteil die Kunst in dem geheimen Lenkungs- und Erziehungsgeschehen hat. Die Umerziehung des Prinzen ist Erziehung durch Ästhetik und Erziehung zur Ästhetik – zum ästhetischen Katholizismus247. Zeigt das erste Buch den Prinzen als Dilettanten in Sachen Metaphysik, der zum Opfer der neuen Bildmedien wird, so kehrt das zweite den Kunstdilettanten hervor. Der Prinz wird zum Kunstliebhaber, der nicht nur falsch liest (d.h. moderne statt klassische Bücher), sondern auch zunehmend falsch sieht. Kunst dient wie Libertinage der Konversion. Auf seinem Weg durchläuft der Prinz nicht nur eine Schule des Sehens, sondern auch eine Schulung der Sinnlichkeit, der Ausschweifung, der erotischen wie ästhetischen Attraktion. Es sind touristische Interessen, die den Prinzen und seinen Begleiter in das Palladio-Kloster San Giorgio Maggiore auf der gleichnamigen vorgelagerten Insel führen. Hier konnte die kleine Gruppe im Jahr 1789 noch jenes Bild in situ vorfinden, das wenige Jahre später (1797) während der Napoleonischen Besatzung zum Objekt französischer Kunsträuber wurde, um bis heute einen Ehrenplatz im Louvre einzunehmen – Paolo Veroneses Hochzeit zu Kana (Le nozze di Cana). Das Kloster selbst zählt seit dem frühen 18. Jahrhundert zu den obligatorischen Stationen der Venedig-Reisenden, Veroneses Werk selbst wird seit dem 17. Jahrhundert immer wieder kopiert und in der Kunstliteratur wie in Venedig-Führern diskutiert248. Schon in Johann Gottfried Schnabels Roman Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier (1738) findet sich ein Hinweis, verbunden freilich mit der falschen Zuschreibung des Gemäldes an Tizian: Das Kloster St. Johannis und Pauli ist das schönste, das Kloster St. Georgii aber das reichste. In eben diesem Kloster, und zwar in dem Tafelgemach, finden sich unter den Schildereien oder Gemälden die zwei vornehmsten und bewundernswürdigsten Stücke, welche der Künstler Marco Titiano verfertiget hat, das eine stellet vor die Hochzeit zu Kana in Galiläa und das andere das Bildnis Petri des Märtyrers.249

–––––––––––––– 247 Diesen Aspekt hebt auch Liliane Weissberg: Geistersprache hervor. 248 Zur Rezeption des Gemäldes Priever, Andreas: Vorbild und Mythos. Die Wirkungsgeschichte der „Hochzeit zu Kana“ Paolo Veroneses. Sigmaringen 1997 (mit kursorischem Bezug zur Literatur). 249 Johann Gottfried Schnabel: Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier. Hg. von Werner Schubert. Leipzig 1973, S. 127.

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Der Baron von F** nähert sich dem Bild wie seinem Raum mit deutlich größerer Skepsis. Aus der Sicht des aufgeklärten Kunstliebhabers wird kritisiert, dass das Gemälde an keinem „öffentlichen Orte“ zu sehen ist, sondern nur dem Zweck dient, „eine Anzahl Mönche in ihrem Refektorium zu vergnügen“.250 Die Forderung nach Öffentlichkeit der Kunst bedeutet zugleich die nach ihrer Autonomie. In situ dient Veroneses Kunst lediglich Dekorationszwecken, bleibt einem geschlossenen Zirkel kunstliebender Klosterbrüder vorbehalten und so – passend zum Roman selbst – ins Zwielicht des Geheimen und Geheimnisvollen getaucht: Erwarten Sie von mir keine Beschreibung dieses außerordentlichen Kunstwerks, das mir im ganzen zwar einen sehr überraschenden, aber nicht sehr genußreichen Anblick gegeben hat. Wir hätten so viele Stunden als Minuten gebraucht, um eine Komposition von hundert und zwanzig Figuren zu umfassen, die über dreißig Fuß in der Breite hat. Welches menschliche Auge kann ein so zusammengesetztes Ganze erreichen und die ganze Schönheit, die der Künstler darin verschwendet hat, in einem Eindruck genießen! 251

Die angedeutete, dann verweigerte Ekphrasis ist Teil der Figurencharakteristik. Der Baron wird als gutwilliger, aber beschränkter Dilettant gezeichnet, der sich der Faszination und Suggestion der Kunst mit protestantischer Nüchternheit zu entziehen weiß. So geriert er sich als Klassizist, dem die Einheit der Komposition und mithin die Überschaubarkeit (comprehensio aesthetica) über alles geht. Die zahlreichen partikularen Schönheiten des monumentalen Wimmelbildes erweisen sich als luxurierende Verschwendung, die sich nicht zur Einheit eines überschaubaren Ganzen fügen will. Das Urteil des klassizistischen Barons fällt jedoch weniger ins Gewicht, als die Thematisierung des Bildes selbst. Sie bereitet im fünften Kapitel atmosphärisch die Begegnung des Prinzen in einer weiteren Palladio-Kirche – San Redentore auf der Giudecca – vor, die im Anschluß an die Episode in San Giorgio Maggiore berichtet wird und in der Schilderung des Prinzen die Nähe von schönem Körper und schöner Kunst ausbauen wird. Insofern arbeitet Schiller auch in diesem Kapitel mit dem Mittel der Motivverdopplung, des intratextuellen Verweises. Veroneses Gemälde fügt sich dabei in besonderer Weise in die Stimmung des zweiten Buches. Dass es im Refektorium, d.h. im „Tafelgemach“ des Klosters seinen Ort findet, ist keineswegs unangemessen, sondern Ausdruck einer klaren Bild- und Raumkonzeption, die dem adligen Kunstfreund jedoch nicht mehr ohne weiteres einleuchtet. Paradox genug ist es der Baron, den Schiller für eine öffentliche Sichtbarkeit –––––––––––––– 250 NA 16, 126. 251 Ebd.

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der Kunst optieren lässt. An Stelle der geheimen Kabinette und Klostermauern soll das Museum treten252. Kunst muss demokratisiert werden. Fortan soll sie, autonom geworden, dem reinen kontemplativen Kunstgenuss, nicht der Verschönerung der Lebenswelt dienen. Der neue Gebrauch der Kunst schließt die Gebrauchskunst – auch und gerade die sakrale – aus. Doch nicht nur der Raumkontext des Bildes irritiert. Verstörend musste auf den Baron auch das Dargestellte wirken: Veronese malt eine immagine sacra, die zwar den Tridentiner Bildvorgaben entsprechend keine expliziten Anstößigkeiten (lascivie) ins Bild setzt, aber doch die biblische Erzählung zum bloßen argumentum einer Darstellung säkularer Sinnen- und Tafelfreuden macht. Das Bild lebt vom Kontrast zwischen einem in sich ruhenden, ikonenhaft-statischen Christus und der bunt bewegten, rahmenden Fülle der Symposianten, vom Gegensatz auch zwischen Abendmahlsikonographie und säkularem Festmahl. Fülle und varietà sind hier Programm, bilden Teil der illusionistischen Raumwirkung, die im Gesamtensemble von Bild und Raum erarbeitet wird. Sie paart sich mit typologischem Hintersinn: Die Mönche sitzen mit am Hochzeitstisch zu Kana, das Refektorium erweitert sich perspektivisch wie heilsgeschichtlich-typologisch in die Bildfläche hinein. Mit seinem kritischen Urteil über Veroneses Werk steht der Baron von F** indes nicht allein. Schon die Tatsache, dass er überhaupt auf das Bild Bezug nimmt, verweist auf Anregungen der zeitgenössischen Kunstliteratur, ohne die dieses zweite Buch des Geistersehers nicht denkbar wäre. Im vorliegenden Fall gehen sie von einem frisch erschienenen Text aus, der für die Venedig-Atmosphäre des Geistersehers eine prägende Rolle gespielt haben dürfte, Wilhelm Heinses Ardinghello und die glücklichen Inseln (1787). In einem der Kunstgespräche des Romans wird eine Ehrenrettung der Hochzeit zu San Giorgio Maggiore im Zeichen einer rehabilitierten Sinnlichkeit vorgenommen. Gegen die Kritik an der passiven und „unbedeutend(en)“ Rolle Jesu im Bildentwurf, werden die Freuden des Gaumens betont: Er hat ein langes und breites an der von unserm herrlichen Paul getadelt. Christus mit seinen Aposteln sitzt freilich im Mittelgrund am Tische ziemlich unbedeutend; und sie sind bloß deswegen da, weil sie dasein müssen, weil wir andern Menschenkinder uns keinen sinnlichen Begriff von den Gestalten dieser Wundermänner machen können. Die Hauptsache aber bleibt immer der Schmaus, das Fest und der Wein über alle Weine; erste erfreuliche Bekräftigung unsrer Religion nach dem Johannes. Und in dieser Rück-

–––––––––––––– 252 Zur Erfindung des Museums Savoy, Bénédicte (Hg.): Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815. Mainz 2006; Deotte, JeanLouis: Le musée, l'origine de l'esthétique. Paris 1993.

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sicht ist das Stück voll Laune und die Begebenheit darin erzählt wie eine spanische romantische Novelle. Die Hauptfiguren sind ein Tisch mit Spielleuten, die auf lieblichen Instrumenten Musik machen. Paul selbst spielt eine Geige der Liebe; Tizian den Regenten der Harmonie, den Baß; Bassano, Tintorett andere Instrumente. Sie sind meisterhaft gemalt, haben treffliche Gestalten, passenden Ausdruck und sind schön gekleidet. Am Tische der Braut ist eine Sammlung der ersten Menschen dieser Zeit, alles voll Chronikwahrheit und Laune; sie müssen ihm das Drama aufführen. Die Luft im Hintergrunde ist gar leicht und heiter. Architektur, Gefäße und Speisen verzieren sehr gut. Die Beleuchtung breitet das Ganze auseinander und scheint vollkommen natürlich. Wer sieht so etwas nicht gern und weidet seine Augen daran!253

Auch wenn der Baron von F** den Inhalt des Gemäldes gar nicht kommentiert, wird die Tendenz deutlich: Veroneses Monumentalbild steht um 1800 für eine säkulare Sinnenfreude, die sich in Schmaus und Tafelfreude konkretisiert. Die Hochzeit wird zur Vorausdeutung des Abendmahls („erste erfreuliche Bekräftigung unserer Religion“), zum sinnlich-säkularen Symposion. Im Geisterseher steht das erzählte bzw. nur evozierte Bild in einem System von Bezügen und Spiegelungen: einerseits spiegelt sich in der Festgesellschaft des Bildes eben jene adlig-libertine Gesellschaft, in deren Runde der Prinz noch denselben Abend „in einem offenen Pavillon dieses Gartens das Souper einnehmen“ wird – auch hier akkompagniert durch „eine junge Sängerin [...], die uns alle durch ihre liebliche Stimme wie durch ihre reizende Figur entzückte“.254 Andererseits öffnet sich von Veroneses Monumentalbild ein Spannungsbogen zu den wenig später erwähnten Gemälden, die im Zusammenhang mit der Erscheinung der schönen Griechin stehen. Dabei ergeben sich Oppositionen, wie sie aus der klassizistischen Kunstdebatte um 1800 vertraut sind. Es ist kein Zufall, dass Veroneses venezianischer Stil mit den Entwürfen eines „florentinischen Maler(s)“ konkurriert, noch weniger, dass diese drei Gemälde „eine Madonna, eine Heloise und eine fast ganz unbekleidete Venus“ nicht mehr im religiösen Kontext und Refugium, sondern zur halböffentlichen Schau „für die Galerie im Cornarischen Palaste“255 bestimmt sind.

–––––––––––––– 253 Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Leipzig 51961, hier S. 17f. 254 NA 16, 128. 255 NA 16, 131.

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4.2. Die schöne Griechin Die Kunstbetrachtung des Barons von F** deutet voraus auf den ersten Auftritt der schönen Griechin im Text. Es handelt sich um eine veritable Kunst-Epiphanie, die zugleich den zweiten „Medieneffekt“256 des Armeniers darstellt. Ihr voraus geht ein Bericht des Erzählers, Baron von F**, der beobachtet, wie der Prinz „die anstoßende Kirche“, Palladios San Redentore, zunächst betreten und dann hastig verlassen hatte, um sich kommentarlos durch die Menge zur Gesellschaft zurückzubegeben. Die Bewandtnis der rätselhaften Episode und den Grund jener „so seltsamen Veränderung“, die sich an ihm erkennen lässt, trägt der Prinz sogleich nach, wenn er dem Baron von F** seine Erlebnisse in der Kirche eröffnet. Reine touristische Schau- und Schauderlust ist es, die ihn in die Palladio-Kirche führt. Gesucht wird das besondere ästhetische Erlebnis, das ästhetische numinousm, das von den Übergängen zwischen dem „blendenden Tageslicht“ und der „schaurigkühle(n) Dunkelheit“ ausgeht. Beschworen wird eine Stimmung des Chiaroscuro, in der Wirklichkeit und Illusion sich verwirren. Die Kirche ist ein Ort rein ästhetischer Andacht und „ernster ergetzender Betrachtung“257 geworden, der gemischte Empfindungen im Sinne eines delightful horror weckt. „Ich stellte mich in die Mitte des Doms und überließ mich der ganzen Fülle dieses Eindrucks“.258 Vor den „große(n) Verhältnisse(n) dieses majestätischen Baues“259 stellen sich Empfindungen des Erhabenen ein. An dieser Stelle kommt erneut die Kunst ins Spiel. Es ist die Betrachtung „einige(r) Altarblätter“, die den Prinzen zu einer der Seitenkapellen führt. Durch ein „zartes Wispern“ angelockt, erlebt er nun ein zweites Mal die gemischte Empfindung des Erhabenen, das Tremendum des Schönen: „Schrecken war meine erste Empfindung, die aber bald dem süßesten Hinstaunen Platz machte“.260 Der Topos der Unsagbarkeit – „ich kann sie nicht nachschildern“ – ist die angemessene Reaktion auf die Epiphanie des Göttlichen. Ein energischer Zwischenruf des Baron von F** legt da den Finger auf den wunden Punkt: „Und diese Gestalt, gnädigster Herr – wissen Sie auch gewiß, –––––––––––––– 256 257 258 259 260

Kittler: Laterna magica, S. 228. NA 16, 130. NA 16, 129. NA 16, 130. Ebd. Fast gleichlautend hatte Goethe seinen Eindruck des Straßburger Münsters im Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772) charakterisiert: „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten [sic] bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.“ MA Bd. 1, 2, S. 418f.

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daß sie etwas Lebendiges war, etwas Wirkliches, kein bloßes Gemälde, kein Gesicht Ihrer Phantasie?“261 Es ist bezeichnend, dass der Prinz den Einwurf überhört; mehr als ihm gilt er dem Leser, der so auf die großflächige Verwechslung von Kunst und Religion, Erscheinung und Epiphanie hingewiesen wird, die im Folgenden geschildert wird. Der Prinz wohnt dieser Andachtsszene als stiller Beobachter und Voyeur hinter einer Säule bei: Alles war düster ringsherum, nur durch ein einziges Fenster fiel der untergehende Tag in die Kapelle, die Sonne war nirgends mehr als auf dieser Gestalt. Mit unaussprechlicher Anmut – halb knieend, halb liegend – war sie vor einem Altar hingegossen – der gewagteste, lieblichste, gelungenste Umriß, einzig und unnachahmlich, die schönste Linie in der Natur. Schwarz war ihr Gewand, das sich spannend um den reizendsten Leib, um die niedlichsten Arme schloß und in weiten Falten, wie eine spanische Robe, um sie breitete; ihr langes, lichtblondes Haar, in zwei breite Flechten geschlungen, die durch ihre Schwere losgegangen und unter dem Schleier hervorgedrungen waren, floß in reizender Unordnung weit über den Rücken hinab – eine Hand lag an dem Kruzifixe, und sanft hinsinkend ruhte sie auf der andern. Aber wo finde ich Worte, Ihnen das himmlisch schöne Angesicht zu beschreiben, wo eine Engelseele, wie auf ihrem Thronensitz, die ganze Fülle ihrer Reize ausbreitete? Die Abendsonne spielte darauf, und ihr luftiges Gold schien es mit einer künstlichen Glorie zu umgeben. Können Sie sich die Madonna unsers Florentiners zurückrufen? – Hier war sie ganz, ganz bis auf die unregelmäßigen Eigenheiten, die ich an jenem Bilde so anziehend, so unwiderstehlich fand.262

Die feine Lichtregie der Szene erinnert an die Geisterbeschwörung des ersten Buches; wieder eine religiöse Inszenierung, wieder spielt ein Kruzifix eine Rolle. Im Dämmerlicht verfließen effektvoll die Konturen von Sein und Schein.263 Was der Illusionskunst des Sizilianers misslingt, gelingt nun als Illusion der Kunst. Der Prinz verfällt der Magie einer Erscheinung, die ikonographisch irgendwo zwischen Venus Anadyomene und Himmelskönigin Maria steht, er verfällt einer (Selbst-)Täuschung durch Kunst und Kunstwerk. Erotisches und ästhetisches Begehren berühren sich: „Die Erscheinung, als Kunstwerk beschrieben, bestätigt eine Erfahrung der Kunst“.264 Hier zeigen sich die Folgen der ästhetischen Umerziehung im Zeichen von Libertinage und Sinnlichkeit: Kunst, (katholische) Religion und Eros sind die Zutaten einer Verführungsstrategie, hinter der sich keimhaft eine –––––––––––––– 261 NA 16, 130. 262 Ebd. 263 Vgl. Weissberg: Geistersprache, S. 128: „Die Sonne, die ähnlich wie die Laterna magica der Geisterbeschwörungsszene den aufklärenden Dunkel-Hell-Kontrast wiedergibt, prägt das Sichtbare als Gemälde.“ 264 Ebd.

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Theorie des Schönen und der Anmut verbirgt. Der Prinz – und mit ihm sein Autor – erweist sich als Kunstkenner, d.h. als Klassizist und Winckelmann-Leser, der in der schönen Griechin eine Ikone der griechischen Schönheit im Sinne der Gedanken über die Nachahmung entwirft. Routiniert werden die Kriterien des Schönen abgearbeitet: Kontur (der „gelungenste Umriß“), „line of beauty and grace“ („die schönste Linie in der Natur“), Ungezwungenheit, Nachlässigkeit und „beau désordre“ („reizende Unordnung“). In wenigen Strichen werden Topoi des klassizistischen Kanons, vor allem das Ideal der Anmut (Reiz, Grazie, grace), abgearbeitet. Die Beschreibung der Draperie zeigt die wohl vertraute Dialektik von Ver- und Enthüllung. „Das Gewand“ nach der neuesten, klassizistischen Mode, verhüllt und zeigt zugleich („sich spannend um den reizendsten Leib“), die Haare als sexueller Fetisch sind „unter dem Schleier hervorgedrungen“. In der kurzen Erzählung lässt sich dabei eine Dynamik beobachten. Sie vollzieht sich als Übergang zwischen zwei Kunst-Paradigmen: Steht am Anfang das Ideal der Statue, so schließt der Abschnitt mit der Paraphrase eines Bildtypus der rinascimentalen Tafelmalerei, der Verkündigungsszene265. Die schöne Griechin verwandelt sich in ein christliches Tableau vivant, eine Marienfigur mit „himmlisch schön(em) Angesicht“ und „Engelseele“. Schon zuvor war die Artifizialität der Erscheinung betont worden; jetzt lässt die Rede von der „künstlichen Glorie“ assoziativ Wirklichkeit in Kunst übergehen. Die vom Prinzen imaginierte Wirklichkeit erweist sich sogar als kunstvoller gegenüber den „unregelmäßigen Eigenheiten“ des gesehenen Kunstbildes, dessen Bewandtnis der Baron von F** folgendermaßen erläutert: Mit der Madonna, von der der Prinz hier spricht, verhält es sich so. Kurz nachdem Sie abgereiset waren, lernte er einen florentinischen Maler hier kennen, der nach Venedig berufen worden war, um für eine Kirche, deren ich mich nicht mehr entsinne, ein Altarblatt zu malen. Er hatte drei andere Gemälde mitgebracht, die er für die Galerie im Cornarischen Palaste bestimmt hatte. Die Gemälde waren eine Madonna, eine Heloise und eine fast ganz unbekleidete Venus – alle drei von ausnehmender Schönheit und am Werte einander so gleich, daß es beinahe unmöglich war, sich für eines von den dreien ausschließend zu entscheiden. Nur der Prinz blieb nicht einen Augenblick unschlüssig; man hatte sie kaum vor ihm ausgestellt, als das Madonnastück seine ganze Aufmerksamkeit an sich zog; in den beiden übrigen wurde das Genie des Künstlers bewundert, bei diesem vergaß er den Künstler und seine Kunst, um ganz im Anschauen seines Werks zu leben. Er

–––––––––––––– 265 Nach Lukas 1, 26-37.

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war ganz wunderbar davon gerührt; er konnte sich von dem Stücke kaum losreißen.266

Dass es sich bei dem erwähnten Künstler um einen florentinischen Gastarbeiter, nicht um einen Vertreter der sinnlichen Venezianischen Schule (etwa Tizian) handelt, ist keineswegs zufällig. Es ist die Schule Raffaels, die den Prinzen – und seinen Autor – fasziniert. Mit den Darstellungen von Madonna, Heloise und Venus entwirft er ein Triptychon, das den Prinzen vor ein Paris-Urteil der Kunst stellt. Zwischen den drei Bild- und Frauentypen besteht ein Gefälle der Sinnlichkeit. Es spricht für den Prinzen und seine schwärmerischreligiöse, proto-romantische Kunstliebe, dass er sich für das katholische Motiv entscheidet, während die pagane Sinnlichkeit der Venus – man denke an die „wollüstigen Gemälde des Correggio und Tizian“267 (v.a. Tizians Venus-Akte) – in ihrer offenen Sinnlichkeit spontan gemieden werden. Nichtsdestoweniger zeigt die Kunstliebe des Prinzen obsessive Züge, die den gebotenen Abstand zwischen Kunstliebe und Kunstmissbrauch verkennen. Der Prinz gerät in den Sog der Sinnlichkeit, wird zum Opfer seiner Prägungen und fixen Ideen. War ihm die eigene, pietistische Religiosität eine „Geißel seiner Leidenschaften“268, so sucht sich die inhibierte Sinnlichkeit ein sublimierendes Ventil in der Kunst, näherhin: der religiösen Kunst des Katholizismus. Ihre Wirkung auf das in protestantischer Bilderdiät erzogene Gemüt ist fatal: der Prinz verwechselt schon hier Kunst und Wirklichkeit, nur in umgekehrter Richtung. Das Künstliche der Kunst verschwindet; der Betrachter verliert die Distanz zum Bild, indem er buchstäblich in ihm versinkt. Es ist das Unbewusste, das hier das Bewusstsein beherrscht. Auch der neue Paris unterliegt den Lockungen der Sinnlichkeit, indem er Maria – angeregt wohl durch Raffaels Sixtinische Madonna – mit Venus, Kontemplation mit Konkupiszenz verwechselt. Es ist die Kunst selbst, die der Wahrheit ihren Schein „betrüglich unterschiebt“, statt ihn aufrichtig zu zerstören. Wenn der Prinz beim Anblick der ästhetischen Marienerscheinung „den Künstler und seine Kunst vergißt“, um, wie es heißt, „ganz im Anschauen seines Werks zu leben“269, so erscheint zweideutig, was in den Kallias-Briefen zum eindeutigen Ausweis ästhetischer Autonomie wird: das Vergessen der Kunst und des Künstlers als Medien der Repräsentation: „Ist an einer Bildsäule ein einziger Zug, der den Stein verräth, der also nicht in der –––––––––––––– 266 267 268 269

NA 16, 131. F. Schlegel: Lucinde. In: KFSA, 1. Abt., Bd. 5, S. 42. NA 16, 103. NA 16, 131.

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Idee, sondern in der Natur des Stoffes gegründet ist, so leidet die Schönheit, denn Heteronomie ist da“.270 4.3. Die Kunst auf dem Venuswagen Im Kunstkapitel des Geistersehers erweist sich die Lust am Schönen als Verwechslung von Kunstgenuss und Kunstmissbrauch, die zum Ausweis der zunehmenden Libertinage der Sitten wird. Die Begegnung mit der schönen Griechin, die nicht zufällig im rinascimental-klassizistischen Kunst-Tempel des Palladio stattfindet, taucht die bildende Kunst in ein Zwielicht aus (sublimiertem) Eros und Libertinage. Aus Kennerschaft wird Obsession, die jede Distanz zum Bild verliert, „um ganz im Anschauen [des] Werkes“ zu leben.271 Kunst erscheint als Technik imaginativer Selbsterhitzung, führt zur Fetischbildung und Fixierung der Einbildungskraft. Nicht nur die Religion, auch die Kunst führt zu Wahnideen und Trübungen der klaren Sicht. Im Kontext des Charakter- und Entwicklungsganges des Prinzen stellt diese Episode daher ein weiteres Mosaiksteinchen dar, ein Element jener schwärmerischen Religiosität („glaubensreicher Schwärmer“), die von der skeptischen Freigeisterei nur vorübergehend unterdrückt wird. Im Anblick der schönen Griechin erfährt der Prinz eine doppelte Initiation: In die Ästhetik wie in den Eros. Es kann kein Zweifel bestehen, dass auch diese Probe und Versuchung auf den Armenier zurückgeht. Auch der Florentiner Künstler ist offenkundig – dies wird jedoch nicht aufgeklärt – ein Sub-Emissär des großen Unbekannten, Teil seiner multimedialen Verführungs- und Manipulationsstrategie. Sie setzt an bei der Affinität von Kunst, Religion und Sinnlichkeit. Die Analytik der Sinnlichkeit ist zugleich eine Analyse der Triebstrukturen der Kunst, insbesondere religiöser Kunst. Solche Sublimationen analysiert Schiller im Geisterseher nicht das erste Mal. Das libertine Triebdreieck aus Sexus, Katholizismus und Kunst begegnet bereits in dem 1778/79 entstandenen, (wohl) 1781 erschienenen Gedicht Der Venuswagen, das die barocke Allegorie des „Hurenwagens“ (v. 39) mit dem Genre der Ständesatire und der Petrarchesken Tradition der Trionfi kreuzt und vor dem Hintergrund eines imaginierten Schau- und Hexenprozesses gegen die „geile Fee“ (v. 99; v. 158: „Hexe“) ein Pandaemonium Veneris skizziert, das alle Lebensalter, Geschlechter und Stände – „Filosophen – Könige – Mat–––––––––––––– 270 NA 26, 225. 271 NA 16, 131.

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ronen“ (v. 9) – erfasst.272 Schiller entbrennt in dieser entfesselten Satire aus pietistischem Geist ein deklamatorisches Feuerwerk. Es richtet sich weniger gegen die „Mäze Zypria“ (v. 40) selbst, deren „Protokoll von Schanden“ zur Grundlage einer fingierten Gerichtsverhandlung wird, als gegen jene „Opfer des Gelustes“ (v. 33), die sich heuchlerisch ihrer Herrschaft unterwerfen. Der Venuswagen betreibt Entlarvungspsychologie gegen die „Pharisäer“ der Lust, gegen die „Viehmaskierung“. Insofern stellt es die eindringlichste lyrische Analytik der Sinnlichkeit im Frühwerk dar, mit motivischen Beziehungen zu Kabale und Liebe und vor allem zum Geisterseher. Im Zentrum stehen die Träger der spätfeudalen Gesellschaft: Hof, Regierung, Klerus. Sinnlichkeit wird als Sieg der tierischen Natur des Menschen über die geistige beschrieben, eine anthropologische Rolle rückwärts. Aus der rehabilitierten wird die denunzierte Sinnlichkeit, ein frühes Gegenstück zur harmonistischen commercium-Aufassung etwa der Götter Griechenlandes, aber auch zur neoplatonischen Liebesmystik der Anthologie-Gedichte auf Laura. Auch hier ist Liebe schon „Spindel“ [d.h. Achse] der Welt (v. 42), dies jedoch in einem ganz anderen Sinne als die kosmologische Liebe („amor mundanus“), die in Phantasie. An Laura „an Körper Körper mächtig reißt“ (v. 2). Zwischen beiden Texten liegt eine weltanschauliche Wende in Sachen Sinnlichkeit und Eros, die unmittelbar mit Schillers anthropologischen Reflexionen und Interessen im Umkreis des commerciumProblems in Verbindung steht. Vorerst bleibt es beim entschiedenen discidium der zwei Substanzen: der „Geist“ ist gebunden an „Keuschheit“ und „Tugend“, es ist die Liebe, die den Menschen in die „rosigte Charybde“ (v. 127) der Leidenschaften stürzt. Diese erfassen nach Fürsten, Fürstendienern und Künstlern („Genie“, v. 138) schließlich auch den geschützten Raum des Klosters („in geweihten Zellen“; v. 157) und der Kirche („des Doms Gewölbe“; v. 159). Schiller nutzt diesen Abschnitt zu einem scharf antikatholischen Ausfall; der anderen Konfession werden erotische Triebimpulse zugeschrieben, Szenerie und Argumentationssystem des Geistersehers sind hier bereits angelegt; anders als dort steht im Venuswagen die Frau als sexuell entfesseltes Wesen im Mittelpunkt. Analysiert werden die schweifenden Imaginationen der Betenden, deren „Träne(n)“ am „Rosenkranze glühn“ und „manchen Seufzer vor dem Cruzifixe“ (v. 162) ausstoßen. In ihnen zeigt sich Religion als Wahn und Selbsttäuschung: „Durch des Schleyers vorgeschobne Riegel / Mahlt die Welt –––––––––––––– 272 NA 1, 15-23; vgl. auch Schiller, Friedrich: Der Venuswagen. Unveränderter Ndr. der ersten Auflage von 1781 mit einem Nachwort von Norbert Oellers. Stuttgart/Weimar 1993.

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sich schöner“ (v. 165f.). (Katholische) Religion ist gefährliche, pathologische Schwärmerei, gebiert Trug- und Wahnbilder aus erhitzter Imagination, in der sich unterdrückte und sublimierte, „nimfomanisch(e)“ (v. 189) Antriebe verdichten. Gemünzt ist dies auf „junge Witwen“ wie „vierzigjährige Zofen / Feuriger Komplexion“, die als Klosterfrauen „allzufrüh der schönen Welt entflohn“ (v. 179). Das aus dem französischen roman libertin (z.B. D’Argens Nonnes galantes, ou l'Amour embéguiné, 1749 oder den fingierten Nonnenbeichten wie Diderots La religieuse, 1760/96) bekannte Stereotyp der nymphomanischen Klosterfrau wird hier einer anthropologischen Begründung zugeführt.273 In galliger Ironie schlüpft Schiller in die Rolle des Erfahrungsseelenkundlers, der den influxus religiöser Raserei auf die Blutzirkulation postuliert: Fromme Wut begünstigt heiße Triebe Gibt dem Blute freien Schwung und Lauf – Ach zu offt nur drükt der Gottesliebe Afrodite ihren Stempel auf. Nimfomanisch schwärmet ihr Gebete (Fragt Herrn Doktor Zimmermann), Ihren Himmel – sagt! was gilt die Wette? – Mahlt zum Küssen euch ein Titian!274

Der berühmte Haller-Schüler und „königlich großbritannische Hofrat und Leibarzt“ Johann Georg Zimmermann (1728-1795)275 hatte in seinem seit 1756 mehrfach aufgelegten Hauptwerk Über (Von) der Einsamkeit (1783-1785) auf die Gefahren mangelnder Beschäftigung für den Seelenhaushalt von Nonnen hingewiesen: „Solche Schwärmerinnen hat es indessen auch gegeben, die so sinnlich waren, daß sie Gott als ihren Buhler liebten“.276 Müßiggang und Isolation begünstigen in Verbindung mit einer entsprechenden Komplexion religiöse –––––––––––––– 273 Quester, Yong-Mi: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730-1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Tübingen 2006 (= Frühe Neuzeit 116). Noch 1796 fragt Schiller bei Herder um eine Übersetzung von Diderots Roman an. Johann Gottfried Herder: Briefe. Bd. 7: Januar 1793Dezember 1798. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1982, S. 204 (Nr. 203, an Schiller, 23.12.1795). 274 NA 1, 20f.; v. 185-192. 275 Seelenarzt und armer Tropf. Königlicher Leibarzt Johann Georg Zimmermann, 17281795. Beschreibung der Zimmermanniana im Stadtarchiv Hannover. Projekt der Fachhochschule Hannover, Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen 1994/1995. Mit einer Einleitung von Klaus Mlynek. Leitung: Hans-Peter Schramm. Hannover 1995; Schramm, Hans-Peter: Johann Georg Zimmermann – königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795). Vorträge, gehalten anlässlich eines Arbeitsgespräches vom 4. bis 7. Oktober 1995 in der Herzog-August-Bibliothek. Wiesbaden 1998. 276 Johann Georg Zimmermann: Von der Einsamkeit. Frankfurt/Leipzig 1780, S. 21.

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

Melancholie und Schwärmertum; unterdrückte Sinnlichkeit wird zum gefährlichen Treib- und Triebsatz der Religion – genauer: des Katholizismus. Neben Humes „hopes and fears“, von denen oben die Rede war, tritt das Begehren als drittes Stimulans von Religionsideen. Es ist unübersehbar, wie sich in Zimmermanns Analysen und Schillers Invektive protestantische Idiosynkrasien gegen die Altgläubigen Luft machen. Katholizismus ist nicht nur Aberglauben und Wahnidee, sondern Ausweis notdürftig verdrängter Triebimpulse. Solche Spekulationen über das Phänomen der Nymphomanie stehen Ende des 18. Jahrhunderts im Zeichen der Anthropologie. Die „Nymphomanie erweist sich als ein vorzügliches Beispiel für psychophysische Wechselwirkung“.277 Zimmermann selbst hatte bereits in der 1764 erschienenen Schrift Von der Diät für die Seele auf die stimulierende Wirkung von Liebestränken hingewiesen, um die Bedeutung des influxus physicus bei der Entstehung nymphomanischer Symptome zu betonen.278 Neben Zimmermann geht auch der führende Hallenser Mediziner Ernst Anton Nicolai (1722-1802) in seinen Gedancken von der Verwirrung des Verstandes, dem Rasen und Phantasiren (1758) auf das Krankheitsbild der „Manntollheit“ oder „Mutterwut“ als „Spielart der Raserei“ ein.279 Zum Zeitpunkt der Abfassung des Venuswagens lag bereits die wohl erste Spezialstudie zum Thema, J.D.T. de Bienvilles La nymphomanie ou traité de la fureur utérine (Amsterdam 1771), in deutscher Übersetzung vor.280 Schillers ironische Herleitung des religiösen furor aus der Nymphomanie zählt jedoch zu den singulären literarischen Belegen des Nymphomaniediskurses. Venuswagen setzt dabei die Ergebnisse der medizinisch-anthropologischen Traktate über Liebespassion und -pathologie ins Gedicht und betont dabei vor allem die sozialen Folgen entfesselter Sinnlichkeit. Nur wenige Jahre, nachdem am 4. April 1775 im Stift Kempten im Allgäu Anna Schwegelin als letzte Hexe in Deutschland der Prozess gemacht wurde, verlagert sich der Schauplatz der Hexenprozesse in die literarische Imagination und in die Anthropologie und –––––––––––––– 277 Košenina, Alexander: „Es leihe […] Trost der männertollen Dirne.“ Beiträge über Nymphomanie aus dem Umkreis von Ernst Anton Nicolai. In: Zelle, Carsten (Hg.): „Vernünftige Ärzte.“ Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19), S. 120-140, hier S. 120. 278 Johann Georg Zimmermann: Von der Diät für die Seele. Hg. von Udo Benzenhöfer und Gisela vom Bruch. Hannover 1995, S. 41. 279 Košenina: Nymphomanie, S. 125. 280 Nymphomanie, worinnen von den Ursachen, Anfange und Fortgange dieses gefaehrlichen Uebels gruendlich gehandelt wird. Nebst den bewährtesten Arzneimitteln und nöthigen Diät gegen dasselbe. Amsterdam 1772.

4. Libertinage und ästhetische Erziehung

219

Nosologie der Zeit. Von hier schließt sich der Bogen zur musikalischen Zauberin Laura in der Anthologie. Vorausweisend ist, wie schon 1778 der trianguläre Zusammenhang von Gottes-, Sinnen- und Kunstliebe als Symptom und Syndrom gesehen wird. Es ist die Kunst eines Tizian, an der sich der Umschlag von amor divinus und amor communis kristallisiert. Das Bild sublimiert keineswegs das Sinnliche, sondern provoziert es allererst. Religiöse und mithin katholische Sakralkunst aktiviert die vorhandenen Triebe des religiösen Furors und versinnlicht umgekehrt, was sich der sinnlichen Darstellung entzieht. Tizian repräsentiert eine katholisch-rinascimentale Kunst, bei der noch die sacrae imagines zu Lockmitteln der Sinnlichkeit werden. Wenn es in Fontanes Adultera heißt: „Er [Tizian; J.R.] versteht sich auf alles mögliche, nur nicht auf Madonnen. Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch“281, so wiederholt dies einen Topos schon des 18. Jahrhunderts. Tizian steht als Vertreter der Venezianischen Schule für die sinnliche Seite der Malerei, für Kolorit und Karnation. Lessing nennt ihn im Laokoon als Synonym des „vollkommensten Koloristen“.282 Seine „üppige, wollüstige Vollendung“ kontrastiert in der Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts mit „Raphaels erhabene(m) Ernst“.283 Tizian steht um 1800 für eine zu Perfektion und Illusion getriebene Nachahmung der Natur in ihrer sinnlich-natürlichen, daher auch ‚gemeinen’ Körperlichkeit. Daraus ergibt sich schon für Winckelmann ein ambivalentes Lob: Weiß er in seiner Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst zu berichten, dass „die berühmte Venus vom Titian in der Tribuna zu Florenz [...] nach der gemeinen Natur gebildet [ist]“284, so stellt die Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen anerkennend fest: „Im Kolorit des Nackenden sind Correggio und Tizian die Meister unter allen, denn ihr Fleisch ist Wahrheit und Leben“.285 –––––––––––––– 281 Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hg. von Peter Goldammer / Gotthard Erler / Anita Golz / Jürgen Jahn. Berlin und Weimar 21973, hier Bd. 3, S. 137. 282 Lessing: Werke, Bd. 6, S. 135. 283 Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hg. von Gerhard Steiner. Leipzig 1967-1970, Bd. 2, S. 672 (Kap. 21). 284 Winckelmann, Johann Joachim: Kleine Schriften – Vorreden – Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin/New York 22002 (zuerst 1968), S. 153. 285 Ebd. S. 162. Seine „sinnliche Wahrheit“ steht dabei, so Wilhelm Waiblinger, der „höhere(n) geist’ge(n)“ eines Correggio oder Raffael komplementär gegenüber: „Hätte Tizian’s Pinsel die Seele Guido’s [Guido Renis; J.R.] geführet, / Säh' ich Vollendung im Bund geist’ger und sinnlicher Kraft.“ Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien. Hg. von Eduard Grisebach. 2 Bde., hier Bd. 2: Oden und Elegien aus Rom, Neapel und Sicilien. Leipzig 1895, S. 56.

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IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

Dass auch Schiller in Venuswagen auf Tizians notorische VenusAkt(e) abhebt, ist aus dem Kontext leicht ersichtlich („Aphrodite“). Noch der geheimnisvolle toskanische Maler des Geistersehers hat in seinem Angebot eine „fast ganz unbekleidete Venus“.286 Die Reichweite der frühen Bildkritik berührt jedoch darüber hinaus Grundsätzliches. Nicht nur Tizian, sondern die Praxis des religiösen Bildes insgesamt erscheint als Symptom libidinöser Bildbegierde, als Idolatrie und Bildfetischismus. Die klassische Ästhetik wird sich mit dem Thema der ästhetischen Konkupiszenz, der Schaulust als Kehrseite einer rehabilitierten Sinnlichkeit weiter zu beschäftigen haben – zuerst und vor allem in Den Künstlern, die der Spannung zwischen sinnlicher („Cypria“, jetzt als Mittlerin nicht mehr als „Mäze“) und übersinnlicher Liebe nur dadurch zum Ausdruck verhelfen können, dass sie die ästhetische Hülle zum Medium der Darstellung des bzw. der „hüllenlosen“ Wahrheit – nuda veritas – machen. Kunst bleibt für Schiller ein gefährliches Spiel, das konstitutiv in die Abgründe der Sinnlichkeit verstrickt ist. Dies garantiert andererseits, dass Kunst bei Schiller nicht, wie es Nietzsche Kant vorhält, „zum kastrierten Hedonismus, zu Lust ohne Lust“287 wird, sondern zu einem fortgesetzten Spiel mit der sinnlichen Provokation: sei es in Form von Bildern oder in Form reizender Weiblichkeit. Wie in der Moralphilosophie meidet Schiller den „Weg einer finstern und mönchischen Asketik“288, Ästhetik und Anthropologie, die schon am Punkt der größten Annäherung dem großen Antipoden Kant zugeschrieben wird.289 Schillers Position zur ästhetisch rehabilitierten Sinnlichkeit ist eine mittlere. Heinses proto-dionysische Perspektive wird motivisch, nicht in der Tendenz aufgenommen. Der Geisterseher versieht sie mit prohibitiven Vorzeichen. Auch der junge Schiller bleibt innerhalb der Ästhetik der Asketik verpflichtet; er warnt daher konsequent, die schlechte mit der guten Sinnlichkeit zu verwechseln. Dass es dieser Warnung bedarf, weist auf die Gefahr hin: Denn wo keine Verwechslungsgefahr besteht, erübrigt sich der Hinweis auf die Unterscheidung. Diese Gefahr der Verwechslung wird jedoch in Ueber Anmut –––––––––––––– 286 NA 16, 131. 287 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 25. 288 NA 20, 284: „In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“ 289 Vgl. einen Brief an Goethe, der die Lektüre von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht kommentiert (NA 30, 15): „Es ist immer noch etwas in ihm, was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöfnet hat, aber die Spuren deßelben nicht ganz vertilgen konnte.“

4. Libertinage und ästhetische Erziehung

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und Würde mehrfach betont: Der „Wollustreiz, stimulus“ hält dem Sinn einen „sinnliche(n) Stoff“ vor, „der ihm Entledigung von einem Bedürfniß, d.i. Lust verspricht. Der Sinn ist also bestrebt, sich mit dem Sinnlichen zu vereinbaren, und Begierde entsteht, ein Gefühl, das anspannend für den Sinn, für den Geist hingegen erschlaffend ist“.290 Der Weg von der sinnlichen zur geistigen Lust, von Cypria zur Urania, bleibt prekär. Nur in homöopathischen Dosen darf Sinnlichkeit als Kunst zur Sensibilisierung und Totalisierung des Menschen verwendet werden. „Wahre Schönheit, wahre Anmut soll niemals Begierde erregen“, weder Lust also noch ‚Vorlust‘. Dem Kunstkenner wird daher als Notabene ins Stammbuch geschrieben: „Wo diese [Begierde; J.R.] sich einmischt, da muß es entweder dem Gegenstand an Würde, oder dem Betrachter an Sittlichkeit der Empfindungen mangeln“.291 Das Verhältnis zwischen erotischem und ästhetischem Blick bleibt für Schiller kontradiktorisch. Der ästhetische Schein muss, wie es im 26. Brief heißt, „aufrichtig“ und „selbstständig“ sein, er darf nicht „Realität heuchel(n)“292, mithin nicht zur Versenkung und zum Vergessen der ästhetischen Distanz hinreißen, wie es dem Prinzen im Angesicht der gemalten Madonna geschieht. In den Ästhetischen Briefen kehrt sich die Situation des Geistersehers um. Nicht die Kunst schiebt sich „betrügerisch“ vor das Leben, sondern das Leben vor die Kunst: „Eine lebende weibliche Schönheit wird uns freylich eben so gut und noch ein wenig besser als eine eben so schöne, bloß gemahlte, gefallen“.293 Sie gefällt jedoch nicht als „selbstständiger ästhetischer Schein“; der ästhetische Blick fällt zurück in den erotischen. Zwischen beiden besteht kein Austausch oder Übergang, keine genealogische Beziehung im Sinne von Transformation, Sublimation oder ‚Aufschub‘294. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass Schiller einerseits die „lebende Gestalt“ zum Gegenstand des Spieltriebes und zum Inbegriff von Kunst erhebt295, andererseits jedoch die lebende (d.h. konkrete) weibliche Schönheit für ästhetisch irrelevant erklärt296. Hier –––––––––––––– 290 291 292 293 294

NA 20, 302. NA 20, 304f. NA 20, 402. Ebd. Vgl. dazu die folgende Stelle: Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse. In: Das Seminar VII. Weinheim 1996, S. 287 („Die Funktion des Schönen“): „Die Wirkung des Schönen ist, das Begehren aufzuschieben, es zu mindern, es zu entwaffnen, wie ich sagen könnte. Die Erscheinung des Schönen schüchtert das Begehren ein, sie untersagt es.“ 295 NA 20, 355 (15. Brief). 296 Hierin war Edmund Burke nicht so entschieden. Er betonte zwar, „daß sich die Schönheit und die von ihr verursachte Begierde durchaus unterscheidet, obgleich Be-

222

IV. Genealogie des ästhetischen Scheins. ›Der Geisterseher‹

liegt ein Widerspruch, der innerhalb einer dualistischen, letzthin platonischen Anthropologie und Ästhetik nicht aufzulösen, sondern nur zu markieren war. Daran, dass „man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen ‚ohne Interesse’ anschauen könne“297, besteht für Schiller – anders als für Nietzsche – kein Zweifel. Bei allen Spitzen gegen die ‚mönchische‘ Asketik Kants ist doch das asketische Ideal des „interesselosen Wohlgefallens“ vielleicht jenes Theoriemoment, das Schiller schon avant la lettre am unmittelbarsten und nachhaltigsten eingeleuchtet hat, weil er es von seinen beiden Komponenten her – der erotischen wie der ästhetischen Seite – seit den Tiraden des Venuswagens selbst immer wieder erprobt hatte. Schiller hat die Antithetik von guter und schlechter Sinnlichkeit als Konflikt zweier Schein-Welten beschrieben, nicht wie Kant als Anoder Abwesenheit von materiellem Interesse. Es ist die Erfahrung mit der (bildenden) Kunst und den medialen Tausendkünstlern, die Folie des Geistersehers also, die am Ende der Ästhetischen Briefe zu einer Generalunterscheidung des ästhetischen vom hedonistischen Verhältnis zu den Dingen verallgemeinert wird. Was jedoch in der Theorie leicht zugunsten „Kanntischer Grundsätze“ entschieden werden kann, gestaltet sich in der Literatur als spannungsvoller Prozess – schon weil sie stets auch das zeigen muss, was im Zeigen durchgestrichen und exorziert werden soll.

––––––––––––––

gierde bisweilen mit ihr zusammenwirken mag.“ Burke: Vom Erhabenen und Schönen, S. 128. An Goethe schreibt Schiller am 12.9.94 über Friedrich Wilhelm von Ramdohrs Arbeit an Venus Urania, Ueber die Natur der Liebe, ueber ihre Veredelung und Verschönerung (Leipzig 1798) abfällig (NA 27, 44f.): „Wie er mir sagt, so schreibt er jetzt an einem Buch über die Liebe, worinn bewiesen seyn wird, daß reine Liebe nur bey den Griechen statt gefunden habe. Seine Ideen über Schönheit hohlt er ziemlich tief von unten herauf, denn er ruft dabey den Geschlechtstrieb zu Hilfe.“ 297 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 347 (Zur Genealogie der Moral, 3. Teil, Kap. 6).

V. Die Künstler. Vorgeschichte der ästhetischen Erziehung V. ›Die Künstler‹ 1. Bildersprache

1. Bildersprache 1.1. Das Problem des Lehrgedichts

Dass die Künstler, Schillers längstes und für sechs Jahre letztes Gedicht, einen ästhetischen „Paradigmenwechsel“1 nach längerer Schaffenskrise bedeuten, ist vielfach betont worden2. Als „ästhetisches Glaubensbekenntnis“3 stellen sie den Versuch einer „poetischen Selbstverständigung über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft“4 dar. Zweifellos sind sie auch – biographisch wie thematisch – ein Stück „Schwellenrhetorik“5, verfasst in eschatologischer Emphase „an des Jahrhunderts Neige“. Die Künstler waren für ihren Autor jedoch nicht nur ein „letzte(s) Jugendgedicht“6 und Initiation in den Klassizismus, sondern vor allem und zunächst eine publizistische Enttäuschung: „Das Gedicht ist übrigens zu ausgezeichnet, um daß nicht öffentliche Urtheile darüber gefällt werden sollten“7, hatte Schiller eingedenk der bewusst entfesselten Schlacht um die Götter Griechenlandes geschrieben. „Wir wollen sie erwarten.“ Die eher „verhaltene –––––––––––––– 1 2

3 4 5 6 7

Bernauer: Schöne Welt, S. 131. Bernauer bietet auch (ebd. S. 131-159) die beste Zusammenfassung der Zeugnisse zur Textgenese und zur Auseinandersetzung mit Wieland, Moritz und Körner. Mit der größten Emphase von Claude David: „Mit ihm überschreitet Schiller feierlich die Schwelle zur Klassik.“ C.D.: Schillers Gedicht Die Künstler. Ein Kreuzweg der deutschen Literatur. In: Ders. (Hg.): Ordnung des Kunstwerks. Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur zwischen Goethe und Kafka. Göttingen 1983, S. 45-61, hier S. 45. Oellers, Norbert: Schillers Das Reich der Schatten und Das Ideal und das Leben – ein Gedicht? In: Lützeler, Heinrich (Hg.): Kulturwissenschaften. Festgabe für W. Perpeet. Bonn 1980, S. 292-305, hier S. 299. Malles, Hans-Jürgen: Fortschrittsglaube und Ästhetik. In: Oellers, Norbert (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 1996, S. 98-112, hier S. 99. Brendecke, Arndt: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung. Frankfurt/Main 1999, S. 199. Gombrich: Das Symbol des Schleiers, S. 103. An Körner, 9.3.1789; NA 25, 220.

V. ›Die Künstler‹

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öffentliche Reaktion“8 enttäuscht diese Hoffnung auf einen neuerlichen publizistischen Coup empfindlich. Am 24. Juni schlägt Körner vor, im Zusammenhang mit einer Rezension des Teutschen Merkur für die ALZ auch die Künstler zu besprechen. Der Plan scheitert. Erst im Oktober 1790 erscheint in der von Bürger herausgegebenen Akademie der schönen Redekünste eine ausführliche anonyme Besprechung, verfasst von August Wilhelm Schlegel.9 Schiller ist erfreut: „So würde mir doch der Wunsch erfüllt, daß nicht ganz davon geschwiegen wird“.10 Schiller dankt Schlegel am 5.10.1795 für sein „geistreiches Urtheil“.11 Eine publizistische Kontroverse wie bei den Göttern Griechenlandes, bei der Bürger-Rezension oder im Xenien-Streit bleibt jedoch aus, der Skandal findet nicht statt. Um so aufschlussreicher ist im Fall der Künstler die interne Diskussion um das Gedicht, die Schiller mit Körner und Wieland führt. Sie belegt einmal mehr den dialogischen und dynamischen Zug seiner Arbeit. Wie kein anderer Text repräsentieren die Künstler den ganzen Schiller: den Lyriker und Lyriktheoretiker, den Anthropologen und Aisthesiologen, den Universalhistoriker und –pädagogen, den Kulturtheoretiker und Wissenspoetologen und – mit Max Kommerell – den „Verschwörer“.12 Das Gedicht versammelt aber auch alle Streitfragen der klassischen Ästhetik: Die Synthese von Bild und Begriff, das Problem einer didaktischen Lyrik, Autonomie und Heteronomie der Kunst, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft etc. In den Künstlern wird ein Fundus an Themen erarbeitet, der bis in die Phase der Ästhetischen Briefe verbindlich bleiben wird. Deren erste „zehn Bogen“, schreibt Schiller später, zehren noch von den „reichhaltigsten Ideen aus den Künstlern“13, die hier neben und unter den „Kantischen Grundsätzen“ philosophisch ausgeführt sind. Vor der Kantlektüre verfasst, enthalten sie „eigentlich in nuce alles, was Schiller später von Kant übernommen zu haben scheint“.14 Wie kein anderer Text eignen

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NA 2/ II A, 192. Ueber die Künstler, ein Gedicht von Schiller. In: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Bd. 7: Vermischte und kritische Schriften. Leipzig 1846, S. 3-23. An Körner 1.11.1790; NA 26, 55. NA 28, 69. Kommerell: Der Dichter als Führer, S. 179: „Der Verschwörer wird die Mitte all seines Dichtens und Sinnens, ein Verschwörer wird Schiller selbst mit seinem echtesten Ich.“ 10.12.1793; NA 26, 336. Borchmeyer, Dieter: Diskussion. In: Wittkowski, Wolfgang (Hg.): Friedrich Schiller: Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen 1982, S. 217.

1. Bildersprache

225

sie sich daher, die Reichweite des Kantischen Einflusses ex negativo abzustecken15. Die Künstler stoßen von Anfang an auf gemischte Reaktionen. Die Bandbreite der Urteile reicht von „Tiefsinn“ (A.W. Schlegel) bis „allegorisches Monster“ (C. David). Als prekär wird das Verhältnis von Form und Inhalt empfunden. Alle Rezensenten und Interpreten stehen vor der zwiespältigen Aufgabe, aisthesiologischen und ästhetischen Rang des Textes gegeneinander abzuwägen, die von Schiller selbst eingeräumten poetischen Schwächen durch die vorausweisende Theoriebildung im Vorschein der Klassik zu entschuldigen. Für die Künstler ist diese Ambivalenz prekär, steht und fällt doch mit der poetischen Durchführung und Vorführung auch das ästhetische Programm. In der Forschung sind die merkwürdigen Signaturen der Künstler als philosophisches bzw. als Lehrgedicht kaum einmal präzise gefasst worden.16 Innerhalb dieser Tradition bezeichnen die Künstler einen Sonderfall: ein Lehrgedicht über das Lehrgedicht, didaktische Poesie zweiten Grades.17 Was die Kunst vermittelt, tritt dabei hinter das Wie (Methodik, Epistemologie etc.) und das Wozu (Funktion, Effekt, Telos) zurück.18 Es geht um den Status, nicht die Struk–––––––––––––– 15 16

17

18

Pugh, David: Die Künstler. Schiller’s Philosophical Programme. In: Oxford German Studies 18/19 (1989/90), S. 13-22, hier S. 13. Hildebrand, Olaf: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln u.a. 2003; Pott, Sandra: Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin/New York 2004. Zu Schiller Hinck, Walter: Wissenschaft zum Kunstwerk geadelt: Schillers poetologische Lyrik. In: Wittkowski, Wolfgang (Hg.): Revolution und Autonomie. Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, S. 297-313; Martin, Dieter: Gedichtete Gedanken. Schillers poetologische Lyrik. In: Sasse, Günter (Hg.): Schiller – Werkinterpretationen. Heidelberg 2005, S. 221-242 (zur Nänie, ohne Berücksichtigung der Künstler). Dass solch reflektiertes Sprechen über die eigenen Voraussetzungen überhaupt möglich wird, versteht sich nicht von selbst. Es wird erst aus dem historischen Augenblick „an des Jahrhunderts Neige“ und aus der erreichten Stufe der Zivilisierung heraus denkbar: Wo der Barbar nur der ästhetischen Erziehung zugänglich ist und der „leichten Räthsel“ (v. 25) bedarf, um „das Geheimniß der erhabnen Tugend“ (v. 24) zu erschließen, verfügt der mündige (d.h. der aktuelle) Leser „mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle“ (v. 4) nun über Fühlen und Denken gleichermaßen. Diese Bedeutung der Epistemologie und der „Erkenntnismodi“ betont Costazza, Alessandro: „Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein, Das malerische Tal – auf einmal zeiget.“ Die ästhetische Theorie in Schillers Gedicht ‚Die Künstler’. In: Alt, Peter-André / Košenina, Alexander/ Reinhardt, Hartmut / Riedel, Wolfgang (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Würzburg 2002, S. 239-263, hier S. 252: „[E]s ist geradezu erstaunlich, mit welcher Genauigkeit sich Schiller in seinen erkenntnistheoretischen Reflexionen im Gedicht implizit auf dieses philosophische System bezieht.“ Vgl. Pelzer, Barthold: Schillers „Die Künstler.“ Ein Gedicht im Spannungsfeld unterschiedlicher Erkenntnismodi Kunst – Geschichte – Wissenschaft. In:

V. ›Die Künstler‹

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tur der Kunst. Alles Technische und Poetologische im engeren Sinne bleibt ausgespart. Nie wird deutlich, wie Kunst und näherhin Dichtung auszusehen hätte, welche die „Schätze, die der Denker aufgehäufet“ ästhetisch vermittelt, wie die „Wissenschaft, der Schönheit zugereifet, zum Kunstwerk geadelt seyn“ könnte (v. 403ff.).19 Das Problem der didaktischen Poesie ist schon im Austausch mit Wieland zentral. Wieland, so schreibt Schiller an Körner, wolle es „nicht für ein Gedicht erkennen, sondern für philosophische Poesie, von der Art, wie Youngs Nächte und dgl. Eine Allegorie die nicht gehalten sey, sich alle Augenblicke entweder in eine neue Allegorie verliere, oder gar in philosophische Wahrheit übergehe“.20 Hier werden zwei Vorwürfe laut. Der erste betrifft die Inkohärenz der Bilder, der zweite die (unzulässige) Vermischung von Poesie und Philosophie, mit Wielands Worten: „das Durcheinanderwerfen poetisch wahrer und wörtlich wahrer Stellen“.21 Schiller pflichtet dem grundsätzlich bei: „Es ist ein Gedicht und keine Philosophie in Versen; und es ist dadurch kein schlechteres Gedicht, wodurch es mehr als ein Gedicht ist“.22 August Wilhelm Schlegel stimmt dieser Auffassung in seiner Rezension zu, indem er Die Künstler als „didaktisches Gedicht“ bezeichnet, als „lehrende, aber mit und durch Begeisterung lehrende Rhapsodie“.23 Dies bedeutet jedoch keine Abwertung der Form, im Gegenteil. Schlegel betont den epistemologischen Eigenwert einer ästhetischen Mitteilung philosophischer Inhalte, indem er im Rückgriff auf die Odentheorie rezeptionstheoretisch argumentiert und in der Tradition Wolffs und Baumgartens auf die Eigenart der unteren Erkenntniskräfte („verworrene Gefühle“) hinweist, denen eine eigene, wenngleich nur propädeutische Berechtigung zukomme: „[S]o ahnden wir –––––––––––––– 19

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Knobloch, Eberhard (Hg.): Wissenschaft – Technik – Kunst. Interpretationen – Strukturen – Wechselwirkungen. Wiesbaden 1997 (= Gratia 31), S. 165-181. Man mag an ein physikalisch-kosmologisches Lehrgedicht über Newtons Mechanik, verfasst im Ton und Gestus der ‚alten’ Lehrdichtungen eines Lukrez, Vergil, Ovid oder Manilius denken, die Schiller aus dem Lateinunterricht vertraut waren. Näher standen Schiller sicher die neuen Klassiker des anthropologisch-weltanschaulichen Lehrgedichts vor Augen: Popes Essay on Man und insbesondere die Lehrgedichte Albrecht von Hallers (v.a. Die Alpen), die Schiller bei seiner Würdigung der „didaktischen Poesie“ in Ueber naive und sentimentalische Dichtung als prekäres Muster zitiert (NA 20, 453). Ein erhaltenes Schulheft Schillers (wohl 1779) nennt unter den Autoren von Lehrgedichten eine größere Zahl: „Haller, Creuz, Hagedorn, Cronegk, Dusch, Kästner, Witthof, Wieland, Gellert, Cramer, Opitz.“ Unter den französischen Autoren erscheinen „Racine, Chapelle, Boileau, Voltaire.“ NA 41/ II A, 211. 25.2.1789; NA 25, 211 NA 2/ II A, 182. An Körner, 9.3.1789; NA 2/ II A, S. 183. Schlegel: Ueber die Künstler, S. 4 bzw. S. 3.

1. Bildersprache

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die Wahrheit, so lange bis hellere Erkenntniß die Ahndung widerlegt, oder sie in Ueberzeugung verwandelt“.24 Schlegel findet für diese mittlere Erkenntnisform den schönen Begriff „Wahrheitsgefühl“25. Gelingt es dem Dichter, diesen poetisch-rhapsodischen Modus zu verwirklichen bzw. im Leser zu aktivieren, ohne „didaktischer Umständlichkeit“ zu verfallen, dann ist die „dichterische Behandlung nicht mehr willkürliche Auszierung [...], sondern nothwendiges Werkzeug der Ideen-Mittheilung“.26 Schlegel beantwortet damit die durch die Künstler aufgeworfene Frage nach den Erkenntnispotentialen und –modi der Dichtung positiv, d.h. im Sinne einer Tradition „anschauender Erkenntnis“ (cognitio intuitiva), die sich gegenüber der „abstrakten“ (d.h. diskursiven) Philosophie abgrenzt bzw. ihr einen alternativen Weg über den „Sinnenpfad“ (v. 69) weist27. In und an den Künstlern wird noch einmal der Grundimpuls der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die Rehabilitation der Sinnlichkeit als Rehabilitation der Bilder und des „Denkens in Bildern“28 offenbar. Im Gespräch mit Wieland um die Autonomie der Kunst stellt sich die Frage nach der spezifischen Erkenntnisleistung der Dichtung neu. Es mag dieser am Ende ungelösten Frage geschuldet sein, dass Schiller in den Künstlern nicht über die Einkreisung des Problems hinaus gekommen ist. Die späteren Kommentare zur Legitimität einer didaktischen Poesie deuten jedenfalls an, dass sich Schiller der Position Wielands – und Kants – angeschlossen und jede Zweckbindung von Kunst abgelehnt hat. Die beiden wichtigsten Maximen der klassischen Ästhetik – Autonomie der Kunst und Freiheit des Lesers – sprechen gleichermaßen gegen didaktische Dichtung. Daher findet Schiller in den Ästhetischen Briefen den „Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst“ schlicht „widersprechend“, denn „nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als –––––––––––––– 24 25 26 27

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Ebd. S. 4. Ebd. S. 5. Ebd. S. 3 bzw. 5 Hier kommt die Mythologie als poetischer Thesaurus schlechthin in den Blick. Die Theorie der „anschauenden Erkenntnis“ verwirklicht sich in der Mythologie, zu sehen etwa bei Herder: „Bilder der Wahrheit muß sie also uns nicht geben; aber wir nutzen sie auf einer andern Seite, der sinlichen Schönheit wegen.“ Herder: Neuerer Gebrauch der Mythologie. In: Werke Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt/Main 1985, S. 432-455, S. 433. Vgl. ebd. S. 442: Die Mythologie ist als „eine Quelle sehr lebhafter Bilder anzusehen, aus der ich welche herausheben kann, um meinen Gedanken gleichsam in sie zu kleiden, daß er sinnlich anschauend erscheine, die Aufmerksamkeit bis zur Täuschung beschäftige, und durch die Illusion reize.“ Koopmann: Denken in Bildern, S. 218-250.

V. ›Die Künstler‹

228

dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben“.29 In Ueber naive und sentimentalische Dichtung widmet Schiller den „Lehrgedichten“ keinen eigenen Abschnitt; eher beiläufig kommt er im Abschnitt über elegische Dichtung auf das Genre zu sprechen, für das ihm Hallers Alpen und Klopstocks Messias stehen. Den Übergang bietet Hallers Elegie auf den Tod seiner Frau Mariane. Schiller sieht den „Widerspruch“ einer „didaktische(n) Poesie“ auch hier im Konflikt zwischen Bilder- und Begriffswelt, der nun zugleich die Spannung zwischen „naiver“ und „sentimentalischer“ Empfindungsweise spiegelt: „Nur diese zwei Felder besitzt die Dichtkunst; entweder sie muß sich in der Sinnenwelt, oder sie muß sich in der Ideenwelt aufhalten, da sie im Reich der Begriffe oder in der Verstandeswelt schlechterdings nicht gedeihen kann“.30 Hallers Alpen und Klopstocks Messias sind durch ihren „übersinnliche(n) Stoff“ notwendig von der naiven Gattung ausgeschlossen. Haller wird kritisiert, weil in seinen Gedichten „der Gedanke selbst […] kein dichterischer Gedanke“ ist, allenfalls der „Gebrauch der Bilder“.31 Lehrdichtung ist eine unmögliche Gattung: „Noch, ich gestehe es, kenne ich kein Gedicht in dieser Gattung, weder aus älterer noch neuerer Litteratur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinaufgeführt hätte“.32 Das Lehrgedicht wirft gleich doppelt jene Schwierigkeit auf, vor welche die Kallias-Briefe jede Dichtung als sprachliche Form stellen: über den „Umweg“ der Begriffe (d.h. Wörter) Bilder produzieren zu müssen. Didaktische Poesie potenziert dieses Hindernis, da nicht nur ihr Medium (die Sprache selbst), sondern auch ihr Inhalt zum Begriff drängt: „Dasjenige didaktische Gedicht, worin der Gedanke selbst poetisch wäre und es auch bliebe, ist noch zu erwarten“.33 Man kann den Exkurs zur didaktischen Poesie im späteren Essay als Auseinandersetzung mit den eigenen Künstlern lesen. Das ungeklärte Verhältnis von Bild und Begriff, Deixis und Diskurs, Kunst und Philosophie ist nicht nur das entscheidende und einzige Thema des Gedichts, es gibt auch den Tenor seiner Rezeption vor – bis hin zur paradoxen Rede von der „Ausweisung des Lyrischen aus der Lyrik“34, die Schillers Vorbehalte gegenüber dem Genus gegen den Autor selbst wendet. Neben der Schwulst- und Pathoskritik („Gefahr des –––––––––––––– 29 30 31 32 33 34

NA 20, 382. NA 20, 453. NA 20, 453f. NA 20, 453. Ebd. H. Schlaffer: Ausweisung.

1. Bildersprache

229

großen Wortes“35) ist die Bildlichkeit daher immer wieder das zentrale Thema der Forschung gewesen. Drei Irritationen durch das Schiller’sche Bildgebaren lassen sich ausmachen: 1. Die „formale Störung der Bildlogik“36, jene Sprünge und abrupten Übergänge der Argumentation, die im Horizont der maßgeblichen Odentheorie der Zeit formale Äquivalente des „beau désordre“ darstellen. Hier wird die „Logick der Phantasie“37 zugleich erfüllt, ins Extrem getrieben und zerstört. 2. Das Problem der Unschärfe bzw. der „Unbegrifflichkeit“ (mit Blumenberg). Es kommt dort zum Tragen, wo dieselben Bilder zur Bezeichnung unterschiedlicher oder konträrer Aussagen verwendet werden (z.B. „Reife“, „Spiegelung“, „Ketten“, „Schatten“ etc.).38 Diese Unschärfe ist der allegorisch-mythologischen Dichtung gattungshaft inhärent. Schon Herder fordert für die Mythologie, dass die „Anspielung vielsagend, die Wortblume ein Schmuck der Materie, die Vergleichung natürlich und belebend, die Einkleidung poetisch, täuschend und schöpferisch, die Fülle der Bilder redend, lebhaft und beschäftigend ist“.39 3. Beide genannten Aspekte können zugleich dem Feld der obscuritas-Kritik zugeordnet werden. Körner hatte an den Künstlern die „Dunkelheit im Ausdruck“40 bemängelt, und Schiller gibt ihm brief lich recht. Diese obscuritas geht teils aus „Spitzfündigkeit“41 hervor, teils ist sie ästhetisch kalkuliert. So ist „die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit“ nicht nur die „Hauptidee des Ganzen“42, sondern auch wesentliches Element seiner ästhetisch-imaginativen Praxis. Die Künstler sind schon deshalb ein prekäres Lehrgedicht, weil sie zugleich zeigen und verbergen, Geheimnis („Räthsel“) und Offenbarung sein wollen. Die Poetik der Evidenz gerät in Konkurrenz zu einer Poetik der Verhüllung und des Schleiers.43 Tatsächlich scheint im Schreiben der didaktische Wille zur Enthüllung der –––––––––––––– 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ueding, Gert: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971, S. 79-88. H. Schlaffer: Ausweisung, S. 530. Breitinger, Johann Jacob: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und Gebrauche der Gleichnisse. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr. Stuttgart 1967, S. 3. Pugh: Dialectic of Love, S. 225. Herder: Neuerer Gebrauch der Mythologie, S. 444. An Körner, 30.3.1789; NA 25, 236. An Körner, 30.8.1788; NA 25, 97. An Körner, 9.2.1789; NA 25, 199. Schon A.W. Schlegel hatte einen „sich versteckende(n) Tiefsinn, der dem Leser allen Genuß des Denkens giebt, ohne ihn die Anstrengung dabei ahnden zu lassen“, als den „Charakter der Schiller’schen Werke“ ausgemacht. Schlegel: Ueber die Künstler, S. 7.

V. ›Die Künstler‹

230

Wahrheit mehr und mehr in den Hintergrund zu treten, während „diese Hülle allmählich das eigentlich Wesentliche bedeutet“.44 Die Bedeutung der Künstler für Schillers Entwicklung liegt mithin darin, dass sie die Medienmetaphern des Geistersehers fortsetzen bzw. in poetisch-rhetorische Praxis der Metapher und des Symbols verwandeln. Schleier, Hülle und Gewand sind auch hier doppelsinnige Medien und poetische Mittelkräfte, die zugleich Wahrheit ver- und enthüllen. In dieser neuen Form einer dunklen Didaktik liegt die eigentliche Leistung und paradoxe Qualität Der Künstler. Schillers Bilder „erzeugen die Idee, umkleiden sie nicht bloß mit einem dichterischen Schmuck“.45 Das Verhältnis von Bild und Begriff ist dabei eingelassen in den „unvollendbaren Vorgang der Abstimmung von anschaulichem Zeichen und Gedankeninhalt“46, der nicht nur harmonische Synthesen im Begriffsbild ergibt, sondern immer wieder semantische Rückstände bewahrt und Widerstände erzeugt. Hier setzen die folgenden Überlegungen an: Den Metaphern der Künstler ist eine sinnliche Eigendrift beigegeben, ein „unbewußte(r) und vorbewußte(r) Hof der Worte“47, der mitunter den begrifflichen Gehalt weniger zu stützen als zu subvertieren scheint. Konkret bedeutet dies, dass die Bilder der Schönheit gerade jene Sinnlichkeit induzieren, die laut Programm durch sie exorziert werden soll.48 Die Nobilitierung der „Mäze Zypria“49 zur „sanften Cypria“50 gelingt daher nur vordergründig. Das Bild dementiert den Begriff, der sich aus ihm durch Sublimierung erhebt. Aus dieser Friktion von Signifikant und Signifikat, Sinnlichkeit des Bildes und Geistigkeit des Begriffs ergibt sich eine Spannung, die sich hermeneutisch-heuristisch fruchtbar machen lässt. Bilder – dies wurde schon in der Einleitung betont – sind Textfenster, die Ausblicke eröffnen auf jene Energien, die in ihnen verschoben und verarbeitet sind. Die wichtigsten Bezugs- und Herkunftsfelder solcher Energien sind 1. die zeitgenössischen kulturellen Wirklichkeiten und 2. die psychischen Trieb- und Verdrängungsökonomien. Die Venusfigurati–––––––––––––– 44 45 46 47 48

49 50

Wiese: Schiller, S. 414. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 254. Ebd. Müller-Braunschweig, Hans: Unbewußter Prozeß und Objektivierung. Gedanken zum kreativen Schreiben. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche 2 (1984), S. 75-100, hier S. 89. Pugh: Dialectic of Love, S. 228 weist auf Schillers Strategie der gleitenden Metapher hin: „Schiller’s strategy, then, is the reconciliation of chorismos and methexis by subsuming both under a series of metaphors, and this procedure is epitomized in the unification of the two Venuses.“ So in Venuswagen; NA 1, 16; v. 40. NA 1, 213; v. 433.

1. Bildersprache

231

onen der Künstler zeigen, wie „interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen“ entsteht oder – psychoanalytisch gewendet –, wie die sinnliche Form als „Vorlust“ und „Verlockungsprämie“ fungiert, die erst die größere Lust am verbotenen Phantasie-Inhalt ermöglich(t)“.51 Die Künstler beruhen geradezu auf dieser Dialektik von Vorlust und finaler Lust, verhülltem und enthülltem Anschauen, (sinnlichem) Bild und (geistigem) Begriff. In dieser Dialektik spiegelt sich zugleich die platonische Theorie des Aufstiegs von der körperlichen zur geistigen Liebe. Was Freud als „eigentliche Ars poetica der Kunstarbeit“ bezeichnet, die „Milderung des Anstößigen“ durch „Mechanismen der Verdichtung [und] Verschiebung“, ist zugleich die eigentliche Ars poetica des Schiller’schen Lehrgedichts. Schiller selbst hat die dunklen, unbewussten und assoziativen Elemente des Schaffensprozess mehrfach beschrieben. Er spricht von einem „freyen Bilderstrome“52, von der ersten „dunkle(n), aber mächtige(n) Totalidee“53 oder von einem musikalischen Kristallisationskern54. Die Bilder sind mithin nicht nur bewusst und artistisch, sondern auch triebökonomisch determiniert. Sie dienen der Abfuhr jener erotischen Energien, die im Begrifflichen gerade unterdrückt werden sollen. Die Semantik der sinnlichen Attraktion (Bezauberung, Reiz, Liebe, Nacktheit) deutet an, dass Schiller um die erotische Wirkung und Attraktion der Kunst, repräsentiert im Gürtel der Venus, weiß.55 Auch in den Künstlern gilt: „Noch im Übersinnlichen wird sinnlich geschwärmt und im Sinnlichen die Pforte zur Ewigkeit aufgerissen“.56 Gerade dort, wo die Disziplinierung der Sinnlichkeit („verschämtere Begierde“) gefordert wird, schafft die Einbildungskraft zugleich sinnliche Erregungspotentiale, indem sie nackte Körper beschwört. Diese stehen zwar für Geistiges, bleiben jedoch als Bilder sinnlicher Attraktion gegenwärtig. Venus Urania mag Sinnbild einer höheren Bestimmung des Menschen sein, als poetische Allegorie bleibt sie doch auf –––––––––––––– 51

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Schönau, Walter / Pfeiffer, Joachim: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 22003 (= Sammlung Metzler 259), S. 23-27. Der Dichter, so Freud in Der Dichter und das Phantasieren, „besticht uns durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet.“ Freud: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 23. NA 20, 407 Anm. (27. Brief). 27.3.1801; NA 31, 24. NA 26, 142: „Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom Innhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ Erinnert sei an die Selbstrezension zur Anthologie auf das Jahr 1782, die explizit darauf hinweist, dass sich „hie und da […] auch eine schlüpfrige Stelle in platonischem Schwulst verschleiert“ findet. NA 22, 133. Wiese: Schiller, S. 118.

V. ›Die Künstler‹

232

ihre sinnlichen Werte bezogen. Die Materialität des Signifikanten löst sich im Verweisungsakt nicht auf. Das Scheitern des Textes liegt in der Natur des Problems, das zugleich Element der Poetik (Sinnlichkeit, Bildlichkeit) und aufzulösender Widerstand ist. Wo der Logos des Textes Ideale fordert, fabriziert der Mythos Idole und Ikonen der Sinnlichkeit. 1.2. Dunkle Didaxe Dass die Künstler ein schwieriges Gedicht sind, „mystisch und dunkel“57, ist bereits Tenor der ersten Reaktionen. Friedrich Schlegel beklagt das „Dunkel, welches auf einem Theil dieses sonst vortrefflichen Gedichts ruhet“.58 Der Autor selbst findet Körners Reserven „wegen gewißer Dunkelheit im Ausdruck“ schon „bei einigen Lesern [...] bestätigt.59 In der Tat hatte Körner „eine gewisse Deutlichkeit“ angemahnt und damit neben der Länge eines der zentralen Monita der zeitgenössischen Rezeption angesprochen. Nun ist die obscuritas des Gedichts nicht nur ein Mangel an Deutlichkeit. Sie ist wesentlicher Teil des Themas selbst, der „Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit“.60 Von der ersten Zeile an ist die Semantik des Verborgenen und Obskuren, die Metaphorik von Hülle und Schleier bestimmend. Die Kunst lässt „das Geheimniß der erhabnen Tugend / in leichten Räthseln dich errathen“ (v. 24f.); überhaupt scheinen Kunst und Künstler eher im „im stillen“ (v. 19) zu wirken. Schiller fasst die Künstler als Exekutivorgan eines „weisen Weltenplane(s)“, der den Menschen „still [...] zum Ozeane / der großen Harmonie“ (v. 447-449) oder wahlweise „in sanften Banden“ auf die „Sonnenbahn der Sittlichkeit“ lenkt. Diese Erziehungsoperation ist eine Geheimmission, „still“ daher mit Abstand das häufigste Attribut, das Kunst und Künstlern zugeschrieben wird (z.B. „stille Hand“; v. 14): So führt ihn, in verborgnem Lauf, durch immer reinre Formen, reinre Töne, durch immer höh’re Höhn und immer schön’re Schöne der Dichtung Blumenleiter still hinauf – (NA 1, 212f.; v. 425-428)

Die These von der Geheimmission der Kunst wie auch die paradoxe Verbindung von luminoser Bildlichkeit und verhüllendem Dunkel der Bilder bezeichnen eine neue poetische Strategie gegenüber den –––––––––––––– 57 58 59 60

Schlegel: Ueber die Künstler, S. 7. NA 2/ II A 192. Brief an Körner, 30.3.1789; NA II A, 184. NA 25, 199.

1. Bildersprache

233

Göttern Griechenlandes. Schon Wieland hatte jenes „luxuriöse Uebergehen von Bilde zu Bilde“ bemängelt, das ihn „blende“ und „vor Licht nicht sehe(n)“ lasse61. Schiller hatte ihm im Hinblick auf das „Surchargierte in den Details“ dieser „Manier“ durchaus recht gegeben62. Anders Körner, der auf den Unterschied zwischen philosophischer und poetischer Darstellung hinweist: „Was der Philosoph beweisen muß, kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen OrakelSpruch hinwerfen“63 – einen Orakelspruch, so kann man ergänzen, der stets der hermeneutischen Hilfestellung bedarf, wie sie Schiller in den die Entstehung flankierenden Briefen an Wieland, Körner, an Caroline von Beulwitz oder Charlotte von Lengefeld vornimmt. Diese Briefe haben den Charakter von Exegesen; sie liefern einen minutiösen Stellenkommentar, der das Gedicht seines figurativen Dunkels entkleidet und seinen latenten Sinn ebenso entschleiert, wie die „sanfte Cypria“ am Ende „entschleyert“ vor dem „mündgen Sohne“ steht (v. 433-436). Form und Inhalt stehen damit in einem Spannungsverhältnis. Die Künstler schildern nicht nur einen Geschichts-, sondern auch einen Lektüreprozess, der sich vom Dunkel des archaischen Bildes zur Klarheit des Begriffs vor- und emporarbeiten soll. Menschheitsgeschichte und Lektürevorgang folgen derselben Bewegung vom „Sinnenpfad“ der poetischen Metaphorik zum Licht der klaren Erkenntnis. So müsste man – Schillers Fabelsatz ergänzend – auch die „Ent-Hüllung der Wahrheit und Sittlichkeit aus der Schönheit“ als Thema nennen. In dieser Doppelstruktur von Zeigen und Verbergen, im poetischen Chiaroscuro von Geheimnis und Aufklärung liegt die paradoxe Strategie des Gedichts, das beständig zwischen perspicuitas und obscuritas, zwischen dem „höchsten Grad der Anschaulichkeit“ und konstitutiver Dunkelheit laviert. Es ist darin geradezu ein Gedicht der verschobenen Aufklärung, einer Zeit angemessen, die sich noch im historischen Vor- und Warteraum der Wahrheit, in der „Demmerung der Allegorie“64 befindet. Diese Grenzsituation setzt den allegorischen Dichter in keine geringe Verlegenheit. Die Pole von Mitteilung und Mysterium lassen nur den Mittelweg der „leichten Räthsel“ zu, die vom Leser gerade noch zu erraten sind. Der Dichter inszeniert ein hermeneutisches Vexierbild, das „spielend“ (v. 23) und mit „Freude“ –––––––––––––– 61 62 63

64

An Körner, 25.2.1789; NA 25, 211. Ebd. Herder kritisiert genau dies: „So muß man nicht durchgängig in einer mythologischen Sprache reden, gleich als wenn unsre Denkart mit ihr umkraiset wäre: sonst verirret man sich in Anspielungen, und Orakelsprüche aus dem Alten.“ Herder: Neuerer Gebrauch der Mythologie, S. 445. Ebd. S. 440.

V. ›Die Künstler‹

234

unterweisen soll. Es ähnelt jenen poetischen Rätseln, die Schiller aus Anlass seiner Bearbeitung von Carlo Gozzis Turandot-Märchen dichten wird (Aufführung 30.1.1802).65 Dichtung als inspirierte Rätselrede – in dieser Bestimmung erscheint auch Homers Ilias in den Künstlern. Poesie ist „Muttersprache des Menschengeschlechts“ und damit zugleich die archaische Form der Philosophie, die „lang, eh die Weisen ihren Ausspruch wagen“, bereits „des Schicksals Räthselfragen / der jugendlichen Vorwelt“ auflöst“ (v. 232f.). Körners Rede vom „OrakelSpruch“ des Dichters weist in dieselbe Richtung. In ihm verbinden sich poeta vates-Idee und allegorisches Dichtungsverständnis zu einer neuen Dichtertheologie. Der prophetische Ton des Schlussabschnitts mit seiner visionären Zuversicht eines „weisen Weltenplane(s)“, der hic et nunc durch die pythische Orakelstimme des Dichters eröffnet wird, fügt sich gut ein in diese Tradition. Auf der anderen Seite befördert die Notwendigkeit, perspicuitas und obscuritas zu einer widerstrebenden Einheit zu verbinden, in der poetischen Praxis eine Rückkehr zu älteren Formen topischer, gleichsam gedrosselter Änigmatik, in denen sich dieselbe Einheit von Darstellen und Deuten, von Rätsel und Entschlüsselung findet – gemeint ist die Form des Emblems. Es dürfte kaum ein poetisches Bild in den Künstlern geben, das nicht auf emblematische Traditionen zurückverweist oder sich leicht in neue Embleme verwandeln ließe. Dies gilt insbesondere für den Beginn des Gedichts mit seinen konventionellen Bildern: Der „Palmenzweig“, die „Waise“, der „Spiegel“ (v. 468) bis hin zu den Tieren „Biene“ und „Wurm“.66 Peter-André Alt hat Schillers Bildstrategie und –hermeneutik folgendermaßen zusammengefasst: „Als Allegorie bezeichnet Schiller offenkundig die Reihung von Metaphern oder Personifikationen, die in einen narrativen Kontext eingebettet sind und ihre Botschaft nicht direkt, sondern chiffriert vorbringen“.67 Diese Bestimmung ist durch Aussagen Schillers aus dem Umkreis der Künstler gedeckt. Wieland gegenüber nennt er als Bestimmungsmoment, dass „in die Fabel die durchs ganze durchgeht, zuweilen philosophische Stellen eintreten, die aber die Fabel auslegen helfen“.68 Die Termini ‚Fabel‘ und ‚Allegorie‘ werden von Schiller, dem Sprachgebrauch der Zeit konform, –––––––––––––– 65

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Die Prinzessin stellte den Bewerbern um ihre Hand jeweils drei Rätsel, die von Aufführung zu Aufführung variierten. Insgesamt dichtete Schiller 14 Rätsel (eines enthielt bereits Gozzis Original), die teils im Taschenbuch für das Jahr 1803, teils in Gedichte 2 (1805) erschienen. Voßkamp: Emblematisches Zitat (v.a. im Hinblick auf die frühe Lyrik). Alt: Begriffsbilder, S. 599; hier S. 599-623 zu Schiller. An Wieland, 4. oder 5.5.1789; NA 25, 194.

1. Bildersprache

235

synonym verwendet.69 Adelung unterscheidet vier Ebenen, die dem Bedeutungsfeld des lateinischen fabula entsprechen: 1) Ein jedes allgemeines Gespräch und der Gegenstand desselben [...] 2) In engerer Bedeutung, eine jede erdichtete Erzählung, ein Mährchen. 3) In noch engerem Verstande, eine erdichtete Erzählung, mit welcher der Dichter eine sittliche Absicht verbindet, zum Unterschiede von einem Mährchen, welches keine moralische Absicht hat, sondern bloß zur Belustigung dienet. In diesem Verstande gehören die Lustspiele, die Trauerspiele, Heldengedichte, Romanen u.s.f. zur Fabel. 4) In der engsten Bedeutung, begreift man unter diesem Nahmen die Erzählung einer allegorischen Handlung, welche Thieren und geringern Dingen beygeleget wird; um sie von der Erzählung im engsten Verstande zu unterscheiden, in welcher auch Menschen und höhere Wesen eingeführet werden können.70

Abgesehen von der Tierfabel finden sich bei Schiller vor allem die Bedeutungen Handlung (im Drama),71 Mythos72 und Allegorie. Alle drei sind derart verschränkt, dass Allegorie immer Mythos und Handlung (Narration) einschließt. Dies zeigt sich am Beginn von Ueber Anmut und Würde. Schiller greift die Allegorie vom Gürtel der Venus aus den Künstlern auf73 und lässt ihr eine philosophische Auslegung folgen, wonach „Hoheit“ sofern sie „ohne Anmut“ bleibt, „nicht sicher (ist), zu gefallen“.74 Dies schließt formal und poetologisch an jenes Verfahren an, das Schiller im Brief an Wieland im Hinblick auf sein eigenes Gedicht be–––––––––––––– 69

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Dies zeigt sich im Brief an Körner vom 9.2.1789, der die gegenüber Wieland getroffene Feststellung wiederholt und dabei an Stelle von „Fabel“ von „Allegorie“ spricht: „Es ist Eine Allegorie, die ganz hindurch geht mit nur veränderter Ansicht.“ NA 25, 199. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, S. 2f. NA 4, 9 (Vorrede zum Fiesko). Die Piccolomini III, 4; NA 9, 124; v. 1632. NA 1, 209, v. 290f.: „Der Schönheit goldner Gürtel webet / sich mild in seine Lebensbahn.“ Offenbar stützt sich Schiller auf Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexikon (1770): „Sie trug einen besondern buntgestickten Gürtel, worinnen alle Reizungen, Liebe, Begierde, freundlicher Umgang, Schmeicheley und Liebkosung enthalten waren, wodurch sie aller Herzen gewinnen konnte. Diesen bath sich Juno einst von ihr aus, da sie den Jupiter lüstern machen und zum Besten der Griechen einschläfern wollte.“ Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770 (Ndr. Darmstadt 1996), S. 2438f. Vgl. ebd. S. 2441: „Wenn sie ganz bekleidet ist, so trägt sie stets zween Gürtel, wovon der eine, wie bey andern Frauenspersonen, gleich unter der Brust liegt, der andere aber ihr um den Unterleib geht. Dieser letzte ist ihr allein eigen und eben derjenige so berufene Gürtel bey den Poeten.“ Vgl. Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums. Wien 1934 (Ndr. Darmstadt 1972), S. 196: „Die völlig bekleidete Venus ist in Marmor allezeit mit zwei Gürteln vorgestellt, von welchen der andere unter dem Unterleibe liegt. Dieser untere Gürtel ist nur der Göttin eigen und ist derjenige, welcher bei den Dichtern insbesondere der Gürtel der Venus heißt.“ NA 20, 251.

V. ›Die Künstler‹

236

schreibt. Zum platonischen Mythos muss die Philosophie hinzutreten, um „die Fabel auslegen [zu] helfen“. Das Poetische ist das Dunkle, die Philosophie das Klare, das am Ende die Oberhand behalten muss. Dieses Telos wird in den Künstlern jedoch nicht erreicht; die Erlösung von der Sinnlichkeit (bzw. den Bildern) erfolgt erst „am reifen Ziel der Zeiten“ (v. 429). So steht am Ende des Gedichts nicht das reine Licht der Aufklärung, sondern der farbige Abglanz des Emblems, konkret: Die prismatische Brechung des Lichts in die sieben Spektralfarben, die den Übergang von der „Einigkeit“ in die „reiche Mannigfaltigkeit“, vom Hen zu den polla bezeichnen. Die Theosophie des Julius hatte dasselbe Gleichnis gebraucht, um die gnostische Idee der Natur als eines „unendlich getheilte(n) Gott(es)“ zu formulieren.75 Im Bild wird die Ambivalenz der Bilder formuliert. Ihre „reiche Mannigfaltigkeit“ ist Signum der Sinnlichkeit; sie muss überwunden werden zugunsten der „tausendfache(n) Klarheit“ einer von Angesicht zu Angesicht angeschauten Wahrheit76. Es ist die Spannung zwischen Licht und Dunkel, Zeigen und Verbergen, welche Reiz und Problem der Allegorie im Zeitalter der Aufklärung ausmachen. Die Renaissance und Rehabilitierung der Allegorie seit Winckelmann dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich an ihr das Verhältnis der Aufklärung zu ihrem Anderen – sei es dem Dunkel, dem Bild oder der Dichtung – exemplarisch erfassen ließ.77 Was die Allegorie für die aufgeklärte Ästhetik problematisch machte, waren weniger Idiosynkrasien des Geschmacks, wie sie Lessing formulierte (Schwulst, Künstelei, das ‚Frostige‘), als hermeneutische Bedenken gegen das Hermetische einer dunklen Bildlichkeit. Horror obscuri und nuda veritas sind zwei Seiten einer Medaille. „Die Metapher der ‚nackten Wahrheit’ gehört zum Selbstbewußtsein der –––––––––––––– 75

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NA 20, 124. Der gesamte Passus wirkt wie eine Reprise der Diotima-Rede des Platonischen Symposion: Der Aufstieg vom sinnlichen zum intelligiblen Schönen folgt dem Wunsche, „jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehen, das nicht erst voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrams, sondern das göttlich Schöne selbst in seiner Einartigkeit zu schauen“ (211d-e); Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 3: Phaidon – das Gastmahl – Kratylos. Darmstadt 31990, hier S. 351. Entsprechend dem Paulus-Wort aus dem ersten Korinther-Brief (1 Kor 13, 12): „Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort / Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stücksweise / Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin.“ Dazu grundlegend die Studie von Alt: Begriffsbilder; eine nützliche Dokumentation der wichtigsten Texte bietet Sørensen, Bengt Algot: Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1972. Unzutreffend die Bemerkung im Nachwort, „etwa seit der Mitte des Jahrhunderts mehren sich aber die Anzeichen einer zunehmenden Unsicherheit“ (S. 262).

1. Bildersprache

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aufklärerischen Vernunft und ihrem Herrschaftsanspruch“.78 Dies formuliert Hegel nicht anders, wenn er die Allegorie als „das Entgegengesetzte des Rätsels“ bezeichnet, deren Veranschaulichungsfunktion „nicht des halben Verhüllens und rätselhafter Aufgaben wegen“ unternommen werde, „sondern gerade mit dem umgekehrten Zweck der vollständigsten Klarheit“.79 Sofern man wie Lessing oder Herder Allegorie als eine spezifisch poetische Sprache definierte, mussten kommunikative Rücksichten in den Blickpunkt der Allegoriediskussion rücken. Aufgeklärte Allegorie (und Mythologie) ist ‚helle‘ Allegorie; sie verbreitet nicht poetisches Dunkel, sondern das „Licht der sinnlichen Anschauung“80, wie Herder schreibt. In den „philosophische(n) Lehrgedichte(n)“ könnte daher „nie die Mythologie mehr als Schmuck und Erläuterung sein“.81 Repräsentativ findet sich diese Prämisse in Sulzers Allegorieartikel formuliert, der immer wieder Klarheit fordert und Ungewißheit anprangert. Dies entspreche der didaktisch-epistemologischen Kraft der Allegorie, die bildlich-intuitive evidentia herstellen soll, wo die diskursive Evidenz sich nicht sogleich einstellt: Denn Wahrheiten, deren man sich nicht so wol durch einen deutlichen Beweis als durch ein schnelles Ueberschauen vieler einzelnen Umstände versichern muß, die also keines würklichen Beweises fähig sind, können durch solche Allegorien die Art des Beweises bekommen, dessen sie fähig sind.82

Wie Lessing vor ihm argumentiert Sulzer im Kontext des aufgeklärten Sprach- und Zeichendiskurses. In der Allegorie sieht er die Utopie einer anthropologischen Universal- und Bildersprache, die aufgrund ihrer natürlichen Zeichen eine „würkliche“ und „allgemeine Sprache, allen Menschen von Nachdenken verständlich, wenn sie gleich keinen Unterricht darin gehabt haben“.83 Die Allegorie dringt in einen Bereich jenseits der Semiose vor; sie liefert Bilder, die „nicht Zeichen einer Sache, sondern die Sache selbst“ sind. Am anderen Ende des hermeneutischen Spektrums sieht Sulzer die Hieroglyphen als „Bildersprache“, die „durch willkührliche Zeichen spricht“.84 Sie werden der Allegorie als „bloße Hieroglyphen“ nachgeordnet. Unter Hieroglyphen versteht Sulzer allgemein Formen dunkler Kommunika–––––––––––––– 78 79 80 81 82 83 84

Blumenberg: Paradigmen, S. 71. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, S. 511. Vgl. S. 516: „Die Allegorie macht die Klarheit der Bedeutung so sehr zum alleinherrschenden Zweck, daß die Personifikation und deren Attribute zu bloßen äußeren Zeichen heruntergesetzt erscheinen.“ Herder: Neuerer Gebrauch der Mythologie, S. 435. Ebd. S. 439. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 30. Ebd. S. 34. Ebd.

V. ›Die Künstler‹

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tion – etwa auch das Bildrätsel („Rebus“), das er von der Allegorie strikt trennt. Eine Ausnahme bilden Fälle, in denen ein „hieroglyphisches Bild so unwiederruflich in die Allegorie aufgenommen worden, daß es durchgehends für würklich allegorisch gehalten wird“.85 Diese Form der Allegorie ist zwar nicht „wahre Allegorie“, da sie sich nicht natürlicher, sondern willkürlicher Zeichen bedient (Sulzer führt als Beispiel die Allegorie der Weisheit an). Ästhetisch ist sie jedoch legitim, weil sie längst konventionalisiert und damit gleichsam im kollektiven Bildgedächtnis inventarisiert sind: „Man ist es gewohnt, vielen blos hieroglyphischen Zeichen der Alten den Rang der wahren allegorischen Bilder zu lassen, weil wir von Kindheit auf so daran gewohnt werden, daß sie uns wie natürliche Zeichen vorkommen“.86 Ein solches Bildinventar in der Tradition der Iconologia Cesare Ripas87 fordert Sulzer denn auch mit Nachdruck. Vieles, was Sulzer unter der Bezeichnung Allegorie verbucht, wäre streng genommen als Emblem anzusprechen, d.h. als konventionalisierte Dunkelheit. Sulzer spricht auch von „leserliche(n) Hieroglyphen“. Eines der merkwürdigsten Bilder aus den Künstlern – „im Fleiß kann dich die Biene meistern“ (v. 30) – wird ausdrücklich als Beispiel eines allegorischen und d.h. emblematischen Bildes angeführt („die Arbeitsamkeit durch eine Biene“88). Das Triviale und Konventionelle solcher Bilder und Vergleiche spricht gerade nicht gegen, sondern für sie. Auch wenn Sulzer auf die „redenden Künste“ nur am Rande eingeht – Allegorie ist für ihn ein Phänomen der bildenden Kunst – stellen seine Ausführungen die Basis für Schillers Allegoriekonzept dar. Dies gilt insbesondere für die narrative Bestimmung der Allegorie („aneinanderhängende Handlungen“)89. Auch manche thematische Anregung konnte Schiller hier finden, etwa Sulzers Vorschlag, „die Verbesserung der Sitten durch die Wiederherstellung der Wissenschaften“90 in Form einer Allegorie zu behandeln. Was für die Allegorie im Besonderen gilt, trifft auf den Bildgebrauch „in den redenden Künsten“ im Allgemeinen zu. Im Artikel ‚Bild‘ fordert Sulzer nachdrücklich die Transparenz der Bilder. Schöne Kunst ist ihm gleichbedeutend mit klarer Kunst: „Die Bilder erweken klare und lebhafte Vorstellungen, die sehr faßlich sind, und darin –––––––––––––– 85 86 87 88 89 90

Ebd. Ebd. S. 34f. Ripa, Cesare: Iconologia. Hg. von Piero Buscaroli. Mailand 2005 (= I tascabili degli Editori Associati 2). Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, 34. Ebd. S. 31 u 32. Ebd. S. 39

1. Bildersprache

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man viel auf einmal, wie mit einem einzigen Blik, erkennt“.91 Die cognitio intuitiva – „Anschauliches Erkenntniß“ [sic] – ist auf Unmittelbarkeit, Plötzlichkeit und Schnelligkeit der Bildübertragung angewiesen, sonst verspielt sie ihren Vorteil gegenüber diskursiver Mitteilung. So muss eine delikate Ökonomie gewahrt bleiben, um nicht dem Bildmissbrauch, d.h. der affektierten Dunkelheit und Spitzfindigkeit, zu verfallen. „Die Redner und Dichter, die durchgehends am meisten bewundert werden, haben sie als kostbare Würze mit behutsamer Sparsamkeit angebracht“.92 Bilder sind für Sulzer in rhetorischer Tradition Ornat und Ornament; daher speist sich die Bildkritik argumentativ aus der Ornamentkritik93. Sie verbindet sich mit der Hofkritik, wenn Sulzer feststellt: Bilder sind „wie Juweelen, die man nur an wenigen Stellen anbringen darf. Man findet deswegen, daß ihr Ueberflus, so wie der Ueberflus der Verzierungen in der Baukunst, allemal ein Vorbote des sich zum Untergang neigenden Geschmaks ist“.94 Dennoch sind Fälle und Spielarten des Allegorischen denkbar, in denen obscuritas ihre Berechtigung hat. Sulzer unterscheidet zwischen der didaktischen Allegorie, durch die „allgemeine, wichtige Wahrheiten unvergeßlich [...] eingeprägt [werden]“95 und jener Form, „die man die Geheimnisvolle oder Prophetische nennen möchte, weil viele Weißagungen in selbiger vorgetragen worden [sind]“.96 Sie stehe „zwischen der leichtern Allegorie und dem Räthsel, und dienet, dem Vortag eine Feyerlichkeit zu geben“, indem sie das Gemeinte „in heilige Dunkelheit“ hüllt97. –––––––––––––– 91 92 93

94 95 96 97

Ebd. Bd. 1, S. 170. Ebd. S. 172. Diese hofkritische Ebene der Bild- und Ornamentdebatte ist selten systematisch gesehen worden. Sie bestimmt schon Lessings Ablehnung von Hallers Enzianstücken im Laokoon, an denen die „fremden Zierraten“ missfallen. Lessing: Werke, Bd. 6, S. 112 (Kap. 17). Zur Ornamentdebatte um 1800 exemplarisch Oesterle, Günter: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente: Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Beck, Herbert / Bol, Peter C. (Hg.): Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Berlin 1984 (= Frankfurter Forschungen zur Kunst 11), S. 120-139; Schneider, Sabine M.: Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne: Die Ornamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 339-357; Franke, Ursula: Bausteine für eine Theorie ornamentaler Kunst: Zur Autonomisierung des Ornaments bei Karl Philipp Moritz. In: Franke, Ursula / Paetzold, Heinz (Hg.): Ornament und Geschichte: Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Bonn 1996 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beiheft 2), S. 89-106. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 172. Ebd. S. 29f. Ebd. S. 30. Ebd.

V. ›Die Künstler‹

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Der Bogen von der didaktischen Klarheit zur prophetischen obscuritas bezeichnet ein Spektrum allegorischer Rede, das auch Schiller vertraut ist. Die Schwierigkeit im Fall der Künstler liegt darin, dass Schiller beide Enden des Spektrums zu verbinden sucht: die ‚didaktische‘ mit der ‚prophetischen‘ Rede, Klarheit mit Dunkel. Körners Wort vom „Orakelspruch“ deutet nur die Seite des Prophetischen an, in Wirklichkeit bilden beide Tendenzen eine widerstrebende Einheit, eine Dichotomie des Zeigens und Verbergens. Es ist eine Strategie, die den Leser in den Aufstieg vom anfänglichen Dunkel ins gleißende Licht der Venus-Vision einbinden soll. Aufklärung wird als performativer Leseakt inszeniert, der wie der Weg der Menschheit insgesamt von der „reichen Mannigfaltigkeit“ (der Bilder) zu „tausendfacher Klarheit“ (der Begriffe) führt. Diese dunkle Didaxe ist Teil einer dialektischen Strategie, die Aufklärung mit Hilfe von Geheimnis – und Geheimbund – zu verwirklichen sucht. 2. Aspekte des Mythos

2. Aspekte des Mythos 2.1. Platonischer Mythos und christliche Ikonographie

In der Ökonomie des „weisen Weltenplanes“, die in den zentralen Versen 34-41 zum ersten Mal enthüllt wird, findet sich die theoretische Begründung für die propädeutische und progymnasmatische Bedeutung der Kunst. Die Kunst ist geistige Übung in einer Anthropologie des „homo repetitivus“98: Nur durch das Morgenthor des Schönen drangst du in der Erkenntniß Land. An höhern Glanz sich zu gewöhnen, übt sich am Reitze der Verstand. Was bey dem Saitenklang der Musen mit süßem Beben dich durchdrang, erzog die Kraft in deinem Busen, die sich dereinst zum Weltgeist schwang. Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, die älternde Vernunft erfand, lag im Symbol des Schönen und des Großen voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. (NA 1, 202; v. 34-45)

Zwei Leitmotive des Gedichts und der Schiller’schen Geschichtsphilosophie werden hier exponiert: 1. Die seit der Patristik vertraute, von Herder und der Universalhistorie immer wieder bemühte Analo–––––––––––––– 98

Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 24.

2. Aspekte des Mythos

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gie von ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung, von Individual- und Menschheitsgeschichte („kindischer Verstand“ vs. „älternde Vernunft“). 2. Der Gegensatz von vorgreifender, notwendig symbolischer Offenbarung und klarer Vernunfterkenntnis. Schiller kleidet sie in eine Leitmetapher, die in der Selbstbeschreibung der Aufklärung schlechthin zentral ist. Aufklärung ist Erziehung zur Vernunft („erzog die Kraft in deinem Busen“), die Künstler der Künstler sind Übungsleiter für eine unmündige Menschheit, die sie bis an die Schwelle der Reife und Volljährigkeit begleiten. In die Bildlichkeit der Erziehung ist eine zweite verwoben, die den pädagogischen Prozess mit einem theologischen Schema überblendet. Der Gegensatz von Offenbarungs- und „Vernunftwahrheit“ nimmt die typologische Spannung zwischen altem und neuem Bund, Gesetz und Gnade auf.99 Schillers grand récit der Menschheitsgeschichte tritt damit – qua Metapher – in Konkurrenz zu Theologie und Pädagogik, den beiden Leitdiskursen der Zeit. Schiller erhebt die Kunst nicht nur zum Kriterium des Menschen, er befördert sie zugleich zum Medium einer alternativen Heilserzählung. Kunst wird zur Ersatzreligion mit „Erlösungsfunktionen“100, die Weltgeschichte zur Kunstgeschichte. Die Künstler lesen sich als Kontrafaktur christlicher Motive, Mythologien und Figuren.101 An keinem anderen Text um 1800 lässt sich die Geburt der Geschichtsphilosophie aus der Säkularisierung christlicher Heilsgeschichte102 so klar ersehen wie an den Künstlern. „Antike und christliche Elemente durchdringen sich dabei auf widerspruchsvolle Weise“.103 Die Forschung hat sich kaum die Mühe gemacht, die besonderen Signaturen dieser Wechselwirkung, ihre Rolle innerhalb dieser neuen Dichtertheologie und Kunstreligion zu bestimmen. Sicher ist es zu pauschal, wenn von Wiese feststellt: „Das christliche Erbe war –––––––––––––– 99

100 101

102 103

Diese Dialektik wird sich in Ueber Anmut und Würde fortsetzen, wo nunmehr Kants Pflichtethik als Vertreterin des „Gesetzes“ gegen die „Gnade“ der ästhetischen „Grazie“ aufgeboten wird. Brelage, Manfred: Schillers Kritik an der Kantischen Ethik oder Gesetz und Evangelium in der philosophischen Ethik. In: Ders.: Studien zur Transzendentalphilosophie. Hg. von Aenne Brelage. Berlin 1965, S. 230-244. Koopmann, Helmut: Friedrich Schiller. In: Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1977, S. 931-957, hier S. 950. Vgl. die Definition der Kontrafaktur bei Verweyen, Theodor / Witting, Gunter: Kontrafaktur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2 (2000), S. 337340, hier S. 337: „Ein Verfahren der Textproduktion, bei dem konstitutive Merkmale der Ausdrucksebene eines Einzeltextes oder mehrerer Texte zur Formulierung einer eigenen Botschaft übernommen werden.“ Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin 81990 (zuerst 1953). Wiese: Schiller, S. 415. Dazu Berger, Kurt: Schiller und die Mythologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26 (1952), S. 178-224.

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noch zu stark, als daß er die, wenn auch bereits formalisierte Transzendenz je ganz aufgegeben hätte“.104 Dass es Schiller nicht an Willen und Möglichkeit gefehlt hat, auf Distanz zum Christengott zu gehen, beweisen die Götter Griechenlandes. Die säkularisierende und kontrafaktische Tendenz der Künstler steht vielmehr im Zusammenhang anderer Umdeutungen christlich-jüdischer Heilsgeschichte(n). Nur wenige Monate nach Abschluss der Künstler wird Schiller im Essay Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde (verf. SS 1789, ersch. Thalia Nov. 1790) den GenesisBericht einer universalhistorischen Relektüre unterziehen, die den Sündenfall als „Übergang des Menschen zur Freiheit und Humanität“ wertet, als arbeitsamen Schritt aus dem „Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft“ zum „Paradies der Erkenntnis und der Freiheit“ – dieses Mal ohne jeden Anteil der Kunst an diesem Aufklärungsprozess. In den Künstlern ist eine andere Spielart von Säkularisation bestimmend. Zwar findet sich auch hier die historische Lesart des Genesisberichts (v. 66) als Ausgangspunkt. Schiller vermeidet jedoch jede explizite namentliche Nennung christlich-biblischer Elemente, während diese gleichzeitig als Bildsubstrat den Gang der Erzählung im Großen wie im Kleinen durchziehen. „Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst“, wird Schiller in der Einleitung zur Braut von Messina feststellen, und daraus die poetische Lizenz gewinnen, „die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganze für die Einbildungskraft zu behandeln“.105 In den Künstlern ist dies noch anders. Schiller sucht hier nicht die eine wahre hinter den vielen positiven Religionen, sondern etabliert eine neue an Stelle und mit den Konturen der alten. Schillers neue Kunst-Mythologie bzw. Mythologie der Kunst ist mithin nicht synkretistisch zu nennen (wie Hölderlins große Hymnen), sondern kontrafaktisch. Auch sie sucht und praktiziert die Synthese von Christlichem und Paganem, aber so, dass es nicht zu einer philosophischen Vermischung christlicher und paganer Mythologeme kommt – Christus und Dionysos, Brot und Wein – sondern zu einer Synthese der Bilder und Symbole. Schiller betreibt Mythenkontrafaktur, bei der unter Beibehaltung der Form (Ikonographie, Bilder, Mythos) neue Inhalte transportiert werden106. Wo Hölderlin vom Christlichen ausgeht („Patmos“, „Brot und Wein“) und die Elemente der christlich-jüdischen Überlieferung mit dem klassischen Mythos konvergieren lässt (Christus = Dionysos), geht Schil–––––––––––––– 104 Wiese: Schiller, S. 415. 105 NA 10, 15 106 Vgl. Alt: Schiller, Bd. 2, S. 264.

2. Aspekte des Mythos

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ler vom klassischen Mythos („Venus Urania / Cypria“) aus, um durch ihn hindurch christliche Ikonographien zu assoziieren (Venus = Maria). Für dieses Verfahren steht traditionell die Gattung und Form der Kontrafaktur (parodia) zur Verfügung, zumeist in der Spielart der parodia christiana. Schiller invertiert diese gleichsam zur parodia pagana, die konsequent solche heidnischen Mytheme aufgreift, die sich in die Bildschablonen der alten kleiden lassen, so dass am Ende das eine mythologische Bezeichnungssystem ersatzlos gegen das andere vertauscht ist. Dieses Prinzip zeigt sich sowohl in der geschichtsphilosophischen Konstruktion als auch in der Dichotomie von Venus „Cypria“ und „Urania“. Kontrafaktur der christlichen Heilserzählung sind die großen Linien, die Makrostruktur. Die Dialektik von „Offenbarung“ und „Vernunftwahrheit“107, von biblischer Überlieferung und „vernünftiger“, d.h. deistischer Religion bildet einen zentralen Diskussionspunkt der Theologie der Lessingzeit. Dies gilt v.a. für die Strömung der sog. Neologie (Jerusalem, Spalding, Semler usw.), deren Ziel die Synchronisierung von Heils- und Vernunftwahrheit in der Idee einer „vernünftigen Religion“ war.108 Schiller ersetzt die Spannung zwischen Bibelwort und Vernunft durch die zwischen Kunst und Vernunft (bzw. Wissenschaft). Beide werden – wie in der neologischen Debatte – durch den Gedanken einer schrittweisen, dem jeweiligen Fassungsvermögen der großen Masse angepassten (accommodatio) religiösen Aufklärung verbunden. Es ist die Kunst, die bei Schiller das göttliche Erziehungsmedium der Schrift übernimmt, während die Vernunft bzw. eine platonisch getönte „Wahrheit“ die Stelle des christlichen Jenseits übernimmt. Kunst (Dichtung) gleich Bibel – diese provozierende Gleichung steht hinter der These von der Offenbarung der Vernunft im „Symbol des Schönen und des Großen“ (v. 44). Schon der Begriff des Symbols ist mit Bedacht gewählt; er assoziiert nicht nur die zeichenhaft-verhüllte Form dieser Enthüllung, sondern spielt zugleich auf die „symbolischen Bücher“ des Christentums an. Gemeint sind die drei ökumenischen Symbole und sog. Bekenntnisschriften: das Symbolon Apostolicum, Nicaenum und Athanasianum aber auch die Confessio Augustana, die in den neologi––––––––––––––

107 Diesen geschichtsphilosophischen Topos wiederholt Schiller immer wieder, z.B. in Ueber Anmut und Würde (NA 20, 255): „[D]aß sich die philosophirende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahndet, und die Poesie nicht geoffenbart hätte“; vgl. den neunten Ästhetischen Brief (NA 20, 334): „Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht in die Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtungskraft ihre Strahlen auf, und die Gipfel der Menschheit werden glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.“ 108 Die gründlichste Darstellung bietet noch immer Aner, Karl: Die Theologie der Lessingzeit. Halle/Saale 1929.

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schen Kämpfen zwischen 1760-1780 zum Gegenstand einer vehementen Kontroverse über die Legitimität religiösen Fortschritts wurden109. Auch hier eine einfache kontrafaktische Ersetzung: Die opera symbolica der Kunst bewahren jene unwandelbare Wahrheit der Vernunft, welche die christlichen Glaubensbekenntnisse und symbola zu Bastionen des Glaubens, aber auch zu „Hemmnisse(n) des theologischen Fortschritts“110 werden lassen. Weitere Analogien finden sich allein in der zitierten Strophe: „Der Erkenntniß Land“ als säkulares Heilsziel oder der Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade: Die Solonischen Gesetze stehen im Gegensatz zu einer spontanen Sittlichkeit im Sinne des moral graceIdeals, die sich aus Neigung „vor dem Laster“ sträubt (v. 48). Schiller erzählt in den Künstlern eine alternative Heils- und Erlösungsgeschichte der Menschheit. Sie beginnt mit einer Vertreibung aus dem Paradies, die Schiller gnostisch umdeutet zur Exilierung des Menschen in die Sterblichkeit und Sinnlichkeit: Als der Erschaffende von seinem Angesichte den Menschen in die Sterblichkeit verwieß, und eine späte Wiederkehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn finden hieß, als alle Himmlischen ihr Antlitz von ihm wandten, schloß sie, die Menschliche, allein mit dem verlassenen Verbannten großmüthig in die Sterblichkeit sich ein (NA 1, 202f.; v. 66-77).

Schillers Ästhetik wird diesen christologischen und soteriologischen Zug auch über Kant hinaus konservieren. Wenn die Schönheit noch in Anmut und Würde als „Bürgerin zwoer Welten bezeichnet“111 wird, so übernimmt sie die spannungsvolle Doppel- und daher Mittlernatur Christi. Der neue Erlöser ist jedoch eine Erlöserin. Die Mittlerfunktion wird auf eine weibliche Instanz (Kunst, Schönheit, Aphrodite) übertragen; letztere tritt schon in den Künstlern buchstäblich als Geschwisterpaar auf, nämlich als „furchtbar herrliche Urania“ und irdisch-sichtbare Schönheit („Cypria“). Schillers ästhetische Theologie bedarf des Weiblichen, es ist eine Soteriologie aus dezidiert männlicher Perspektive. Daher ist es folgerichtig, wenn schon in der ersten Strophe der Mann im Menschen, der „Sohn der Zeit“ in all seiner „edle(n) stolze(n) Männlichkeit“ apostrophiert wird. In Wahrheit erzählen die Künstler nicht die Erziehungs- und Erlösungsgeschichte des Menschen, sondern des Mannes. Schillers Ästhetik gewinnt in der –––––––––––––– 109 Ebd. S. 254-269. 110 Ebd. S. 264. 111 NA 20, 260.

2. Aspekte des Mythos

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Gleichsetzung von Schönheit und Weiblichkeit einen Standpunkt, der Geschlechterdifferenz zum Motor der Menschheitsgeschichte macht. Ästhetik und Soteriologie, Eros und Eschatologie formen so einen hybriden Symbolkosmos, dessen erhitzte Bildlichkeit den asketischen Idealen der Kunst, ihrer Festlegung auf den „keuschen Dienst“ zutiefst widerspricht. Entsprechend überlagern sich in Schillers doppelter Venus ganz heterogene Figurationen von Weiblichkeit. Die Liebesgöttin ist zugleich Madonna und mediceische Venus, eine artistisch-erotische Männer- und Erlösungsphantasie. Solche Synkretismen ergeben sich aus Überlagerungen ikonographischer Topiken. Die „furchtbar herrliche Urania“ die „verzehrend über Sternen geht“ und auf dem „Sonnenthrone“ ruht, assoziiert Darstellungskonventionen der Gottesmutter Maria. Wie die platonische Venus begegnet auch sie in zweierlei Gestalt. Venus beerbt Maria als Himmelskönigin und Jungfrau auf der Mondsichel. In eigener Person und ikonischer Repräsentation wird sie Schiller in der Jungfrau von Orleans auf die Bühne bringen. Johannas Fahne zeigt die „Himmelskönigin, / Zu sehen mit dem schönen Jesusknaben, / Die über einer Erdenkugel schwebt“.112 Die „Feuerkrone“ der Venus Urania kehrt hier wieder in der „Krone“ Mariae, deren epiphanische visio beata in ganz analoger Weise zur „Enthüllung“ der Venus Urania in den Künstlern gefeiert wird („Ach, ich sah den Himmel offen / Und der Selgen Angesicht“), und es ist wohl kein Zufall, wenn im fast zeitgleich zu den Künstlern entstehenden zweiten Teil des Geistersehers der Prinz vor eine heikle ästhetische Paris-Wahl zwischen den Gemälden „eine(r) Madonna, eine(r) Heloise und eine(r) fast ganz unbekleidete(n) Venus – alle drei von ausnehmender Schönheit“ – gestellt wird, um sich am Ende für die Madonna zu entscheiden. Es ist gut denkbar, dass Schiller hier an jenen Typus des hochrinascimentalen Marienbildes denkt, den er in Dresden am Beispiel der Sixtinischen Madonna kennengelernt haben dürfte. Er schließt an die Darstellung des apokalyptischen Weibes in der Johannes-Apokalypse an und zeigt Maria als Himmelskönigin mit all jenen ikonographischen Insignien, die der Venus Schillers eignen: Feuer- bzw. Flammenkrone, Nimbus und Glorie („eine Glorie von Orionen / Um’s Angesicht“), auf einem Goldthron („Sonnenthrone“; v. 58) sitzend, angebetet – wie in der zitierten Stelle aus Maria Stuart – vom Chor der Seligen bzw. „von reineren Dämonen“ (v. 56). Es ist „das Herrscherliche, Siegreich-Überwindende einer barocken Marien-

–––––––––––––– 112 I, 10; NA 9, 210; v. 1159-1161.

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idee“113, das Schillers Venus-Phantasie ihre ikonische Plausibilität und Suggestion verleiht. Das Schöne ersetzt die visio beata. Auch Die Künstler beschwören die „Plötzlichkeit“114 des Ästhetischen und jene „Elisiumssekunden“, in denen sich die Schau und Erscheinung des Schönen vollzieht. Die Bilder des Schönen lassen sich auf schöne Bilder, die Philosophie der Kunst auf konkrete Kunst zurückführen. Sie sind stets auch Kunstepiphanien und Reminiszenzen etwa an einen Bildtypus der visio, in dem sich seit dem 16. Jahrhundert die Kunst selbst als Medium und Schleier reflektiert.115 Hinzu kommen die epiphanisch anmutenden Visionen vor den Mannheimer Antiken, aber auch die poetisch inszenierten Himmelfahrten und Transfigurationen, wie sie Schiller am Beispiel Semeles (aus der gleichnamigen „lyrischen Operette“) oder des Halbgottes Herakles – einer weiteren, dieses Mal männlichen Mittlerfigur zwischen Mensch und Gott – in Das Ideal und das Leben (1795) vorführen wird. Die Venus der Künstler ist eine proteische Gestalt: in erhitzter Überdeterminierung – irdische und himmlische Aphrodite, Aphrodite und Maria, Geliebte, Schwester und Mutter – ist ihr die visionäre Last und soteriologische Sehnsucht anzusehen, die ihre Funktion als ästhetische Mittelkraft bestimmt. Dies führt mitunter zu bizarren, das Inzestuöse streifenden Rollenwechseln, vor allem in der rhetorischen Schlussparänese der Künstler. Hier vollzieht sich eine Vision, in der familiäre Relationen, Eltern-, Geschlechter- und Geschwisterliebe durch Überdeterminierung kollabieren: Der freysten Mutter freye Söhne [sc. die Künstler] schwingt euch mit festem Angesicht zum Strahlensitz der höchsten Schöne, um andre Kronen buhlet nicht. Die Schwester, die euch hier verschwunden, hohlt ihr im Schoos der Mutter ein. (NA 1, 213f.; v. 458-463)

Die furiose Bildlichkeit verbreitet zunächst einmal weniger Strahlenglanz als ein gewolltes Dunkel, ganz im Sinne der eingangs angekündigten „leichten Räthsel“ (v. 25). Ein Autorkommentar zur Stelle, den Schiller brieflich gegenüber Körner (Brief vom 25. Dezember 1788) anbringt, erhellt zumindest den eigentlichen hinter dem uneigentlichen Sinn. Die Übersetzung ist zugleich Ersetzung der inzestuösen –––––––––––––– 113 Lechner, Georg Martin: Maria, Marienbild (IV). In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3. Freiburg i. Br. 1994, S. 154-210, S. 199. 114 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/Main 1981 und ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/Main 1994. 115 Vgl. dazu die erhellende Studie von Stoichita, Victor I.: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters. München 1997.

2. Aspekte des Mythos

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Bildlichkeit: „Der Dichter der sich nur Schönheit zum Zweck setzt, aber dieser heilig folgt, wird am Ende alle anderen Rücksichten [...] gleichsam zur Zugabe mit erreicht haben“.116 Die Vernunft ist das donum superadditum der Schönheit.117 Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit, der purgierte Sinn der Bilder. Nicht die Logik des logos, sondern die der Phantasie treibt in den Künstlern ganze Bildareale des Begehrens hervor. So liest sich die zitierte Stelle eher wie ein Vorentwurf zu Deleuzes und Guattaris Analyse des rituellen Inzests, der zweifach verläuft: „Der Held sitzt immer zwischen zwei Gruppen, der einen, in die er sich begibt, um seine Schwester zu finden, der anderen, zu der er zurückkehrt, um seine Mutter wiederzufinden“.118 Die Mutter ist nicht nur das Mysterium der neuen Pädagogik, wie Friedrich Kittler über die imaginäre Mutter Franziska von Hohenheim schreibt, sie ist als inkarnierte Schönheit auch das Geheimnis der neuen Ästhetik. „Ist uns Franziska Mutter nicht?“, fragt schon der Eleve Schiller.119 In der Tat: Sie ist die Anmut selbst, deren Auftreten in der Männer- und Brüdergemeinschaft der Karlsschule als Epiphanie des Schönen erlebt wird. Selbst der besonnene Abel verfällt in rhetorische Halluzinationen bei ihrem Anblick und antizipiert das ästhetische Dogma der Künstler: „Dort steht sie die himmlische Schöne, die Weißheit, hold, liebenswerth, mit jedem Reiz geschmükt; Sie zu sehen, ist Wonne, und Sie zu lieben, ist Seligkeit!“ Schon hier formiert sich die Idee einer „erotischen Pädagogik“120, einer Kopplung von Lockung und Tugend, die sich pädagogisch in der „methodischen Kopplung von Disziplinierung und Privilegierung“, im Nebeneinander von „keuschem Dienst“ und voyeuristischem Prärogativ spiegelt: „Da steht sie, lokt sanftlächelnd Ihre zarte unverdorbene Herzen zur Tu–––––––––––––– 116 NA II A, S. 180. 117 Hier scheint unmittelbar auf die mittelalterliche Lehre von der besonderen „Gnadenzugabe“ Gottes angespielt, wie sie etwa Thomas von Aquin (Summa theol. I, 90–102, bes. 94f.) formuliert. Diese „zusätzliche Gnade“ umfasst „die besonderen Vermögen und Vollkommenheiten (Herrschaft über Welt und Menschen, Freisein von Tod und Schmerz, Besitz aller Tugenden, Harmonie von Intellekt und freiem Willen).“ Mertens, W.: Urstand. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel 2001, Sp. 424-430, hier Sp. 425. 118 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt/Main 1974, S. 258. 119 Schiller: Empfindungen der Dankbarkeit beim Namensfeste Ihro Excellenz der Frau Reichsgräfin von Hohenheim. Von der Ecole des Demoiselles. Zitiert nach Vely, Emma: Herzog Karl von Württemberg und Franziska von Hohenheim. Unter Benutzung vieler bisher nicht veröffentlichter Archivalien biographisch dargestellt. Stuttgart 21876, S. 409. 120 Kittler: Carlos als Carlsschüler, hier S. 238.

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gend, und lispelt Ihnen Freude und Entzücken entgegen“.121 Schiller selbst verfasst Inschriften für ein Hoffest und imaginiert Franziska dabei als eine neue Pandora der Anmut: „Die Tugend wollte geliebt sein und nahm ihr Bild an. Tugenden und Grazien wetteiferten sich selbst zu übertreffen, und Franziska ward“.122 Dieselbe erotische Pädagogik bestimmt auch die mythologische Logik der Künstler. Im platonischen Mythos der zwei Aphroditen aus Platons Symposion findet die Kopplung des Sinnlichen mit dem Sittlichen ihre philosophische Legitimität. Der Aufstieg zur intelligiblen Schönheit erfolgt unter größter Intensivierung sinnlich-erotischer Motive. Die Vision vom „Strahlensitz der höchsten Schöne“ (v. 460) gerät zur uteralen Regression unter Verwirrung familiärer und sexueller Relationen, von Mutterschaft und Geschwisterliebe. Die Rückkehr zum Einen wird zum Regress zur Einen, zur Rückkehr in den Mutterschoß. Auch die Künstler belegen, dass „in der ‚Magie’ der lyrischen Rede etwas mitschwingt von dem archaischen Klangzauber der mütterlichen Rede“.123 Schönheit spielt dabei eine Doppelrolle: Sie ist ferne Geliebte und entschwundene Schwester. Als „Cypria“ ist sie selbst Kind der himmlischen Mutter-Schönheit. In der Logik der zwei Veneres müsste dies ein Aufstieg vom Sinnlichen zum Intelligiblen sein; in der Logik der Schiller’schen Bilder jedoch mischt sich in die Lust am höchsten Schönen jene „befleckende Begierde“, die den „keuschen Dienst“ (v. 86) am Schönen befleckt. Sinnfällig wird dies am ödipal besetzten „Schoß der Mutter“, der zugleich Ziel der Werbung und des Begehrens ist.124 Schillers „breakthrough to a Platonic aesthetics“125 ist ein Durchbruch zu einer prekären Liebesdialektik, einer Homöopathie der Sinnlichkeit, die den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und „den gemeinen Charakter, den das Bedürfnis der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslösch(en) und durch Schönheit veredel(n)“126 will. Schiller wird den Gedanken einer ästhetischen Impfung in Ueber das Erhabene aufnehmen. Dort ist von einer „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ die Rede, die zur Auf–––––––––––––– 121 Abel, Jacob Friedrich: Werden grosse Geister gebohren oder erzogen, und welches sind die Merkmale derselbigen? In: Beschreibung des Sechsten Jahrs-Tags der Herzoglichen Militair-Academie zu Stuttgart, den 14ten Dezember 1776. Stuttgart o.J., S. 66. 122 Ebd. S. 406. 123 Schönau / Pfeiffer: Psychoanalytische Literaturwissenschaft, S. 62. 124 Der Schoß ist in Schillers Lyrik ein bevorzugter Ort, buchstäblich ein Lust- und Lieblings-Topos. Vgl. den Taucher: „Und sieh! aus dem finster flutenden Schoß / Da hebet sichs schwanenweiß, / Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß.“ NA 1, 374 (v. 73-75). 125 Pugh: Dialectic of Love, S. 227. 126 NA 20, 313 (3. Brief).

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gabe der Tragödie und des Erhabenen erklärt wird127. Kunst dient, ob im Fall des Schönen oder des Erhabenen, dem Aufbau von „symbolischen Immunsystemen“.128 Der verbreiteten These, Schillers Bilder seien „never original, not always felicitous, and rarely potent“129, seine lyrische Sprache „geheimnislos und auraarm“130, wird man nach Durchsicht der Künstler kaum zustimmen wollen. Trotz der „formale(n) Störung der Bildlogik“131 zeichnen sich schwebende Isotopien ab. Es ist vor allem die durchgehende Erotisierung der Epistemologie, aus der den Künstlern eine tiefere Kohärenz im Bildlichen zuwächst. Venus ist nicht nur eine Ikone der Klassizität; in ihr verdichtet sich der poetologische Gehalt der commercium-Problematik. Die Bürgerin zweier Welten ist die Trope der Mittelkraft. Die Bilder der Liebesgöttin stellen, wie Schiller selbst betont, „zwischen der Sinnlichkeit und Geistigkeit des Menschen das Bindungsglied“ dar, das „den Geist rückwärts zu der Sinnenwelt einlade“.132 Umgekehrt sind sie Medien der Sublimierung von Begierde. Die Austreibung der Sinnlichkeit als der „blinden Fessel“, die Emanzipation des Menschen von der Natur im Allgemeinen sowie seiner Natur im Besonderen, bedient sich eines Systems entschärfter Metaphern. Das Ergebnis ist zweifellos paradox und zeigt die Dialektik, die der „Rehabilitierung der Sinnlichkeit“ im Hinblick auf die Kunst innewohnt: Die Sinnlichkeit der Bilder hebt jene Begierde auf, die dem Begriff nach abgearbeitet werden soll. Das Ergebnis ist eine sublimierte Weiterentwicklung der eigenen Liebesdichtung, eine erotische Epistemologie in lyrisch-platonischem Gewand – ars amatoria der Aufklärung. Zahlreiche Stellen belegen die Freude an der ästhetischen Enthüllung des nackten Körpers der Wahrheit, den der Leser schon einmal durch das „Späheraug’“ (v. 140) der Gedankenlyrik hindurch erahnen darf. In der Tat setzt ja „die Metapher der Nacktheit […] ein Verhältnis des Außer-einander-seins, ein Voyeur-Verhältnis“133 voraus. Vorgelassen in die chambre separée der Wahrheit erblickt der Adept „die furchtbar herrliche Urania“, wie sie „mit abgelegter Feuerkrone [...] als Schönheit vor uns da (steht)“ (v. 59-61). Das wird nicht jedem zu Teil, sondern nur den Künstlern, „vor deren Aug’ allein sie hüllenloß –––––––––––––– 127 NA 21, 51. 128 Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 13. 129 Wilkinson, Elizabeth M.: Schiller – Poet or Philosopher? Special Taylorian Lecture Delivered 17 November 1959, Oxford 1961, S. 22. 130 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 259. 131 H. Schlaffer: Ausweisung, S. 530. 132 NA 25, 184. 133 Blumenberg: Paradigmen, S. 76.

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erscheint“ und die daher mit Recht als „glückselig“ zu bezeichnen sind. Dass es sich bei diesem „Dienst“ um einen „keuschen“ handelt (v. 86), wird deshalb geflissentlich hinzugefügt. Im Bild bleibt freilich die libertine Substanz dieses Aphroditekultes gerade dort präsent, wo sie dem Begriff nach exorziert sein soll. Wir erinnern uns an einen Satz vom Ende des vorausgehenden Kapitels: „Ach zu offt nur drükt der Gottesliebe / Afrodite ihren Stempel auf“.134 Das mönchische Ideal des Künstler-Priesters, der „auf ewig flammenden Altären“ das „heil’ge Feuer“ der Wahrheit zu nähren weiß, die Gleichung von poeta vates und poeta monachus, entlarvt schon der junge Schiller im Stile Nietzsches: Weine Weißheit über die Rekrouten, Die dir Venus Afrodite schikt, Sie verhüllen unter frommen Kutten Nur den Mangel der sie heimlich drükt (NA 1, 22; v. 221-224)

2.2. Lyrische Höhlenausgänge Schiller schreibt den Bildern der Kunst im Gedicht unterschiedliche Funktionen zu. Sie dienen als Medium, schützende Membran, aber auch – vor allem in der Frühphase der Menschheit – als „sanftes“ Narkotikum. Steht in der Anthologie die Musik im Mittelpunkt, so verwirklicht sich sechs Jahre später, in den Künstlern, der Dichtung „heilige Magie“ als magia naturalis und Bilderzauber. Der Dichter wird zum Schattenspieler, zum Projektions- und Illusionskünstler. Bildbedürftigkeit ist das Signum der postparadiesischen condition humaine. Nachdem Gott den Menschen „von seinem Angesichte“ in die „Sterblichkeit verstieß“, wird die Schönheit zu seiner Begleiterin im „Sinnenland“ und „mahlt mit lieblichem Betruge Elysium auf seine Kerkerwand“ (v. 76f.). So schimmert auf dem dürft’gen Leben der Dichtung muntre Schattenwelt. ihr führet uns im Brautgewande die fürchterliche Unbekannte, die unerweichte Parze vor. wie eure Urnen die Gebeine, deckt ihr mit holdem Zauberscheine der Sorgen schauervollen Chor. (NA 1, 210; v. 339-346)

–––––––––––––– 134 Der Venuswagen; NA 1, 20 (v. 187f.).

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Die Idee einer consolatio aesthetica, die Schein und Täuschung zur „milden Narkose“135 erklärt, scheint keineswegs einer bestimmten Zivilisationsphase vorbehalten. Sie durchzieht vielmehr beide distinkte Sektionen des Gedichts und damit beide Phasen der Menschheitsgeschichte: Die des Aufstiegs und die der erreichten Höhe.136 Dieser Gedanke wird auch in den Ästhetischen Briefe bestehen bleiben. Noch an deren Ende wird die Einheit von Ästhetik und Anästhesie beschworen, allenfalls hat sich der Akzent ins Politische verschoben: „Dafür breitet er [sc. Der Geschmack] über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit“.137 Der Kunst wird konsolatorische und anagogische Wirkung zugesprochen. Sie hält dem Menschen durch ihre Projektionen das Ziel gegenwärtig. Unter den Bedingungen des „Sinnenlandes“ wird Kunst zum mediendidaktischen Spektakel, das zwei Jahre nach dem Geisterseher einen versöhnlichen Gegenentwurf zum medialen Trug und metaphysischen Betrug bietet. Der Wortlaut der zitierten Passage deutet die ideengeschichtlichen Bezüge dieser höheren Laternenkunst an. Es geht um eine Umwertung des Höhlengleichnisses im siebten Buch von Platons Politeia (Pol 514a–517a), also um eine „ästhetische Überhöhung der platonischen Schatten“.138 Was Platon hier als Bild für die condition humaine –––––––––––––– 135 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 439. 136 Pugh: Die Künstler, S. 14 unterscheidet „ascent“ und „plateau“. Auch Freud kennt seinen Schiller, stimmt ihm in Das Unbehagen in der Kultur jedoch nur bedingt zu. Die Kunst schafft keinen „vollkommenen Leidensschutz“, keinen „für die Pfeile des Schicksals undurchdringlichen Panzer“ (Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 438). Daher der Schluss: „Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genug, um reales Elend vergessen zu machen“ (S. 439). 137 NA 20, 412. Anders dagegen im Kontext von „Würde“ (Ueber das Erhabene): „[H]inweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen, verzärtelten Geschmack.“ 138 Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt/Main 1989 (= stw 1300), S. 672; zur Rezeption des Höhlengleichnisses ferner die kursorische Darstellung von Konrad Gaiser: Il paragone della caverna. Variazioni da Platone a oggi. Neapel 1985 (ohne Hinweise auf Schiller). Diese protokinematische bzw. protophotographische Installation der platonischen Höhle ist zuerst von Paul Valéry in einer Rede aus Anlass des einhundertjährigen Jubiläums der Fotografie am 7. Januar 1937 formuliert worden: „Was ist die berühmte Höhle Platons anderes als eine Dunkelkammer – und zwar die größte, wie ich meine, die jemals erdacht wurde. Wenn Platon die Öffnung seiner Grotte auf ein ganz kleines Loch reduziert hätte und wenn er die Wand, die ihm als Bildschirm diente, mit einem empfindlichen Überzug versehen hätte, dann hätte er

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einführt, ist nichts anderes als der erste Entwurf einer protokinematischen Projektionseinrichtung. Es handelt sich dabei weniger um eine Laterna magica als um ein Schattenspiel, das von „Gauklern“ veranstaltet wird. Das erste Kino ist ein Verließ, eine „unterirdische höhlenartige Wohnung“, in welcher die Probanden „von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln“ gleichsam fixiert werden, ohne die Möglichkeit den Kopf zur Lichtquelle umzuwenden. „Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht oben her ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt, wie die Schranken welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen“.139 Derart gefangen in einer hermetischen Medienfalle, einem universalen Simulakrum können die Gefangenen nichts anderes für wahr halten als die „Schatten jener Kunstwerke“.140 Heilung und Befreiung kann da nur von außen kommen. Paideia wird als „photologische Operation“141 und „Einjustierung der Optik“142 verstanden, die das falsche ins „richtige Sehen“ (515d) überführt. Dies ist ein schmerzhafter Prozess, der nur durch sukzessive Gewöhnung erfolgen kann: „Zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst“ (516a), bis er schließlich die Sonne selbst zu betrachten im Stande ist“. Schiller folgt Platons Bild in seinen wichtigsten Zügen, kehrt jedoch dessen Tendenz um. Auch die Künstler umkreisen die Idee des „Aufschwungs der Seele in die Gegend der Erkenntnis“ (517b). Dieser Aufschwung ist jedoch ein originärer, keine „Wiederkehr zum Lichte“, wie Schiller im Schema des christlichen Konzepts von Sündenfall und Heilsgeschichte, vielleicht auch in Anlehnung an die AnamnesisLehre des Platonischen Menon und Phaidon, betont. Sonst aber zeigen sich deutliche Parallelen. Auch Schillers Sinnenwelt ist ein geschlossenes Gehäuse, ein Kerker der Illusionen, „die seinen Sinn in Sklavenbanden“ halten (v. 108). Die Fesselung folgt bei Schiller aus der ––––––––––––––

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beim Entwickeln seines Höhlenhintergrundes einen gigantischen Film erhalten; und weiß Gott, welche erstaunlichen Schlußfolgerungen über die Natur unserer Erkenntnis und über das Wesen unserer Ideen er uns hinterlassen hätte.“ Paul Valéry: Werke. Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/Main 1995, S. 502. Vgl. Busch: Belichtete Welt, S. 13-29. Platon: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 509. Busch: Belichtete Welt, S. 15: „Der Höhlenraum ist vom Diktat eines Projektionsmechanismus organisiert“, schreibt Busch, „eine beinahe protokinematische Vorstellung, die den gebannten Zuschauern nur eine Blickrichtung zuerkennt: die Aussicht auf die Schattenbilder eines hinterrücks sich vollziehenden Geschehens.“ Irigaray, Luce: Speculum: Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt/Main 1980, S. 360. Busch: Belichtete Welt, S. 17.

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fehlenden Fähigkeit des primitiven Menschen, die Phänomenwelt für sich zu strukturieren. Nicht die Welt an sich wohl aber die Welt für uns ist Chaos. Diese Fähigkeit zu dem, was Kant „telologische Urteile“ nennen wird, macht den Menschen zum Sklaven der Natur. Ästhetische Ordnung bedeutet dagegen Freiheit und Distanz zu den Phänomenen. Hier setzt der Schein der Kunst ein, weil er Synthese von Ordnung und Phänomen ist. Was bei Platon Signum der Kerkerexistenz war, wird bei Schiller zum Medium von Aufklärung, die verstanden wird als Entkopplung von der physischen Dringlichkeit der reinen Phänomene. Es bedurfte dazu nur einer Umdeutung jener Schattenspielkunst der Politeia, die ausgehen konnte von der Idee einer sukzessiven Gewöhnung an das „richtige Sehen“. Schiller nimmt diesen Gedanken auf, zitiert ihn sogar dort, wo er die Genese der Kunst aus der Mimesis der Natur beschreibt: „Gefällig strahlte der Krystall der Wogen die hüpfende Gestalt zurück […] Die Kunst, den Schatten ihr nachahmend abzustehlen, / wies euch das Bild, das auf der Woge schwamm“ (v. 123-128). Die Heilung der Menschheit erfolgt durch kontrollierte Bild- und Medienerziehung. Schillers Künstler sind die Rechtsnachfolger der Platonischen Gaukler und Wundermänner, deren Rolle auf- und umgewertet wird. Zugleich wird damit eine Leerstelle im Kunstmythos besetzt – die des Hodegeten, der die Höhlenbewohner zur Umwendung zwingt. In Platons Mythos ist dies eine anonyme Figur („jemand“). Die Befreiung, die mehrfach als Zwang bezeichnet wird, bleibt ohne konkreten Befreier. Der Aufstieg aus der Höhle zum Licht erfolgt spontan, ohne Führung und Geleit. Schiller vertraut diese höhere Hodegetik einer eigenen Instanz – der Kunst resp. den Künstlern – an, und deutet Platon damit gegen seine eigene Mimesis- und Kunstkritik im zehnten Buch der Politeia um, wo die Werke der „Nachbildner“ in polemischer Absicht als „Scheinwerke“ (phantasmata) und „Schattenbilder“ (eidola) bezeichnet werden, die „um drei Stufen von der Wahrheit“ entfernt seien. So oder so: „Schiller kennt seinen Platon“143, und so ist auch in den Künstlern an zentraler Stelle von der ‚Gewöhnung‘ ans Licht der Wahrheit die Rede: „An höhern Glanz sich zu gewöhnen, übt sich am Reize der Verstand“ (v. 36f.). Hatte Platon die Dichtung als Bildungsmacht durch die Philosophie ersetzt, so ersetzt Schiller wiederum die Philosophie durch eine philosophische Dichtung. Immerhin erfüllen Platons Gleichnisse eine Funktion, die jener der Schönheit (bzw. Kunst) bei Schiller analog ist. Als ein „der Literatur analoges Phänomen“ erheben sie „den Anspruch, auf Grund darüber –––––––––––––– 143 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 672.

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stehenden Wissens verfaßt zu sein“.144 Schon Platon unterscheidet mithin eine falsche von einer richtigen Mimesis, bloße Täuschung von „skizzenhafter“, mit Schiller: von „voraus geoffenbarter“ Wahrheit. Der philosophische Mythos ist als der neue und gereinigte gegenüber den Illusionen der Künstler-Sophisten gerechtfertigt. Demgegenüber kehrt Schiller zur älteren Tradition einer Universalpoetik zurück, welche der Dichtung den Rang philosophischer Propädeutik zuerkennt. Gegen Platon werden daher Homer und die Tragödiendichter rehabilitiert: Lang, eh die Weisen ihren Ausspruch wagen, lößt eine Ilias des Schicksals Räthselfragen der jugendlichen Vorwelt auf; still wandelte von Thespis Wagen die Vorsicht in den Weltenlauf. (NA 1, 207; v. 232-236)

Schillers Auseinandersetzung mit dem Höhlengleichnis bleibt auch nach den Künstlern ambivalent145. Zustimmend ist sie dort, wo die Mimesis- und Illusionskritik (wie im Geisterseher) scheinbar ohne Abstriche geteilt wird. Die Betrüger vom Schlage eines Schröpfer, Gassner oder des Sizilianers sind mit ihrer Medienmaschinerie Agenten jenes Universalbetruges, den schon das Platonische Höhlengleichnisses angedeutet hatte. Waren die Phantasmagorien der Gaukler in der Höhle letztlich nur allegorische Phantasie, so stehen den neuen Sophisten auch die technischen Möglichkeiten zur illusionistischen Verblendung zur Verfügung. Andererseits wertet Schiller die Schattenspiele dort auf, wo er – wie in den Künstlern – den Betrug selbst zur ästhetisch-pädagogischen Strategie und die Kunst zum pharmakon des exilierten Menschen erhebt. 3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

Die Doppelsinnigkeiten der Venus-Figuren haben gezeigt, wie die scheinbar geheimnislosen Bilderketten den Argumentationsprozess der Künstler in Ambivalenzen verstricken. Der Progress der Mensch–––––––––––––– 144 Büttner, Stefan: Die Literaturtheorie bei Platon und ihrer anthropologische Begründung. Tübingen/Basel 2000, S. 167. 145 Schon in den Philosophischen Briefen findet sich folgende Umdeutung (NA 20, 112): „Er war so glücklich, bis er anfieng zu fragen, wohin er gehen müsse, und woher er gekommen sei. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm wie ein Bliz in der Nacht, der sie finstrer zurükläßt. Unsre Philosophie ist die unglükseelige Neugier des Oedipus, der nicht nachließ zu forschen, bis das entsetzliche Orakel sich auflößte.“

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

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heit vollzieht sich im Prozess der Ideen- und Bildentfaltung. Man kann Die Künstler daher einen Text in Bewegung nennen. Die Bewegung des Textes korrespondiert dabei der Bewegung der Geschichte, die in den Künstlern vor- und ausgeführt wird: „Jahrtausende hab ich durcheilet, / der Vorwelt unabsehlich Reich“ (v. 347f.). Es ist ein Spaziergang durch die Weltgeschichte, der zugleich eine Suchbewegung darstellt, weniger fertiges Manifest als Zeugnis eines Reflexionsprozesses, an dessen Ende die Ausgangsprämissen verworfen, die Rolle der Kunst zweideutig geworden ist. Der rhetorische Glanz und die „Üppigkeit der Bilder“ können dabei nicht über die Aporien der geschichts- und kunstphilosophischen Diskussion hinwegtäuschen146. Wir haben gesehen, wie sehr diese Inkonsistenzen die Essenz dieses ästhetischen Entwurfs darstellen, der „wenigstens zwei, vielleicht sogar drei oder mehrere verschiede und nicht immer leicht miteinander zu vermittelnde Kunstauffassungen enthält“.147 Die Prozessualität des Schreibens hat Folgen für den historischen Richtungssinn. Am Ende der Künstler bleiben zwei Fragen offen: 1. Welchen Weg geht die Menschheit bzw. welchen Punkt ihrer Entelechie hat sie aktuell erreicht? Und 2. Welche Rolle fällt in diesem Prozess der Kunst zu? Der Text gibt auf beide Fragen widersprüchliche Antworten. Zwischen exordium und peroratio entfaltet sich eine doppelte Geschichtsphilosophie; ihr innerer Widerspruch droht, das Projekt der aufgeklärten Universalgeschichte und Geschichtsphilosophie selbst zu Fall zu bringen. Am Anfang steht ein triumphaler Geschichtsoptimismus, die Künstler setzen ein als „Loblied der Moderne“148 und Preis des gegenwärtigen Menschen, der das Ende seines Erziehungsweges („Männlichkeit“) erreicht hat: Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige stehst du an des Jahrhunderts Neige, in edler stolzer Männlichkeit, mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle, voll milden Ernsts, in thatenreicher Stille, der reifste Sohn der Zeit, frey durch Vernunft, stark durch Gesetze, durch Sanftmuth groß, und reich durch Schätze die lange Zeit dein Busen dir verschwieg, Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, die deine Kraft in tausend Kämpfen übet, und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg! (NA 1, 201; v. 1-12)

–––––––––––––– 146 Pugh: Dialectic of Love, S. 219, spricht von den „symptoms of the poem’s inner fragility.“ 147 Costazza: Ästhetische Theorie, S. 246. 148 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 268.

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Schiller fasst dies und die folgende Strophe gegenüber Körner folgendermaßen zusammen: Ich eröfne das Gedicht mit einer 12 Verse langen Vorstellung des Menschen mit seiner jetzigen Vollkommenheit; dieß gab mit Gelegenheit zu einer guten Schilderung dieses Jahrhunderts von seiner beßern Seite. – Von da mache ich den Uebergang zu der Kunst, die seine Wiege war und der Hauptgedanke des Gedichts wird flüchtig anticipiert und hingeworfen.149

Gemeint ist die These: „Die Kunst, o Mensch, hast Du allein“ (v. 33). In der Gegenwart also ist der Prozess der Vollendung, der Weg von der Wildnis in die Zivilisation abgeschlossen. Damit ist ein äußerster Punkt des (Text-)Weges erreicht, und es ist kein Zufall, wenn dieses annoncierte Zeitenende mit einer realen Zeiten- und Jahrhundertwende zusammenfällt.150 Diese mag 1789 noch gut zwölf Jahre entfernt sein – bekanntlich feierte man den Anbruch des neuen Jahrhunderts erst an der Wende des Jahres 1800/1801. Dennoch wird sie zu Beginn und am Ende beschworen: Der Betrachter steht „an des Jahrhunderts Neige“ (v. 2), er sieht im „Spiegel“ der Kunst schon „das kommende Jahrhundert auf(gehen)“ (v. 468). Die Künstler belegen damit, dass „der Grad an Identifikation mit dem Jahrhundert um 1800 auf seinem bisherigen Höhepunkt angelangt war“.151 Das Gedicht ist das früheste und prominenteste Dokument der vorauseilenden Säkularhysterie, welche die Jahrhundertwende 1800/01 in ungekannter Weise zur Zeitenwende und Epochenscheide werden ließ. Die Künstler antizipieren die Phraseologie der Zeitenwende, die eine gute Dekade später zur herrschenden Rhetorik wird.152 Sie werden zum Prototyp und Modell dieser neuen „Säculardichtungen“153 in der Ferntradition des Horazischen Carmen saeculare. –––––––––––––– 149 9.2.1789; NA 25, 199. 150 Der Begriff „Jahrhundertwende“ fehlt um 1800 noch. Schillers Umschreibung „an des Jahrhunderts Neige“ kommt ihm schon nahe; daneben finden sich Begriffe wie „Säkularwechsel“ oder „Wechsel des Jahrhunderts“, auch Metaphern wie „Zeitfest“, „Jubeltag“ etc. Brendecke: Jahrhundertwenden, S. 205. 151 Brendecke: Jahrhundertwenden, S. 175. 152 Ebd. S. 160: „Die Metaphorik dieser Tage [sc. um 1800/1801] sah die Menschheit auf der Schwelle der Zeiten, sprach von der Höhe des Augenblicks, von der aus man in eine verlorene Vergangenheit und in ein noch unbekanntes Jahrhundert blicke.“ 153 Sauer, August (Hg.): Die deutschen Säculardichtungen an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1901; Auf Sauer stützt sich Malles, Hans-Jürgen: Jahrhundertwende und Epochenumbruch in der deutschen Lyrik um 1800. Frankfurt/Main 1993. Im Dom zu Berlin etwa hörte die kaiserliche Familie eine Neujahrs- und Jahrhundertpredigt, in der dieser Tag „als ein Fest der Menschheit und des Patriotismus; und zugleich als das größere christliche Vorsehungsfest“ gepriesen wurde. Brendecke: Jahrhundertwenden, S. 198.

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

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Aber schon hier mischen sich Misstöne ins Bild. Die erklärte Absicht, das „Jahrhundert von seiner besseren Seite“ schildern zu wollen, stellt die Frage nach seiner schlechteren in den Raum. Tatsächlich zeigt der universalhistorische Abriss, dass der Fortschrittsoptimismus von Eingang und Ende historisch ungedeckt ist. Mag die invisible hand einer Vorsehung den Menschen wie spielerisch durch die Geschichte führen, so spielt sie doch auch mit ihm, indem sie ihn auf eine Zeitreise mit inkalkulablen Vor- und Rückschritten schickt. Auch die Künstler wissen, dass Geschichte vor allem Verlustgeschichte ist, und sie erzählen diese Verlustgeschichte gleich doppelt: Als Verlust der religiösen und der ästhetischen Heimat – biblisches und säkulares Paradies werden in Serie geschaltet. Am Ende ist das Zentrum der Götter Griechenlandes auch das der Künstler: Die „schöne Welt“ des klassischen Griechenlandes, in der Wissenschaft und Kunst Seite an Seite – nicht mehr in Konkurrenz zueinander – stehen und zur Blüte gelangen. Daher wird auch die Frage nach der Schuld am Niedergang der alten Welt anders beantwortet als in den Göttern Griechenlandes. Neuzeitliche Wissenschaft und Christentum werden entlastet: Wissenschaft ist kein Sündenfall, sondern Frucht und Ziel ästhetischer Erziehung. Christentum und Christengott bleiben in den Künstlern konsequent ausgespart. Weder als eigene Epoche noch als Katalysator der Genese der modernen Welt. Sofern die alte Welt als die bessere Welt geschildert wird, die es in wiederholten Wiedergeburten immer nur wieder zu restituieren gilt, bleibt auch die geschichtspessimistische Sicht der Götter Griechenlandes in den Künstlern bewahrt. Die laus temporis praesentis bleibt spannungsvoll auf die laus temporis acti bezogen, die sie in ihrer Mitte als provozierendes Ideal einer zugleich ästhetischen und wissenschaftlichen Hochkultur mit sich führt. Dieser Ausgleich ist geradezu die Pointe der Geschichtserzählung, das Paradiesische einer Kultur, die noch nicht in die zwei Kulturen von Kunst und Wissenschaft zerfallen ist. So hymnisch das Gedicht an- und ausklingt, so sehr schildert es dazwischen eine Heilsgeschichte mit Hindernissen, voller Rückfälle und Rückschläge. Progression und Regression, Revelatio und Renaissance befinden sich in einem nur scheinbar geglätteten Widerspruch. Solche Bruchlinien eröffnen sich eklatant in der peroratio, die motivisch eng auf das Proöm bezogen ist, mit dem Unterschied, dass sich das Telos verschoben bzw. aufgeschoben hat. Wenn die Künstler beginnen, ist die Menschheit am Ziel ihres Weges, d.h. im Besitz von Vernunft und Wahrheit. Wenn sie enden, ist die Vernunft plötzlich „von ihrer Zeit verstoßen“ und findet Asyl „in der Camönen Chor“. Dazwischen sieht sich der Mensch auf einen unabsehbaren Weg verwiesen, der die Versöhnung von Kunst und Wissenschaft, Sinnlich-

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keit und Vernunft nur als Phantasma, grammatisch als Futur und Konjunktiv zu beschwören oder als ästhetischen Imperativ zu verordnen vermag: „flüchte die ernste Wahrheit […], finde Schutz […], erstehe […] und räche sich“ usw. Wird in Vers 33 die Würde des Menschen auf die Kunst zurückgeführt, so erweist sich die rhetorische Siegesfeier („berauscht von dem errungnen Sieg“) als verfrüht. Nicht mehr nahe Vollendung und Apokalypse des Schönen, sondern Verlust und Skepsis stehen am Ende: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie!“ (v. 433). Das aber kann nur bedeuten, dass diese Würde nicht weniger bedroht ist als die der „ernsten Wahrheit“. Dignitas hominis und dignitas veritatis scheinen in der Gegenwart, „an des Jahrhunderts Neige“, mehr denn je gefährdet. Die Verzeitlichung des Aufstiegs zur Wahrheit wird zum unendlichen Aufschub. Der Weg der Menschheit ist kein Spaziergang, gebahnt von der unsichtbaren und „weisen Hand“ der Vorsehung, sondern eine Wanderung im Nebel der Weltgeschichte, die am Ende weder „in der Erkenntniß Land“ noch in der „schönen Welt“ der Kunst, sondern in einem unwirtlichen Nirgendwo, in der metaphorischen Obdachlosigkeit endet. Das „reife Ziel der Zeiten“ ist auf unbestimmte Zeit verschoben, die Zeiten sind – hier wird Hölderlin anschließen – „dürftig“ (v. 339). Im Widerspruch zwischen exordium und peroratio der Künstler wird ein Desillusionierungsprozess deutlich, der durch rhetorische Begeisterung allenfalls verhüllt werden kann. Es sind pessimistische Töne, die einen dunklen Akkord in den finalen „Siegesklang“ (v. 456) der Vernunft mischen. Stolberg hatte in seiner Rezension der Götter Griechenlandes irritiert von den „zwo Seelen“ in des Dichters Brust gesprochen154. Ähnliches ließe sich für die Künstler reklamieren: Auch hier zeigt sich die Ratlosigkeit über den historischen Ort der Gegenwart innerhalb der Weltgeschichte und über die Funktion der Kunst in der Ökonomie der Vernunft. Dass Geschichte alles andere als ein kontinuierlicher Siegeslauf der Vernunft ist, zeigt sich auch im universalhistorischen Teil des Gedichtes. Die Geschichte der Menschheit ist von Brüchen und Abbrüchen bestimmt, und gerade aus ihnen gewinnt die Kunst ihre welthistorische Aufgabe. Eine erste Zäsur tritt ein mit dem Ende des klassischen Griechenlandes, das den Moment der Erfüllung bezeichnet; eine Art Zwischenproöm beschließt den Gang durch „der Vorwelt unabsehlich Reich“ – gemeint ist das Altertum. An dieser Stelle ist gleichsam der Standpunkt der Götter Griechenlandes erreicht, doch wird nun die Universalgeschichte fortgeschrieben. Auch die Gründe für den Untergang der alten Welt werden gegenüber den Göttern neu –––––––––––––– 154 Fambach: Schiller und sein Kreis, S. 47: „Hat der Dichter zwo Seelen.“

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

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bestimmt. Dieser ist nun Folge eines naturwüchsigen Alterungsprozesses – wieder spricht Schiller von „der Zeiten stillen Sieg“, dieses Mal jedoch im Sinne eines Zyklus’ von Werden und Vergehen – mundus senescens („der Greis an seinem Stabe“). Es sind die Künstler, die den magischen Zaubertrank und Jungbrunnen bereithalten und gegen die Logik der Zeitlichkeit die Zeit zurückdrehen: „Zweymal verjüngte sich die Zeit, zweymal von Saamen, die ihr ausgestreut“ (v. 361f.)155. Schiller fasst den Siegeszug der Aufklärung („des Lichtes große Göttin“) als einen Prozess, der in Dimensionen einer longue durée zwischen Renaissance und eigener Gegenwart andauert. Diese Genealogie der Vernunft folgt dem Leitfaden der Kunst, nicht der Religion. Die Wiedergeburt der studia humanitatis begründet das Zeitalter der lumières, nicht die Restitution des Glaubens durch den Protestantismus. Diese Genealogie der Vernunft aus protestantischem Geist wird Schiller wenig später an anderer Stelle – in der Historiographie – fortsetzen. Erst in den Studien zum konfessionellen Zeitalter wird der Kampf um die „große Glaubensrevolution“156 der sich vollendenden Aufklärung, wird das Freiheitsstreben der Niederlande zum Fanal und „Symptom einer Vorgeschichte der Aufklärungsgeschichte“.157 Vergleicht man beide Darstellungen, so zeichnen sich Widersprüche, geradezu alternative Entwürfe einer Genealogie der Aufklärung ab. In der Geschichtsschreibung, z.B. in der Jenaer Antrittsvorlesung, ist von der zivilisierenden Macht der Kunst keine Rede mehr, und man mag in dieser Wende von der Kunst zum Protestantismus als Treibsatz des Lichtes eine bewusste Reaktion auf die Unsicherheit sehen, die Schiller hinsichtlich der aktuellen Funktion der Kunst hegt. Die Künstler sind von der Historiographie durch die Wasserscheide der französischen Revolution getrennt, und so verschiebt sich der Akzent von der Kultur- auf die politische Geschichte. Im Geschichtsdenken der Künstler sind zwei historische Verlaufsfiguren überblendet. Die zyklische Idee der Renaissance(n) (Wieder-

–––––––––––––– 155 Welche Renaissancen hier gemeint sind, bleibt undeutlich. Die erste könnte sich auf die Rezeption griechischer Kunst und Kultur in Rom beziehen, die zweite – dies wird im Folgenden expliziert – auf die Eroberung von Byzanz („des Orients entheiligten Altären“), die zu einem Transfer griechischer Kultur nach Italien („Hesperiens Gefilden“) und damit zur italienischen Renaissance führt („verjüngte Blüten Joniens“). 156 NA 17, 60. 157 Hofmann, Michael: Schillers Reaktion auf die französische Revolution und die Geschichtsauffassung des Spätwerks. In: Ders. / Rüsen, Jörn / Springer, Mirjam (Hg.): Schiller und die Geschichte. München 2006, S. 180-194, S. 182.

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geburt, Verjüngung etc.) und die lineare der translatio.158 Die Künstler folgen letzterer und dies in ihrer Spielart als translatio artis oder studii, die den Transfer einer substantiell unveränderlichen Hochkultur („verjüngte Blüten Joniens“) in einen neuen Raum, also eine diatopische und diachrone Bewegung impliziert, die linear und kontinuierlich verläuft. Demgegenüber schließt die zyklische Idee der Wiedergeburt den Gedanken einer dunklen Zwischenzeit, den phasenweisen Nieder- und Untergang einer Kultur ein. Indem Schiller beide Verlaufsprinzipien kombiniert, baut er ein Moment des Diskontinuierlichen in den universalhistorischen Kursus ein, der die Idee eines „weisen Weltenplanes“ in Frage stellt. Statt kontinuierlicher Perfektion räumt das Renaissance-Denken periodische Brüche und dark ages des Kulturverfalls ein, die an der Teleologie und Theodizee der Geschichte nachdrücklich zweifeln lassen. Ein solches dark age sieht Schiller in der eigenen Gegenwart gekommen: die Wahrheit ist „von ihrer Zeit verstoßen“ und die Schlussparänese dient dem Ziel, eine neue – dritte – Renaissance herbeizuführen, jene „späte Wiederkehr zum Lichte“ (v. 68), von der anfangs die Rede war. Auf diesem „schwere(n) Sinnenpfad“ ist jedoch kein kontinuierlicher Anstieg möglich; es ist eine Wanderung mit wiederholten Rückfällen. So bleibt Schillers gedichtete Geschichte der Menschheit in sich widersprüchlich. Das „Loblied der Moderne“ ist zugleich ein kulturkritisches Manifest, in dem das Jahrhundert nicht mehr durchgehend „von seiner besseren Seite“ erscheint. Diese Zeitkritik und –klage, der Aufruf zur Restitution der Kunst wird ihren Nachhall in den Manifesten des Klassizismus zwischen Bürger-Rezension, Horenprogramm und Ästhetischen Briefen finden. Es ist kein Zufall, dass Schiller den kulturkritischen ersten Teil der Ästhetischen Briefe als Reprise der „reichhaltigsten Ideen aus den Künstlern“ bezeichnet. Die Idee der ästhetischen Erziehung ist schon in den Künstlern untrennbar mit der Kulturkritik und –diagnostik verbunden. Die Widersprüchlichkeiten der Künstler haben zu tun mit der prekären Frage nach der Rolle der Kunst im Prozess der Zivilisierung. Es scheint sogar, als bestünde eine enge Wechselwirkung zwischen Geschichtspessimismus und Kunstemphase, Kulturkritik und ästhetischer Erziehung. Erst die Erfahrung kulturellen Abstiegs lässt die Kunst zum Asyl der Wahrheit werden, nachdem ihre zivilisatorische Bedeutung bereits erschöpft schien. Hier eröffnet sich ein Dilemma: Das Übel der Zeit ist die Rettung der Kunst vor der histori–––––––––––––– 158 Zur Tradition Worstbrock, Franz Josef: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie. In: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1-22.

3. Säkularpoesie: Zeitenwende – Zeitenende

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schen Belanglosigkeit; die Vollendung des Menschen wäre im Umkehrschluss das Ende der Kunst: „Die höchste Apotheose, die geistige Verklärung des Schönen, ist zugleich sein Untergang und seine Euthanasie“.159 Dieser Zusammenhang erklärt, warum die Erhöhung der Kunst argumentativ die Kulturkritik voraussetzt. Soll die Kunst als Fackelträgerin der Kultur erscheinen, muss die Gegenwart als Krisenzeit dargestellt werden. Die Krise der Moderne erst legitimiert Kunst als vas veritatis. Das Ende der Zeiten – Erfüllung von Aufklärung – wäre dann auch das Ende der Kunst, der Eingangshymnus auf die Kunst ist zugleich ein Abgesang. Die ersten Strophen betonen unmissverständlich die historisch überholte, funktional dienende Funktion der Kunst, den frühen Menschen „der künftigen Geisterwürde“ (v. 18) zuzukehren. Von einer Autonomie der Kunst und des Kunstwerks kann keine Rede sein. Das Spiel der Kunst dient dem Ernst des Lebens, der „hohen Pflichten“ und der „erhabnen Tugend“. Das delectare bleibt als sekundärer Wert dem prodesse botmäßig. Die Künstler eröffnen mit einem Dichtungsbegriff, der sich kaum von den moralphilosophischen Zuordnungen zwischen Breitinger, Haller, Lessing, oder Gellert unterscheidet160. Der Gedanke der Autonomie der Kunst gegenüber Moral, Religion und Wissenschaft ist zunächst nicht Schillers Gedanke. Das Programm der ästhetischen Erziehung ist Effekt seiner eigenen Erziehung zur Ästhetik durch den Mentor Wieland. Die Kehrtwende inmitten des Schreibprozesses vollzieht sich Anfang Februar 1789: „Wieland nämlich empfand es als sehr unhold, daß die Kunst nach dieser bisherigen Vorstellung doch nur die Dienerin einer höhern Kultur sei“.161 Schiller reagiert und schreibt die letzten Strophen um. Nun ist die Kunst Vermittlerin und Bewahrerin von Wahrheit und Wissenschaft, nicht mehr nur ancilla. Gebrochen ist damit die zu Beginn eröffnete historische Teleologie: die Einbahnstraße von der Kunst zum Weltgeist. Schiller führt eine neue Metapher ein, die nun auch der Kunst eine dynamische Rolle innerhalb der Entwicklung des Geistes zugesteht: „Mit euch, des Frühlings erster Pflanze, begann die Seelenbildende Natur, mit euch, dem freud’gen Aerntekranze, –––––––––––––– 159 Cassirer: Methode, S. 92. 160 Was Breitinger über die Funktion der poetischen Bildlichkeit schreibt, trifft auch noch Schillers Konzeption: „Gleichwie ein kluger Arzt die bitteren Pillen vergüldet oder verzuckert: also müssen diejenigen, welche die Wahrheit als ein Hilfsmittel zur Beförderung der menschlichen Glückseligkeit gebrauchen wollen, gleicherweise verfahren.“ Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. 2 Bde. Stuttgart 1966 (Ndr. der Ausg. Zürich 1740), S. 166. 161 An Körner 9.2.1789; NA 25,199f.

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V. ›Die Künstler‹

schließt die vollendende Natur“ (v. 392-395). Das Bild des biologischen Reifeprozesses tritt neben das der Erziehung durch die Amme Kunst, gleichzeitig wird die Vollendung der Kunst als utopisches Leitideal ausgerufen. Naherwartung wandelt sich in Fernerwartung, ohne dass Schiller die Eingangsstrophen an diese neue dialektische Konzeption einer spiralförmig rück- und aufwärts zugleich laufenden Bewegung anpassen würde. Ende und Anfang des Gedichts widersprechen sich hinsichtlich ihrer Bestimmung der Kunst: „Instead of maturing from art to science, man now matures from science to art“.162 4. Kunst, Rhetorik, Humanismus

4. Kunst, Rhetorik, Humanismus 4.1. Sprache und Zivilisation

Der Konflikt zwischen Kunst und Wissenschaft, Poesie und Philosophie, den die Künstler umkreisen, ist nicht neu. Der Text steht nach Thema und Topik in einer langen Diskurs- und Gattungstradition. Die Humanisierung des Menschen durch die Kunst ist ein humanistisches Projekt, das sich der alten Auseinandersetzung zwischen Rhetorik und Philosophie verdankt. Die auch für Schiller folgenreichste Formulierung findet es in Ciceros Ideal einer rhetorischen Philosophie bzw. philosophischen Rhetorik. Nahezu alle Elemente, die Schiller zum Lob der Künste aufbietet, haben hier ihren Ausgangspunkt. Dass die „schöpferische Kunst“ mit ihren „stillen Siegen des Geistes unermeßnes Reich [umschließt]“ (v. 398f.), dass Kunst als Medium philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnisbestände unbegrenzt und universal ist, wird von Cicero mehrfach im Paragone mit der Philosophie behauptet. Die Beredsamkeit (eloquentia) zeichnet sich Cicero zufolge gerade dadurch aus, dass sie „durch keine Grenzmarken einen Eigenbereich definiert“.163 Die Differenz zwischen Dichtung und Oratorie ist in dieser genuin humanistischen Tradition bis ins Aufklärungsjahrhundert hinein allenfalls graduell. Verbreitet ist, z.B. bei Sulzer, die Vorstellung von der Beredsamkeit als „Schwes–––––––––––––– 162 Pugh: Dialectic of Love, S. 221. 163 Cicero, Marcus Tullius: De oratore – Über den Redner. Übers. und hg. von Harald Merklin. Stuttgart 21976 (= RUB 6684), S. 81: „Der Dichter nämlich steht dem Redner nahe, etwas gebundener im Rhythmus, aber freier in der Ungebundenheit der Sprache; in vielen Formen schmückender Gestaltung ist er gar sein Gefährte und ihm fast gleich; in dem Punkt jedenfalls stimmt er gewiß beinahe mit ihm überein, daß er durch keine Grenzen sein Recht beschneidet und begrenzt, sich mit demselben Spielraum und Reichtum des Ausdrucks zu bewegen, wo er will.“ (I, 70)

4. Kunst, Rhetorik, Humanismus

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ter“ der Dichtkunst164. Auch die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzogene Abwertung der Rhetorik kann nicht über die weitreichende praktische Bedeutung hinwegtäuschen, die rhetorische Form- und Gliederungsprinzipien weiterhin für das Schreiben selbst besaßen165. Was sich hier vollzieht, ist nicht das Ende der Rhetorik, sondern ihre Transformation in einen neuen Bezugsraum, der durch die Ästhetik und ihre Fundierung in der Anthropologie bezeichnet wird.166 Die Reserven gegen die Rhetorik betreffen zwei Aspekte. Einerseits ein emphatisch an Natur, nicht mehr an Regel und Technik (im Sinne von ars) gebundenes Verständnis von Dichtertum, andererseits die Durchschlagskraft der Rede, die den Leser zu manipulieren und, wie Kant sagt, „durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken sucht“.167 Überhaupt ist Kants Tirade gegen die Beredsamkeit als Kunst, „durch den schönen Schein zu hintergehen“, in der Kritik der Urteilskraft symptomatisch für die Zeitstimmung. Geht in der Dichtkunst „alles ehrlich und aufrichtig zu“, so wird die Rhetorik zur Stiefschwester der Kunst, sofern sie dazu drängt, „die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen [...] das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß“.168 Rhetorik ist für Kant praktizierte Gegenaufklärung, Despotie des Wortes, die der Reflexion zu nahe tritt. Das berühmte Verdikt lautet: „Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen [...], gar keiner Achtung würdig“.169 Lange vor Kant hat Schiller in der Vorrede des Verbrechers aus verlorener Ehre diese Dialektik von Überzeugen und Überwältigen in den Gegensatz von „usurpatorischer“ Macht des Wortes und „republikanischer Freiheit“ des Wortes gebracht. Der von Kant geforderten strikten Trennung von ars poetica und ars oratoria ist er dagegen nicht gefolgt, zumal nicht in den Künstlern. Alle Ideen von der Macht des Gesanges sind letztlich rhetorischer Provenienz, Ausdruck des Willens, „durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken“, wie Kant schreibt. Kunst als magische –––––––––––––– 164 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, 136 (s.v. Beredsamkeit). 165 Kant: Werke, Bd. 8, S. 431 Anm. (KdU § 53): „Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig.“ 166 Zu diesem Prozess Till: Transformationen der Rhetorik, bes. S. 515ff. 167 Kant: Werke, Bd. 8, S. 431 (KdU § 53). 168 Ebd. Anmerkung. 169 Ebd.

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Prozedur ist immer auch „hinterlistige Kunst“170 bzw. Kunst der Hinterlist, die Kant perhorresziert. Der vor-Kantische Schiller stellt sich auf den gegenteiligen Standpunkt. Was Kant als „Kunst des schönen Scheins“ diskreditiert, ist als „liebliche(r) Betrug“ in den Künstlern Signum ästhetischer Erziehung. Schillers Verhältnis zur Rhetorik ist ambivalent. Die Magie des Wortes wird zunächst beschworen, später durch eine Ästhetik der Distanz im Zeichen des Erhabenen ersetzt. Schiller lehnt die Rhetorik als regelgeleitete Technik und ars oratoria ab171, überträgt aber ihre Wirkpotentiale auf die Dichtkunst und rückt diese als höhere Rhetorik in das Zentrum seiner Erziehungsidee. Die Forschung folgt zumeist der antirhetorischen Linie. Immer wieder wird abwertend von „rhetorisierende(r) Poesie“172 oder „philosophisch-rhetorische(m) Purpurmantel“173 gesprochen. Andererseits bleibt Schiller gerade als „der größte Redner der deutschen Nation“ (Adam Müller) weiter anerkannt.174 Gert Ueding hat in seiner Studie zu Schillers Rhetorik auf die vielfältigen konzeptionellen Anknüpfungen zwischen rhetorischer Tradition und Ästhetik hingewiesen, freilich ohne dies an Textinterpretationen aus dem Werk weiter zu profilieren.175 Es besteht kein Zweifel, dass hier die ciceronianische Personalunion von orator et poeta auf zwei Ebenen fortlebt: Einerseits in der rhetorischen Formierung seines Sprechens und Argumentierens, andererseits im Doppelkonzept von ästhetischer Erziehung und „schöner Wissenschaft“, die, unmittelbar an das Ciceronische Projekt der Rhetorik als Vermittlungsinstanz allen Wissens appelliert. Es ist in diesem Zusam–––––––––––––– 170 So Kant: Werke, Bd. 8, S. 431 Anm. 171 Aversionen finden sich schon beim Karlsschüler, der die Rhetorik jenen „abgeschmakten Konvenzionen“ (NA 3, 21) zuschlägt, gegen die in den Räubern Sturm gelaufen wird. Noch der klassische Schiller fürchtet immer wieder, „in meine ehemalige rhetorische Manier zu fallen.“ An Goethe, 2.10.1797, NA 29, 140f. 172 Schadewaldt, Wolfgang: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur Neueren Literatur. Zürich und Stuttgart 1960, S. 730. 173 Franz Horn: Die schöne Literatur Deutschlands während des achtzehnten Jahrhunderts. Berlin/Stettin 1812, S. 189f. 174 Müller, Adam: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit einem Essay und Nachwort von Walter Jens. Frankfurt/Main 1967, S. 41. 175 Ueding: Schillers Rhetorik, S. 2 formuliert dies als Auftrag an die Forschung: „Die schriftstellerische Praxis Schillers, sein Werk unter rhetorischen Aspekten zu untersuchen, den Aufbau der Reden, die Funktion der Sentenz in den Dramen und Gedichten, die epideiktische Beredsamkeit der Karlsschulreden, kurz: die Realisierung dessen, was die Rhetorik in die Ästhetik Schillers eingebracht hat, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.“ Im Großen und Ganzen ist es bei diesem Appell geblieben – mit Ausnahme einiger Aufsätze aus dem von Achim Aurnhammer u.a. herausgegebenen Band Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990. Hier bes. die Beiträge von Gerhard Friedl: Die Karlsschüler bei höfischen Festen (S. 47-76) und Friedrich Strack: Schillers Festreden (S. 111-126).

4. Kunst, Rhetorik, Humanismus

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menhang von Belang, dass sogar ein Begriff wie ‚Popularphilosophie‘, vermittelt durch Philologen wie Johann Heinrich Ernesti, auf Cicero zurückgeht.176 Insbesondere der Gedanke einer Formerziehung – als Erziehung zur Form oder durch Form – steht in der Tradition Ciceros und Quintilians177. Schiller stellt Quintilians institutio oratoria die Idee einer institutio aesthetica bzw. poetica gegenüber, in der begrifflich Lessings Erziehung des Menschengeschlechts nachhallt. Dieser Titel ist bewusst doppeldeutig; er lässt offen, was wenige Jahre zuvor in den Künstlern noch strittig war. Wie institutio oratoria konnte ästhetische Erziehung zweierlei bedeuten. Erziehung durch Ästhetik (Kunst) oder Erziehung zur Ästhetik.178 Wie dem auch sei: Für die Künstler ist das Modell der ciceronianisch-quintilianischen Rhetorik von fundamentaler Bedeutung. Umso bemerkenswerter bleibt, dass der römisch-lateinischen Tradition im Rahmen der Fortschrittsgeschichte des Menschen kein eigener Rang zugestanden wird. Ferment –––––––––––––– 176 Johann August Ernesti: De philosophia populari. Leipzig 1754. 177 Gert Ueding hat denn auch (im Gefolge Heinz Otto Burgers) das Schiller’sche „Bildungsideal“ auf das alteuropäische „Adelsideal“ zurückgeführt, wie es Castiglione in seinem Libro del Cortegiano (1528) kodifiziert hatte. Zu Recht: Schöne Form und „guter Ton“ entstammen einer Tradition rhetorischer Formkultur. Seit den KalliasBriefen wird beides zusammengesehen: „Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt.“ NA 26, 216. Vgl. den 10. und vor allem den 26. Brief über ästhetische Erziehung. In den Künstlern steht das Ideal des Hofmanns als Erbe des orator bonus noch nicht im Vordergrund, umso mehr die Idee einer Erziehung durch Kunst, die jene ältere einer Erziehung durch Beredsamkeit gleichsam beerbt. Ueding hat in seiner Studie das Verbindende der rhetorischen Erziehungsidee nicht ins Zentrum gestellt, sondern einerseits nach den „Elemente(n) der klassischen Rhetorik in seiner Kunsttheorie“ und andererseits nach dem Lösungspotential der Rhetorik „für die gesellschaftlichen Probleme der Zeit“ gefragt (S. 5). 178 Schiller hat Quintilian offenbar erst im Laufe des Jahres 1793 kennengelernt und sogleich emphatisch „des trefflichen Römers herrliche Grundsätze über die Erziehung“ aufgenommen. Dies geht aus einem Brief an Göschen vom 5.7.1793 hervor: „Wenn Sie mir wieder schreiben, so seyen Sie doch so gut und schicken mir Quintilians Institutiones Orationis, wo möglich in einer schönen Quartausgabe, die davon existirt“ (NA 26, 257). Aus Karl Philipp Conz’ Bemerkungen geht hervor, dass Schillers Entdeckung der Institutio oratoria tatsächlich erst in diese Phase seines Lebens datiert: „Zufällig oder absichtlich, ich weiß nicht wie? war ihm auch in jener Zeit Quinctilian in die Hände gefallen. Er studierte ihn aufmerksam und, durch das Vaterinteresse gespornt, hauptsächlich des trefflichen Römers herrliche Grundsätze über die Erziehung. Wie ihn alles ihm Neue aufs lebhafteste ergriff, so auch dieses. Er sprach mit Begeisterung mehrmalen mit mir davon, mit der Versicherung, er wolle seinen Sohn nach den Maximen, wie sie Quinctilian auseinandersetzt, erziehen.“ NA 42, 181 (Schillers Gespräche). Indirekt wirkt Quintilian jedoch bereits früher: „Denn eben jenes in der Institutio oratoria dargestellte Bildungsideal der Rhetorik hat durch Vermittlung der Popularphilosophie (Garve, Adelung) und des Humanismus überhaupt in das Erziehungsprogramm der Karlsschule Eingang gefunden und wird Schiller vor allem über seinen Lehrer Abel erreicht haben.“ Ueding: Schillers Rhetorik, S. 22.

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der Bildung ist allein das klassische Griechenland. Über Byzanz, ohne die Vermittlung der Römer, jener „ersten Sammler und Austeiler der Früchte, die, anderweit vorher gewachsen, jetzt reif in ihre Hände fielen“179, muss die griechische Kunst und Kultur dem Abendland neu implementiert werden. Im Zeitalter Johann Joachim Winckelmanns hatte der Bezug auf Hellas das Anknüpfen an Rom erübrigt. Überblickt man die verschiedenen Facetten von Schillers Erziehungs- und Humanisierungsidee, so wird man sie beinahe vollständig in der Tradition des Lobs der Redekunst angelegt finden, welche nun auf die Kunst insgesamt übertragen werden. Ein Vergleich mit Ciceros Apologie der Rhetorik kann dies bestätigen. Das Proöm der viel verwendeten Jugendschrift De inventione betont zunächst die politische Bedeutung der Einheit von Philosophie (sapientia) und Beredsamkeit (eloquentia), um dann in nuce Schillers Idee einer Erziehung des Menschengeschlechts fast wörtlich vorwegzunehmen.180 Es ist die klassische große Erzählung des Zivilisationsprozesses, der mythische Bericht vom Übergang des Menschen von der „Thierheit“ zur „Geisterliebe“, vom solitären Troglodytentum zur sozialen Lebensform, bewirkt durch die Kraft des Wortes. Wir finden hier alle Topoi, aber auch den Verlaufsplan des Zivilisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses aus den Künstlern vorgeprägt. Der Mythos von der Vergesellschaftung durch das sozialisierende Wort ist – namentlich in der Fassung Ciceros – einer der wirkmächtigsten Zivilisationsmythen der alteuropäischen Welt. Cicero geht zunächst aus von einer Vorzeit, als die Menschen „wie Tiere umherzogen“, nicht den Kräften der Vernunft, sondern des Körpers vertrauend. Es ist eine Zeit ohne die Institutionen der Gesellschaft: ohne Religion, Sittlichkeit und Pflichtgefühl, ohne gesetzliche Ehen oder Familien, bestimmt von „der Begierde, der blinden und ziellosen Beherrscherin des Menschen“ („caeca ac temeraria dominatrix animi cupiditas“), die sich mit roher körperlicher Kraft ihrer Wünsche bemächtigt. In dieser Situation tritt ein Weiser – bei Schiller: die Künstler – auf, der die Potentiale der Zivilisierung erkennt. Mit Hilfe seiner rhetorischen Fähigkeiten gelingt es ihm, „aus Tieren und Ungeheuern zivilisierte Menschen zu machen“ („ex feris et inmanibus mites reddidit et mansuetos“). Hominisation und Zivilisation sind an die Macht des Wortes – bei Schiller: der Kunst insgesamt – gebunden. Treten die Agenten der Vergesellschaftung in den Künstlern im Kol–––––––––––––– 179 So Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. In: Müller, Peter (Hg.): Deutsche Literatur von Lessing bis Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. 2 Bde. Berlin und Weimar 1978, Bd. 1, S. 358. 180 Cicero, Marcus Tullius: De inventione. De optimo genere oratorum. Hg. von Theodor Nüßlein. Darmstadt 1998 (= Sammlung Tusculum), hier Buch 1, Kap. 2.

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lektiv auf, so ist Ciceros Diskursstifter ein mythischer einzelner, ein Soter im Sozialen. Ob Schiller seine Version der Zivilisierungsidee unmittelbar aus dem allgegenwärtigen Schulautor Cicero schöpfte181 oder auf zeitgenössische Vermittlungen zurückgriff, kann angesichts der Verbreitung des Topos in der Literatur der Spätaufklärung dahin gestellt bleiben. Wir können uns stellvertretend auf den Artikel „Beredsamkeit“ in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste beziehen. Er fasst bündig die Topik der laus eloquentiae zusammen, indem er mehrfach die zitierte Stelle aus De inventione paraphrasiert: Man kann der Beredsamkeit den ersten Rang unter den schönen Künsten nicht absprechen. Sie ist offenbar das vollkommenste Mittel, die Menschen verständiger, gesitteter, besser und glüklicher zu machen. Durch sie haben die ersten Weisen die zerstreueten Menschen zum gesellschaftlichen Leben versammelt, ihnen Sitten und Gesetze beliebt; durch sie sind Plato, Xenophon, Cicero, Rousseau, zu Lehrern der Menschen worden.182

Die zentrale These der Künstler – „die Kunst, o Mensch, hast du allein“ – erwächst aus dieser Tradition. Schiller überträgt verallgemeinernd auf die Kunst, was in ciceronianischer Tradition auf die rhetorisch geformte Sprache bezogen war. Durch Herders Preisschrift Über den Ursprung der Sprache (1772) war diese Debatte auf anthropologischer Grundlage neu aufgenommen worden: „Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden“.183 Auch wenn sich Schillers Lektüre des Textes zum Abfassungszeitpunkt der Künstler nicht erhärten lässt, muss bezweifelt werden, dass Schiller „die neuen Spracheinsichten Herders und Hamanns an keinem einzigen Punkt berührt [hätte]“.184 Eher das Gegenteil ist der –––––––––––––– 181 Ueding: Schillers Rhetorik, S. 6 hält dies für zweifelhaft. „Ciceros rhetorische Schriften werden unmittelbar ebenfalls keinen entscheidenden Einfluß auf ihn ausgeübt haben.“ Eine Studie zur Cicero-Rezeption in der deutschen Aufklärung ist ein Desiderat. Die Arbeit von Thaddäus Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Darmstadt 51967 (zuerst 1897) spart mit Ausnahme von Garves Übersetzung von De officiis die deutsche Aufklärung bewusst aus. „Diese soll uns selbst nicht aufhalten; wie männiglich bekannt, war sie unendlich braver, ebenso oberflächlich und viel weniger interessant als die französische“ (S. 248). 182 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 147. Vgl. S. 148: „durch sie wird alsdenn ein wildes, ruchloses, frevelhaftes Volk, gesittet und tugendhaft.“ 183 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1966 (= RUB 8729), S. 31. Zu Herders Sprachphilosophie grundlegend Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart/Bad Cannstatt 1988 (= Problemata 118). 184 Wiese: Schiller, S. 436.

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Fall. Was Herder für die Sprache reklamiert, überträgt Schiller vollständig auf die Kunst. Dass Zivilisierung auf Distanz gegenüber einer blind andrängenden Natur (der äußeren der Phänomene wie der inneren der Triebe) beruht, war Herders zentrale These. Der Mensch „beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei“.185 Dass ihm dies gelingt, ist seiner Fähigkeit zur Konzentration geschuldet. „Besonnenheit“ und Reflexion sind Synonyme von Aufmerksamkeit (attentio)186. Diese Ordnungs- und Abstandsleistung macht für Herder den „Unterscheidungscharakter unsrer Gattung“ aus. Schiller überträgt das für die Sprache Festgestellte nun auf die Kunst. Sie bringt Ordnung, Kontur und „Gleichmaß“ in die Welt, wo die Umwelt des Wilden „ein streitendes Gestaltenheer“ ist, dessen amorphe Phantasmen „seinen Sinn in Sklavenbanden hielten“ (v. 107 bzw. 108). Mit der Sprache befreit sich der Mensch von der Natur, d.h. auch von seiner tierischen Natur. Sind die Menschen bei Herder „Sprachgeschöpfe“187, so sind sie für Schiller Kunstgeschöpfe. Die Künstler bündeln somit zeitgenössische Diskussionen um die Frage der Anthropogenese. Hier berühren sich die humanistischen Reflexionen über die Würde des Menschen (ausgehend von Giovanni Pico della Mirandolas De dignitate hominis188), ciceronianische Rhetorik und neueste Sprachanthropologie. Programmatisch wird etwa an die durch Petrarca initiierte Rehabilitierung der studia humanitatis gegenüber der scholastischen Universitätsphilosophie im 14. Jahrhundert angeknüpft. Als vierte Tradition kommt die humanistische Textsorte der Dichtungsapologie (laus oder defensio poeticae etc.) hinzu, die sich in Versform und Prosa der Kritik an der Dichtkunst stellt und mit deren Leistungen für die Kultivierung des Menschen beschäftigt.189 Lessings „Rettungen“ (insbesondere die des Horaz) partizipiert an dieser Tradition. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ist die apolo–––––––––––––– 185 186 187 188

Herder: Abhandlung, S. 32. Thums: Aufmerksamkeit, S. 55-74. Herder: Abhandlung, S. 58. Dazu Pugh: Dialectic of Love, S. 229-238, mit Hinweis auf Ficino und Pico, aber ohne Hinweis auf Lektürewege und Quellen („that Schiller had some indirect knowledge of the Platonic source“, ebd. S. 235). 189 Eine zusammenfassende Darstellung dieses Komplexes existiert nicht. Zu Problem und Topik im 18. Jahrhundert Dyck, Joachim: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977.

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gia poetices ein obligatorisches Element der Vorreden- und Widmungspoetik. Sie bieten Gelegenheit, von Nutzen und Wert der Dichtung, vom „Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt“190, oder „Von etlichen sachen die den Poeten vorgeworffen werden; vnd derselben entschuldigung“191 zu referieren. Im 18. Jahrhundert verlässt das Thema die Vorreden und Apologien; jetzt entwickelt sich ein Typus der Reflexionspoesie, der sich als ars poetica zweiten Grades bezeichnen ließe – nicht mehr selbst Dichtkunst (im Sinne von ars), sondern Reflexion über Dichtkunst. Ein Exemplar dieses neuen Typus’ ist Johann Peter Uzens Hymne an Die Dichtkunst (1755), die als Vorbild der Künstler gedient haben mag.192 Hier konnte Schiller eine Reihe von Aspekten finden, die in den Künstlern eine zentrale Rolle spielen: Die Erfindung und Entstehung der Kunst aus dem „ungekünstelten Gesang“ der Hirten, das Fortschreiten zu kosmologischen Themen („der Dinge Grund“), die Erziehung des „junge(n) Hirten“ durch das Lied, „das, reizend, wann es unterwies, / Von rauher Wildheit sie entwöhnte, / Und Menschen werden ließ“, schließlich die Vermittlung einer sonst abstrakt bleibenden, ‚kalten’ Erkenntnis: „Die Wahrheit rührt uns nicht entblößt und ungeschmückt, / Wenn sie die Sinne nicht berückt. Wer unser Herz erst überwand, Gewinnt auch leichtlich den Verstand“. Bei Uz fand Schiller die propädeutische und zivilisatorische Rolle der Dichtung formuliert, auch ihre Unterordnung unter die Wahrheit: „Du, Dichtkunst! öffnest unser Herz der Wahrheit“. Die Funktionen des prodesse und des delectare sind ebenso symmetrisch verteilt wie „erkennen“ und „empfinden“. Kunst liebt nicht den „finstern Schulwitz“, sondern gibt „uns zu empfinden“, was „die Weisen mühsam lehren“. Uzens Gedicht bezeichnet den Punkt, von dem Schillers Künstler ausgehen. Kunst bietet nicht Wahrheit an sich, sondern Wahrheit für uns, wirkende Wahrheit. So oder so ähnlich lauten die humanistisch getönten Absagen an die Metaphysik, wie sie etwa auch Wielands große Erzieherin Musarion verkörpert. Bei aller konventionellen, rokoko-klassizistischen Fassung des Themas sind die geteilten humanisti–––––––––––––– 190 Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke und P.M. Mitchell. 12 Bde. Berlin/New York 1968-1987 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), hier Bd. 6, 1, S. 115. 191 Opitz, Martin: Buch von der deutschen Poeterey. Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (= RUB 18214), S. 16-22 (Kap. 3). 192 Hinweis im Kommentar NA 2/ II A, 194. Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke. Hg. von August Sauer. Stuttgart 1890 (Ndr. Darmstadt 1964), S. 120-123.

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schen Grundpositionen unübersehbar. Dichtung ist poetische Popularphilosophie, anti-scholastisch und antidogmatisch, Philosophie der Freude, nicht der melancholischen Versenkung in die Tiefen des Geistes. In den Schriften Herders, Lessings, Garves oder Forsters war die Erinnerung an die Genealogie der Aufklärung aus dem Kampf des Humanismus gegen „scholastisches Scheinwissen“, „logische Spitzfindigkeiten und metaphysische Grübeleyen“ noch lebendig.193 Noch das Horenprogramm stellt sich explizit in die Tradition eines antidogmatischen Humanismus, der die „Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen“194 sucht. 4.2. Die Künstler als Karlsschüler Der Bezug zur Rhetorik ist in den Künstlern nicht nur inhaltlich, sondern auch gattungstypologisch bestimmend. Dass es sich um „rhetorische Lyrik“ handelt195, ist oft behauptet, aber kaum je philologisch begründet worden. Statt also dem Ideenlyriker seine lyrische Legitimation zu bestreiten, wäre es erhellender, die Rhetorizität der Schiller’schen Lyrik als Grund ihrer Poetizität zu beschreiben. Diese Rhetorizität erschöpft sich nicht in leeren Pathosformeln, im verblasenen „schwülstigen Stil“, dessen vermeintlicher Gezwungenheit die „angemessene Darstellung des Lebens [verhindert]“, und schließlich an „Kitsch“ streift.196 Im Geist Adornos, der Schillers sprachlichen Habitus mit „power und patzig“ umschrieben hatte197, scheint es ausgemacht, dass „das falsche Bewußtsein auch dort [triumphiert], wo Schiller versucht, ihm zu entkommen“.198 Näher kommt da schon

–––––––––––––– 193 So Georg Forster in einem Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter, der 1789 – nur wenige Monate nach dem Abschluss der Künstler – in der Thalia erschien. Georg Forster: Werke in vier Bänden. Hg. von Gerhard Steiner. Leipzig 1967-1970, hier Bd. 3 (1970), S. 123-134, S. 132f. 194 NA 22, 107. 195 Uedings grundlegende Studie geht zwar in einem – stark ideologiekritischen – Kapitel („die Gefahr des großen Wortes“, S. 79-88) auf lyrische Texte ein (mit Ausnahme der Künstler), bleibt jedoch detaillierte Studien zur strukturierenden Bedeutung der Rhetorik für die Lyrik schuldig. 196 Ueding: Schillers Rhetorik, S. 83. 197 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main 1969 (zuerst 1951), S. 110. 198 Ueding: Schillers Rhetorik, S. 86.

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Cysarz der Sache, wenn er bemerkt: „Der frühe Schiller fällt lieber aus dem Bild als aus dem Ton“.199 Dieser Ton ist nun in seinen biographischen und pragmatischen Voraussetzungen durchaus einzuordnen. Es ist der Ton der Deklamation, der Rhetorenschule, der Fest- und Gelegenheitsrede – des genus demonstrativum. Die ästhetische Erziehung, die hier propagiert wird, ist selbst das Ergebnis ästhetischer und vor allem rhetorischer Erziehung und Einübung. Nicht einmal eine Dekade nach der Flucht aus der höfischen Kultur der Karlsschule kehren deren mythische Maschinen in die Lyrik zurück. Schillers Klassizität schmeckt nach Karlsschule. Der Zögling Schiller avanciert nun selbst zum Erzieher.200 Dass Feste „nicht nur Anlässe zu Gelegenheitslyrik, sondern vor allem Gegenstand in Gedichten der vorklassischen und klassischen Zeit“201 sind, lässt sich an den Künstlern exemplarisch erhärten. Die mythologischen fêtes allegoriques, Opern und Ballette, Fest- und Schauspiele, die Dekorationen und Guibalschen Gemälde bilden als Impulse „sinnliche(r) Anschauung“202 und theatraler Repräsentation das prägende mythologische Inventar, das noch die klassische Lyrik der neunziger Jahre motivisch wie atmosphärisch prägt. Auch der „festrednerische Charakter“203 der Künstler ist dem Erfahrungskontext Karlsschule, den Praktiken der „Hofberedsamkeit“204 und der Schulrhetorik geschuldet, in der die Gattung der epideiktischen Deklamation noch im ausgehenden 18. Jahrhundert eine nicht geringe Rolle spielt.205 Die Künstler sind auch und gerade in diesem –––––––––––––– 199 Cysarz, Herbert: Die dichterische Phantasie Friedrich Schillers. Tübingen 1959, S. 56. 200 Es ist das Verdienst Gerhard Friedls, in verschiedenen Studien den Einfluss der höfischen Kultur und Kunst der Karlsschule auf die Ausbildung von Schillers lyrischmythologischem Kosmos herausgearbeitet zu haben. Friedl, Gerhard: Die Karlsschüler bei höfischen Festen. In: Aurnhammer, Achim / Manger, Klaus / Strack, Friedrich (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 47-76. Dies greift teilweise Ergebnisse seiner großen Studie Verhüllte Wahrheit und entfesselte Phantasie. Die Mythologie in der vorklassischen und klassischen Lyrik Schillers. Würzburg 1987, S. 208-223 auf, die hier nachdrücklich als beste Einführung in poetologische und pragmatische Voraussetzungen genannt sei. 201 Friedl: Die Karlsschüler, S. 49. 202 NA 20, 79 (Ueber das gegenwärtige teutsche Theater, 1782). 203 Pelzer: Die Künstler, S. 167. 204 Braungart, Georg: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politische Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988. 205 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 954: „Weder die Reden, die ohne einen wichtigen Zwek zum Grunde zu haben, blos zur Parade gehalten werden, und die Quintilian sehr wol, ostentationes declamatorias nennt, noch die kurzen laconischen Reden, wodurch auch bisweilen bey sehr wichtigen Gelegenheiten mehr ausgerichtet wird, als durch lange Reden, kommen hier in Betrachtung.“ Lausberg: Handbuch, S. 204-206 resümiert vor allem auf der Grundlage Quintilians (Institutio 5,

V. ›Die Künstler‹

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technisch-rhetorischen Sinne ein „Loblied der Moderne“206 zu nennen: Sie erweisen sich als schulmäßiges lyrisches Enkomion, das in Struktur und Topik den Regeln der rhetorischen Gattung Lobrede folgt.207 Wenn Lausberg „das Lob der Schönheit“ als die „Hauptfunktion der epideiktischen Rhetorik“ bezeichnet, so trifft dies auf Die Künstler allemal zu.208 Dass das genus demonstrativum mit seinem „virtuose(n) Element“ in die „Nähe der Poesie“ rückt, von der sie „letztlich nur durch das Fehlen der metrischen Form unterscheidet“, versteht sich von selbst.209 Innerhalb dieser Tradition des rhetorischen Enkomions ließe sich noch weiter differenzieren. Wenn Schiller in Strophe 1 den „Palmenzweig“, in v. 13 den „errungnen Sieg“ der Menschheit anspricht, so zeigen sich die Künstler als formgerechtes pindarisches Siegeslied (Epinikion) auf den welthistorischen Sieg des (europäischen) Menschen der Aufklärung. Stellvertretend für die griechische Dichtung werden die pindarischen Hymnen genannt („Siegesthaten lebten in dem Liede“, heißt es v. 150), an anderer Stelle ist von den „siegrufenden Päanen“ (v. 385) die Rede. Geschichte bedeutet Kampf gegen die Sinnlichkeit mit Hilfe einer Kunst, die als Agon und heldische Bewährung erscheint – ars militia est. Als „edle Führer“ ihres Volkes (v. 388) ebnen die Künstler ihrem Volk den Weg ins gelobte Land der Aufklärung: „Die selige Vollendung schwebet / In euren Werken siegend ihm voran.“ (v. 292f.). Daneben und dagegen wird jedoch eine alternative Geschichte erzählt, in der die Kunst nicht als Kampfgenossin, sondern als Konkurrentin der aufgeklärten Philosophie und Naturwissenschaft („Forscher“; v. 384) erscheint. Die Kunst führt so gleichsam einen Zweifrontenkrieg: einerseits gegen die Kräfte der Sinnlichkeit, andererseits gegen das Reich des Verstandes, das sie auf ihre Weise einnimmt: „Die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen / Des Geistes unermeßnes Reich; was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen, / entdecken sie, ersiegen sie für euch“ (v. 399-404). Wie die Götter Griechenlandes besitzen die Künstler einen fest bestimmten Standpunkt, einen implizierten Sprecher. Es handelt sich um rhetorische Rollenlyrik, die eine vorausgesetzte These – „Die –––––––––––––– 206 207

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10, 23) eine Fülle von „loci a persona“ und betont den Einfluss des „epideiktische(n) Personenlob(s)“ auf die biographische und prosopographische Literatur (S. 205). Alt: Schiller, Bd. 2, S. 268. Vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 720: „Eine besondere Gattung einer förmlichen Ausgearbeiteten Rede, die dem Lobe gewiedmet ist. Man lobet entweder Personen, wie Plinius in einer besondern Rede den Trajan, oder Sachen, wie Isocrates den Staat von Athen. Bey den Griechen sowol, als bey den Römern wurden auch verstorbene in der Versammlung des Volks gelobt.“ Lausberg: Handbuch, S. 130. Ebd. S. 131.

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Kunst o Mensch hast du allein“ – nach allen Regeln der Kunst entfaltet. Der da spricht – offenbar selbst ein Künstler – tut dies in Personalunion als „Dichter und Redner“ (genauer: Lobredner)210. Schiller ist diese Doppelrolle, die in der frühen Lyrik überall durchschlägt, seit den lateinischen Schulgedichten wohl vertraut. So stehen Die Künstler auch in der Nachfolge der Karlsschulreden aus den Jahren 1779 bzw. 1780, in denen sich Epideiktik und Panegyrik verbinden. Beide stellen Kasualrhetorik dar, d.h. Reden „bei Gelegenheit“211, in diesem Fall anlässlich des Geburtstages der Gräfin Franziska von Hohenheim.212 Nicht weniger festrednerisch sind Position und persona des Sprechers in den Künstlern gewählt, die sich wie ein Kasualcarmen aus den Beständen der Hohen Karlsschule lesen – die Künstler als Karlsschüler. Reden, zumal über Fragen der Kultur und Erziehung, waren zentraler Bestandteil der Festlichkeiten an der Hohen Karlsschule. Dies gilt namentlich für die Geburts- und Namenstage des Herzogs oder für die Stiftungstage, an denen der Herzog selbst mit einer Rede aufzutreten pflegte.213 Insbesondere die Stiftungstage der Hohen Karlsschule waren durch Kasualrhetorik bestimmt. Sie „feierten die pädagogische Einrichtung, die erzieherischen Ideen ihres Stifters und die dadurch bewirkten Fortschritte von Kunst und Wissenschaft“.214 Themen wie Ablauf lassen sich den regelmäßig gedruckten Jahresberichten (Beschreibungen der Jahrs-Tage) entnehmen. Meist wurden drei Festreden am frühen Nachmittag gehalten (in den Anfangsjahren auch auf Latein) zuzüglich einer „Gedächtnis-Predigt“; sie umkreisten Fragen der Erziehung und des Nutzens einzelner Fächer. In diesem Kontext hielt Abel 1776 seine bekannte „Genie-Rede“ („Werden grosse Geister gebohren oder erzogen, und welches sind die Merkmale derselbigen“) oder 1777 eine Rede über die „Seelenstärke“ („Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst“). Der Herzog selbst trug ab 1777 eine eigene Ansprache vor, die sich, z.B. im Jahr 1780, um die –––––––––––––– 210 Ueding: Schillers Rhetorik, S. 128-142 (mit Bezug auf Voraussetzungen in der rhetorischen Theorie, ohne Hinweis auf die Künstler). 211 Adam, Wolfgang: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens „bei Gelegenheit.“ Heidelberg 1988 (= Beihefte zum Euphorion 22). 212 Strack, Friedrich: Schillers Festreden. In: Aurnhammer u.a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt, S. 111-126. 213 Vely: Herzog Karl von Württemberg, S. 164: „Dort versammelte sich die Jugend mit den Lehrern in den Sälen, Reden wurden gehalten, die Schüler besonders gut in Gegenwart des Herzogs gespeist und ein Concert, eine Opernaufführung oder eine Redoute, denen die Akademisten und die demoiselles bewohnen durften, beschloß den Tag.“ 214 Friedl: Die Karlsschüler, S, 63.

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Erziehung als „Hauptursache unsers Glüks, Unglüks“ drehte215 und die Adoptivvaterschaft des Herzogs als pädagogisches Instrument verteidigte („Der zärtliche Vater, die nachgebende Mutter seynd selten Erzieher“). Hier wurde jener Korps- und Kollektivgeist beschworen, den auch die Künstler vertreten: „Wir alle ein Band, wir alle Ein Willen, Ihr alle aber liebste Söhne! Unser Gegenstand. Der vorzügliche Gegenstand Eures gemeinschaftlichen Vaters“.216 In ähnlicher Konstellation sind Die Künstler vorstellbar als akademische Festrede, vorgetragen an einer nicht näher zu spezifizierenden Bildungsanstalt, einer Karlsschule für Künstler, aus Anlass des Abschieds der Zöglinge. Noch lange nach Schiller, aber nun schon den Ton der Künstler im Ohr, wurde dieser Anlass im Jahr 1794 mit einem Lobgedicht begangen, das die Zöglinge „an ihre Herren Professoren und Lehrer richteten. Zum Zeichen ihrer gebührenden Dankbarkeit“ richteten – so der Titel des gedruckten Poems in Blankversen.217 Das Lob gilt hier den „weisen“ und „grossen Männer(n)“, die sich als „Gärtner“ der „junge(n) Bäume“ angenommen hätten. Ihr Auftrag ist – wie der der Künstler – Zivilisierung: So lenkten Jene unter Karl Eugen Die Herzen und den Geist der Jünglinge, Und unterdrükten, wo das Laster schon Die weiche Seele frech vergiften wollte218.

Vervollkommnung ist auch hier die Devise: „Denn Ihr, Ihr pflanztet jeden Keim in uns, / Der zur Vollkommenheit erst mit der Zukunft reift, / Und welcher einst, wenn er zur Frucht gediehn, / Noch Euer graues Haar und Eure Asche segnet!“219 Hier schließt sich ein Kreis: Abstrahiert Schiller das Modell der akademischen Festrede zur Festrede auf die Künstler als Pädagogen der Menschheit, so wird in den späten Kasualcarmina der Karlsschule die universalistische Perspektive wieder umgewendet zur besonderen der Hohen Karlsschule. Im Falle der Künstler muss man sich diesen pragmatischen Redezusammenhang in Erinnerung rufen. Das Gedicht setzt die Situation des feierlichen Festaktes zur Verabschiedung der Absolventen voraus, mit der besonderen Note, dass nunmehr die Menschheit insgesamt in Freiheit und Aufklärung entlassen wird. ‚Maturität‘ nach abgeschlos–––––––––––––– 215 Beschreibung des Zehenden Jahrs-Tags der Herzoglich Wirtembergischen MilitärAkademie. Stuttgard, den 14ten December 1780. Stuttgart o.J., S. 53. 216 Ebd. S. 61. 217 Abschied der Zöglinge der Karlsuniversität. An ihre Herren Professoren und Lehrer. Zum Zeichen ihrer gebührenden Dankbarkeit. Stuttgart 1794. 218 Ebd. S. 5. 219 Ebd. S. 8.

5. Zwischen Philanthropinum und Militärpflanzschule

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senem Erziehungsauftrag wird ihr ja ausdrücklich bescheinigt („reifste Sohn der Zeit“) – am Ende freilich auch wieder aberkannt. 5. Zwischen Philanthropinum und Militärpflanzschule

5. Zwischen Philanthropinum und Militärpflanzschule 5.1. Ästhetische Reformpädagogik

Wie der Erziehungsauftrag der Künstler nicht denkbar ist ohne den der Karlsschule, so ist das Konzept einer ästhetisch-artistischen Erziehung den Debatten verpflichtet, die im Jahrhundert der Pädagogik220 über Pflanzschulen, Waisen- und Findelhäuser geführt werden. In den Künstlern werden die Menschen zu Zöglingen einer Natur, die sich zur Erreichung ihrer Disziplinar- und Erziehungsziele einer ausgewählten Gruppe eingeweihter Pädagogen bedient.221 Schon in der zweiten Strophe ist die Rede von der „Hand“ der Kunst, die den Findling Mensch „an des Lebens ödem Strand“ als einen „weinenden verlaßnen Waisen“ (v. 14-16) aufnimmt und der hohen „Geisterwürde“ zukehrt. Der da angesprochen und erzogen wird – der Mensch als Gattungswesen – wird aus der Rückschau immer als (Klein-)Kind bestimmt. In der ontogenetischen spiegelt sich die phylogenetische Früh- und Vorschulerziehung einer Gattung, die zunächst von noch „kindischem Verstand“ (v. 45) ist. Die Schönheit muss zum Kind regredieren, damit „Kinder sie verstehn“ (v. 63). Der Mensch betritt als tabula rasa die Bühne der Welt. Die Befreiung von der „Instinkte Zwang“ (v. 222) bedarf jedoch einer lenkenden „Hand“ (v. 14), welche die Zöglinge sowohl „im Stillen“ als auch offen, „mit strengem Richtscheit nach dem Ziele“ (v. 224) korrigiert, d.h. dem Sinnenwesen Mensch mit Norm und Lineal, eben „Gleichmaß“ bzw. „Ebenmaas“ zu Leibe rückt. So evozieren die ersten Strophen das Bild einer pädagogischen Anstalt, teils Waisenhaus teils Besserungsanstalt222. Schiller appelliert –––––––––––––– 220 Blankertz, Herwig (Hg.): Bildung und Brauchbarkeit. Braunschweig 1965; Herrmann, Ulrich (Hg,): Die Bildung des Bürgers. Weinheim u.a. 1982. ders.: Aufklärung und Erziehung. Weinheim 1993; Kersting, Christa: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Weinheim 1992; Scheuerl, Hans (Hg.): Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. Hier Bd. 1: Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer. München 1991. 221 Den Kontext der Aufklärungspädagogik und die Rolle der Literatur im Rahmen der Diskurse um Disziplinierung und Menschenformung rekonstruiert nach allen Seiten die Arbeit von Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. 222 Sträter, Udo (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit. Tübingen 2003 (= Hallesche Forschungen 10); Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unver-

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mit dieser Bildlichkeit an den Geist einer Epoche, die man zu Recht als „Jahrhundert der Findelkinder“ bzw. als „Jahrhundert der Waisenhäuser“ (1750-1850) bezeichnet hat.223 Das Bild des Menschen als „verlaßne(r) Waise“ am Strand des Lebens war keineswegs blass und zufällig, sondern sehr konkret und aktuell. Es assoziierte für den Leser des Jahres 1788 ein Problem von beträchtlicher Aktualität und sozialer Relevanz – das der „unversorgten Kinder“ und ihrer angemessenen Erziehung bzw. Umerziehung.224 Immerhin waren „alleinstehende, verwahrloste und bettelnde Kinder im Alltagsleben des Ancien Régime allgegenwärtig.“225 Dies war der pragmatische Horizont der „Entdeckung der Kindheit“.226 In Zeitungen und Monographien erwogen Pfarrer und Mediziner, Theoretiker wie Praktiker das Für und Wider von Waisen- und Findelhäusern. „Gerade Waisenhäuser [werden] zum Sinnbild der Kinderfürsorge im 17. und 18. Jahrhundert“.227 Schiller wendet das Problem der unversorgten Kinder ins Existentielle und macht es zum Bildgrund einer Anthropologie, die von der prinzipiellen Unfertigkeit des Menschen ausgeht. Als Naturwesen hilflos, wird der Mensch zum Menschen durch Kultur. Versorgungslosigkeit ist hier kein „soziales Problem“228 mehr, sondern ein anthropologisches. Der Mensch ist Treibgut „an des Lebens ödem Strand“ (v. 16). Weniger in physiologischer als in kultureller Hinsicht ist er eine Frühgeburt. Als solche wird er zur „Beute“ einer bzw. seiner Natur, die ihn raubtiergleich zu verschlingen droht. Diese Perspektive ist radikal kulturalistisch. Der Mensch ist nicht Zögling der Natur, sondern der Kultur.229 Die Natur ist nicht fürsorgliche Mutter, sondern Stiefmutter, die sich durch Aussetzen ihrer Versorgungspflichten entzieht, während die Kunst als „Amme“ (v. 78) und die Künstler –––––––––––––– 223 224 225 226 227 228 229

sorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. München 1995 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 29). Der Begriff nach Volker Hunecke: Die Findelkinder von Mailand: Kindesaussetzung und aussetzende Eltern vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1987 (= Industrielle Welt 44), S. 14. Meumann: Unversorgte Kinder, S. 1-22. Ebd. S. 13. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München 91990 (frz. zuerst 1960), S. 92-111. Meumann: Unversorgte Kinder, S. 17. Ebd. S. 8. Zu Schiller und Rousseau vgl. die klassischen Beiträge von Wolfgang Liepe: Kulturproblem und Totalitätsideal. Zur Entwicklung der Problemstellung von Rousseau zu Schiller (1927). In: Ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Neumünster 1963, S. 65-78; ders.: Der junge Schiller und Rousseau. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 51 (1926), S. 299-328; vgl. Bräutigam, Bernd: Rousseaus Kritik ästhetischer Versöhnung. Eine Problemvorgabe der Bildungsästhetik Schillers. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 137-155. |

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als liebevolle Pflegeeltern („ihren Liebling“; v. 28; 75) fungieren. Hinter der Bildlichkeit steht eine zeitgenössische Praxis: Wie Waisen wurden Findelkinder zu Pflegeeltern gegeben, ihre Versorgung unterstand dabei der Obrigkeit des Landesherrn, die regelrechte Umerziehungsprogramme vor allem bei so genannten ‚Zigeunern‘ durchführten.230 Als Schiller die Künstler verfasst, erreichen die Diskussionen um den sozialen und pädagogischen Sinn von Institutionen zur Pflege unversorgter Kinder im sog. „Waisenhausstreit“231 einen Höhepunkt. Kunst und Künstler nehmen es mit den Institutionen der Kinder- und Armenfürsorge auf, indem sie sich ihren Zöglingen mit der „Freude leichtem Gängelband“ (Götter Griechenlandes), mit „sanften Banden“ (v. 82) und „lieblichem Betrug“ statt mit der „Pflichten knechtischem Geleit“ (v. 83) nähern. Ästhetische Erziehung ist Reformpädagogik bzw. -ästhetik, die sich für mildere Formen des Menschenregiments einsetzt und gegen Arbeitserziehung, Industriosität und merkantilistische Ausbeutung von Kinderarbeit votiert. Im Zentrum dieses Erziehungsprogramm steht der Ausbau eines sittlichen Naturinstinkts („moral grace“), den Schiller in Ueber Anmut und Würde hartnäckig gegen Kant verteidigen wird.232 Schiller ersetzt unmittelbare Züchtigung durch die „heilige Gewalt“ (v. 88) der Kunst und ihres „liebliche(n) Betruge(s)“. Diese sanfte Erziehung setzt auf verdeckte und indirekte Einflussnahme. Sie heben sich klar gegen den repressiven Ansatz der Waisenund Findelhäuser, Zucht- und Arbeitshäuser ab.233 Andererseits gilt: „Erziehung und Repression waren durchaus nicht zwei völlig verschiedene Gesichter der frühneuzeitlichen Armenpolitik, sondern gingen zum Teil Hand in Hand“.234 Die Alternative zwischen einer Lenkung an „sanften Banden“ oder in „der Pflichten knechtische(m) Geleit“ war um 1790 die zentrale Streitfrage der Pädagogik. Es wäre daher angezeigt, den Begriff einer ‚ästhetischen Erziehung‘ einmal in seinem eigentlichen, d.h. pädagogischen Sinn zu verstehen und so die Verbindungslinien zu den zeitgenössischen Erziehungsdiskursen mit zu bedenken. Schillers Kunstpädagogik betont zwar gegen Rousseau die Fremdheit der Natur und die Notwendigkeit zur Zivilisierung, –––––––––––––– 230 Ebd. S. 7. 231 Neumann, Josef F.: Der Waisenhausstreit. In: Sträter (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit, S. 155-167. 232 Zusammenfassend Beiser: Schiller as Philosopher, S. 77-118. 233 Stier, Bernhard: Fürsorge und Disziplinierung im Zeitalter des Absolutismus. Das Pforzheimer Zucht- und Waisenhaus und die badische Sozialpolitik im 18. Jahrhundert. Sigmaringen 1991 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Stadt Pforzheim 1). 234 Meumann: Unversorgte Kinder, S. 20.

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teilt aber durchaus dessen Kritik an den gängigen Erziehungspraktiken. Eine solche Erziehung führe dazu, dass diese armen unglücklichen Wesen einem untragbaren Joch unterworfen und wie Galeerensklaven zu dauernder Fronarbeit verurteilt sind, ohne sicher zu sein, daß das alles ihnen auch einmal nützt? So vergeht das Alter der Heiterkeit unter Tränen, Strafen, Drohungen und Sklaverei.235

Schillers Figuren in den zeitnahen Texten machen andere Erfahrungen: Der Prinz im Geisterseher erfährt „eine bigotte, knechtische Erziehung“, die seinem „zarten Gehirne“ nicht das „holde Bild“ der „Tugend“ (v. 46), sondern religiöse „Schreckbilder eingedrückt [hat], von denen er sich während seines ganzen Lebens nie ganz losmachen konnte“.236 Er wie sein Prinzenbruder Don Karlos zählt zu den „unglücklichen Schlachtopfer(n) vernachläßigter Erziehung“, welche die Schaubühne „in rührenden erschütternden Gemälden [...] vorüber führen“ soll.237 Zweifellos hat sich Schiller selbst für ein solches „Schlachtopfer“ verfehlter Erziehung gehalten. Die reformpädagogische, Rousseausche Dramatik der Schaubühnen-Rede ist getragen von einer persönlichen Anteilnahme, die hineinwirkt bis in die späten achtziger Jahre und das Projekt der ästhetischen Erziehung weiter bestimmt. Es beerbt und generalisiert jene edukativen Ziele, die der frühe Schiller dem Drama im Besonderen zugewiesen hatte: nämlich das Ziel, „Irrtümer der Erziehung bekämpfen [zu] lassen“. Dabei weiß Schiller, wo die Gegner stehen: nämlich in den „Philanthropinen und Gewächshäusern“, die sich ihrer „Methode brüsten und den zarten Schößling [...] systematisch zu Grund richten“.238 Schiller erweist sich als radikaler Kritiker jeder Pädagogik, die sich als eine das Individuum methodisch formende Anthropotechnik versteht. Das Basedowsche Philanthropinum in Dessau wird auf eine Stufe mit den „Militär-Pflanzschulen“ vom Typus Hoher Karlsschule gestellt.239 Schiller, der Erzieher und Zögling, misstraut der Institution qua Institution. Auch subtiler Zwang bleibt Zwang, ob es sich um Reformschulen, ‚Militär-Pflanzschulen‘, Ordensregimenter oder die spanische Inquisition handelt. Auch wo sich Erziehung reformpädagogisch als „menschenliebend“ ausgibt, wittert Schiller nur den „ge-

–––––––––––––– 235 Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder über die Erziehung. Hg. von Josef Esterhues. Paderborn 31963, S. 61. 236 NA 16, 103. 237 NA 20, 98. 238 Ebd. 239 Kommentar SW, Bd. 5, S. 1268.

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genwärtig herrschende(n) Kizel, mit Gottes Geschöpfen Christmarkt zu spielen“ und „Menschen zu drechseln“.240 Man sieht: Erziehung bleibt die psychobiographische Obsession der späten achtziger Jahre. Schillers ästhetische Erziehung ist Ästhetik aus Erziehung, sie steht unter der Fernwirkung der Hohen Karlsschule. Noch im Herbst 1784 ist das Ressentiment gegen die Karlsschule und ihren Initiator, den „alten Herodes“, ungebrochen. Da ist es pure Ironie, wenn Schiller in der Ankündigung der Rheinischen Thalia angibt: „Seine Bildungsschule hat das Glück mancher Hunderte gemacht“, um sogleich zu ergänzen: „wenn sie auch gerade das meinige verfehlt haben sollte“.241 Dieses Institut erscheint im vollen Sinne als „Zuchthaus“. Was Schiller an der „militärischen Regel“242, der Einheit von Instruktion und Internierung („eiserne Stäbe“) kritisiert, ist die Unmöglichkeit, der „Neigung für Poesie“, dem poetischen „Enthusiasmus“ nachzugehen.243 Poesie ist Insubordination gegen „Regel“, „Gesetz“ und „Ordnung“. An der Karlsschule herrscht der Geist jener „Disziplinen“, deren Voraussetzungen Foucault im Hinblick auf die Institutionen der Erziehung und Züchtigung, die „Masse von Militär-, Schul- und Spitalreglements“, des Kollegs und der Elementarschule beschrieben hat.244 Das große Thema der ästhetischen Briefe wird hier geformt: die Vertilgung des Einzelnen durch die formende Gewalt der Institution: „Die vierhunderte, die mich umgaben, waren ein einziges Geschöpf, der getreue Abguß eines und eben dieses Modells, von welchem die plastische Natur sich feierlich lossagte“.245 Militärische und pädagogische Regel kennzeichnen ein System, das individuelle Neigungen zugunsten eines „System(s) obligatorischer Gleichschaltungen“246 beschneidet. In der Ankündigung der Rheinischen Thalia ist die Hohe Karlsschule ein Reich der Ratio, das einer geometrischen Logik und militärischen Regeln folgt. Es ist eine im Kern männliche Welt, der alles Weibliche fehlt: „Die Tore dieses Instituts öffnen sich, wie man wissen wird, Frauenzimmern nur, ehe sie anfangen interessant zu werden, und wenn sie aufgehört haben es zu sein“.247 Umso mehr Weiblichkeit findet sich in den Künstlern. Das Gedicht wird getragen von –––––––––––––– 240 NA 20, 98. Dieser Passus wird in der zweiten Fassung für die Kleineren prosaischen Schriften getilgt. Zelle: Schaubühne, S. 345. 241 NA 22, 94. 242 NA 22, 93. 243 Ebd. 244 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 174. 245 NA 22, 93. 246 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 188 bzw. S. 212. 247 NA 22, 94

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einer Sehnsucht nach dem Weiblichen, dessen Stellvertreter die Kunst ist, in ihrer doppelten Erscheinung als Mutter (bzw. Amme) und Frau (Venus). Indem Schiller die beiden Desiderata – Kunst und Weiblichkeit – im platonischen Mythos der doppelten Venus identifiziert, kompensiert er die zwei Beraubungen der eigenen Kindheit. An die Stelle der dominanten Vaterbeziehung (Karl Eugen) tritt im Gedicht die Dominanz einer imaginären Mutter namens Kunst und Schönheit, auf deren marianische Ikonographie schon hingewiesen wurde. Damit rückt die Kunst wiederum ins Zwielicht des Begehrens. Ästhetische Erziehung ist nicht nur die bessere, weil weibliche Alternative zur militärischen Erziehung an der Karlsschule, sie teilt mit dieser auch das Ziel der Disziplinierung und Zivilisierung. Verschieden sind weniger die Ziele als die Methoden. Im Übrigen geht der Autor jedoch selbstverständlich von der Inferiorität und Infantilität seines Zöglings aus. Nicht der freie und mündige Mensch, sondern das Kind im Leser ist der Adressat. Die „republikanische Freiheit des Lesers“ ist die Ausnahme, die Regel ist die ästhetische Elementarschule, die den unmittelbaren Zwang durch ein differenziertes Kalkül indirekter Wirkungen ersetzt und „die Imagination in ihrer Freiheit“, wie es in der Matthisson-Rezension heißen wird, „zu berechnen“ weiß.248 Ähnlich verhält es sich mit dem Erziehungsprojekt der Künstler und seinen platonischen Fundamenten – ob sie nun unmittelbar auf Platon oder (wahrscheinlich) auf Shaftesbury zurückgehen. Mit Platonismus, französischem Klassizismus und „Idealisierkunst“ findet Schiller zurück zum geometrischen Geist der Militärschule, die er in der Thalia-Ankündigung noch so entschieden perhorresziert hatte. In Aestheticis ist der geometrische Geist der platonische, unterhält das immer wieder beschworene Gleichmaß eine mehr als metaphorische Beziehung zum Gleichschritt der Militärpflanzschule. Platonismus und „Classicität“ zeigen hier ihr kulturhistorisches Quidproquo: Symmetrie, „Ebenmaas“ (v. 238) und „Ordnung“ korrespondieren den Ordnungen der „gelehrigen Körper“, erweisen sich als Herrschaftsinstrumente über Natur – sei es die Natur des kultivierten Menschen oder die der äußeren Natur, zu deren „Herr“ sich der aufgeklärte Mensch nunmehr aufschwingt (v. 10). Geometrisierung der Natur und Geometrisierung der Körper sind nur unterschiedliche Facetten dieses ästhetischen Kalküls, das immerhin den „matten Blüthen“ des kodifizierten Gesetzes das sanfte Gesetz der Sittlichkeit („moral grace“, „sittliches Empfinden“) überordnet. –––––––––––––– 248 NA 22, 267.

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Hinter der Mission der Künstler steht der Geist der Disziplinierung. „Geisterwürde“ bedeutet Ablegen jener „befleckende(n) Begierde(n)“, die im „zarten Busen“ zusammen mit einem „ausgearteten Verlangen“ herrschen, das den Zögling zu den „Begierden“ (v. 28f.) herabzieht. Mehr als der Verstand richtet sich diese Elementarerziehung an die „Tugend“, also an die praktische Philosophie, indem sie die Inklination zum Guten – „moral grace“ – schult und verstärkt. Hier gilt, was Schiller wenige Jahre zuvor auf die „Schaubühne“ begrenzt hatte: Kunst liefert qua Schönheit Vorbilder der Tugend: Ihr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben, ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt, eh noch ein Solon das Gesetz geschrieben. (NA 1, 202; v. 46-48)

Dass sich die Neigung zur Sittlichkeit keineswegs von selbst versteht, wird dort evident, wo es um die Einjustierung des Menschen geht: der Leidenschaften wilden Drang des Glückes regellose Spiele, der Pflichten und Instinkte Zwang stellt ihr mit prüfendem Gefühle, mit strengem Richtscheid nach dem Ziele. (NA 1, 207; v. 220-224)

Auch diese Bildlichkeit ist keineswegs zufällig. Das „strenge Richtscheid“ (lat. norma) ist das Emblem der Disziplinen, in denen, wie Foucault beschrieben hat, „die Macht der Norm zum Durchbruch“ gelangt. Zwang wird mit dem Gegenzwang der Normalisierung beantwortet. Man kann wohl nur von einer Wiederkehr des Verdrängten sprechen: Die Idee der „Idealisierkunst“ in der Bürger-Rezension wird jene Logik der Typisierung verfolgen, die Schiller an der Karlsschule so perhorresziert („vierhundert […] ein einziges Geschöpf, der getreue Abguß eines und eben dieses Modells“). Die geläuterte Individualität, der Typus, ist schon fünf Jahre später nicht mehr biographisches Schreck- sondern ästhetisches Wunschbild. Die neue Kunstdisziplin erhebt dann eine „mit allen ihren Schlacken gegebene Individualität“ befreiend zum Allgemeinen. 5.2. Illuminaten des Schönen Ein asketisches Kollektiv sind diese Künstler in der Tat. Schiller entwirft sie als eine Avantgarde249, die sich dem Geheimdienst für einen –––––––––––––– 249 Pelzer: Die Künstler, S. 168: „Die Künstler waren eine Avantgarde, deren Erfahrungen später den Common sense ihrer Gesellschaften bildeten.“

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„weisen Weltenplan“ verschreibt. Wie Don Karlos und Geisterseher folgen auch Die Künstler der „Logik eines pädagogischen Geheimbundes“.250 Die Agenten der Aufklärung sind eine zölibatäre Gemeinschaft im Dienst einer säkularen Kunst-Religion: Die ihrem keuschen Dienste leben versucht kein niedrer Trieb, bleicht kein Geschick; wie unter heilige Gewalt gegeben empfangen sie das reine Geisterleben, der Freyheit süßes Recht, zurück. Glückselige, die sie – aus Millionen die reinsten – ihrem Dienst geweiht, in deren Brust sie würdigte zu thronen, durch deren Mund die Mächtige gebeut, die sie auf ewig flammenden Altären erkohr das heil’ge Feuer ihr zu nähren, vor deren Aug’ allein sie hüllenloß erscheint, die sie in sanftem Bund um sich vereint! Freut euch der ehrenvollen Stufe, worauf die hohe Ordnung euch gestellt: In die erhabne Geisterwelt war’t ihr der Menschheit erste Stufe. (NA 1, 203; v. 86-102)

Der zentrale Begriff dieses Abschnitts – Schiller betont ihn durch Wiederholung – ist „Dienst“ (v. 86; 92). Kunst und Künstler werden mit einer fast kultischen Aufgabe betraut, das Amt des Künstlers ist zugleich „das der Priester und Seher“.251 Der poeta vates tritt nun im Kollektiv auf und wechselt seine Zuständigkeit. Aus dem Musarum sacerdos wird der Venus-Priester, eine Aufgabe, die in den Göttern Griechenlandes noch einer „holde(n) Priesterin“ überlassen war. Ihm ist die zölibatäre Lebensform angemessen. Schiller erwähnt den „keusche(n) Dienst“, die „verschämtere Begierde“ oder die „ruhigeren Freuden, die aus der Ferne nur ihn weiden“ (v. 178). Diese Enthaltsamkeit wird durch das Vorrecht versüßt, die Schönheit an sich, d.h. „hüllenloß“ zu erblicken. Schiller zeichnet das Bild einer priesterlichen Elite, die einen „sanfte(n) Bund“ bzw. einen „Bund der Wahrheit“ – um nicht zu sagen: einem Geheimbund – bildet. Der Künstler ist daher – radikale Absage an die Genie-Ästhetik – ein plurale tantum, Teil eines durch asketische Ideale verpflichteten Kollektivs, dessen zentrale Aufgabe die Missionierung einer noch wilden Menschheit darstellt.252 Hier herrscht ein strikter Ordnungs- und Or–––––––––––––– 250 Kittler: Carlos als Carlsschüler, S. 270. 251 Wiese: Schiller, S. 414. 252 Man müsste an dieser Stelle den Konnotationen nachgehen, die einem Konzept wie Wildheit in einer Zeit der Entdeckung des Wilden bzw. der Wilden im Zuge der Ent-

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densgeist, der sich im Besitz eines weltumspannenden Erziehungsplanes weiß. Ein straff korporativ organisierter Orden, dessen bemerkenswerte Signatur in seiner gynaikokratischen Lenkung durch die doppelte Liebesgöttin besteht. Folgt man Schillers Metaphorik, so erscheinen die Künstler der Künstler wie eine säkulare Spielart des geistlichen Ritterordens. Von hier aus stellen sich Assoziationen zu Parallelprojekten der späten achtziger Jahre ein. Die Idee einer militärisch-ritterlichen Ordensgründung wie die der Kolonialisierung des Wilden beschäftigt Schiller noch in der Entstehungsphase der Künstler wiederholt.253 Die deutlichste Parallele stellt der Malteserorden dar, dessen Geschichte Schiller im Zuge seiner Arbeit am Don Karlos studiert; aus der Lektüre seiner Hauptquelle – Robert Watsons Geschichte der Regierung Philipps des Zweyten, Königs von Spanien – erwächst ein nachhaltiges, enthusiastisches Interesse für das Sujet des „geistlichen Ritterordens“, das sich in mehreren Schriften kristallisiert. Zunächst macht Schiller in der Buchfassung des Don Karlos den Marquis Posa zum geistlichen „Chevalier“ und „kühne(n) Maltheser“ (III, 7)254. Ritterethos paart sich mit einem „enthusiastische(n) Ordensgeist“255, dessen prekäre Nebenwirkungen Schiller dann in den Briefen über Don Karlos klar ––––––––––––––

deckungsreisen zukommt. Immerhin lagen Reiseberichte wie Georg Forsters Reise um die Welt (1777) seit langem vor. Vgl. den Beitrag von Karl S. Guthke: Schillers Ethno-Anthropologie. Dass die Barbaren der Künstler die in die historische Tiefenzeit gespiegelten Wilden der Südsee sind, wird aus einer Stelle der Antrittsvorlesung deutlich, welche die Ausgangsphase des Gedichts – sozusagen die Phase vor der Anthropogenese aus der Kunst – an den Beginn des universalgeschichtlichen Kursus rückt. Ausdrücklich bezieht sich Schiller auf die neusten „Reisebeschreiber“, wenn er die Geschichte der Künstler noch einmal erzählt: „Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stuffen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen, und durch ihr Beyspiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist.“ NA 17/1, 364. 253 Als Zerrbild der hier vorgeschlagenen ästhetischen Erziehung der indigenen Bevölkerung darf das „indianische Kriegsrecht“ gelten, das Schiller im Aufsatz Jesuitenregierung in Paraguay (Herbst 1788) skizziert. Diese „Hauptstücke der Religion, die der Orden seinen indianischen Untertanen einzupflanzen gesucht hatte“, sind in ihrem militanten Aberglauben das groteske Gegenstück zum „sanften“ Geheimbund der Künstler. Statt behutsamer Missionierung wird in diesem „mit unbekannten Chiffern geschrieben(en)“ (NA 19/I, 187f.) Buch reine Manipulation betrieben. Aus den Grundsätzen der Religion wird die Notwendigkeit abgeleitet, „daß wir seine Feinde ausrotten und in ihre Länder vorrücken, um sie auszurotten.“ NA 19/I, 188. 254 „Von jenen vierzig Rittern war er einer, / Die gegen Piali, Ulucciali / Und Mustafa und Hassem das Kastell / Sankt Elmo in drei wiederholten Stürmen / Am hohen Mittag hielten.“ NA 6, 172 (v. 3400-3404). 255 NA 20, 285 (Ueber Anmut und Würde).

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benennt: „Herrschsucht“, „Eigendünkel“, „Stolz“ und „Despotismus“, kurz: „Gewalttätigkeit“ gegen fremde Freiheit sind seine dunklen Seiten. Die Briefe an Don Karlos erscheinen im Juli und Dezember im Teutschen Merkur, und einmal mehr fällt auf, wie sich Schillers Projekte 1788/1789 genetisch und thematisch überlagern. So umkreisen Geisterseher, Künstler und Don Karlos ein und denselben Komplex: die Idee einer Erziehung des Menschengeschlechts durch eine straff militärische, im Verborgenen wirkende Vernunftelite, die Schiller sich vorzüglich als Ordensverbindung oder geistlichen Ritterorden denkt. Dies trifft auch auf das letzte der ins Jahr 1788 datierenden Projekte zu, das unmittelbar an die Studien zum Don Karlos anknüpft und Schiller länger als jedes andere Projekt beschäftigen wird. Gemeint ist das Dramenfragment Die Maltheser, an dem Schiller – mit längeren Unterbrechungen – zwischen 1788 und 1804 arbeiten wird. Vielleicht darf eine Bemerkung in den Briefen über Don Karlos, er wolle das Thema der „leidenschaftliche(n) Freundschaft“ in einem „Gemälde“ behandeln, auf die Maltheser bezogen werden.256 An ihnen will Schiller ein erstes Exempel dramentechnischer „Classicität“ statuieren257, eine Tragödie also im griechischen Stil, unter Verwendung des Chores, inhaltlich eine moderne Variation auf den Kampf der Spartaner bei den Thermopylen; ausdrücklich erscheint der „Tod des Leonidas“ als Vorbild.258 Die stoische Tradition, greifbar im Appell zur Aufopferung, ist auch hier unverkennbar.259 Es ist hier nicht der Ort, die weitere Entwicklung des Projekts, seine vielfältigen Reprisen bis zu seiner endgültigen Aufgabe im Frühjahr/Sommer 1803 zu verfolgen.260 Es gilt hier lediglich, eine bestimmte motivische und atmosphärische Verbindung mit Thema und Personal der Künstler, mit dem Komplex der „Ordensverbindung“ und des „Ordens-Enthusiasmus“261 herzustellen. Wie die Künstler sind die Maltheser ein Drama im plurale tantum. Hier weht – wie spiegelbildlich in den Räubern – der Geist kollektiver Subordination. Was Schiller den „[reine(n)] Geist des Ordens“262 nennt, d.h. die „blinde Ergebung in den Schluß –––––––––––––– 256 257 258 259

NA 12, 375. An Körner, 20.8.1788, NA 25, 97. NA 12, 48 und 24 („Chor über Leonidas“). Vgl. W. Riedel: Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung, der S. 63-65 auf Abel, Abbt und Johann Friedrich Zückert verweist. 260 Vgl. die Darstellungen bei Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses. Tübingen 2000 (= Hermaea 93), S. 32-94; Springer: Legierungen aus Zinn und Blei, S. 32-57. 261 NA 12, 56. 262 NA 12, 41.

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des Großmeisters“ zusammen mit einem „hohen Heroismus“263 trifft in wesentlichen Zügen auch auf die Künstler zu: eine zölibatäre Gemeinschaft, die priesterlich-asketisch der „Wohlfahrth des Ganzen“ dient264. Wie die Malteser-Ritter sind die Künstler „Brüder durch ein edler Band, als die Natur es schmiedet“.265 Aus ihrem leiblichen Familienverband werden sie durch zweite Geburt in eine höhere Familie überführt, deren Regiment von einem Elternteil wahrgenommen wird. Noch die Ästhetischen Briefe halten an der Idee einer Zerschlagung der leiblichen Familie zugunsten der Kunst-Gemeinschaft fest: „Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust“.266 Im April 1792 kommt Schiller erneut auf den Malteser-Orden zurück. Dieses Mal in einer Einleitung, die er für Friedrich Niethammers Bearbeitung von René Vertots Histoire des chevaliers hospitaliers de S. Jean de Jerusalem (1726) verfasst.267 Sie ist ein Preis wahrer „Heldengröße“, ein Loblied der „Heroismus“ in einer „Periode des Aberglaubens, des Fanatismus, der Gedankenknechtschaft“.268 Nicht auf das religiöse Telos der Bewegung kommt es an, sondern auf „praktische Tugend“ und „thatenreifende Energie des Karakters“.269 Dies versteht Schiller unter der „zum Moralischen hinaufgeläuterte(n) spezifische(n) Ordenstugend“. In den Reflexionen zu den Malthesern attestiert er den Rittern „strenge Moral ohne Religionströstungen“.270 Wie eine Kontrafaktur des Maltheser-Plans liest sich die Würdigung dieses „mönchisch-ritterlichen Staat(es)“, der zur Keimzelle einer lichten Vernunftidee in Zeiten der „Superstition“ wurde: „Ein feuriger Rittergeist verbindet sich mit zwangsvollen Ordensregeln, Kriegszucht mit Mönchsdisciplin, die strenge Selbstverleugnung, welche das Christenthum fordert, mit kühnem Soldatentrotz“.271 Präziser lässt sich das Profil kaum umschreiben, das Schiller drei Jahre zuvor in den Künstlern seiner ästhetischen Pionier- und Eingreiftruppe verliehen hatte. Aus dieser Genealogie erklärt sich die pa–––––––––––––– 263 264 265 266 267 268 269 270 271

Ebd. Ebd. NA 6, 302 (v. 5617f.). NA 20, 333. Geschichte des Maltheserordens nach Vertot, von M.N. bearbeitet und mit einer Vorrede versehen von Schiller. Cunos Erben. 2 Bde. 1792/93. NA 19/I, 195. NA 19/I, 196. NA 12, 24. NA 19/I, 199.

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ra-christliche Verbindung von „Kriegszucht mit Mönchsdisiziplin“, auch wenn in den Künstlern nun der Heroismus in den Dienst eines ästhetischen Hedonismus tritt und in die zölibatäre Brudergemeinde lichtvoll die Epiphanie des (bzw. der) Schönen einbricht. Die Künstler sind „edle Führer“, nicht „Söldner“ der Wissenschaft, keusche cavalieri erranti auf der Suche nach dem verlorenen Schönen (bzw. der „höchsten Schöne(n)“) und „andre(ren) Kronen“. Ästhetische Erziehung ist hier eine romantische Angelegenheit – im vorromantischen Wortsinn. Sie spiegelt Schillers Vorliebe für den v.a. durch Wieland wiederbelebten romanzo und seinen neben Torquato Tasso wichtigsten Autor Ariost, den Schiller in einem unpublizierten Xenion einen „wahrhaft unsterbliche(n) Dichter“272 nennt. Dieser Ordens- und Ritterenthusiasmus führt auf diese Weise zum Thema des Geheimbundwesens zurück, das – wie am Geisterseher gesehen – nicht nur Schillers Werk in den achtziger und neunziger Jahren durchzieht. Geheimgesellschaften finden sich hier in allen Spielarten: okkulte und obskure Ritterschaften, Malteser-, Dominikaner- und Jesuiten-Orden, Freimaurer und Illuminaten, nicht zu vergessen die ägyptischen Priester der Isis-Religion. Die Künstler der Künstler sind Schillers eigene, alternative Ordensgründung auf Grundlage der skizzierten OrdensImago. Dies war Schillers, des Artisten, Antwort auf zwei miteinander verbundene Debatten: 1. die theologische Kontroverse um die aufgeklärte Religion, d.h. um das Verhältnis von offenbarter und Vernunftreligion, in deren Zentrum Lessings Erziehung des Menschengeschlechts stand, 2. das Welterziehungsprogramm der Geheimorden, das wiederum – wie bei Weishaupt zu sehen – Lessingsche Gedanken mit den proto-ägyptologischen Vorlieben der Zeit für Mysterien, IsisKult und die mosaische Religion verband. In diesem Einfluss- und Problemfeld entwerfen die Künstler eine alternative Erziehungsidee mit analoger Struktur. Die Künstler der Künstler sind damit nicht nur –––––––––––––– 272 NA 2,1, 96. Als exemplarischen Modernen und sentimentalischen Dichter würdigt er ihn 1795/96 in einer eingehenden Synkrisis mit Homer. Schon im Frühling/Herbst 1791 hatte er die achtzeilige Stanze (Ottavarima), die Form des Romanzo, inspiriert durch Wielands Oberon und Idris in seiner Übersetzung des zweiten Buches der Aeneis anstelle des heroischen Hexameters verwendet. Die Balladen sind von ritterromantischen Sujets und Szenerien geradezu durchzogen (vgl. Der Handschuh, Ritter Toggenburg, Der Kampf mit dem Drachen), hinzu kommt das Dramenfragment Die Gräfin von Flandern. Vor allem in der Ballade Der Kampf mit dem Drachen kehrt die Verbindung von „Kriegszucht mit Mönchsdisziplin“ wieder, nicht zufällig an einem Exempel aus Vertots Geschichte des Malteser- bzw. Johanniter-Ordens. So erzählt Schiller in dem zuletzt genannten Text das Thema der Maltheser ein zweites Mal: als Geschichte, wie der „widerspenstge Geist, der gegen Zucht sich frech empöret“, am Ende zum Gehorsam als erster Ritterpflicht bekehrt wird.

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die Brüder der Maltheser und des Marquis Posa, sondern auch die der Freimaurer und Illuminaten. Bei (fast) identischer Struktur und Programmatik werden allein die Agenten ausgetauscht, die pädagogische Methodik verfeinert sich, wird behutsamer und „verborgener“, damit aber auch versteckter und manipulativer, sofern sie auf der „Dichtung heilige(r) Magie“ (v. 446) beruht. Die Rede vom „weisen Weltenplane“ (v. 447) und von der invisible hand der Kunst, die Lenkung „in verborgnem Lauf“ und – immer wieder – die Betonung der „stillen“ Umpolung von „befleckender“ auf „verschämtere Begierde“ – all das ist wohl vertraute, atmosphärisch dichte Semantik des Bündlertums in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Dessen Krise nutzt Schiller, um dem Programm klandestiner Aufklärung eine neue und integre, des politischen Umsturzes unverdächtige Kaste entgegenzustellen. Ihr sollte nun jene Erziehung des Menschengeschlechts übergeben werden, die sich im pervertierten Modell der Geheimorden als gescheitert erwies. Im Konzert der Konventikel stellt der Künstler-Orden dabei das bizarre Novum einer matriarchalischen Gemeinschaft dar, die nicht mehr von einem Großmeister (wie La Valette), sondern einer großen Mutter regiert wird, die unter dem Namen Kunst oder Schönheit firmiert. Die Differenz beider Welten und das spezifische Gepräge der Schiller’schen Erziehungsidee zeigt der Vergleich mit einem der bedeutendsten illuminatischen Originaldokumente der Zeit vor der Krise: Adam Weishaupts Anrede an die neuaufzunehmenden Illuminatos dirigentes (1782), das Knigge wenig verändert in die Skizze Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo (1794) aufnehmen wird.273 Parallelen im Großen und Kleinen, in Struktur wie Semantik sind derart auffällig, dass wir uns abschließend mit einer kleinen Auswahl an Belegen begnügen können. Schon die Form der Weishauptschen Rede erinnert an die Künstler: wie hier handelt es sich um eine mustergültige rhetorische Darbietung im epideiktischen Genus, analog sind auch Adressat und Anlass. Wie die Künstler ist Weishaupts Rede vom fernen Beispiel der Kampfparänese, der Ansprache an die Soldaten vor dem Beginn der Schlacht, inspiriert. Es ist die Aufnahme einer Führungselite in den Orden, die den Anlass gibt, die bedeutende Aufgabe des Kollektivs zu vergegenwärtigen. Das Projekt ist nichts weniger als „die Geschichte der Vervollkommnung des ganzen Menschengeschlechts, die sich stufenweise nach dem Plan der Natur entwi–––––––––––––– 273 Abgedruckt bei Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung. Analyse. Dokumentation. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975, S. 166-194. Zu Weishaupt grundlegend Mulsow, Martin: „Steige also, wenn du kannst, höher und höher zu uns herauf.“ Adam Weishaupt als Philosoph. In: Müller-Seidel, Walter / Riedel, Wolfgang (Hg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2002, S. 27-66.

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ckelt“.274 Sieht man von der Rolle der Kunst ab, könnte dies die „Fabel“ der Künstler sein: „Ein Bund von Aufklärern führt also die Menschheit aus der Unfreiheit und Ungleichheit in die Freiheit und Gleichheit, zu einem Weltzustand, der ausschließlich von der Vernunft geregelt wird“.275 Die Parallelen beruhen zu einem guten Teil darauf, dass beide den geschichtsphilosophischen Common sense, also die Fortschrittstheorie ihrer Epoche voraussetzen.276 Dennoch lassen sich auch spezifische Übereinstimmungen beobachten, die in der Logik einer universalpädagogischen Intrige und Verschwörung zum Wohle der Menschheit liegen. Insbesondere das Element des Klandestinen bindet die Künstler enger an die illuminatische als etwa die Lessingsche Erziehungsidee – obwohl auch sie auf die „List“ Gottes setzt. Fassen wir einige Grundzüge in Weishaupts Anrede zusammen. Sie setzt zunächst ein mit der Idee einer Vor- oder „Elementarschule“ der Vernunft, wie sie Lessing in der biblischen Offenbarung, Schiller im „Symbol des Schönen und Großen“ der Kunst erkennen will. Die Masse des profanum vulgus, so auch Weishaupt, bedarf der Propädeutik und praeexercitamenta: „Wären Menschen gleich anfänglich das, was vernünftige Menschen seyn sollten; könnte ihnen gleich bey dem ersten Eintritt die Herrlichkeit des Plans vorgelegt; und einleuchtend gemacht werden“.277 Da es jedoch „erst um die moralische Bildung dieser oft noch rohen Menschen zu thun ist“, bedarf es anderer Anreize, etwa des „Reitz(es) des Verborgenen“, der „beynahe noch das einzige Mittel ist, um Menschen zu erhalten, die vielleicht nach befriedigter Neugierde so gleich den Rücken kehren würden.278 Die Strategie lautet: kleine, unscheinbare „Mittel, um ungeheure sonst nicht erreichbare Endzwecke zu erreichen“.279 Ihre Vertriebsstellen „sind geheime Weisheitsschulen, diese waren vor allzeit die Archive der Natur, und der menschlichen Rechte, durch sie wird der Mensch von seinem Fall sich erholen“.280 Vermittelt durch die Idee des „Dichter-Sehers“ bzw. Dichter-Priesters hatte schon Schiller seine Künstler nach dem Modell einer Priesterkaste modelliert, welcher „der Menschheit Würde“ zur Bewahrung in „die Hand gegeben“ (v. 443ff.) ist. Hier, im Kreise der wenigen Aufgeklärten und Illuminierten, –––––––––––––– 274 Van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten, S. 108. 275 Ebd. S. 109. 276 Rohbeck, Johannes: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1987. 277 Weishaupt, Adam: Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminates dirigentes, in: Van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten, S. 166. 278 Ebd. S. 167f. 279 Ebd. S. 168. 280 Ebd. S. 179.

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überdauert die Wahrheit „von ihrer Zeit verstoßen“ (v. 450). Weishaupt wie Schiller argumentieren hier vor dem Hintergrund der Ägyptophilie ihrer Zeit, beide aktualisieren, unterschiedlich deutlich, die Idee der Isis-Priesterschaft, die ihre Wahrheit in Chiffren und Hieroglyphen deponierte – Schiller wird diese Konstellation in der Sendung Mose erneut aufgreifen.281 Viele der Weishauptschen Forderungen werden von Schiller geteilt. Dazu gehört die Umcodierung der natürlichen Familie zur Menschheitsfamilie: „Fürsten und Nationen werden ohne Gewaltthätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschen Geschlecht wird dereinst eine Familie, und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden“.282 Ein Gedanke, den Schiller in den Ästhetischen Briefen zur Grundlage seiner politischen Theorie machen wird, begegnet schon hier: „Wer Revolutionen bewürken will, der ändre die Sitten“283, nur über die sittliche Disposition des Individuums lassen sich mittelbar politische Veränderungen erzielen. Die welthistorische Mission der Illuminaten, ihr „Welterziehungsplan“284 ist „durch Änderung der Bedürfnisstruktur und durch Emanzipation der Menschheit den Despotismus zu überwinden“.285 Für Weishaupt spielt der Bezug zur (christlichen) Religion eine entscheidende Rolle. Man sieht sich in der Nachfolge der Jünger, die Analogie von illuminatischen und christlichen Mysterien durchzieht die Rede. Die augustinisch-calvinistische Gnadenlehre mit ihrem Gegensatz von electi und massa damnata scheint durch: „Die, in welchen diese Gnade wirkt, sind die Erleuchteten, Illuminati: ein Name mit welchem in der ersten Kirche alle Christen nach der Taufe, hiemit alle Glaubige belegt wurden“.286 Die Lehre der Illluminaten ist – so lässt sich der zweite Teil zusammenfassen – die wahre, „blos in Geheim fortgepflanzte, und auf uns überlieferte göttliche Lehre Jesu und seiner Jünger“.287 Weishaupt kennt das gesamte Arsenal der neologischen Offenbarungskritik, die Idee der Akkommodation etwa: –––––––––––––– 281 Vgl. dazu meinen Beitrag Die Sendung Moses – Ägyptische und ästhetische Erziehung bei Lessing, Reinhold, Schiller. In: Riedel, Wolfgang (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2009. (erscheint) Würzburg 2012. 282 Van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten, S. 179. Es ist die Moral, die solche „Veränderungen unmerkbar herbeyführen“ soll, und „Jeder Hausvater wird dereinst, wie vordem Abraham und die Patriarchen, der Priester und der unumschränkte Herr seiner Familie und die Vernunft das alleinige Gesetzbuch der Menschen seyn.“ 283 Ebd. S. 184. 284 Ebd. S. 119. 285 Ebd. S. 111. 286 Ebd. S. 189. 287 Ebd. S. 185.

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Dieses Volk lehrte er die Lehre der Vernunft, und um sie desto wirksamer zu machen, machte er sie zur Religion, benutzte die Sage, die unter dem Volk gieng, und verband solche auf eine kluge Art mit der dermal herrschenden Volksreligion und Gebräuchen, in welche er das innerliche, und wesentliche seiner Lehre verborgen.288

Jesus stiftet eine doppelte Religion, die zwischen esoterischem und exoterischem Adressatenkreis streng unterscheidet: „Er sprach vor denen, die er nicht wollte, daß sie ihn ganz begreifen sollten, in Gleichnissen“289, mithin in einer poetisch verhüllten Form. Die Jünger sind eine „Legion der Auserwählten“.290 Zur Legitimation der Geheimbünde gehört das Credo, in „dürftiger Zeit“ zu leben, in dem nur wenige Rückzugsposten der reinen Lehre verblieben sind. Die „Verhüllung der Wahrheit in Schönheit“ resp. Kunst ist also das Gebot einer dunklen Zwischenzeit. Dasselbe Credo liest sich bei Weishaupt folgendermaßen: Sie verbargen sich und ihre Lehre dahero unter die Hülle der Freymaurerey, und feyerten unter diesen Hierogliphen das Andenken ihres großen Lehrers, und erwarteten sehnlichst die Zeit, wo sie in ihre erste Rechte, und ursprüngliche Reinheit zurücktreten, und der Welt in vollem Lichte erscheinen möchte.291

Zur Ökonomie der geheimen Gesellschaft gehört die Dialektik von Kulturkritik und Naherwartung. Schiller teilt sie mit Weishaupt, der einerseits die Entartung der Freimaurerei in Geisterseher, PseudoProphetie, Magie und Alchemie beklagt, andererseits die Erlösung der Menschheit unumkehrbar nahen sieht. „Dieser Saame zu einer neuen Welt ist nunmehr unter Menschen geworfen“.292 Erst in der Bedrängnis des Kulturverfalls zeigt sich die konservative Funktion der Kunst. Wie die Illuminaten sind Schillers Künstler Emissäre der Tradition und Translation. Doch nicht nur in der Mission, sondern auch in deren Methoden und Mitteln zeigen sich Parallelen. Sieht man in die von van Dülmen edierten Originaldokumente, so zeigt sich, dass auch die Illuminaten auf die sittigende Wirkung der Kunst nicht verzichten können. Sie bedarf jedoch – wie Schillers Vision der „Classicität“ – eines restriktiven Kanons. Die Allgemeinen Ordens-Statuten (1781) setzen daher auf strikte Lesediät: „Damit alle Mitglieder von einem Geist beseelet werden, und so viel möglich nur einen Willen haben, so werden ih–––––––––––––– 288 289 290 291 292

Ebd. S. 186. Ebd. S. 187. Ebd. S. 192. Ebd. S. 190. Ebd. S. 193.

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nen Bücher vorgeschrieben, die sie lesen müssen, und daraus sie sich bilden können“.293 Diese Bildung wird erreicht durch Bilder. Auch die Illuminaten wissen um die Bedeutung altersgerechter Lehrmittel: Man soll die Zöglinge gewöhnen, sich jede Wahrheit sinnlich unter Bildern vorzustellen. Daher begünstigen wir gute Dichter, Fabeln und / Romanen; und wer andere unterrichten will, soll sich vorzüglich mit Bildern und Beyspielen bekannt machen, um seinem Unterrichte die gehörige Lebhaftigkeit zu geben.294

Wie Schiller setzen auch die Illuminaten auf eine feine Dialektik von Enthüllung und Verhüllung, von didaktischer und prophetischer Rede. Die Allgemeine Uebersicht des ganzen Ordenssystems (1782) entfaltet vor diesem Hintergrund eine subtile Psychagogie des Neuen und der Neugier, die auf die Exklusivität des Verborgenen setzt: „Wahrheiten, die nicht im Verborgenen / und im Schatten heiliger Ceremonien vorgetragen werden, sind bey den meisten keine Wahrheiten“.295 Aufklärung bedarf des Mysteriums, sie realisiert sich erst im Doppelakt der Ver- und Enthüllung und der Passage zwischen beiden: „So muß ich ihm die totale Entwikkelung mit einem Schleyer verhüllen, bis er vorbereitet genug ist, das ganze Licht zu sehen, und der Reiz dahin zu gelangen, muß ihn bewegen, auf alles, auch auf das Geringste aufmerksam zu seyn“. Hier kommt erneut die Kunst qua Bildmedium ins Spiel: „Diese sind von jeher in geheimen Weisheitsschulen in Bilder gehüllt, stuffenweise den Zöglingen vorgetragen worden, nach welchem Plane denn auch die Hieroglyphen der drey symbolischen Frei Maurer Grade geordnet sind“.296 Die Kunst ist Schwelle und Schleier zwischen Arcanum und Öffentlichkeit, daher ihr Doppelgesicht zwischen Esoterik und Exoterik, daher auch die Kompromissformel von den „leichten Räthseln“. Kunst ist Medium einer Mysterienreligion. Sie vollzieht die Initiation in eine Wahrheit, deren Zugang streng begrenzt und von den Wissenden (d.h. den Künstlern als vates-Figuren) geregelt wird. Dieser zeitgemäßen Grundkonstellation sind illuminatische als auch ästhetische Erziehung bis zur Ununterscheidbarkeit verbunden. So muss auch der Künstler-Zögling eine initiale Schwelle – das „Morgenthor des Schönen“ – überschreiten, bis „des Wissens Schranken (auf)gehen“ (v. 274). Die Kunst leistet die Initiation in die Wahrheit; erst –––––––––––––– 293 Ebd. S. 155. 294 Instruction der Präfecten oder Local-Obern (1782). In: Van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten, S. 205. 295 Ebd. 210. 296 Ebd. 210f.

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jenseits der Schwelle wird jener innere Bereich des Lichtes erreicht, der nur „von reineren Dämonen“ geschaut wird. In den Künstlern ist der Initiationsprozess zweistufig gedacht. Er führt vom Chaos der Sinnlichkeit (1. Stufe) durch die kleinen Mysterien der Kunst („Morgenthor des Schönen“) ins Boudoir der Wahrheit (Cypria vor „ihrem mündgen Sohne“; 2. Stufe). Schiller teilt mit Weishaupt die Idee einer doppelten Religion und Initiation, die Dialektik von kleinen und großen Mysterien der Aufklärung. Dieser zweistufige Prozess entspricht in wesentlichen Stücken dem „Prinzip einer doppelten Kodierung“297 von Wahrheit, wie sie im 18. Jahrhundert in der Theologie und – vor allem – in der sich eben konstituierenden Ägyptologie diskutiert wurde. Den „kleinen“ Mysterien entsprachen die „leichten Rätsel“ der Künstler als Medium der ästhetischen Vorschulerziehung, die – über „der Dichtung Blumenleiter“ (v. 428) – bis an die Schwelle zur Wahrheit führt. Der „doppelten Religion“ entspricht die „doppelte Venus“. Als „sanfte Cypria“ (1. Stufe) initiiert sie den Eintritt des Menschen ins Stadium der Kultur, dem dann (2. Schritt) der Eintritt ins Reich der Wahrheit und der Vernunft folgt oder folgen muss – im Gedicht selbst wird dieser Schritt als unmittelbar bevorstehend, aber noch nicht vollzogen beschrieben („in der Wahrheit Arme wird er gleiten“; v. 432). Im Angesicht der Wahrheit schweigt das Gedicht, und wo das Gedicht spricht, schweigt (noch) die Wahrheit. Auch in dieser Hinsicht sind die Künstler nicht das Manifest der eingelösten sondern der aufgeschobenen Wahrheit und damit ein weiterer Schritt von Schillers Emigration in die Kunst und Ästhetik.

–––––––––––––– 297 Jan Assmann im Nachwort zu seiner verdienstvollen Ausgabe von Reinhold, Carl Leonhard: Die hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey. Neckargemünd 22006 (= GegenSatz 4), S. 157-204, hier S. 178.

VI. Von der Kritik zur Kritik. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der Bürger-Rezension

VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›BürgerRezension‹ 1. Die Bürger-Rezension im Horizont der Literarkritik

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik 1.1. Kritik und Krankenrapport

Glaubt man der älteren Forschung, so sind Schillers Rezensionen weniger ein literarhistorisches Problem als eine Frage des Charakters: „Seine Kritiken sind scharf und ätzend, rücksichtslos und ohne Erbarmen“, stellt Herbert Meyer in seiner Einleitung zu den Vermischten Schriften in der Nationalausgabe fest.1 Scheinen die literarischen Fehden mit dem schwäbischen Konkurrenten Stäudlin noch durch „juvenilen Angriffshunger“2 entschuldigt, so musste die Rezension Ueber Bürgers Gedichte, die in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1791 (Nr. 13 und Nr. 14) „gemäß den Statuten der ALZ ohne Verfasserangabe“3 erschien, wie ein „Totschlagsversuch“4 anmuten. Die Reaktionen auf beiden Seiten waren von jeher einhellig. Auf der einen Seite das rasch kolportierte Lob Goethes, der „öffentlich erklärt hatte, er wünschte Verfasser davon zu sein“5, die Anerkennung des Textes als „Meisterwerk deutscher Literaturkritik“ und zumal als „wichtige Selbstaussage und Selbstabrechnung“6, auf der anderen Seite die Hypothese, Schiller habe den älteren Kollegen „mit seiner sinnlosen Ge-

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NA 22, 342. Misch, Manfred: Schiller als Rezensent. In: Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 711-728, hier S. 711. Urban: Kunst der Kritik, S. 109. Koopmann, Helmut: Der Dichter als Kunstrichter. Zu Schillers Rezensionsstrategie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 229-246, hier S. 229 und 230. An Körner, 3.3.1791; NA 22, 412. Mayer, Hans: Einleitung in: Ders. (Hg.): Deutsche Literaturkritik. 4 Bde. Frankfurt/Main 1978. Hier Bd. 1: Von Lessing bis Hegel (1730-1830), S. 9-41, hier S. 16.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

hässigkeit in den Tod getrieben“7 – was durch die Chronologie eo ipso widerlegt ist – Bürger starb erst 1794.8 Wie dem auch sei: Die Begleitumstände dieses Schiller’schen Überraschungscoups gegen einen Dichter, der ihm zuvor noch seine Sammlung mit „unbegrenzten Hoffnungen“ und „der wärmsten Hochachtung“ übersandt hatte, mit dem Bekenntnis verbunden, dass dieser „meiner Seele neue Flügel und einen kühnen Taumel schafft“9, sind oft referiert worden. Am Anfang steht Bürgers Besuch bei Schiller in Jena (April 1789), der die erste und einzige Begegnung zwischen beiden Dichtern bleibt. Schiller hält Bürger für einen „ehrliche(n) Kerl, mit dem sich allenfalls leben ließ“, sein „Äusserliches“ scheint ihm jedoch „plan und fast gemein“.10 Dann, im Brief an Lotte, der vernichtende, schon auf die Rezension voraus deutende Hinweis: „Der Karakter von Popularität, der in seinen Gedichten herrscht, verläugnet sich auch nicht in seinem persönlichen Umgang, und hier wie dort verliert er sich ins Platte“.11 Beide Urteile zeigen den Physiognomiker und Psychopathologen Schiller, der, wie einst an Grammont eingeübt, über den diagnostisch scharfen Blick verfügt. Ist die Physiognomik dort „der unentbehrlichste Leitfaden im gesellschaftlichen Leben“12, so wird sie in der Rezension zum Leitfaden der Literarkritik. Schiller behandelt Bürger, kurz gesagt, wie einen pathologischen Fall.13 In unheimlicher Weise wird der Topos vom furor poeticus hier medizinisch konkretisiert. Auch Bürger leide am Grammont-Syndrom der „Hypochondrie“14 und „eine(r) fast kränkelnde(n) Schwermut“.15 Diese führe dazu, dass „sich die Begeisterung […] nicht selten in die Grenzen des Wahnsinns verliert, daß sein Feuer oft Furie wird“.16 Diese Strategie lässt sich gleichzeitig als Abwehr und Übertragungsvorgang in aestheticis be–––––––––––––– 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Schiller-Rede von Herbert Eulenberg; in Oellers (Hg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Bd. 2. München 1976: Teil II: 1860-1966, S. 248. Die zeitgenössische Rezeption und Diskussion dokumentiert Oscar Fambach: Aufstieg zur Klassik, S. 458-489. NA 16, 410. An Körner 30.4.1789; NA 25, 252. An Charlotte von Lengefeld, 30.4.1789; NA 25, 251. NA 20, 68. Schiller rückt ihn sogar in die Nähe des Verbrechers: „rührende Naturtöne entrinnen auch dem gequälten Verbrecher.“ NA 22, 260. NA 22, 258. NA 22, 256. Ebd. Noch entschiedener in dem Satz: „Die Empfindlichkeit, der Unwille, die Schwermut des Dichters sind nicht bloß der Gegenstand, den er besingt; sie sind leider oft auch der Apoll, der ihn begeistert.“ NA 22, 255.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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schreiben: In Bürgers Lyrik entdeckt Schiller die seelischen Grenzund Ausnahmezustände der eigenen Anthologie-Dichtung wieder. Dieser Blickwinkel bringt es mit sich, dass die Rezension vor allem auf Schmerz und Passion abhebt. Mit Vorliebe wird Physiologisches und Kreatürliches aus Bürgers Lyrik zitiert, z.B. der Beginn einer Molly-Elegie: „Auszuschreien seinen Schmerz – Schreien! Ich muß aus ihn schreien“.17 Dass der Mensch seine Dichtung ist, sein Geist sich im Text wie in einem Körper materialisiert, zählt zu den fraglosen, physiognomisch begründeten Vorannahmen des Rezensenten. Kritik ist damit notwendig Kritik am Menschen und Kritik der Empfindungen, paradox zugespitzt in dem Verdikt: „So poetisch sie gesungen sind, so unpoetisch sind sie empfunden“.18 Es verrät das Erbe des Anthropologen, wenn Schiller das Erreichen der „höchste(n) Krone der Klassizität“19 an die Heilung des Menschen bindet. Daher ist es nur konsequent, wenn die Rezension bereits zu Beginn fordert, „den ganzen Menschen in uns wieder her[zu]stell(en)“.20 Beide Forderungen – der „ganze Mensch“ und die „Klassizität“ – sind komplementär. Bürger ist für das eine wie für das andere negatives Exempel, ein lyrischer casus clinicus. Weniger ausgemacht scheinen dagegen die poetologischen, kunstund ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Konzepts. Unbestritten ist, dass es sich „um zwei verschiedene Kunstprogramme und Kulturen“21 handelt. Die Bürger-Rezension zeigt Schillers Willen zur Klassizität. Diese Klassizität wird jedoch als Projekt und Problem aufgefasst, an dessen Auflösung auch die Rezension laboriert – eine Hinrichtung mit ästhetischem Mehrwert also. Dass die persönliche Invektive hier der Entwicklung einer Idee dient, die 1791 noch kaum über Schlagwörter hinaus gediehen scheint, ist allgemein zu wenig gewürdigt worden.22 Das vermeintliche „Programm der Klassik“23 ist –––––––––––––– 17 18 19 20 21 22

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NA 22, 251. NA 22, 255. NA 22, 259. NA 22, 245. Hinderer, Walter: Die ästhetische Kontroverse zwischen Schiller und Bürger. In: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, S. 76-93, hier S. 78. Gesehen hat sie schon Hugo von Hofmannsthal in seiner Rede auf Grillparzer: „Was das Wort [sc. Idee] bedeute und welche Würde ihm innewohne, dahin gibt uns Schillers hohe Kunstsprache, wie er sie in seinen Ästhetischen Schriften anwendet, einen Fingerzeig, wo freilich der Gebrauch des Wortes kein scharf gesicherter und gegen das Wort ‚Ideal‘ die Grenze verschwimmend ist, wo aber durchaus der hohe antike Begriff noch fühlbar bleibt und das Grundwort eidow – Bild – durchschimmert.“ Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 98. Koopmann, Helmut: Schiller-Kommentar zu den philosophischen, historischen und vermischten Schriften. Bd. 2. München 1969, S. 84.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

tatsächlich eher ein vorgreifendes Experiment in Sachen Klassizität. Die Anfänge der neuen Poetik stehen in der Kontinuität der alten, die Schiller in gedrängter Synthese reformuliert – mit neuen Akzenten und unerwarteten Bezügen, wie sich am Ende zeigen wird. 1.2. Anarchie und Gesetzbuch Wie sehr diese „Apologie einer Kunstanschauung“24 selbst einer Apologie bedarf, zeigt der entschuldigende Gestus aller Studien zur Bürger-Rezension. Sie gehen zumeist von zwei Schutzargumenten aus: Schiller sei 1. „kein besonders radikaler Vertreter des rezensorischen Grobianismus“ und dabei 2. durch ein Sachinteresse entschuldigt: „Die Schwertspitzen der Kritik zielen weniger auf die Person als auf deren Werk“25, seien zudem „alles andere als rein destruktiv“26, vielmehr „an der Sache orientiert und bei aller witzigen und polemischen Schärfe letztlich konstruktiv gemeint“.27 Der scharfe Ton der Rezension sei nicht mehr als ein „Habitus des Kritikers im 18. Jahrhundert“.28 In der Tat lässt sich die Bürger-Rezension als Indiz für den Funktionswandel der Kritik und des Kritikers am Ende jenes 18. Jahrhunderts lesen, das bekanntlich ein Jahrhundert der Literaturkritik war.29 Schillers Rezensionen spiegeln dieser Auffassung zu Folge nur wider, was in der Literaturkritik der mittleren Aufklärung seit den Tagen Gottscheds, Bodmers, Breitingers und schließlich Lessings etabliert war, nämlich die „unbezweifelte und unbezweifelbare Stellung des Rezensenten“30, der die festen Normen und „Grundbegriffe des Vollkommenen und Schönen“ an negativen Beispielen demonstriere. Das Muster einer solchen „konstruktiven Kritik“ hatte Helmut Koop–––––––––––––– 24 25 26 27 28 29

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Schneider, Georg: Rezension einer Rezension. In: Welt und Wort 26 (1971), S. 341343, hier S. 341. Misch: Schiller als Rezensent, S. 712. Koopmann: Der Dichter als Kunstrichter, S. 238. Misch: Schiller als Rezensent, S. 712. Ebd. Die Literarkritik des 18. Jahrhunderts hat in den letzten Jahren die stetig wachsende Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft auf sich gezogen. Aus der Fülle der Titel seien die wichtigsten Überblicksdarstellungen genannt. Urban: Kunst der Kritik; Jaumann, Herbert: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden/New York/Köln 1995; Hohendahl, Peter Uwe (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart 1985. Im Hinblick auf Schiller Koopmann: Dichter, Kritiker, Publikum; Misch: Schiller als Rezensent. Koopmann: Der Dichter als Kunstrichter, S. 233.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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mann in der Bürger-Rezension erkennen wollen31. Schiller folge der Maxime Bodmers, wonach „dem Criticus die Verbesserung der Kunst wahrhaftig zu Herzen gehe [, so] daß er an der Entdeckung der Fehler mehr Verdruß als Genuß und Vergnügen schöpfe“.32 Zwei Einwände lassen sich gegen diese Auffassung vorbringen. 1. wird so die Sachlichkeit und Objektivität des Rezensenten allzu optimistisch für bare Münze genommen. 2. wird die Literaturkritik des 18. Jahrhunderts unzulässig vereinfacht und harmonisiert, indem eine Kontinuität zwischen der älteren und der neuen Tradition, für die Schiller steht, postuliert wird. Dass dies schon quellenphilologisch unhaltbar ist, zeigt der Umstand, dass Schillers wichtigster Bezugspunkt nicht die Poetik der frühen und mittleren Aufklärung ist, sondern vor allem Lessing. So ist es kein Zufall, wenn Lessing neben Horaz, der viermal (!) zitiert wird, die einzige namentlich erwähnte Autorität bleibt. Dies zeigt eindringlich, dass Schillers ästhetische Selbstfindung poetisch über das Paradigma des lateinischen, durch Wieland vermittelten Klassizismus (Horaz), poetologisch über das Lessingsche Modell der Literarkritik erfolgt. Im Hinblick auf Methode und Form lässt sich Schillers Rezensionspraxis aus Prämissen ableiten, die Lessing in der Vorrede zu seinem Laokoon entwickelt. Dort heißt es: Die folgenden Überlegungen zur Kunst seien „zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Lectüre, als durch die methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze angewachsen. Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch“.33 Am Ende des 95. Stückes der Hamburgischen Dramaturgie betont Lessing, dass „diese Blätter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen“, vielmehr „Gedanken“, um „selbst zu denken“ – „Fermenta cognitionis“.34 Der Bescheidenheitstopos hat einen methodischen Kern, der, so könnte man sagen, in der systematischen Verweigerung des Systema–––––––––––––– 31 32 33 34

Ebd. S. 243. Ebd. S. 242. Lessing: Werke, Bd. 6, S. 11. Lessing: Werke, Bd. 4, S. 670. Das Schlagwort „fermenta cognitionis“ wird unter ausdrücklichem Verweis auf Lessing zum „Ferment“ der frühromantischen Dichtungstheorie. KFSA, 1. Abt., Bd. 2, S. 209: „[Nr. 259] A. Fragmente, sagen Sie, wären die eigentliche Form der Universalphilosophie. An der Form liegt nichts. Was können aber solche Fragmente für die größeste und ernsthafteste Angelegenheit der Menschheit, für die Vervollkommnung der Wissenschaft, leisten und sein? – B. Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters.“ Vgl. noch Franz von Baaders sechsbändiges, von Hegel geschätztes Hauptwerk Fermenta cognitionis (Leipzig 18221826).

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

tischen besteht. Nicht ohne Grund setzt Lessing in der Vorrede zum Laokoon den „Philosoph(en)“ (gemeint Mendelssohn) der Kunst gegen den „Kunstrichter“ ab, dessen „Bemerkungen“ zumeist „in der Richtigkeit der Anwendung auf den einzeln Fall“35 bestehen. Lessing vertritt die Macht der Philologie und ihrer Techniken (Exzerpt, Kollektaneenhefte, Kommentar) gegen die Anmaßung der Kunstphilosophie, also der Ästhetik (Baumgarten) mit ihren „systematischen Büchern“, denen doch der Geschmack der „Quelle“ fehle.36 Ihnen gegenüber stellt schon die Form des Laokoon etwas „faszinierend Neue(s)“ und „Gemischtes“ dar: „nicht selbst schon neue Form, aber ein Experiment“.37 Gegen die Baumgartensche Ästhetik setzt Lessing den philologischen Kommentar, gegen die „bündige“ Darstellung die (vermeintlichen) „Ausschweifungen“, gegen die deduktive die induktive Methode, gegen die präskriptive eine deskriptive Strategie, die nicht mehr den Fall zur Regel sucht, sondern die Regel aus dem Fall entwickelt. Durch Rückbesinnung auf genuin philologische Formen wird Literarkritik bei Lessing auf Vorläufigkeit umgestellt. Diese Philologisierung wird zum Äquivalent der empirischen Wende mit ihrem Schlachtruf „hypotheses non fingo“.38 Ganz anders die Situation der Kritik in der ersten Jahrhunderthälfte. Der Kritiker verfügt hier noch über ein präzises Normenkontrollwissen, die Rezension zielte „genotypisch“39 auf das Allgemeine, die „rechten Grundbegriffe der Künste“40 und „Regeln der Vollkom–––––––––––––– 35 36

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Lessing: Werke, Bd. 6, S. 9. Ebd. S. 11. Zu Lessings philologischer Methode Wilfried Barner: Nachwort zu Ders. (Hg.): Laokoon. Briefe antiquarischen Inhalts. Frankfurt/Main 1990 (= Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2), S. 661-665; weiterhin Barner, Wilfried / Grimm, Gunter E. / Kiesel, Helmuth / Kramer, Martin: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 51987, S. 134-155; Bender, Wolfgang: Zu Lessings frühen kritischästhetischen Schriften. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 90 (1970), S. 161-186; Steinmetz, Horst: Der Kritiker Lessing. Zu Form und Methode der Hamburgischen Dramaturgie. In: Neophilologus 52 (1968), S. 30-47; Voss, Eva Maria de: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung. Diss. Bonn 1975. Barner: Nachwort Laokoon, S. 663. Schrader, Monika: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst.“ Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hildesheim/Zürich u.a. 2005. Außen vor bleiben an dieser Stelle alle Fragen, die sich um den ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ und die Funktion der Literarkritik als Agent in diesem Prozess zentrieren. Hierzu die klassische Darstellung von Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt/Main 1990 (zuerst 1962) (= stw 891), hier S. 103 die These: „In den Institutionen der Kunstkritik, Literatur-, Theater- und Musikkritik einbegriffen, organisiert sich das Laienurteil des mündigen oder zur Mündigkeit sich verstehenden Publikums.“ Misch: Schiller als Rezensent, S. 713. Bodmer, Johann Jacob: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Zürich 1741 (Ndr. Frankfurt/Main 1971), unpag. Vorrede 1741.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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menheit“.41 Diese waren selbst unveränderlich, da sie in der „unveränderlichen Natur der Dinge selbst“ begründet lagen.42 Dieser logischmetaphysische Kritikbegriff der Wolffianer zwischen Gottsched und Baumgarten43 hatte den Akzent auf die Rationalität der Regeln verlegt und eine philologische in eine philosophische Disziplin verwandelt: Wenn man nun ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennet: so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von einem Poeten wird geben können, als ein Philosoph; aber ein solcher Philosoph, der von der Poesie philosophiren kann, welches sich nicht bey allen findet, die jenen Namen sonst gar wohl verdienen. […] Wer dieses aber weis, der bekömmt einen besondern Namen, und heißt ein Criticus. Dadurch verstehe ich nämlich nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren oder Grund anzeigen kann.44

Dieser logische Kritikbegriff ist die Antwort auf den philologischen. War Kritik seit der Antike eine philologische Praxis („enarratio poetarum“), so wird sie nun philosophische Theorie, deren Regelgebäude dem Leibniz’schen Prinzip des zureichenden Grundes entsprechen musste.45 Der criticus verfügt über eine „Regelkompetenz“46, die nicht auf Autorität, sondern auf einem diskursiven Wissen um den zureichenden Grund basiert. Dies setzt ein Modell von Dichtung voraus, bei dem, wie schon bei Aristoteles selbst, normative und de–––––––––––––– 41 42

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Gottsched: Werke, Bd. 6,1, S. 145. Ebd. S. 174 (Kap. III, § 8): „Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingeführet worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderlichen Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie. Diese Gesetze nun, die durch langwierige Erfahrung und vieles Nachsinnen untersuchet, entdecket und bestätiget worden, bleiben unverbrüchlich und feste stehen: wenn gleich zuweilen jemand, nach seinem Geschmacke, demjenigen Werke den Vorzug zugestünde, welches mehr oder weniger dawider verstoßen hätte.“ Schmidt, Horst-Michael: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München 1982 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 63). Gottsched: Werke, Bd. 6,1, S. 145. Vgl. Jaumann: Critica, S. 306: „Kritisieren heißt für Gottsched in erster Linie, sich mit den Problemen der regelmäßigen Begründung des Dichtens zu beschäftigen. ‚Kritik‘ wird auf Poetik, auf Regelbegründung, auf Literaturtheorie festgelegt.“ Daher setzt sich Gottsched systematisch ab von der Grammatik und Philologie: „Man begreift es schon, daß ein solcher Criticus ein Philosoph seyn, und etwas mehr verstehen müsse, als ein Buchstäbler; der nur verschiedene Lesarten, oder besser zu sagen, die Schreib- und Druckfehler sammlen; oder sonst aus einem ANTIBARBARO die lateinischen Wörter herzählen kann, die nur in den schlechtesten Scribenten der Römer vorkommen.“ Gottsched: Werke, Bd. 6,1, S. 16f. Misch: Schiller als Rezensent, S. 714.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

skriptive Ebene eine Einheit bilden.47 Die Deskription konkreter Dichtung erfolgt immer im Hinblick auf überzeitliche Normen, die vor allem in der antiken Dichtung und Poetik („den größten Critikverständigen alter und neuer Zeiten“) niedergelegt sind.48 Zu den Pointen der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts gehört, dass dieses Gottschedsche Modell einer Poetik als Kritik mit dem Auftreten Lessings durch das ältere Modell einer critica perennis konterkariert wird, das nun wieder genuin philologische („antiquarische“) Qualitäten und Analysegattungen wie Exzerpt und Kommentar gegenüber der philosophischen Deduktion der Kunst ins Recht setzt. Gleichzeitig bedeutet sie eine Aufwertung der Position des Kritikers. Konnte sich Gottsched noch als Glied einer poetologischen Traditionskette fühlen und betonen, dass „ich alle meine critischen Regeln und Beurtheilungen, alter und neuer Gedichte, nicht aus meinem Gehirne ersonnen“49 habe, so wird nun der Kunstrichter zur entscheidenden Instanz nicht mehr nur der richtenden, sondern auch der gesetzgebenden Gewalt. Mit Kants Begriffen: Aus der subsumierenden wird die reflektierende Urteilskraft. Hans Mayer hat diese Entwicklung mit dem Prinzip der Gewaltenteilung verglichen: „Der berühmte Grundsatz Montesquieus von der Gewaltenteilung kann mithin auch, und zwar nach seinem eigenen Willen, als Kernprinzip der Ästhetik verstanden werden“.50 So wiederhole der „innere Zusammenhang zwischen allgemeiner ästhetischer Gesetzlichkeit, konkretem Kunstschaffen und Kunstrichtertum“ die Triade von Legislative, Exekutive und Judikative, derart, dass die poetologischen Gesetze „ewige Geltung“ beanspruchten. Dies hat zwei Folgen: Einerseits steht der Sektor der Judikative nicht zur Diskussion, da hier im Sinne einer poetica perennis überzeitliche Normen und Regeln gelten, andererseits rücken Exekutive (Künstler) und Judikative (Kritiker) enger zusammen, denn „beide sind eng an das –––––––––––––– 47 48

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Söffing, Werner: Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles. Amsterdam 1981 (= Beihefte zu Poetica 15). Gottsched: Werke, Bd. 6,1, S. 12. Gottsched zeigt sehr deutlich einen Übergangsstandpunkt, bei dem Normativität und Rationalität immer auch und noch durch Autorität begründet sind: „Ich trage also auch bey dieser neuen Auflage kein Bedenken, zu gestehen, daß ich alle meine critischen Regeln und Beurtheilungen, alter und neuer Gedichte, nicht aus meinem Gehirne ersonnen; sondern von den größten Meistern und Kennern der Dichtkunst erlernet habe. Aristoteles, Horaz, Longin, Scaliger, Boileau, Bossü, Dacier, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evremond, Fontenelle, la Motte, Corneille, Racine, Des Callieres und Füretiere; ja endlich noch Schaftesbury, Addison, Steele, Castelvetro, Muralt und Voltaire, diese alle, sage ich, waren diejenigen Kunstrichter, die mich unterwiesen und mich einigermaßen fähig gemacht hatten, ein solches Werk zu unternehmen.“ Ebd. S. 13. Ebd. Mayer: Einleitung, S. 25.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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Gesetz gebunden“.51 Diese Personalunion wird zwischen Gottsched und Schiller ungebrochen fortdauern. Der Paradigmenwechsel der Literarkritik vollzieht sich an anderer Stelle. Er betrifft Ort und Status des poetologischen Wissens, also die Legislative. War der Systempoetik Gottschedscher Faktur der „Begriff vom Künstler, der sich selbst die Gesetze gibt, vollkommen undenkbar“52, so verliert nun die poetische Legislative ihre schlechthin objektive Höhe und verlagert sich zu gleichen Teilen auf die Exekutive (Künstler) und Judikative (Kritiker). Der Kritiker ist nicht Gesetzgeber, sondern „ästhetischer Kronjurist“53, andererseits „Mandatar“ seines Publikums.54 Folgt die ältere Kritik einer platonischen Matrix von (unwandelbarer) Idee und (kontingenter) Erscheinung, Regel und Einzelfall, so steht die neuere im Zeichen eines aristotelischen Denkmodells, das die Formgesetze nicht unabhängig vom, sondern stets nur im konkreten Akt ihrer Realisierung im Kunstwerk zu fassen glaubt. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht abrupt, sondern in Schüben und Reprisen. Sie sorgen dafür, dass der Status des poetologischen Wissens und mithin der systemische Ort der Literarkritik nicht klar bestimmt ist. Dieses Schwanken zwischen einem objektiven und einem subjektiven Verständnis von Poetik und poiesis ließe sich ausführlicher studieren am Umgang mit der Autorität des Aristoteles. Lessings Bemühen in der Hamburgischen Dramaturgie richtet sich „auf Wiederherstellung des Gesetzes, der angeblich echten aristotelischen Theorie“.55 Schiller partizipiert an diesem Neo-Aristotelismus, indem er in der Bürger-Rezension via Lessing erstmals eingehender auf aristotelische Prinzipien (Katharsislehre, Gegensatz von allgemein und individuell) Bezug nimmt. So wird mit philologischen und literarkritischen Mitteln die Autorität der Kunstphilosophie, ja der Poetik wiederhergestellt. In diesem Sinne ist es durchaus ambivalent, wenn die Rolle des Rezensenten im 18. Jahrhundert aufgewertet wird. Die Stärkung der Judikative indiziert eben auch eine Störung der Gewaltenteilung, eine Schwächung der Legislative, um im Bild zu bleiben. Wenn die Auffassung zutrifft, dass „die Literaturkritik der Weimarer Klassik […] gesetzgeberischer Art [ist]“56, so setzt dies weniger die Wiederkehr als den –––––––––––––– 51 52 53 54 55 56

Ebd. S. 26. Ebd. S. 27. Mayer, Hans: Lessing und Aristoteles. In: Schwarz, Egon (Hg.): Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur. Göttingen 1967, S. 6175, hier S. 62. Habermas: Strukturwandel, S. 103; Barner u.a.: Lessing, S. 144f. Mayer: Einleitung, S. 28. Ebd. S. 32.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Verlust jener perennierenden Normen voraus, über die Gottsched und Baumgarten noch ohne weiteres verfügten. Der Weimarer Klassizismus ist der erste Klassizismus ohne die Idee einer solchen perennierenden Norm. Die „Idealisierkunst“ kommt – auch und gerade in der Bürger-Rezension – ohne ein objektives Ideal des Kunstschönen im Sinne des ästhetischen Platonismus aus.57 Das Schöne wird zur offenen Wunde, und so antworten Schillers Abhandlungen und Rezensionen auf ein systemisches „Regelvakuum“58, das der Kollaps der Aufklärungsästhetik älterer Spielart hinterlassen hat.59 Schiller hat diesen Kollaps der Legislative klar gesehen. Schon die Auseinandersetzung mit Euripides, die im Herbst 1788 begonnen wird, ist „analysierendes Lernen im großen Stil“60, genährt von der Hoffnung, die eigenen „dunklen Ahnungen von Regel und Kunst in klare Begriffe verwandel(n)“ zu können.61 In noch stärkerem Maße gilt diese Sehnsucht nach einer Regel nach der Regelpoetik für die Lyrik. Die „Klage um die Unzulänglichkeit des wahren Begriffs der lyrischen Poesie“ ist im 18. Jahrhundert allgemein verbreitet.62 An Goethe schreibt Schiller nach Fertigstellung der Matthisson-Rezension: Bey der Anarchie, welche noch immer in der poetischen Critik herrscht und bey dem gänzlichen Mangel objectiver Geschmacksgesetze befindet sich der Kunstrichter immer in großer Verlegenheit, wenn er seine Behauptung durch Gründe unterstützen will; denn kein Gesetzbuch ist da, worauf er sich berufen könnte. Will er ehrlich seyn, so muß er entweder gar schweigen, oder er muß (was man auch nicht immer gerne hat) zugleich der Gesetzgeber und der Richter seyn. Ich habe in jener Recension die letzte Parthey ergriffen […].63

Die Personalunion von judikativer und legislativer Funktion ist Symptom eines Macht- und Legalitätsvakuums, das die Zerstörung der alten Ordnung notwendig gemacht hat. Der neue Kritiker sieht sich als provisorischer Verwalter, die Rezension wird zur ästhetischen Notstandsgesetzgebung. Dieser Konstellation verdankt sich die auffäl–––––––––––––– 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Raulet, Gérard: Ideal. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2001, S. 86-118, hier bes. S. 100-108 (‚Rückkehr zum Platonismus’). Urban: Kunst der Kritik, S. 116. Misch: Schiller als Rezensent, S. 714: „Ursache dieser Krise der Kritik war das Fehlen allgemein akzeptierter Kunstregeln, eines verbindlichen Normensystems, auf das der Kunstrichter sein Urteil stützen konnte.“ Frick: Schiller und die Antike, S. 101. An Körner; 26.11.1790; NA 26, 58. Scherpe, Klaus: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 105. 7.9.1794; NA 27, 40.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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lige Zweigliedrigkeit der beiden großen Rezensionen Schillers, die stets zugleich die „Grundsätze des Geschmacks und deren Anwendung“ enthalten.64 Bietet die Bürger-Rezension die „Anfänge einer neuen Poetik“65, so ist dies eine Poetik par provision und, mit Lessing gesprochen, eine Poetik im Fermentierungsprozess. Klassizität erweist sich nicht „als das Zusichkommen und feierliche Insichruhen […], sondern als oft zwiespältig, hintergründig, ja abgründig, als reflexions- und modifikationsbedürftig, als im Grunde unabschließbar oder nur provisorisch“.66 Die progressive Literarkritik ist Symptom und Medium dieser Vorläufigkeit, die ja die Kehrseite der Perfektibilitätsidee ausmacht. „Diese Dramaturgie“ hatte Lessing in der Ankündigung seiner Schrift betont, „soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird“.67 Kritik und Ästhetik wird damit ein Zeitindex zugeordnet; sie geraten in den Sog der Verzeitlichung und partizipieren am allgemeinen Wandel in der „Semantik geschichtlicher Zeiten“.68 Klassizität kann immer nur regulative Idee bzw. Ideal sein. Schon in der BürgerRezension kann dieses Ideal nicht mehr objektiv bestimmt werden (als „Gesetzbuch“); es muss im Sinne eines „Ideal-Ichs“69 allein „in der –––––––––––––– 64 65 66 67 68

69

NA 21, 259. Wiese: Schiller, S. 428. Pfotenhauer: Vorbilder, S. 47. Lessing: Werke, Bd. 4, S. 233. Erinnert sei an die klassischen Wegmarken dieser Erkenntnis. Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt/Main 1993 (zuerst 1936) (= stw 1104); Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Frankfurt/Main 1979 (= stw 757); Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1978. Freuds Konzept des Ideal-Ichs bzw. des Ich-Ideals bietet sich für eine Reformulierung der Schiller’schen „Idealisierkunst“ an. Vgl. Freud: Zur Einführung des Narzißmus. (Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 161): „Wir können sagen, der eine habe ein Ideal in sich aufgerichtet, an welchem er sein aktuelles Ich mißt, während dem anderen eine solche Idealbildung abgehe. Die Idealbildung wäre von seiten des Ichs die Bedingung der Verdrängung.“ Zwei genealogische Verbindungslinien führen von Schiller zu Freud 1. die Idee des Zivilisationsprozesses, die für Schiller und Freud den Kern der Individualentwicklung ausmachen, 2. näherhin Figur und Theorie des Narzissmus, die Schiller selbst im Brief an Reinwald vom 14.4.1783 als gleichsam psychoanalytische Ars poetica in den Ring wirft, um sie dann unter dem Verdikt der „Eigenliebe“ (NA 22, 262) gegen Bürgers pathologisch-poetischen Narzissmus zu wenden. Der grundlegende Artikel von Gérard Raulet in Ästhetische Grundbegriffe (Ideal) streift die Geschichte des Idealbegriffs nach dem Idealismus nur kurz und spricht – wohl voreilig – vom „Ende der Ideale.“ Raulet: Ideal, S. 118. In der Tat wird Freuds Idealbegriff in der Fluchtlinie der „neuzeitlichen Säkularisierung“ als eine „Zensur-Instanz“ und „Projektion“ des Ichs immerhin erwähnt (ebd.). Eine moderne Geschichte des Ideals

304

VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Seele des Dichters“70 aufgesucht werden. Introjektion der Norm und Verzeitlichung sind mithin die Symptome eines Umbaus der Literarkritik, die von System auf Aktualität und Temporalisierung umstellt.71 Die Einführung der Periodika, Journale und Zeitungen seit dem 17. Jahrhundert indiziert nicht nur funktionsgeschichtlich, sondern auch formgeschichtlich den „entscheidenden Strukturwandel der neuzeitlichen kulturellen Produktion“, d.h. die Umstellung der Kritik von ‚Generizität‘ auf ‚Periodizität‘. Erzwungen wird dies durch einen weiter „expandierenden literarischen Markt“72, der für eine quantitative wie qualitative Pluralisierung des ästhetischen und poetologischen Wissens sorgt. Diese Wendung dient auch hier – wie die Verzeitlichung in anderen Wissensgebieten – dem Ziel, gefühlte Diskrepanzen und „Irritationen“ durch Historisierung zu entschärfen.73 Schillers Rezensionspraxis steht in diesem Prozess grundsätzlich auf der Seite Lessings, jedoch eher contre cœur. Schon die BürgerRezension verrät ein Bedürfnis, über das Provisorium hinaus zu „einer Gesetzgebung in ästhetischen Dingen“74 vorzustoßen, den geheimen „Talisman, wodurch sie euch entzückt“ (Die Künstler), zu ergründen. Dieser Wille zur absoluten, mitunter apodiktischen Legislatur zeigt sich in der Beharrlichkeit, mit der Schiller ehedem verpönte Begriffe wie Regel, Gesetz oder System seit der klassizistischen Wende der späten achtziger Jahre wiederbelebt. „Jedes schöne Produkt muß sich vielmehr Regeln unterwerfen“75, dekretiert Schiller in den Kallias-Briefen, die sich auf die Suche nach einem definitiven und „objektiven Princip für den Geschmack“76 begeben. Die Kantlektüre und die damit verbundene Rückkehr zur philosophischen Kunstlehre korrespondiert einer Systemsehnsucht, die schon die Bemühungen um ästhetische Ordnung, Klassifikation und Tableaubildung begegnet war („Stuffenleiter des Vergnügens“; „Linnaeus des Lasters“). Die Rückkehr des taxonomischen Denkens, die Suche nach Hierarchien und –––––––––––––– 70 71 72 73

74 75 76

steht aus. Die beste Darstellung ist noch immer Panofsky, Erwin: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Berlin 61989. NA 22, 253. Jaumann: Critica, S. 230. Ebd. S. 270. Jaumanns Studie unterstreicht durch ihren makroskopischen Blick, dass sich diese Prozesse in Horizonten einer longue durée entfalten. Ähnliches habe ich an anderer Stelle, ausgehend von der frühmodernen und rinascimentalen Poetik anzudeuten versucht. Vgl. Robert, Jörg / Müller, Jan-Dirk: Poetik und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit – eine Skizze. In: Dies. (Hg.): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Münster u.a. 2007 (= Pluralisierung & Autorität 11), S. 7-46. NA 20, 137 (Ueber den Grund des Vergnügens). NA 26, 192. NA 26, 175.

1. Die ›Bürger-Rezension‹ im Horizont der Literaturkritik

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Gradationen des Vergnügens an der Tragödie ist neben dem planmäßigen Studium ästhetischer Schriften (Locke, Hume, Moritz u.a.) im Umfeld der Kant-Lektüre ein Indiz für ein tief reichendes Ungenügen am provisorischen Modus des poetologischen Wissens. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Das Scheitern der Systemhoffnungen führt zur Schließung der „philosophische(n) Bude“77 und zur zerknirschten Rückkehr in die empirisch-kritische Praxis. Schon der Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung steht unter den Vorzeichen der Literarkritik. Schiller will ausdrücklich keine „Geschichte der deutschen Dichtkunst“ vorlegen, sondern lediglich „einige Beyspiele aus unsrer Litteratur“.78 Der Essay steht mit diesem kritischen Ansatz in einer Tradition vormoderner Poetik zwischen Scaliger und Gottsched, die mit der poetischen Legislatur immer auch die recensio klassischer, später auch aktueller Autoren und Texte verbindet. Als eine Art Sammelrezension der Weltliteratur steht die Abhandlung in der Linie der eigenen Rezensionen. Entsprechend gleitend ist der Übergang zur eigentlichen Rezensionstätigkeit. Noch während der Konzeption von Ueber naive und sentimentalische Dichtung findet Schiller wieder zur Form der Rezension (Ueber Matthissons Gedichte) zurück. Im selben Moment wird der alte Reflex gegen die quellenferne Systemästhetik erneut – und dieses Mal endgültig – ausgelöst: „Es ist überhaupt noch die Frage, ob die Kunstphilosophie dem Künstler etwas zu sagen“79 habe, schreibt er skeptisch an Wilhelm von Humboldt, der sich selbst gerade dem aestheticus Schiller verpflichtet weiß. Der Künstler benötige „empirische und specielle Formeln, die eben deßwegen für den Philosophen zu eng und unrein sind“.80 Schiller teilt also mit Bürger, der ihn als „Metaphysikus“ bezeichnet hatte, dieselbe Ablehnung einer spekulativen Ästhetik.81 Die Idiosynkrasien gegen das, was späterhin „hohle Formeln“82 heißen wird – ästhetische Systembildung und Spekulation – lässt ihn dann eine mehr „praktische Theorie“ der Dichtkunst favorisieren, die „absolut nothwendig –––––––––––––– 77 78 79 80

81 82

NA 28, 132. NA 20, 458. NA 29, 245. Weiter heißt es: „Wirklich hat uns beide [Humboldt und Schiller; J.R.] unser gemeinschaftliches Streben nach Elementarbegriffen in aesthetischen Dingen dahin geführt, daß wir die Metaphysic der Kunst zu unmittelbar auf die Gegenstände anwenden, und sie als ein praktisches Werkzeug wozu sie doch nicht gut geschickt ist, handhaben. Mir ist dieß vis à vis von Bürger und Matthisson, besonders aber in den HorenAufsätzen öfters begegnet. Unsere solidesten Ideen haben dadurch an Mittheilbarkeit und Ausbreitung verloren.“ NA 29, 248. NA 22, 420. An Goethe; 20.1.1802; NA 31, 88.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

und wesentlich bey der Production selbst“ ist83, während „die beyden Operationen, des poetischen Hervorbringens und der theoretischen Analysis, wie Nord- und Südpol von einander geschieden“ scheinen84. Was Schiller braucht, ist keine Ästhetik, sondern eine Poetik. Daher überrascht es nicht, wenn die Distanz zur „Metaphysic der Kunst“ eine neue Nähe zum ältesten Systemdenker der Dichtung, zu Aristoteles also, schafft. Als Schiller 1797 dessen Poetik gemeinsam mit Goethe liest, findet er nicht den „kalten, illiberalen und steifen Gesetzgeber in ihm“, sondern den Mann der Praxis, der „aus einer sehr reichen Erfahrung und Anschauung heraus spricht“.85 In der Poetik sei „absolut nichts Speculatives, keine Spur von irgend einer Theorie“, es sei „alles empirisch“.86 Schiller rezipiert Aristoteles vor dem Hintergrund seiner aktuellen Schwierigkeiten mit der Kunstphilosophie. Schiller hebt die induktive Methode des Aristoteles hervor; die „große(n) Anzahl der Fälle“ verleihe seinen „empirischen Aussprüchen einen allgemeinen Gehalt und die völlige Qualität von Gesetzen“.87 Kurz: Aristoteles erscheint als Kritiker, die Poetik als eine Athenische Dramaturgie, die Schiller mit ähnlichen Worten charakterisiert wie Lessing seine Sammlung in deren Vorbericht.88 Schiller identifiziert sich mit der aristotelischen Methode, weil sie der eigenen, längst in den Rezensionen geübten ‚praktischen‘ Theorie der Dichtkunst entspricht. In Aristoteles, dem „Höllenrichter“89, erkennt sich der Kunstrichter Schiller wieder. So ergibt sich im Beziehungsdreieck zwischen Schiller, Lessing und Aristoteles eine interessante Verschiebung: Lernt Schiller Aristoteles zunächst durch Lessing näher kennen, so liest er die Poetik sechs Jahre später vor dem Hintergrund der Hamburgischen Dramaturgie.90 Die Bürger-Rezension zeigt –––––––––––––– 83 84 85 86 87 88

89 90

An Christian Gottfried Schütz, den Begründer der Allgemeinen Literatur-Zeitung; 22.1.1802; NA 31, 94. Wilm: Die Jungfrau von Orleans. An Christian Gottfried Schütz; 22.1.1802; NA 31, 95. 3.6.1797; NA 29, 82. Ebd. Ebd. Dazu passt der Plan zu einer Anthologie mit dem Titel Griechisches Theater, den Schiller im März 1794 Cotta mitteilt. Sie sollte „die vorzüglichsten Tragödien der Griechen in einer modernen und angenehmen Uebersetzung“ enthalten; jeder Band sollte „eine Beurtheilung der darinn enthaltenen Stücke, von meiner Hand, enthalten.“ Auf diese Weise sollte – gleichsam in einer Folge von Kurzrezensionen – „die ganze Theorie der tragischen Dichtkunst“ entwickelt werden.“ NA 26, 351f. Es war der Versuch, eine neue ‚praktische‘ Theorie der Dichtkunst aus einer Synthese von Aristotelischer und Lessingscher empirischer Kritik zu gewinnen. NA 29, 72. Zu Schillers Aristoteles-Rezeption allgemein Reinhardt, Hartmut: Schillers Wallenstein und Aristoteles. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 278337.

2. Die Spiele der Musen. Die Welt der ›Musa iocosa‹

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immerhin, wie sich die verschiedensten Bezüge zu einer verwirrenden Gemengelage konstellieren. Ueber Bürgers Gedichte ist nicht nur Manifest der Klassik, Theorie der Lyrik, Erfindung des Idealismus als poetischer Utopie. Der Text ist zudem der erste Beleg der KantRezeption und der – wenn auch vorerst indirekten – Aristoteles-Renaissance. 2. Die Spiele der Musen. Die Welt der Musa iocosa

2. Die Spiele der Musen. Die Welt der ›Musa iocosa‹ 2.1. Zur Vorgeschichte des Spielbegriffs

Wenn die Bürger-Rezension ein „Programm der Klassik“91 genannt werden kann, verdankt sie dies auch und vor allem ihrer kultur- und zeitkritischen Ouvertüre. Es geht um eine Standortbestimmung des modernen Menschen und der Kunst in der modernen Gesellschaft. Wie später in den Ästhetischen Briefen besteht die Eigenart der zeitkritischen Argumentation darin, dass sie ständig verschiedene Ebenen vermischt: eine anthropologische („der ganze Mensch“), eine politische („Elite vs. Masse“), eine epistemologische („lyrische Dichtkunst und philosophisches Zeitalter“) und eine mediale („Publikationsformen der Lyrik“). Dass der Forscher (d.h. die ‚theoretische Kultur‘) der Kunst nur mehr „den ersten Sklavenplatz“ zugesteht, war ja schon in den Künstlern die kleinlaute Diagnose gewesen. Die Gegenwart sei eine „dürftige Zeit“ für die Kunst, ein „philosophierendes Zeitalter“, das „auf die Spiele der Musen herabzusehen anfängt“ und so den „Verfall der lyrischen Dichtkunst“92 herbeigeführt habe. Der Tenor ist, wie gesagt, nicht neu. Der erste Abschnitt ist als ganzes eine freie Kombination anthropologischer und kulturkritischer Themen des mittleren Schiller. Die „Herren- und Meistergebärde“93 des Kultur- und Kunstrichters ist hinlänglich habitualisierte Rolle. So findet sich die Klage über „unser philosophisch kalte(s) Zeitalter“ bereits in der Rezension von Stäudlins Vermischten poetischen Schriften.94 Es bedurfte also nicht der „französische(n) Revolution als Bezugsrahmen“95, um den Schwenk zur Klassizität zu bewirken. –––––––––––––– 91 92 93 94 95

Koopmann: Schiller-Kommentar, S. 84. NA 22, 245. Bürger: Antikritik; NA 22, 417. NA 22, 189. Köpf, Gerhard: Friedrich Schiller: ‚Über Bürgers Gedichte‘. Historizität als Norm einer Theorie des Lesers. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81-83 (1977-79), S. 263-273, hier S. 265.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Stärker als die Brüche sind die Kontinuitäten, vor allem in der Idee der ästhetischen Erziehung, die auch in der Bürger-Rezension als zweistufiger Vorgang gefasst ist. Primär als der Prozess, in dem sich der Künstler selbst zum „Muster“ und Modell „vervollkommnet“, damit er sekundär die große Masse durch das Medium der Kunst erziehen kann. Was der „Erzieher von seinem Zöglinge fodert, darf doch wohl die Kunst von ihren vorzüglichsten Söhnen verlangen“ – das „innre Ideal von höchster Vollkommenheit“.96 Die Bürger-Rezension widmet sich nun beiden Erziehungs- und Idealisierungsprozessen, indem sie näher als Die Künstler den primären Bildungsprozess, d.h. den Vorgang der Selbsterziehung ausführt. Die Arbeit des Künstlers an sich selbst geht der Arbeit am Publikum voraus. Kunst wird weiterhin als Instrument der „Menschen- und Volksbildung“ und der Veredlung („was die Menschheit innerhalb ihres Wesens veredelt“97) vorgestellt. Es ist nicht gleichgültig, dass Schiller das Konzept der ästhetischen Erziehung erneut an der Lyrik entfaltet. Die Lyrik ist ein archaischer Fremdkörper, ein Gattungsatavismus inmitten der modernen Welt. Von den „jugendlichen Blüten des Geists“ drohen daher, so Schiller zu Beginn der Rezension, einige noch „in der Fruchtzeit“ abzusterben, „wenn die reifere Kultur auch nur mit einem einzigen Schönheitsgenuß erkauft werden sollte“.98 Was in den Künstlern nur implizit verhandelt wurde, wird nun offen als Frage aufgeworfen: Wie lässt sich die historische Priorität der Kunst in eine funktionale ummünzen, so dass den „Spiele(n) der Musen“ nicht mehr nur der „Söldnerlohn“ didaktischer Vermittlung bleibt? Schiller sucht und findet die Antwort auf diese Frage, indem er die Lyrik am Leitbild der Dramatik, im Rückgriff auf den Schaubühnen-Aufsatz neu bestimmt. Hatte Schiller dort den „mittleren Zustand“ gefordert, „der beide widersprechenden Enden“ des Menschen „zu sanfter Harmonie herabstimmte“, so wird nun der „ganze Mensch“ zum Ideal: Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt.99

–––––––––––––– 96 97 98 99

NA 22, 262. NA 20, 88. NA 22, 245. NA 22, 245.

2. Die Spiele der Musen. Die Welt der ›Musa iocosa‹

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Der Paradigmenwechsel zeichnet sich im Kleinen ab. Es ist eine Verschiebung vom physiologischen zum platonischen Paradigma. Steht 1784 die Idee des Nerventonus mit der Metaphorik der gespannten Klaviersaite im Vordergrund („harte Spannung“, „herabstimmte“), so tritt nun das platonische Modell der getrennten Hälften des Urmenschen hinzu.100 Auch die Surrogate liegen schon bereit. In der Vision des „ganzen Menschen“ deutet sich die „Mittellagenanthropologie“101 der Ästhetischen Briefe schon oder besser wieder an. Schon der erste Satz der Rezension stellt dabei der „philosophierenden“ Kultur eine Kultur des Spiels gegenüber. Mit den „Spielen der Musen“ tritt erstmals ein Begriff in den Horizont der Schiller’schen Ästhetik, der nur wenige Jahre später in den Briefen 14 und 15 der Ästhetischen Erziehung zur zentralen Vermittlungs- und Versöhnungskategorie aufsteigen wird. Schon in der Rezension steht der Spielbegriff im anthropologischen Zusammenhang des Entfremdungskomplexes („getrennte Wirksamkeit unserer Geisteskräfte“) wie des Plädoyers, den „ganzen Menschen in uns“ wiederherzustellen. In klassischer Formulierung lautet diese Idee dann wie folgt: „Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“102 Und weiter: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. […] Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.103 In der Bürger-Rezension bahnt sich die Verknüpfung von Totalitäts- und Spielidee erst an, ohne schon systematisch reflektiert zu werden. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Spiel ist hier noch nicht anthropologisch, sondern poetologisch. Signum des wahren Volksdichters ist es, dass er „mit den Resultaten des Tiefsinns zu spielen“104 vermag. Anders als im 15. Ästhetischen Brief ist das „Spiel“ in der Bürger-Rezension nicht Selbstzweck, sondern Medium der Aufklärungsarbeit. Der Volksdichter ist der Volkserzieher, der – wie im ursprünglichen Plan der Künstler – „die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefer(t) und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten [gibt]“.105 Damit wird die fundamentale Mittel-Zweck-Ambi–––––––––––––– 100 101 102 103 104 105

Platon: Werke in acht Bänden, Bd. 3, S. 99-109 (189d-193d). Zelle: Ästhetische Erziehung, S. 429. NA 22, 358. NA 20, 359. NA 22, 249. NA 22, 249.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

valenz in der Bestimmung der Kunst wieder zugunsten der Idee didaktischer Dichtung und gegen die von Wieland vertretene AutonomieIdee gewendet. Noch immer sieht Schiller die Funktion der Dichtung in der Wissensvermittlung: „Was Erfahrung und Vernunft an Schätzen für die Menschheit aufhäuften, müßte Leben und Fruchtbarkeit gewinnen und in Anmut sich kleiden in ihrer schöpferischen Hand“.106 Dichtung, die „mit dem Zeitalter fortschritte“107, ist Lehrdichtung auf aktuellem Wissensstand. Wenn die Dichtung Spiel sein soll, dann als spielerische Vermittlung von Wissensbeständen. Dichtung dient, so in den Göttern Griechenlandes, als der „Freude leichte(s) Gängelband“.108 Schon dort waren „Freude“, „Scherz“ und „Spiel“ Ausdruck eines „ästhetisches Weltverhältnis(ses)“.109 Dass dieses Weltverhältnis in lyrischer Dichtung artikuliert bzw. – im Fall der Bürger-Rezension – an lyrischer Dichtung diskutiert wird, ist keineswegs gleichgültig, sondern gattungstypologisch folgerichtig. Die Idee des homo aestheticus als homo ludens ist eine lyrische Idee. In ihr lebt der Zusammenhang einer ‚scherzenden‘ Dichtung (Musa iocosa) fort, die inhaltlich wie formal vom „Doppelgesicht des Amor-Iocus“ integriert wird.110 Erotische Dichtung ist, so Heinz Schlaffer, immer eine „Unter- oder Abart der komischen Gattung“.111 Ihr Spielcharakter ist Teil ihrer immer prekären Legitimität. Die Form der Darstellung, ihr lusorischer Modus, entzieht das Dargestellte schon formal den Ansprüchen des Realitätsprinzips und seiner moralischen Vorbehalte. Das Thema „Liebe“ (Eros) ist auch im 18. Jahrhundert von seiner komisierenden Darstellung nicht ablösbar.112 Hier – im Raum der scherzenden Muse – hat die Heiterkeit der Schiller’schen Kunst ihr topologisches und poetologisches Quellgebiet. Das „Reich des ästhetischen Scheins“ ist Rechtsnachfolger der Spielund Gegenwelt einer Musa iocosa, deren antike (Ovid, Catull, die Elegiker, Horaz) und moderne Autoritäten Schiller seit Schulzeiten vertraut sind. In der Antikritik werden sie Bürger als Muster einer „gefühlvollen“ Schreibart aus „idealisierter Empfindung“ vorgehalten. –––––––––––––– 106 107 108 109

NA 22, 246. Ebd. NA 1, 190, v. 2. Schneider, Sabine: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998 (= Epistemata 231), S. 243. 110 Schlaffer: Musa iocosa, S. 133. 111 Ebd. S. 135. 112 Ebd. S. 136: „Als paißgnia, ludus, Spiel bezeichnen mit Recht die erotischen Dichter ihre Werke, weil das Spiel die Ungültigkeit des Geschehens mit der Gültigkeit der Regeln verbindet, den Schein des Inhalts mit der Erscheinung der Form.“

2. Die Spiele der Musen. Die Welt der ›Musa iocosa‹

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Ihre Namen lauten: „Wieland, Goethe, Geßner, Lessing, Denis, Goeckingk, Hölty, Kleist und Klopstock“.113 2.2. Freude und Schwermut Die Forschung hat zuletzt gezeigt, wie sehr die scherzende Muse des Rokoko und der Anakreontik im Zeichen der „Gleichursprünglichkeit“ von Ästhetik und Anthropologie steht.114 Diese Verbindung von Dichtung und Diätetik ist in der Bürger-Rezension weiter lebendig. Sulzers Lexikon mag auch hier vermittelt haben. Im Artikel ‚Scherz; scherzhaft‘ seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste formuliert er Folgendes: Bey ernsthaften Geschäften, und bey mühsamen Verrichtungen, thut oft ein beyläufiger Scherz ungemein viel zur Aufmunterung, und hindert das Erschlaffen der Aufmerksamkeit, oder das Gefühl der Abmattung. So kann auch eine mit Fleiß gesuchte, etwas anhaltende Ergözlichkeit fürtrefliche Würkung thun, einem etwas eingesunkenen Gemüth eine neue Spannung und neue Würksamkeit zu geben. Dieses bestimmt also die eine der beyden Veranlassungen zum Scherz. […] So kann man bisweilen durch bloßen Scherz beträchtlichen Vorurtheilen und sehr schädlichen Uebeln, die sich in dem sittlichen Leben der Menschen eingeschlichen haben, ihre Würkung benehmen, und sie wol ganz vertilgen.115

Das ist, kaum verändert, Schillers Argument von der „getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte“, der „Absonderung der Berufsgeschäfte“ und der daraus resultierenden „Anspannung“, die durch –––––––––––––– 113 NA 22, 260. 114 Zelle: Sinnlichkeit und Therapie; fortgeführt etwa in ders.: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E.A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns). In: Steigerwald, Jörn / Watzke, Daniela (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg 2003, S. 203-224. Vgl. in diesem Band die Beiträge von Wolfram Mauser: Johann Gottlob Krüger: Der Weltweise als Arzt – zur Anthropologie der Frühaufklärung in Deutschland (ebd. S. 48-67) und Gabriele Dürbeck: Psychologischer Mechanismus und ästhetische Therapie. Ernst Anton Nicolais Schriften zur Psychopathologie (S. 104-119); zentral ferner: Mauser, Wolfram: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung. In: Ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 301-329; im selben Band auch der Beitrag: „Reich in sich, auch ohne Gold“ – Bürgerliche Intellektuelle und der Kult der Freude. In: Ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 330-345. 115 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 1029 ff.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

„gleichförmige Temperatur“ kuriert werden könne.116 Nicht wesentlich anders liest sich dies bei Sulzer: „Den schönen Künsten liegt eben so gut ob, diese heilsame Munterkeit zu beförderen, als die Gesinnungen der Rechtschaffenheit lebhaft zu erweken“.117 Dann formuliert Sulzer das Konzept einer ästhetischen Erziehung, die zugleich medizinische Trosttherapie sein will: So könnten auch scherzhafte Werke, wenn nur die Musen und Grazien ihr Siegel darauf gedrukt haben, einer Nation, deren Charakter zu heftig, oder zu finsterem Ernste geneigt wäre, die wichtigsten Dienste thun. Man kann sie als Mittel zu vollkomnerer Bildung des Charakters einzelner Menschen und ganzer Völker brauchen. Und wenn wir auch ihre Würkung endlich blos als vorübergehend ansehen, wenn sie auch nur um mich des Horazischen Ausdruks zu bedienen, laborum dulce lenimen [carmina 1,32,14f.: „o süße Linderung der Mühen“; J.R.], und als schmerzenstillende und lindernde Arzneymittel zu brauchen wären, so würde dieses allein ihnen einen beträchtlichen Werth geben.118

An welche Art von Literatur Sulzer denkt, wird ebenfalls aus dem Artikel ersichtlich: von Anakreon ist die Rede, von „Bacchanten und Faunen“, dem „Hayn der Venus“ und den „Spuhren scherzender Najaden“119 – alles Requisiten der Anakreontik und Idyllik (im Gesnerschen und Ewald von Kleistschen Sinne). Die Sätze der Bürger-Rezension verweisen damit auf Ästhetik und Anthropologie der Jahrhundertmitte. „Die Dichtung des vergnüglichen Spiels trägt zur Diätetik der Seele bei“, schreibt Schlaffer im Hinblick auf Wieland, der das Prinzip „Temperatur durch Freude“ literarisch mehrfach in seinen komischen Verserzählungen durchgespielt hat. Sein Vorbild und alter ego Lukian preist er daher als „wahren Aeskulap“, denn „er treibt die Blähungen der Seele sanft ab“.120 In Musarion wird eine doppelte Schwärmerkur zur „Philosophie der Grazien“ vollzogen: An Phanias, der sich zu Beginn aus „Gram“ über das Verhalten seiner Freundin der „schulgerechten Philosophie“ zuwendet121, vor allem aber am Leser, der durch die Therapie des Phanias nun selbst therapiert wird. Der Autor Wieland übernimmt die Rolle Musarions, de–––––––––––––– 116 NA 20, 327f: „Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar ausserordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen.“ 117 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 1030. 118 Ebd. 119 Ebd. S. 1031. 120 Wieland, Christoph Martin: Werke. Hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. Bd. 4. München 1965, Bd. 11, S. 37. 121 Wieland: Werke. Bd. 4. München 1965, S. 333: „Ich machte den Versuch, durch Fröhlichkeit und Scherz / Den Dämon, der dich plagte, zu verjagen / Doch diese Geisterart kann keinen Scherz ertragen./ Ich änderte die Kur.“

2. Die Spiele der Musen. Die Welt der ›Musa iocosa‹

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ren Züge denn auch „die Lineamenten [seines] eigenen Geistes und Herzens“ spiegeln und deren Philosophie „diejenige (ist) nach welcher ich lebe“.122 Damit ist der ästhetisch-anthropologische Bezugsrahmen skizziert, in der die Ideen einer spielenden Dichtung und des ‚ganzen Menschen‘ stehen. Schiller sind sie von zwei Seiten her vertraut: aus der eigenen medizinischen Arbeit und aus der Lektüre der empfindsam-anakreontischen Dichtung eines Gleim, Lessing, Klopstock usw. Alte Allianzen und Konstellationen zwischen Ästhetik und Anthropologie leben in diesem Ansatz fort. Ästhetische Erziehung bedeutet noch für den Schiller der Bürger-Rezension ästhetische Therapie, psychologische Kur123, Diätetik der Seele. Lyrische Kunst ist „Melancholie-Prophylaxe“.124 Dies zeigt schon der Beginn der Rezension, der das topische Gegensatzpaar von „Freude“ und „Schwermut“, von ästhetischem Spiel und philosophischem „Gram“ bemüht. Der Kontrast der Stimmungen wird als Alterskontrast zwischen „jugendlichblühende(r) Hebe“ und „frühzeitige(m) Alter“125 entworfen. Lyrik ist zugleich Jugendkultur und Jungbrunnen, Philosophie bleibt der morosen Schwermut des Alters vorbehalten.126 Die Behauptung, der „philosophierende() Verstand“ müsse „in einer abgezognen Vernunftwelt für die Freuden der wirklichen ersterben“, schließt bruchlos an das Projekt einer „Philosophie der Grazien an“ (Untertitel zu Musarion). Die „sanfte Freude“ als „Element“ der Musen-Priesterin Musarion127 steht der „freudescheue(n) Zunft geschwollner Stoiker“128 gegenüber. Musarion ist Symbol der Anmut und des Schönen, d.h. der Kunst. Schillers –––––––––––––– 122 Ebd. S. 320 (Vorrede zu Musarion). 123 Zu Johann Christian Boltens Gedancken von psychologischen Curen. Halle 1751, S. 74: „Man lasse aber einen Aestheticus seine Kunst probiren […] Tausend listige Kunstgriffe wird er anwenden.“ Zu Bolten vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, S. 16; Mauser: Anakreon als Therapie, S. 103f.; ders.: Glückseligkeit und Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990, S. 48-88, hier bes. 77f. 124 Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, S. 22f. 125 NA 22, 246. 126 Als weiteren Beleg für Schillers „Philosophie der Freude“ kann die Ode An die Freude dienen. Wenn es dort heißt: „Küße gab sie uns und Reben“ (NA 1, 170; v. 29f.), oder „Freude sprudelt in Pokalen“ (NA 1, 171, v. 73), so wird der Zusammenhang zu Anakreontik und Musa iocosa deutlich. Bruckmann, Christoph: „Freude! sangen wir in Thränen, Freude! in dem tiefsten Leid.“ Zur Interpretation und Rezeption des Gedichts „An die Freude“ von Friedrich Schiller. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 96-112; Kraft, Herbert: „Freude schaft was nicht da ist.“ Schillers Lied An die Freude. In: Kavanagh, Richard J. (Hg.): Mutual exchanges. SheffieldMünster Colloquium I. Frankfurt/Main u.a. 1999, S. 119-137; Martin, Uwe: Im Zweifel für die Freiheit. Zu Schillers Lied ‚An die Freude‘. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 48 (1998), S. 47-59. 127 Wieland: Werke, Bd. 4, S. 356. 128 Ebd. S. 335.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Projekt einer ästhetischen Erziehung, das hier skizziert wird, ist nicht denkbar ohne die „ästhetische Erziehung“ durch den Weimarer Mentor.129 Das Manifest der Klassik ist ein Bekenntnis zum Wielandschen Rokoko-Klassizismus, welcher die poetologische Substanz der BürgerKritik darstellt.130 Die Revolution der Dichtart bedeutet eine Restauration der Stil- und Formprinzipien der Anakreontik und des Rokoko, kurz: des „Formprinzips des Witzes“131 und der Musa iocosa. Im Konzept einer scherzenden Muse war die ästhetischen Autonomie samt ihren evasiven Tendenzen bereits angelegt. Hier wurde der Rückzug in eine ästhetische Parallel- und „Gegenwelt“132 der Freude und des Spiels performativ vorgelebt. In der Musa iocosa sind ideenwie literarhistorisch die zentralen Begriffe der Schiller’schen KunstAutonomie angelegt: Freude, Spiel, Entspannung, Entlastung usw. Dass Kunst „heiter“ sei und „Spiel“, ist Erbe dieser Tradition. Ihr topologischer Abhub wird in der Bürger-Rezension und in den Göttern Griechenlandes noch sporadisch greifbar, bevor die Spiel-Idee in den Ästhetischen Briefen anthropologisch so verallgemeinert wird, dass sie im Wallenstein-Prolog zur paradoxen Bestimmung sogar des ernsten Trauerspiels werden kann. Diese Verallgemeinerung beginnt bereits in der Bürger-Rezension, die bei der „lyrischen Dichtkunst“ einsetzt, um deren Bestimmungen dann innerhalb weniger Sätze auf die gesamte Dichtkunst auszuweiten. Es ist daher nur folgerichtig, wenn an einer Stelle von Ueber naive und sentimentalische Dichtung die Wertigkeiten von Komödie und Tragödie umgekehrt werden. In einer Synkrisis beider Gattungen bezeichnet es Schiller als „Aufgabe der Comödie“, die „Freyheit des Gemüths in uns hervorzubringen und zu nähren“, wo die Tragödie diese „Gemüthsfreyheit […] durch einen Affekt gewaltsam“ aufhebt und in einem zweiten Schritt dazu beitragen muss, sie „auf ästhetischem Weg wiederher[zu]stellen“.133 Im Essay zeigt sich für einen Moment der heikle Status, das im Grunde Dysfunktionale der Tragödie im Plan der ästhetischen Erziehung. Wenn das Trauerspiel ein Experiment ist, dann als Spiel mit dem Feuer der Leidenschaft. Die –––––––––––––– 129 Walter Hinderer hat diese ‚ästhetische Erziehung‘ Schillers durch den älteren Mentor in mehreren Beiträgen belegt. W.H.: Beiträge Wielands; ders.: Ästhetische Kontroverse. 130 Hinderer: Beiträge Wielands, S. 86 sieht eine Parallele zwischen Wielands Einwirken auf Schiller im Sinne klassizistischer Mäßigung seines „kruden Geschmacks“ und Schillers Versuch, „Bürger auf den so schwierigen wie notwendigen Weg der ‚Idealisierkunst’“ zu führen. 131 Böckmann, Paul: Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1932/33), S. 52-130. 132 Schlaffer: Musa iocosa, S. 87-123. 133 NA 20, 445.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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Komödie, schreibt Schiller, lässt es dagegen nie zu einer „Aufhebung der Gemüthsfreyheit komme(n)“.134 Eigentlich ist nur das Lustspiel echtes Spiel – im Sinne Schillers. Daher wird zu Recht betont, dass „die Comödie einem wichtigern Ziel [als die Tragödie] entgegengeht“, mehr noch: dass sie, „wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen [würde]“.135 Das Trauerspiel ist ein provisorischer Notbehelf; die wahre Komödie bleibt freilich ebenso Utopie wie die reine Idylle und daher ungeschrieben. Ziel der Komödie ist ein anthropologischer Idealzustand nach der Katharsis: „Ihr Ziel ist einerley mit dem höchsten, wornach der Mensch zu reinigen hat, frey von Leidenschaft zu seyn, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden, und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen“.136 Das aber ist nichts anderes als das Wielandsche Programm einer „sokratische(n) Ironie“, die „Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur“137 übt. 3. Popularität. Volksdichter vs. Volkserzieher

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher 3.1. Bürgers Vorrede zu den Gedichten von 1789

Im Mittelpunkt der Rezension stehen zwei Argumentationslinien, die sich im gleichen Verhältnis auf den allgemeinen (‚legislativen’) und den speziellen (‚judikativen‘) Abschnitt verteilen. Widmet sich der allgemeine Teil der Frage der „Popularität“138, so diskutiert der zweite das Programm der „Idealisierkunst“.139 Steht zunächst die ästhetische Erziehung durch den Künstler im Blickpunkt, so folgt im zweiten Teil die ästhetische Selbsterziehung des Künstlers (Vervollkommnung, Idealisierung etc.). Setzt sich Schiller im ersten Teil mit Bürgers Theorie auseinander, so im zweiten mit seiner poetischen Produktion. In diese beiden Leitthemen sind keimhaft eine Reihe weiterer Themen verflochten, die Schiller in den großen Abhandlungen nach der Kant-Lektüre weiter verfolgen wird: der Gegensatz von Natur –––––––––––––– 134 135 136 137 138 139

Ebd. NA 20, 446. Ebd. Bd. 4, 320 (Vorrede). NA 22, 247-251. Wiese: Schiller, S. 429 Nach Benno von Wiese sind es drei „eng miteinander verknüpfte Gedankenkreise“, die den Hauptteil der Rezension bestimmen: 1. Die Frage der Popularität, 2. die Individualität des Dichters, 3. Das Problem der „idealisierenden Stilgebung.“

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

und Kunst, das Ziel, „den verlorenen Zustand der Natur zurückzurufen“140, die Konturen der späterhin geplanten Idylle, welche die Vermählung von Herakles und Hebe darstellen („sie wäre die jugendlichblühende Hebe, welche in Jovis Saal die unsterblichen Götter bedient“141), das Quidproquo von Ästhetik und Sittlichkeit, d.h. hier von Kunstideal und „idealisierter Empfindung“, oder die unhintergehbare Geschichtlichkeit, der „historische Sinn“142 jener echten Klassizität, die in ihrer Janusköpfigkeit immer zugleich zurück und vorwärts schaut. Zu den Stereotypen der Kritik an Schillers Bürger-Kritik zählt der Hinweis, der Rezensent habe es an einer Applikation seiner kritischen Grundsätze auf Bürgers Texte fehlen lassen, zwischen „theoretischer Fundierung und angewandter Kritik“143 bestehe ein Missverhältnis. Schiller sei es lediglich um die Exposition seiner ästhetischen Gesetzgebung, nicht um eine gerechte Würdigung der poetischen Individualität Bürgers gegangen. Auf den Umgang mit Bürgers Lyrik, den zweiten Teil der Rezension, trifft dieses Urteil zweifellos zu, nicht jedoch – was immer übersehen wurde – auf den ersten Teil. Die Rezension gilt nämlich weniger Bürgers Lyrik als seiner Lyriktheorie. Was Schiller rezensiert, ist weniger das Korpus der Gedichte als Bürgers Vorrede zur Sammlung.144 Schiller setzt systematisch bei dessen Entschuldigungs- und Bescheidenheitsfloskeln an, um sie gegen ihren Autor zu wenden. Bürger selbst konzediert etwa, „gehörige Strenge“ bei der Auswahl der Stücke hätte „vielleicht mehr, als die Hälfte derselben, ganz verwerfen […] oder doch ganz anders zur Vollkommenheit empor arbeiten müssen“.145 Enthalte die Sammlung „echtes poetisches Gold, so fassen es, ausgebrannt und von den Schlacken gereinigt, vermutlich nur wenige Bogen“.146 Schiller greift den Passus in der Antikritik gegen Bürger auf, wenn er „eine ungeschlachte, ungebildete, mit allen ihren Schlacken gegebene Individualität nicht schön finden kann“ und dagegen ein „innres Ideal von höchster Vollkommenheit“ einfordert. –––––––––––––– 140 NA 22, 248. 141 NA 22, 246. 142 Müller-Seidel, Walter: Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn. In: Ders. / Preisendanz, W. (Hg.): Formenwandel. Festschrift für Paul Böckmann. Hamburg 1964, S. 294-318; Köpf: Historizität. 143 Urban: Kunst der Kritik, S. 110. 144 Bürger, Gottfried August: Sämtliche Werke. Hg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. München 1987, S. 9-24, hier S. 14. 145 Ebd. S. 10. 146 Ebd. S. 11.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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Dies führt zu einem paradoxen Befund. Bürger bietet sich als Zielscheibe an, weil er Schillers Grundsätze – Vollendung, Klassizität, Auswahl usw. – selbst schon einräumt, ja teilweise einfordert, etwa in dem Ansinnen, „auch den bereits vorhandenen Gedichten einen höhern Grad der Vollkommenheit zu geben“.147 Schiller’sche Phraseologie klingt schon in der Kritik an der „Nachäffung“ der eigenen Sonette an. Das Sonett müsse „gleichsam ein Hauch, leicht aus der Brust empor gehoben und von den Lippen weggeblasen“ sein, nicht etwa „herausgewürgt, gehustet, geräuspert, gekrächzet, geröchelt“ werden.148 Auch das Lob Homers zeigt den Klassizisten im Schafspelz des Popularen: Der „größte Volksdichter aller Völker und Zeiten“ ist Homer vor allem „wegen der spiegelhellen Durchsichtigkeit und Temperatur seines Gesangstromes“, d.h. aufgrund seiner klassizistischen Tugend der perspicuitas.149 Hierin, in der impliziten Anerkennung klassizistischer Normen, liegt auch der eigentliche Grund für Bürgers theoretische Wehrlosigkeit gegen Schillers Attacke. Wenn Schiller in der Antikritik nicht zu unrecht feststellt, Bürger habe der Kritik nichts anderes als „Exklamationen, Wortklaubereien, vorsätzliche Mißdeutung, pathetische Apostrophen und lustige Tiraden“150 entgegengesetzt, so ist dies dem misslichen Umstand geschuldet, dass die Schiller’schen Kritikpunkte in der Vorrede der eigenen Gedichtsammlung bereits als rhetorische Selbstkritik eingeräumt waren. Bürger scheint bereits das Verfallsdatum seines an Herder inspirierten Volkspoesie-Entwurfs zu ahnen. Zu den Ironien der Literaturgeschichte zählt es, dass gerade die Genie-Auffassung mit ihrem novitasPathos und ihren Idiosynkrasien gegen die „Nachahmer fremder Manieren“151 um 1790 bereits wieder das Alte ist. Schiller hat also Bürger nicht nur nieder-, sondern geradezu ausgeschrieben. So kursorisch die Gedichte behandelt werden, so akribisch in Zitat und Kommentar liest Schiller die Bürgersche Vorrede, diese kleine Poetik der Popularität. Dies zeigt sich dort, wo Bürger – nicht ohne Selbstgefälligkeit – sein Selbstbild als „Volksdichter“ zelebriert, um im selben Satz zu betonen, er habe dies „schwerlich [seinem] Hopp Hopp, Hurre Hurre, Huhu u.s.w.“ oder „diesem oder je–––––––––––––– 147 Ebd. S. 19. 148 Ebd. S. 16. 149 Im Übrigen ist auch der „Volksdichter Homer“ ein Herdersches Konzept: „Der gröste Sänger der Griechen, Homerus, ist zugleich der gröste Volksdichter. Sein herrliches Ganze ist nicht Epopee, sondern epow, Mährchen, Sage, lebendige Volksgeschichte.“ Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1975, S. 14 (Vorrede). 150 NA 22, 259. 151 Bürger: Sämtliche Werke, S. 12.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

nem Kraftausdrucke“ zu verdanken, der schon dem Autor selbst als „Mißgriff“152 erscheinen will. Schiller greift die Stelle aus der Lenore, Bürgers bedeutendstem Text, mit Süffisanz auf und spricht – unter Umkehrung der realen Alters- und Autoritätsverhältnisse zwischen sich und Bürger – von „Matadorstücke(n) der Jugend“ und Erzeugnissen der „poetische(n) Kindheit ihres Verfassers“.153 Bürger ist es auch, der die Frage der „Individualität“ des Dichters in seiner Vorrede aufgegriffen hatte.154 Es ist ein Votum für die Genie- und gegen die Nachahmungspoetik. Die „Eigenheiten“ des dichterischen „Originals“ passen „ganz zu seiner übrigen Individualität“ und „kleiden“ daher „auch nur ihren Eigentümer entweder gut, oder doch wenigstens erträglich“.155 Auch Schiller wird an der Prämisse der Geniepoetik, wonach „alles, was der Dichter uns geben kann, […] seine Individualität [ist]“156, nicht rütteln. Sie wird sogar zur Stütze seiner Forderung nach Idealisierung und Selbstvervollkommnung, die immer nur als Idealität in der Individualität gedacht werden kann. Vor allem aber teilt Bürger, auch wo er den „Geist der Popularität“ beschwört, die Schiller’schen Reserven gegen sein Publikum. Sein Werk zielt auf „unser ganzes gebildetes Volk“, um zu präzisieren: „Volk! Nicht Pöbel!“157 Bürgers Volksbegriff ist ambivalent, weniger eine soziologische als eine stilistische Unterscheidung. Am ehesten lässt er sich aus seiner Gegnerschaft beurteilen. „Popularität eines poetischen Werkes“ als „Siegel seiner Vollkommenheit“ bedeutet Distanz gegenüber dem Akademischen, optiert für den „Markt des Lebens“ und gegen die „Zellen“ der Messkunst und die „Metaphysiker“. Poesie ist eine Kunst, die „zwar von Gelehrten“, nicht aber für Gelehrte, „sondern für das Volk ausgeübt werden muß“.158 Mit Schiller teilt Bürger weiterhin die elementare Unterscheidung von lyrischem Spiel der Musen und Ernst der Philosophie und Wissenschaft. Innerhalb dieser Unterscheidung trifft er jedoch eine andere stilistisch-poetologische Wahl als Schiller: Für Herder und gegen Wieland und die Tradition des literarischen Rokoko. Wie sehr jedoch beide auf demselben Boden der Argumentation stehen, zeigt sich in der Frage der Allgemeinheit und Mitteilbarkeit des Kunstwerkes. Es scheint Bürger gewesen zu sein, der Schiller durch sein Insistieren auf eine breite Rezeption der Kunst –––––––––––––– 152 153 154 155 156 157 158

Ebd. S. 13 NA 22, 254. Bürger: Sämtliche Werke, S. 12. Ebd. S. 12. NA 22, 246. Bürger: Sämtliche Werke, S. 14. Ebd.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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zur Reflexion über Strategien der literarischen und publizistischen Kommunikation, über ästhetische Individualität und Intersubjektivität gebracht hat: „In den Begriff des Volkes aber müssen nur diejenigen Merkmale aufgenommen werden, worin ungefähr alle, oder doch die ansehnlichsten Klassen überein kommen“.159 Diese anthropologische Voraussetzung, die im Kern bereits eine Abkopplung der Poesie von didaktischen Heteronomien enthält, wird Schiller in den großen Abhandlungen oder in der Matthisson-Rezension wiederholt einfordern, auch wo er praktisch an geprägte Formen und tradierte Inhalte anschließt. Bürger argumentiert im Sinne einer Ästhetik ‚von unten‘ und ‚für alle‘. Homer ist populär, weil er „innerhalb des allgemein anschaulichen und empfindbaren poetischen Horizonts“ bleibt.160 3.2. Vergil und Ariost statt Homer Schillers Verhältnis zu Bürger ist also ambivalent. Erst die Auseinandersetzung mit ihm verleiht Schillers Erziehungskonzept, das in den Künstlern vor allem geschichtsphilosophisch begründet war, konkreteres ästhetisch-poetologisches Profil. In seiner Einlösung grenzt sich Schiller gegen Bürger klar ab. Für Schiller ist Popularität bereits zum Problem, zur „Schwierigkeit“161 geworden. Der optimistischen Sicht auf ihre Möglichkeit setzt er einen kulturkritischen Blick entgegen. Wo Bürger eine naive Einheit von Individuum und Allgemeinheit unterstellt, sieht Schiller Teilungen und Dissonanzen. Für Bürger war „Volkspoesie“ in der Nachfolge Homers noch immer ein denkbares Ideal; für Schiller ist sie zum Anachronismus geworden: „Ein Volksdichter in jenem Sinn, wie es Homer seinem Weltalter oder die Troubadours dem ihrigen waren, dürfte in unsern Tagen vergeblich gesucht werden“.162 Im elegischen Ton der Götter Griechenlandes wird betont Schiller die historische Alterität der sozialen Ordnungen: Unsre Welt ist die homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen begegnen konnten.163

–––––––––––––– 159 Bürger zitiert dabei Addison: „Human Nature is the same in all reasonable creatures; and whatever falls in with it, will meet with admirers amongst Readers of all Qualities and Conditions.“ Spectator, Nr. 70, 1711. 160 Bürger: Sämtliche Werke, S. 15. 161 NA 22, 248. 162 NA 22, 247. 163 Ebd.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Schillers Argument ist im Kern nicht neu, aber folgenreich.164 Dieselbe Diagnose findet sich in einem Brief an Körner vom 10. bzw. 12.3.1789; dort bezieht sie sich auf den Plan, „ein episches Gedicht aus einer merkwürdigen Action Friedrichs II. zu machen“.165 Das Problem des historischen Wandels ist hier noch nicht auf die Frage der Popularität zugeschnitten, sondern betrifft die der Gattungstradition und -einschreibung: „Ein episches Gedicht im XVIIIten Jahrhundert muß ein ganz andres Ding seyn, als eins in der Kindheit der Welt“; in ihm müssten „unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophieen, unsre Verfassungen, Häußlichkeit, Künste, kurz alles […] auf eine ungezwungene Art darinn niedergelegt werden“.166 Darin liegen Reiz und Schwierigkeit von „Classicität“ in einem „prosaischen Zeitalter“.167 Schiller wird dieses Anachronismusargument bis zum Aufsatz Ueber naive und sentimentalische Dichtung weiter beschäftigen, dann jedoch ohne Bezug auf die Seite des Populären. Die Reserve gegen den Naturdichter Homer beginnt nicht bei Schiller, sie hat ihre eigene Tradition seit der frühen Neuzeit. In der Poetik wird sie, spätestens seit Scaligers Poetices libri septem, im topischen Vergleich mit Vergil ausgetragen.168 Die Synkrisis der beiden größten antiken Epiker lebt bei Schiller fort, der Vergil als Exponenten einer Dichtung der Kultur und der Zivilisation (so schon bei Scaliger) dem Natur-Dichter Homer vorzieht. Vor allem aber konstruiert Schiller, auch hier auf den Spuren Wielands und seines Oberon (1780), eine neue Opposition zwischen Hexameterepos und Ritterepos (romanzo) in der Tradition eines Ariost und Tasso. In Ueber naive und sentimentalische Dichtung wird er typologisch zwei Szenen aus Homer (Begegnung zwischen Glaukos und Diomedes) und aus Ariost (Orlando furioso, 22. Gesang) analysieren; den italienischen Dichter –––––––––––––– 164 Vgl. noch Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 1994 (zuerst 1963), hier S. 47: „Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“ 165 NA 25, 224. Dazu Martin, Dieter: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert: Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin/New York 1993, S. 242-246; Schubert, Werner: Schillers Übersetzung des ‚Sturms auf dem Tyrrhener Meer‘ (Vergil, Aen. 1, 34-156). In: Aurnhammer u.a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt. S. 191-212 (mit weiterer Literatur). 166 NA 25, 224f. 167 NA 25, 225. 168 Vogt-Spira, Gregor: ‚Warum Vergil statt Homer?‘ Der frühneuzeitliche Vorzugsstreit zwischen Homer und Vergil im Spannungsfeld von Autorität und Historisierung. In: Poetica 34 (2002), S. 323–344; Robert, Jörg: Ex disceptationibus veritas. Julius Caesar Scaligers kritisch-polemische Dichtkunst. In: Müller / Robert (Hg.): Maske und Mosaik, S. 249-279, hier bes. S. 257-263.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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führt er dabei als „Bürger einer spätern und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt“, eben als ‚sentimentalischen‘ und modernen Autor ein.169 Diese längste zusammenhängende Textanalyse des Essays schließt mit einem Verdikt über Homer, das unterschwellig auf Goethe gemünzt ist: „Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle“.170 Schon im Brief an Körner ist dieses Plädoyer für den modernus Ariost formuliert: Als Metrum der geplanten Fridericiade kommt „kein andres als ottave rime“ – das klassische Maß des romanzo – in Frage, das Schiller im Frühjahr 1791 auch für seine Vergil-Übertragungen (Die Zerstörung Trojas; Dido) nutzen wird (gedr. Neue Thalia, 1792, 1. bis 3. Stück). Die neue Volksdichtung geht also aus einer künstlichen Synthese der alten (Vergil, Homer) und der neuen (Ariost, Tasso) hervor. „Singen muß man es können“, schreibt Schiller über das eigene Epos, „wie die Griechischen Bauren die Iliade, wie die Gondolieri in Venedig die Stanzen aus dem befreyten Jerusalem [Tassos]“.171 Der Plan einer Vergil-Übersetzung taucht denn auch nicht zufällig in engstem Zusammenhang mit der Bürger-Affäre im Brief an Körner vom 10. April 1791 das erste Mal auf. 172 Der erneuerte Vergil münzt Bürgers Anspruch auf Popularität unter Anerkennung der Alterität des antiken Autors in ein eigenes, sozusagen klassisch-romantisches Volkspoesieprogramm um. Schiller spricht zwar von einer „freyen Übertragung“ und nennt sich in der Vorrede stets „Übersetzer“, im Brief an Körner nennt er das Produkt aber doch „beynahe [eine] Originalarbeit“.173 Poetologisch wie formgeschichtlich bilden diese Vergilischen Stanzen im ariostesken Ton das Bindeglied zum Balladenprojekt der Jahre 1797 und folgende.174 Die Zerstörung von Troja liest sich wie eine ausgedehnte Ballade, in ihrer Thematik (Belagerung, Zerstörung) ist sie zugleich ein Seitenprojekt zu den Mal–––––––––––––– 169 170 171 172 173 174

NA 20, 433-436. NA 20, 435. NA 25, 225. NA 26, 83. Ebd. Die späteren Balladen umspielen und dekomponieren systematisch die Stanzenform: Kassandra bewahrt die acht Verse umfassende Strophe, verkürzt jedoch die Endecasillabi auf vier- bzw. dreihebige Trochäen, dasselbe Schema findet sich im Ritter Toggenburg, der schon thematisch die Verbindung zum Ritterepos herstellt. Vgl. auch den Gang nach dem Eisenhammer, der ebenfalls in die achtzeilige Strophe mit dreihebigem Jambus gesetzt ist. Der Taucher bewahrt dagegen die finalisierende, auf den Paarreim zulaufende Struktur der Ottavarima, kürzt freilich im ersten Strophenteil ein Verspaar heraus. Analog in Der Alpenjäger. Die Balladendichtung wäre damit unter drei Aspekten neu zu bedenken: 1. im Hinblick auf Schillers Prägung durch Wieland (als Autor des Oberon), 2. im Hinblick auf sein Verhältnis zur romanzoForm (Ariost, Tasso), 3. unter dem Aspekt einer Poetik der Popularität.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

thesern, welche dieselbe Verfremdungsstrategie lediglich in umgekehrter Konstellation (modernes Thema, antike Form) unternehmen. Es ist kein Zufall, wenn diese neue Volksdichtung in Thematik (vormoderne, oft ritterromantische Stoffe) wie Strophenform (verfremdete Ottavarima) den Faden der Vergil-Übersetzungen, der Fridericiade und des Homer-Streits in der Bürger-Rezension aufnimmt. Gattungskonstituierende Bedeutung hatte das Argument von der historischen Fremdheit Homers lange vor der Bürger-Rezension in der Apologetik des Romans als moderner Epopöe, beispielhaft in Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774). Blanckenburg sieht „den guten Roman für das an, was, in den ersten Zeiten Griechenlands, die Epopee für die Griechen war“.175 In der Romanpoetik wird die Wahrnehmung historischer Distanz und Alterität zuerst zum poetologischen Thema. Für Blanckenburg ist die Epopöe die Dichtung des „Bürgers“, d.h. des Staats- und Stadtbürgers, während der Roman sich an den reinen „Menschen“, also ein weiteres und entdifferenziertes Publikum, wendet. Blanckenburg sieht seine Aufgabe darin, einen Weg zu weisen, auf dem „der Romanendichter classisch, und sein Werk des Lesens werth werden“ könne.176 Diese Lösung besteht in einer anthropologischen Wende, die er auf den Spuren seines Muster-Textes, Wielands Agathon, vollzieht. Gegenstand des Romans ist nicht mehr der Mensch in seiner Gemeinschaft, als Polis-Wesen, sondern in seiner „nackte(n)“ bzw. „von allem, was ihr Sitten und Stand und Zufall geben können, entblößte(n) Menschheit“.177 Hier ist das Programm des psychologischen Romans und der anthropologischen Erzählkunst – „Wissen vom Menschen“ und „Erzählen vom Einzelfall“ – theoretisch auf den Punkt gebracht.178 Schon Blanckenburg nimmt Schillers (und Kants!) Argument von der „allgemeinen Mitteilbarkeit“179 vorweg, wenn er fordert, dass „wir zuerst Menschen sind, und seyn sollen“ und folglich „die Theilnehmung der Menschen vorzüglich auf das geht, was den Menschen allein trifft“.180 Schiller wird die Singularität Homers in Ueber naive und sentimentalische Dichtung erneut aufgreifen: „Keinem Vernünftigen kann es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgendeinen Neuern ihm an die Seite stellen zu wollen“, daher muss es lächerlich scheinen, –––––––––––––– 175 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig 1774 (Ndr. Stuttgart 1965), S. 13. 176 Blanckenburg: Versuch, S. 18. 177 Ebd. S. 16. 178 Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin/New York 1996, S. 136-144. 179 NA 22, 260. 180 Bürger: Vorrede, S. 18.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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„wenn man einen Milton oder Klopstock mit dem Nahmen eines neuern Homer beehrt sieht“.181 Daraus leitet Schiller jedoch nicht das Bekenntnis zur modernen Form des Romans ab – bekanntlich bleibt der Romanschreiber der „Halbbruder“ des Dichters. In der BürgerRezension wird der historische Wandel nicht nur elegischsentimentalisch beklagt (wie in den Göttern Griechenlandes), sondern zum Anlass für die Forderung genommen, „mit dem Zeitalter“ fortzuschreiten und „aus dem Jahrhundert selbst ein Muster für das Jahrhundert“182 zu erschaffen. Bürger habe, dies der zentrale Vorwurf, die Notwendigkeit der Gegenwart verkannt und damit das historische aptum verletzt. Die Zeiten sind „unpoetisch“ geworden, „unsere Welt ist die homerische nicht mehr“.183 Geht Bürger von einem integrativen (in Schillers Terminologie: „naiven“) Begriff von „Volk“ als Totalität aus, so konstatiert Schiller eine zweifache Zersplitterung des Volksganzen. Zur funktionalen Differenzierung („Absonderung der Berufsgeschäfte“) tritt die stratifikatorische hinzu, der „Abstand“ und „Kulturunterschied“ zwischen „Auswahl der Nation und der Masse derselben“.184 Wie der „ganze Mensch“ ist auch das Ganze des Volkskörpers zerfallen in seine „Glieder“. Es ist daher vergeblich, „willkürlich in Einen Begriff zusammenzuwerfen, was längst schon keine Einheit mehr ist“.185 Dem „Volksdichter für unsre Zeit“ bleibt nur die Alternative, sich entweder dem „Kinderverstand des Volks anzuschmiegen“ oder „oder den ungeheuern Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Größe seiner Kunst aufzuheben und beide Zwecke vereinigt zu verfolgen“.186 Am Ende der Schaubühnen-Rede war bereits ausgesprochen, was nun gegen Bürger und für die Lyrik neu postuliert wird. Kunst vermag es, „Menschen aus allen Kraisen und Zonen und Ständen“ zu verbinden und in eine allwebende Sympathie“ zu „verbrüder(n)“, in „ein Geschlecht“ aufzulösen.187 So war in der Schaubühnen-Rede die Idee einer neuen Volkskunst, beruhend auf dem „Nationalgeist eines Volks“ und der „Uebereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen“188, bereits vorweg genommen. Die Einheit der Nation schien durch die Einheit des Bühnenerlebnisses realisierbar. Die Hoffnung, im gemeinsamen theatralen Erleben „ein –––––––––––––– 181 182 183 184 185 186 187 188

NA 22, 439. NA 22, 246. NA 22, 247. NA 22, 249. NA 22, 248. Ebd. NA 20, 100. NA 20, 99.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Mensch zu seyn“, war dort erschwert, wo das Publikum nicht mehr als Einheit von Anwesenden, sondern als Differenz von Abwesenden, also als lesendes Publikum begriffen war. Auch dies ist gemeint, wenn Schiller das Drama durch die „Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens“ – den gemeinsamen Theaterbesuch – geschützt sieht.189 3.3. Idealisierkunst und Illuminaten Wer andere, d.h. den Leser erziehen will, muss zunächst sich selbst erzogen haben – dies ist die Maxime der Bürger-Rezension. Aufklärung setzt Askese, Arbeit am Subjekt voraus. „Idealisierkunst“ bedeutet ästhetische Selbsterziehung. „Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredlung“ werden ausdrücklich als Voraussetzung lyrischer Dichtkunst gefordert, der Dichter sei „der aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Volksgefühle“.190 Dies setzt eine entschiedene Asymmetrie von Autor und Publikum voraus. Von der „republikanischen Freiheit des lesenden Publikums“191 ist nicht mehr die Rede. Schiller fasst ästhetische Erziehung als konspirativen Akt einer Führungselite: „In stillschweigendem Einverständnis mit den Vortrefflichsten seiner Zeit würde [der Künstler] die Herzen des Volks an ihrer weichsten und bildsamsten Seite fassen“.192 Schiller will das schweifende „Leidenschaftsbedürfnis“, das im Schaubühnen-Aufsatz erwähnte „Verlangen sich in einem leidenschaftlichen Zustande zu fühlen“193, kanalisieren und zum Zweck der Katharsis („Reinigung der Leidenschaft“) nutzen.194 Der Dichter tritt dazu in der Pose des Volkstribuns auf. „Wortführer der Volksgefühle“ ist er in einem ganz wörtlichen Sinne, indem er „dem hervorströmenden, Sprache suchenden Affekt“ einen „reinern und geistreichern Text unterleg(t)“.195 Der Dichter macht „sich zum Herrn dieser Affekte“, indem er den „rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch noch auf den Lippen des Volks [zu] veredeln –––––––––––––– 189 190 191 192 193 194

NA 22, 245. NA 22, 249. NA 16, 8 (Der Verbrecher aus verlorener Ehre). NA 22, 248. NA 20, 90 (Schaubühne). Dies nimmt die Ankündigung der Rheinischen Thalia (1784) auf (NA 22, 95): „Die Rheinische Thalia wird jedem Gegenstand offen stehen, der den Menschen im allgemeinen interessieret und unmittelbar mit seiner Glückseligkeit zusammenhängt. Also alles, was fähig ist, den sittlichen Sinn zu verfeinern, was im Gebiet des Schönen liegt, alles, was Herz und Geschmack veredeln, Leidenschaften reinigen und allgemeine Volksbildung wirken kann, ist in ihrem Plane begriffen.“ 195 NA 22, 249.

3. ›Popularität‹. Volksdichter vs. Volkserzieher

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[sucht].196 Diese Position ist buchstäblich eine humanistische, sofern sie die Unterscheidung aufgeklärt vs. unaufgeklärt ohne Zögern der Unterscheidung Mensch vs. Tier gleichsetzt. Der aus der antiken Rhetorik (v.a. Cicero) geläufige Topos vom Menschen als animal loquens lässt die Kunst zur Kunst der Menschenbildung, die Poetik zur Anthropotechnik werden. So hält, drastisch wie nie formuliert, in der Bürger-Rezension die in den Künstlern explizit, in der Sendung Mose implizit vertretene Idee einer ästhetischen Verschwörung zum Wohle des Volkes Einzug. Ästhetische Erziehung wird einem „Geheimbund für Aufklärung“197 übertragen, der auf die „wenigen auserlesenen Zirkel“198 der Ästhetischen Briefe vorausweist. Hier wird unmittelbar das illuminatische Modell der Künstler fortgeschrieben. Der Dichter bringt listig die „gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und verdachtloser Hülle lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und der Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze heraufzuführen“.199 Er wendet sich an den „Kinderverstand des Volkes“, gibt ihm „die Geheimnisse des Denkers leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten“.200 Die Wirkung der Kunst (ästhetische Erziehung) setzt den Zusammenschluss aller Künstler zur Gilde von Epopten voraus. Der Künstler, schwärmt Schiller wenig später, sei „eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln, Wahren“. Als Adept ist er es, der „zu dem Volke bildend herniedersteigt“, aber darüber nie seine himmlische Abkunft verleugnet“.201 Auch hier verraten die Bilder von Mysterium und Abstieg vom ästhetischen Olymp bzw. Sinai den ursprünglichen Bezugshorizont der Theorie. Was Schiller über das Verhältnis von Autor und Publikum sagt, schließt unmittelbar an das Modell der Mysterienreligion an, mit dem sich Schiller in der Sendung Moses auseinander gesetzt hatte. Moses, der ägyptische Myste, dient als Folie, um das Profil des Künstlers als Agent der Aufklärung zu zeichnen. Ästhetische Erziehung ist für den Schiller um 1790 nur als Verschwörung und moderates Konkurrenzunternehmen zu den geheimen Logen und Orden vorstellbar. Noch in der Matthisson-Rezension erscheint der Dichter „als ein Einge–––––––––––––– 196 Ebd. 197 Riedel, Wolfgang: Aufklärung und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten. In: Ders. / Müller-Seidel, Walter (Hg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2002, S. 107-125, S. 109. 198 NA 20, 412. 199 NA 22, 249. 200 NA 22, 248. 201 NA 22, 250.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

weihter in den innersten Geheimnissen der poetischen Kunst und als ein Jünger der wahren Schönheit“.202 Damit dieses Projekt gelingen kann, bedarf es der „unschuldigen List“203 der bereits Illuminierten. Das „Programm der deutschen Klassik“204 bietet mithin „Aufklärung von oben“205, Literatur für die potentiell Literaturfernen. Sie knüpft dazu an vertraute Vorstellungen literarischer Didaxe an, wie sie seit den Zeiten Gottscheds, Bodmers und Breitingers unverändert im Schwange waren. Dichtung ist demnach „Bemeisterungskunst“206, der das Publikum als infantile und manipulierbare Masse scheinbar willenlos ausgesetzt ist. Mit Sulzers Worten: „Wenn nach einer alten sehr richtigen Bemerkung das Wort, das aus dem Herzen entstanden ist, wieder in die Herzen dringt, so ist der Dichter ein Meister über die Herzen der Menschen“.207 Wie im Schaubühnenaufsatz geht es auch in der Rezension um die Frage, „was die Menschheit innerhalb ihres Wesens veredelt“.208 Schon im Schaubühnen-Aufsatz dient Aufklärung der gesellschaftlichen Integration ‚von oben‘: „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet“.209 Die Bürger-Rezension setzt diese plastische Vorstellung von ‚Einfluss‘, in der schon begrifflich das Konzept des influxus psychicus weiterlebt, fort. Bildung strömt in den Körper des unmündigen Volkes als poetische Sprach-Infusion ein und verwandelt einen diffusen Affekt in Ausdruck. Wo Schrei war, soll Text werden. Der Dichter ist ein Menschenformer, ein Plastiker des Gesellschaftskörpers, welcher der gestaltlosen Masse Form, d.h. hier –––––––––––––– 202 NA 22, 282. 203 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 6: „Da ihren Lehren der Eingang in das menschliche Hertz, der durch die mühsame Ueberzeugung des Verstandes erhalten wird, meistentheils verschlossen ist, müssen sie bedacht seyn, sich der Hertzen durch einen neuen Weg mittelst einer unschuldigen List zu bemächtigen.“ 204 Kiel, Rainer-Maria: Die deutsche Klassik und ihr Publikum. Zur Aporie einer ästhetischen Erziehung. Diss. München 1977, S. 24. 205 Berghahn, Klaus L.: Volkstümlichkeit ohne Volk? Kritische Überlegungen zu einem Kulturkonzept Schillers. In: Grimm, Reinhold / Hermand, Jost (Hg.): Popularität und Trivialität. Frankfurt/Main 1974, S. 51-75, S. 71. 206 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 289. 207 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 251. Vgl. Schlegel, Friedrich von: Sich „von dem Gemüthe des Lesers Meister“ machen. Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt/Main 1986 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, 928). 208 NA 22, 88. 209 NA 22, 97. Vgl. NA, 22, 187 (Rezension des Schwäbischen Musenalmanachs auf das Jahr 1782): „Oder ein Almanach ist der unflätige Kanal, der die Indigestionen der Musen durch die Nasen des Publikums flößet.“

4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik

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Sprache verleiht. Das ist in der Tat „herablassende Volkstümlichkeit“210, aber im durchaus aristokratischen Sinn von Kondeszendenz. 4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik

4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik 4.1. Aporien der Ausdruckspoetik

Damit zeichnen sich Konturen einer neuen Lyriktheorie ab, die entschieden mit älteren Positionen – vor allem der Anthologie – bricht. Dichtung erschöpft sich nicht (mehr) im „hervorströmenden, Sprache suchenden Affekt“, den Herder als Ursprung der Sprache wie des lyrischen Gedichts angesehen hatte. Der plane Ausdruck des Affekts zählt nun zu den „Cruditäten“211, die Bürger vorgehalten werden. Als ein solcher „ins Platte fallender Ausdruck“ wird der Auftakt zu Elegie, als Molly sich loßreißen wollte zitiert: „Auszuschreien seinen Schmerz – / Schreien! Ich muß aus ihn schreien“.212 Für Bürger ist Lyrik Ausdruck und Rettung des „cri de la Nature“213; insofern ist der Schrei eine grundlegende Sprechoperation, die freilich immer schon sprachlich reflektiert erscheint. Für Schiller ist diese elementare Ausdrucksfunktion der Lyrik zum Problem geworden. Dennoch kann sie nicht einfach verabschiedet werden. Daraus ergibt sich ein Dilemma für Schillers Lyriktheorie: Einerseits soll Lyrik nicht mehr rein individueller Ausdruck sein, andererseits ist doch „alles, was der Dichter und geben kann, […] seine Individualität“.214 Heikel ist, dass „der Geist, der sich in diesen Gedichten darstellte, kein gereifter, kein vollendeter Geist sei; daß seinen Produkten nur deswegen die letzte Hand fehlen möchte, weil sie – ihm selbst fehlte“.215 Individualität ist damit eine problematische Größe geworden. Wenn lyrische Dichtung Darstellung von ‚Empfindung‘ und damit notwendig an ein Individuum gebunden ist, muss sie dem Individuum das strikt Individuelle nehmen. Schiller schlägt dazu zwei Alternativen vor: Typisierung und Perfektionierung. Beide stehen in der Rezension scheinbar unverbunden nebeneinander. Einerseits ergeht der Appell, „diese seine –––––––––––––– 210 Berghahn: Volkstümlichkeit ohne Volk, S. 54. 211 NA 22, 253. 212 NA 22, 251. Zu Recht betont Herbert Meyer im Kommentar der Nationalausgabe (NA 22, 415) die Nähe zu Schillers Jugendgedichten Der Venuswagen und Bacchus im Triller (NA 1, 49). 213 Im Sinne von Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Hg. v. Heinrich Meier. Paderborn 62008, S. 122. 214 NA 22, 246. 215 NA 22, 251.

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Individualität so sehr als möglich zu veredeln“ (= Perfektionierung); andererseits soll der Dichter sie „zur reinsten herrlichsten Menschheit hinauf[]läutern“ (= Typisierung).216 Schiller schwankt, ob der Wert der Dichtung in der Idealität der Darstellung oder des Dargestellten, also des Stoffes besteht; beides wird verbunden, wenn das lyrische Gedicht als „der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes“217 bezeichnet wird. In verwirrender Weise werden hier Universalien der zeitgenössischen Poetik (Empfindung, Begeisterung, Rührung, Ausdruck bzw. Abdruck) zugleich bekräftigt und doch verabschiedet. Mit der Festlegung der Lyrik auf „Gemütslagen“ folgt Schiller dem Hauptstrom der Aufklärungspoetik, die als Gegenstand der Lyrik den Ausdruck von Empfindungen angibt.218 Sulzer lässt die lyrische Dichtkunst aus der „Fülle der Empfindung“ und „aus einer leidenschaftlichen Laune“219 hervorgehen: Also ist der Inhalt des lyrischen Gedichts immer die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung einer fröhlichen, oder zärtlichen, oder andächtigen, oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemessenen Gegenstand. Aber diese Empfindung oder Laune äußert sich da nicht beyläufig, nicht kalt, wie bey verschiedenen andern Gelegenheiten; sondern gefällt sich selbst, und sezet in ihrer vollen Aeußerung ihren Zwek. 220

Doch schon Batteux hatte offen gelassen, ob die sentiments der Lyrik nun einer echten Empfindung entspringen, mithin „vérité“ oder doch „fiction“ sein sollten. Seine Kompromissformel: „La vérité donne du crédit à la fiction“221 bezeichnet und überspielt zugleich die Dialektik von Kunst und Natur, von individuellem Ausdruck und Verstellung. Bereits Moses Mendelssohn hatte diese Dialektik zum Wesenszug der Gattung erklärt: „In keiner Dichtungsart kömmt die Natur der Kunst so nahe als in der lyrischen“, denn so Mendelssohn weiter, „wenn der –––––––––––––– 216 NA 22, 246. 217 NA 22, 247. 218 Hamburger, Käthe: Schiller und die Lyrik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 299-329, hier S. 303. 219 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, 726. 220 Ebd. 221 Batteux, Charles: Les Beaux-Arts réduits à un même principe. Édition critique par JeanRémy Manton. Paris 1989, S. 226: „De même donc que dans la poésie épique et dramatique, on imite les actions et les mœurs, dans la lyrique, on chante les sentiments, ou les passions imitées. S’il y a du réel, il se mêle avec ce qui est feint, pour faire un tout de même nature: la fiction embellit la vérité, et la vérité donne du crédit à la fiction.“ Dies steht jedoch in Spannung zur Horazischen Maxime si vis me flere, die Batteux wenige Zeilen zuvor für die Lyrik fordert: „Dans le lyrique, qui est livré tout entier au sentiment, il [sc. der Dichter; J.R.] doit échauffer son cœur, et prendre aussitôt sa lyre.“

4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik

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Dichter wirklich in dem besungenen Gemütszustand sich befindet, so ist er sich selbst Gegenstand, also causa objectiva und causa efficiens“.222 Wenn Schiller in diesem Zusammenhang von Geist, Empfindung und Individualität spricht, so sind dies Umschreibungen der Instanz des ‚lyrischen Ichs‘, die ihm und der Poetik seiner Zeit noch nicht zur Verfügung stand.223 Das lyrische Gedicht wird zum „Abdruck“ und Spiegel, in dem sich „nicht nur die ganze Weisheit ihrer Zeit [...] geläutert und veredelt“ reflektiert, sondern eben auch „der ganze trübe Strudel einer ungebändigten Leidenschaft braust und wallt und mit dem Affekt des begeisterten Dichters auch alle seine eigentümlichen Geistesflecken sich abspiegeln“.224 Das Gedicht ist – zu seinem Vorteil wie zu seinem Nachteil – zweites Gesicht seines Autors. Wenn Lyrik Empfindungen zum Stoff hat, muss der Künstler diese in einem Akt produktiver Selbstentfremdung objektivieren. Nicht das Kunstwerk ist artistisch zu formen bzw. zu überformen, sondern sein Urheber, genauer: seine Affekte, Stimmungen und Empfindungen: „Es ist nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muß auch erhöht empfinden“.225 Dass lyrische Empfindungen lediglich Kunst-Effekte sind und auf fiction beruhen, bestreitet Schiller entschieden. Er stellt sich auf den Standpunkt der vérité und votiert gegen die fiction. Poetik setzt auf Ethopoiie, nicht auf stilistische Formung und Alexandrinismus. Dies drückt sich in der Pointe aus: „So poetisch sie [Bürgers Gedichte; J.R.] gesungen sind, so unpoetisch scheinen sie uns empfunden“.226 Man sieht an diesen Wendungen, wie der neue Lyrikbegriff aus dem alten durch Umkehrung seiner Prämissen hervorgeht. Unangetastet bleibt das Prinzip der Lyrik als Aus- bzw. Abdruck von Empfindungen. Neu ist der einschränkende Zusatz: „eines vollendeten Geistes“. Beruht Lyrik weiterhin auf der vérité des Charakters, der sich in ihr ausprägt, dann be–––––––––––––– 222 Moses Mendelssohn: Von der lyrischen Poesie. Nach Völker, Ludwig (Hg.): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 2000 (= RUB 8657), S. 93. 223 Die terminologische Fassung des Begriffs geht auf Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910 (hier S. 18f.: „Erhöhung des empirischen Ich zu einem übergeordneten formalen“) zurück. Popularisiert wurde er durch Oskar Walzels Aufsatz „Schicksale des lyrischen Ichs“ (1916). In: Ders.: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926, S. 260-276; Fricke, Harald / Stocker, Peter: Lyrisches Ich. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2000), S. 509-511. Pestalozzi, Karl: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970. 224 NA 22, 261. 225 NA 22, 246. 226 NA 22, 255. Vgl. S. 247: „Kein noch so großes Talent“ – d.h. Kunst-Fertigkeit – „kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht.“

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darf der Dichter als causa efficiens der Arbeit an der eigenen Vervollkommnung. Damit ist Schiller bei dem zentralen Doppelbegriff seiner Lyriktheorie angelangt: „Eine der ersten Erfodernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung“.227 Beide Termini sind, wie Bürger in seiner Anti-Kritik zielgenau mutmaßt, „Synonyme“228. In der Ausgabe der Kleineren poetischen Schriften korrigiert Schiller daher die Wendung „Idealisierung, Veredlung“ ins Objektästhetische, zu „Idealisierung seines Gegenstandes“.229 Immerhin: Die Gleichsetzung von Idealisierung und Veredlung setzt erkennbar den Ansatz der Theosophie des Julius fort230. Sie zeigt den sozialen und politischen Höhenindex von Schillers Ideal: Die Erhöhung des Dichters „zur reinsten herrlichsten Menschlichkeit“ hat Folgen für die sozialen Reichweiten seiner Kunst, die sich nur dem „bessern [Teil] des Publikums“231 zuwendet. Die Veredlungsidee der Theosophie des Julius ist aus der Metaphysik ins Soziale gekippt. 4.2. Affekttopos und Fiktionstopos Schillers Warnung, „ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“232, steht im Widerspruch zu einer Poetik der vérité, die bis in die Antike zurückreicht. Ihr gilt dieser topologische Exkurs, der in Wirklichkeit ins Zentrum der Lyriktheorie des 18. Jahrhunderts hineinführt. Die antiken Bezugstexte sind folgende: Aristoteles hatte im 17. Kapitel der Poetik behauptet, derjenige wirke am überzeugendsten, der „vom Gefühl hingerissen scheine“.233 Cicero stellt fest, dass sich der Zuhörer nur dann „zu Tränen und Mitleid bewegen läßt, wenn alle die Gefühle, zu denen der Red–––––––––––––– 227 NA 22, 253. 228 NA 22, 418. Schiller hat die Berechtigung der Kritik eingesehen. In der Fassung von 1802 schreibt er: „Eine notwendige Operation des Dichters ist Idealisierung seines Gegenstandes.“ 229 NA 22, 413. 230 Riedel: Anthropologie, S. 156: „Vervollkommnung meint hier eine Steigerung der geistigen Person, eine Erweiterung des Ich über die je individuell gesetzten Schranken hinaus.“ 231 NA 22, 247. 232 NA 22, 256. 233 Poetik, Kap. 17 (1455 a29ff.). Aristoteles: Poetik. Griech./dt. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (= RUB 7828), S. 54 bzw. 55: „Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen, die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. Daher ist die Dichtkunst Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen“; vgl. Rhetorik III, 7 (1408 a16-25).

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ner den Richter bringen will, dem Redner selbst […] eingebrannt und eingeprägt erscheinen“.234 Ihre klassische, im 18. Jahrhundert viel zitierte Formulierung findet diese Regel in einer Sentenz der Ars poetica (v. 99-103) des Horaz: „Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ („Willst du, dass ich weine, dann musst du zuvor Schmerz gefühlt haben“).235 Gottsched, der die Ars poetica seiner Critischen Dichtkunst als Einleitung voranstellt236, fordert vom Schriftsteller, „die Gemüthsbewegung, die er in andern erwecken will, selbst an[zu]nehmen, und so feurig und heftig, oder affectuös und pathetisch [zu sein], als welches einerley ist, reden, daß sein Leser oder Zuhörer auch entzündet wird“.237 Sulzer will die „Regel“ sogar „ohne alle Ausnahm auf jede Art des Inhalts angewendet“ wissen.238 Jürgen Stenzel nennt diese Grundregel „Affekttopos“; dieser ist für die Transformation der Rhetorik wie der Lyrik im 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung, sofern in ihm jene „Sollbruchstelle“ angelegt ist, „von der aus das gesamte [rhetorische] System subvertiert werden kann“.239 Es handelt sich um ein Fundamentalgesetz für das Verhältnis von Autor und Text, Empfindung und Ausdruck. In einem rhetorisch geprägten Traditions- und Systemzusammenhang liegt der Fokus dabei nicht auf der Subjektivität der Empfindung, sondern auf der Objektivität der Wirkung. Es bedurfte jedoch nur einer Umdeutung, um den Topos im Sinne einer Ästhetik des Erlebnisses und des ‚Herzensausgusses‘ zu verstehen, die der junge Schiller mit seinem späteren Antipoden Bürger teilt. Jean Paul spricht –––––––––––––– 234 Cicero: De oratore, S. 325 (II, 189): „Neque fieri potest ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi omnes illi motus, quos orator adhibere volet iudici. In ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur.“ 235 Jürgen Stenzel hat in einer bemerkenswerten Studie gezeigt, wie sich die poetologische Selbstreflexion der lyrischen Dichtung an dieser Horaz’schen These kristallisiert, und dies jenseits der verschiedenen Strömungen und Parteiungen. ‚Si vis me flere …“ – ‚Musa iocosa mea’ – Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 650-671. 236 Seine Übersetzung der fraglichen Passage lautet: „Drum, wenn ich weinen soll; So zeige du mir erst dein Auge thränenvoll.“ Gottsched: Werke, Bd. 6,1, S. 52. 237 Ebd. S. 432. 238 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 1049f.; „Der Lehrer, welcher den Charakter einer inneren Ueberzeugung, einer auf sein eigenes Herz würkenden Kraft der Wahrheit in seiner Schreibart empfinden läßt, kann sicher seyn, nicht blos den spekulativen Verstand zu überzeugen, sondern die Wahrheit auch würksam zu machen.“ 239 Till: Transformationen der Rhetorik, S. 68; Campe, Rüdiger: Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Überlegungen ausgehend von Quintilian „Institutio oratoria“ VI 1-2. In: Kopperschmidt, Josef (Hg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000, S. 135-152.

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von den „weinerlichen Zeiten, wo jedes Herz eine Herzwassersucht haben sollte“ und meldet von hier aus Skepsis an gegen „Horazens Regel“, die „falsch verstanden, der andern Regel: ‚Der Dichter lache nicht vor, wenn der Leser nachlachen soll’“, widerspreche.240 Bürger jedenfalls stellt sich in seiner Antikritik ganz auf den Standpunkt des Horaz, indem er Schillers Position ironisiert: Priester und Laien, durch Horazens: Si vis me flere – verführt, glaubten bisher immer, die Empfindungen, welche der Dichter darstellt, müßten wahr, natürlich, menschlich sein. Sie glaubten, alsdann gelänge die Darstellung am besten, wann der Dichter sie nicht sowohl erkünstelte, als vielmehr wirklich im Busen hegte. Der reife vollkommene Kunstgeist aber weiß es besser. Idealisiert – ja, idealisiert! – müssen sie sein.241

Schiller kündigt der Regel die Gefolgschaft, um sich der komplementären, nicht weniger topischen Gegenregel anzuschließen. Jürgen Stenzel bezeichnet spricht hier vom „Fiktions-Topos“.242 Auch dieser entstammt – wie die Elemente des Spiels, der Freude und der ästhetischen Therapeutik – dem Kontext der Musa iocosa, er zählt zum „integralen Bestand der erotischen Dichtung selbst“.243 Unter dem ‚Fiktions-Topos‘ versteht Stenzel die in der komisch-erotischen Literatur seit der Antike wiederkehrende Schutzbehauptung, dass „man von poetischen Äußerungen nicht auf den Lebenswandel des Autors schließen dürfe“.244 Es handelt sich um ein Argument, das Autorperson und literarische persona entkoppelt, um den Spielcharakter der Dichtung im „Narrenkleid des Scherzes“245 zu betonen. Spätestens bei Schiller, der den Topos von einer strikten in eine bedingte Trennung von Autor und lyrischem Ich umbaut, zeigt sich dessen Potential für eine Philosophie der Kunst, die wesentlich auf dem Spielargument aufruht. Noch vor der Kant-Lektüre wird aus dem Fiktionstopos heraus die Idee der ästhetischen Distanz entwickelt, vorerst noch beschränkt auf den – hier zeitlich gefassten – Abstand zwischen AutorSubjekt und lyrischer persona.246 Schiller formuliert diesen Grundsatz –––––––––––––– 240 Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann. 6 Bde. München 1959-1963 (Ndr. Darmstadt 2000), Bd. 5, S. 478. 241 NA 22, 419. 242 Stenzel: Si vis me flere, S. 651. 243 Schlaffer: Musa iocosa, S. 138. 244 Stenzel: Si vis me flere, S. 651. Die klassische Formulierung des Fiktionstopos, die zugleich Schlaffers Gattungskronstrukt den Namen gegeben hat, findet sich in den Versen Ovids aus den Tristia (2, 353f.): „Crede mihi, distant mores a carmine nostri: / vita verecunda est, Musa iocosa mea“ („Glaube mir, mein Lebenswandel unterscheidet sich von meiner Dichtung: mein Leben ist untadelig, nur meine Muse ist scherzhaft“). 245 Schlaffer: Musa iocosa, S. 139. 246 Wilkinson: Über den Begriff der künstlerischen Distanz.

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in Worten, die schon die Konturen des Erhabenen erahnen lassen: „Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes […] möglich, welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt“.247 Gefordert ist die Unterscheidung von Poesie und Passion, Diealisierkunst heißt Abstandskunst. Die Horazische Regel wird nicht grundsätzlich bestritten („desto besser für ihn, je mehr er an sich erfahren hat, was er besingt“248), alles kommt jedoch auf Entkopplung von Affekt und Ausdruck an. Der Künstler müsse „sich selbst fremd“ werden und lernen, „den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loswickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen“.249 Kurz: lyrische Dichtkunst bedeutet Liebe ohne Passion, temporalisierter Affekt. Lyrische Rede ist dann nicht mehr Ausdruck von, sondern Erinnerung an Affekt, ganz im Einklang mit dem rückschauenden, elegisch gedämpften Charakter etwa der Götter Griechenlandes oder der als „klassisch“ gepriesenen Matthisson’schen Landschaftsgemälde.250 Der Fiktionstopos hat in der Frage der Genealogie „ästhetischer“ und „poetischer Distanz“ bisher keine Rolle gespielt. Nur aus Unkenntnis dieser Tradition ließ sich behaupten, die Bürger-Rezension sei „die erste unzweideutige Aussage über den Begriff der künstlerischen Distanz“, Schiller mithin „einer der ersten, wenn nicht der erste [gewesen], der das Prinzip der ästhetischen Distanz als eines psychischen Faktors im Schaffensprozeß des Dichters klar formulierte“.251 Dass dem nicht so ist – nicht einmal im Hinblick auf Schillers eigene Texte – lässt sich durch die Präsenz des Fiktionstopos von der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert widerlegen.252 Vor allem bei den Anakreontikern, also im Zentrum der Musa iocosa, findet er sich reichlich belegt. So warnt Gleim in der Vorrede zu seinem Versuch in Scherzhaften Liedern (1745): –––––––––––––– 247 248 249 250

NA 22, 256. Ebd. Ebd. Daher attestiert Schiller ihm eine „sanfte Schwermut und eine gewisse kontemplative Schwärmerei, wozu die Einsamkeit und eine schöne Natur den gefühlvollen Menschen so gerne neigen.“ Zudem wird die Figur der Reminiszenz wirkpsychologisch gewendet: „Daher wird es unserer Imagination so ungemein leicht, ihm zu folgen, wir glauben die Natur selbst zu sehen, und es ist uns, als ob wir uns bloß der Reminiszenz gehabter Vorstellungen überließen.“ NA 22, 274. 251 Wilkinson: Begriff der künstlerischen Distanz, S. 76. 252 Stenzel: Si vis me flere, S. 666-669; für die frühe Neuzeit Robert, Jörg: Mella legatis apes. Lyrische Ich-Erfahrung, rinascimentaler imitatio-Diskurs und Poetik des Mythos in Janus Secundus’ Basia. In: Schäfer, Eckart (Hg.): Johannes Secundus und die römische Liebeslyrik. Tübingen 2004 (= NeoLatina 5), S. 277-292.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Schliesset niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben. Ihr werdet euch betriegen […] Sie characterisiren sich nicht, wie sie sind, sondern wie es die Art der Gedichte erfodert, und sie nehmen das System am liebsten an, welches am meisten Gelegenheit giebt, witzig zu seyn. 253

Das ‚Formprinzip des Witzes‘ ruht auf dem rhetorischen Gebot des inneren aptum / decorum, der Angemessenheit an Konventionen des Stils und der Gattung, die einen bestimmten Habitus, eine Rolle zwingend fordern. In dieser Weise ist der Fiktionstopos bei nahezu allen der von Schiller empfohlenen Lyrikern belegt: bei Lessing, Kleist, Hagedorn, Hölty oder Uz.254 Damit bestätigt sich das oben beschriebene literarhistorische Paradox. Sofern der Fiktions-Topos zum Erbe der Vor-Erlebnislyrik zählt, überspringt Schiller das Gestrige (Sturm und Drang) zugunsten des Vorgestrigen (Anakreontik). Die Abrechnung mit Bürger dient der Formulierung eines Dichtungsbegriffs, in dem Rokoko-Klassizismus, Wieland’sche Ideal-Poetik (Gedanken über die Ideale der Alten) und Winckelmanns Kunst-Idealismus (und Platonismus) mit eigenen Beständen (Anthropologie, Diätetik, Theosophie) zu einem Modell fusionieren, das nun keineswegs „der Vergangenheit angehört“255, sondern die Struktur der modernen Lyrik nachhaltig bestimmen wird. „Idealisierkunst“ macht Schule – auch und gerade nach dem Ende des Idealismus. Der „nüchterne Anthropologe“ Schiller256 vermacht der literarischen Moderne weniger die Theorie einer ‚idealistischen‘ Lyrik als das Ideal einer „Verhaltenslehre der Kälte“.257 Dass die Bürger-Rezension nicht das erste Zeugnis einer Ästhetik des Abstands ist, lässt sich an zahlreichen Beispielen aus der ‚vorklassischen‘ Periode belegen. Die Idee ästhetischer Distanz begegnet hier in verschiedenen Schattierungen und Variationen, die immer wieder aus der lyrischen in die dramatische Dichtkunst führen. Am engsten ist der Zusammenhang zum Musa iocosa-Argument in einer Bemerkung, die Schiller seinen Gedichten Freigeisterei der Leidenschaft und Resignation in der Thalia vorausschickt. Wie schon in den Selbstrezensionen der Anthologie und der Räuber spaltet sich der Autor in zwei Partialinstanzen, die kranke persona des Sprechers und die kritisch kommentierende des Arztes, der die Fußnote schreibt. Der Pa–––––––––––––– 253 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in scherzhaften Liedern und Lieder. Hg. von Alfred Anger. Tübingen 1964 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke 13), S. 71. 254 Nachweise bei Stenzel: Si vis me flere, S. 667-669. 255 Ebd. S. 670f. 256 Vgl. Büssgen, Antje: Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn. Heidelberg 2006, S. 126135. 257 Im Sinne von Lethen: Verhaltenslehren der Kälte.

4. Gattungspoetik. Schillers Theorie der Lyrik

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ratext enthüllt die pathologische Struktur des Haupttextes. Wieder handelt es sich um die Phantasie eines fiebernden Libertins. ‚Das bin nicht ich‘, ruft der Autor entschuldigend seinem Leser zu und bittet, eine Aufwallung der Leidenschaft nicht für ein philosophisches Sistem und die Verzweiflung eines erdichteten Liebhabers nicht für das Glaubensbekenntniß des Dichters anzusehen. Widrigenfalls möchte es übel um den dramatischen Dichter aussehen, dessen Intrigue selten ohne einen Bösewicht fortgeführt werden kann: und Milton und Klopstock müßten um so schlechtere Menschen seyn, je besser ihnen ihre Teufel glückten.258

Das Argument ist nicht neu: Schon in der Vorrede zu den Räubern spricht Schiller von der „Oekonomie“ des Dramas, die es erfordere, dass „mancher Karakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt, und die Zärtlichkeit unserer Sitten empört“.259 Für Schiller ist lyrische Dichtkunst ein Sonderfall der dramatischen – im Sinne von Figurenrede, Monolog oder Arie. Es kann daher nicht überraschen, wenn in der Bürger-Rezension immer wieder Vergleiche aus der Sphäre des Theaters gewonnen werden. Vom Drama her verstanden, verweist lyrisches Sprechen auf die Dialektik von Schauspieler und Rolle. Die Begründung ästhetischer Distanz erwächst mithin aus zwei argumentativen Quellen und Bezügen, aus lyrischem Fiktionstopos und dramatischer Rollenpsychologie. Das ovidische Motto „distant a carmine mores“ gilt bei Schiller für Lyrik und Dramatik. Im Fall der Freigeisterei wie im Fall Bürgers ist der ursprünglich lyrische Herkunftsraum des Fiktionstopos noch greifbar. Das Distanzargument gewinnt jedoch für Schiller generelle Bedeutung. In der Bürger-Rezension kennzeichnet der Abstand zwischen Affekt und Ausdruck die gesamte lyrische Dichtkunst – nicht mehr nur die erotische. Als philosophisch-weltanschauliche Schutzbehauptung hat Schiller die Trennung von Autor und persona immer wieder ins Feld geführt. Alles kommt auf die Perspektive an, wie Schiller in der Vorerinnerung zu den Philosophischen Briefen bemerkt.260 Vergleichbares gilt –––––––––––––– 258 NA 1, 163 Anm. Schiller übersendet sie an Göschen mit dem Hinweis: „[I]ch habe zwar wichtige Gründe, diese 2 Gedichte bekannt zu machen, weil ich sie in einem andern gänzlich widerlege!“ NA 24, 31 (18. bis 21.12.1785). Die ganze Thematik dürfte wiederum Sulzer abgelesen sein. (s.v. Leidenschaften): „Der Dichter muß, wie Milton oder Klopstok ein Engel oder Teufel seyn können, oder wie Homer mit dem Achilles wüten, und mit dem Ulysses bey den größten Gefahren kaltblütig seyn, nachdem die Umstände es erfodern. Er muß selbst alles fühlen, was er an andern schildern will. Dies ist die vorzügliche Gabe, wodurch er sich von andern Menschen unterscheidet.“ Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. S. 699. 259 NA 3, 5. 260 NA 20, 108: „Meinungen, welche in diesen Briefen vorgetragen werden, können also auch nur beziehungsweise wahr oder falsch sein, gerade so, wie sich die Welt in dieser Seele und keiner andern spiegelt.“

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

für die Sprecherrolle der Götter Griechenlandes. Auch hier ist es der deklamatorische Modus, der die dialektische Umschlägigkeit in Schillers lyrischer Weltanschauung verursacht und der schon Stolberg am Wechsel der lyrischen Stimmungen und Töne zutiefst irritiert. Schon in den Reaktionen auf die Götter Griechenlandes lassen sich die beiden gegensätzlichen Auffassungen vom Verhältnis zwischen Autor und lyrischer persona ausmachen. Legt Stolberg den Maßstab des „Affekttopos“ an, so bezieht Georg Forster im Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller über Schillers Götter Griechenlands den Standpunkt des Fiktionstopos’261: „Mit jugendlich glühender Phantasie versetzt sich der Dichter in die Zeiten der Vorwelt, in ihre Denkungsart“. Nicht der Autor selbst, sondern „ein Grieche würde so klagen, der nach Jahrtausenden erwachte, und seine Götter nicht mehr fände“. Wieder liegt der Bezug zur dramatischen Methode nahe. „Dachten sich nicht die Schauspieldichter so an die Stelle eines jeden neuen Charakters in ihren unsterblichen Werken?“262 Die theoretische Rückführung der lyrischen auf die dramatische Dichtkunst kehrt sich bisweilen um. Wird gegen Bürger auf das Modell des Schauspielers Bezug genommen, so kommt Schiller in genuin dramenpoetischem Zusammenhang (Ueber die tragische Kunst) auf Phänomene lyrischer Subjektivität zu sprechen: Eine Elegie, ein Lied, eine Ode können uns die gegenwärtige, durch besondre Umstände bedingte, Gemüthsbeschaffenheit des Dichters (sey es in seiner eignen Person oder in idealischer) nachahmend vor Augen stellen, und in so ferne sind sie zwar unter dem Begriff der Tragödie mit enthalten, aber sie machen ihn noch nicht aus, weil sie sich bloß auf Darstellungen von Gefühlen einschränken.263

Die Position des lyrischen Ichs ist gewissermaßen beweglich, sie changiert zwischen Autor-Individuum und fingierter bzw. idealisierter Sprechinstanz, zwischen Autobiographie und Prosopopoiie. Diese zweideutigen Verhältnisse treffen auf die Göttern Griechenlandes ebenso wie auf Schillers weitere Elegien zu. Zu nennen wäre Die Klage der Ceres, das in Thema und Gattung den Göttern Griechenlandes am engsten verwandt ist.264 Dies gilt auch für die Sprechhaltung (elegische lamentatio um den Tod der Tochter) und für den Problemkreis der entzauberten Natur. Das Neue besteht darin, dass nunmehr Tod –––––––––––––– 261 262 263 264

Ebd. S. 60-69. Alle Zitate ebd. S. 66. NA 20, 165. „Demeters Zähre“ wird v. 29 bereits erwähnt (NA 1, 190); die spätere Elegie ist demnach eine Fortführung der Mythenrevue der Götter Griechenlandes.

5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption

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und Wiedergeburt der Natur als zyklische Vorgänge in das „Fabelland“ der griechischen Mythologie selbst verlegt werden.265

5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption 5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption 5.1. Winckelmann und Forster

Überblickt man von dem erreichten Standpunkt aus die Traditionsschichten, die sich in Schillers Begriff von Ideal und „Idealisierkunst“ anreichern, so kann deren Heterogenität kaum überraschen. Mindestens drei Bedeutungsschichten konkurrieren. „Idealisierkunst“ bedeutet 1. Generalisierung, Ausrichtung auf das Allgemeine, 2. moralische Vervollkommnung, 3. ästhetische Vervollkommnung. Die zuletzt genannte Facette scheint unvereinbar mit den ersten beiden: das Idealschöne ist nicht oder nicht notwendig Ergebnis der Entindividualisierung. Hier überlagern sich augenscheinlich zwei Begriffe von Vervollkommnung, ein ästhetischer und ein moralischer. Ästhetische Idealisierung im Sinne eines normativen Idealschönen setzt den klassizistischen Kunstdiskurs voraus, die Ebene der Winckelmann-Rezeption, die den gesamten Text durchzieht. Schillers Appell, „den ganzen Menschen in uns wieder her[zu]stell(en)“266, verweist nicht nur auf die Seite der Anthropologie, sondern eben auch auf Winckelmanns kulturkritisches, proto-sentimentalisches Antikenbild: „Die Begriffe des Gantzen, des Vollkommenen in der Natur des Althertums werden die Begriffe des Getheilten in unserer Natur bey ihm läutern und sinnlicher machen“.267 Die Winckelmann-Linie tritt vor allem in den kulturkritischen Rahmenpartien der Rezension stärker hervor, z.B. am Ende, wenn Schiller dem Dichter aufträgt, „die höchste Krone der Klassizität zu erringen“.268 Die Doppelmaxime von der „edle(n) Einfalt und stille(n) Größe“269 ist in der Forderung nach –––––––––––––– 265 Mücke, Dorothee von: Entzauberte Natur und Tod in Schillers Klage der Ceres. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 221-232. 266 NA 22, 245. 267 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 38. 268 NA 22, 259. 269 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 45:

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

„Simplizität“270 gegenwärtig, die „Größe“ – also die Konnotation des Erhabenen – in der Vision der „heitre(n) ruhige(n) Seele“, die „das Vollkommene“ gebiert271 oder in der „Freiheit des Geistes“, die erst das „Idealschöne“ ermöglicht272. Winckelmanns berühmtes Diktum paraphrasierend fordert Schiller: „Wenn es auch noch so sehr in seinem [des Dichters; J.R.] Busen stürmt, so müsse Sonnenklarheit seine Stirne umfließen“.273 Unter diesen Vorzeichen bedeutet Klassizität vor allem Plastizität. Der Meißel des Dichters wendet sich jedoch nicht mehr gegen den Stein (bzw. den Text), sondern gegen die eigene Individualität. Dichten ist Arbeit am Ich. Was Schiller an Winckelmanns Vision anspricht, sind weniger die ästhetischen Bestimmungen des Schönen als die anthropologischen, weniger ein klassizistisches Kunst- als ein „ästhetisches Konzept der Affektmodellierung“274, das der magnanimitas. So zeigt sich, dass beim vorklassischen Schiller die Ästhetik noch nicht in eine doppelte zerfallen ist. Auch in der Bürger-Rezension sind das Erhabene und das Schöne, Würde und Anmut noch nicht systematisch getrennt. Die Essenz der „Idealisierkunst“ ist es ja, dass sie das Schöne aus dem Erhabenen, d.h. der Erhebung über „das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen“275 gewinnt. Das Schöne und das Erhabene, die „sittliche Grazie“ und die „männliche Würde“ sind noch als Forderung verbunden. Schiller entfernt jedoch die Winckelmannschen Kategorien aus ihrem klassizistischen Kontext und verleiht ihnen eine universelle, „philosophische Orientierung“.276 Das –––––––––––––– 270 NA 22, 248. 271 NA 22, 258. Vgl. das Urteil über Goethe in der Rezension Über die Iphigenie auf Tauris: „Imponierende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst, auch in den höchsten Ausbrüchen der Leidenschaft“ (NA 22, 212). 272 NA 22, 256. 273 NA 22, 258. 274 Pfotenhauer: Vorbilder, S. 48. 275 NA 22, 248. Die Wendung gegen das Lokale ist sicher auch eine Wendung gegen den Dialekt und für die Einheit der Literatursprache, die ja noch keineswegs gesichert war. Im Hintergrund stehen daher Urteile wie die Friedrichs des Großen, der in De la littérature allemande das Deutsche als „eine noch halb-barbarische Sprache“ bezeichnet, die „in so viele verschiedene Dialekte verteilt [sei], als Deutschland Provinzen hat [...] Es ist also physisch unmöglich, daß auch ein Schriftsteller von dem größten Geist diese noch ungebildete Sprache vortrefflich behandeln könne.“ Horst Steinmetz (Hg.): Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente. Stuttgart 1985, S. 60-99, hier S. 61. In der Rezension von Stäudlins Schwäbischem Musenalmanach auf das Jahr 1782 spricht Schiller abwertend von „Provinzialkultur“ (NA 22, 187). 276 Barner: Anachronistische Klassizität, S. 64. Drei Jahre später wird Schiller dieses Profil des – im Sinne Winckelmanns – griechischen Menschen in Matthisson repräsentiert finden. Matthisson wird als Antityp Bürgers entworfen, der den Lern- und Zivilisie-

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Schöne und das Erhabene gehören zusammen, gehen auseinander hervor: „Das Idealschöne [= Anmut; J.R.] wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes [= Würde; J.R.], durch eine Selbsttätigkeit möglich, welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt“.277 Dichten bedeutet Selbst-Sublimierung, impliziert den Auftrag „erhöht [zu] empfinden“.278 Nur der herrscht, der sich beherrscht. Gefordert sind Selbstdistanzierung und –disziplinierung, constantia und apatheia als Freiheit von der Übermacht der Leidenschaft. Das Schöne ‚geschieht‘ nicht, es will erarbeitet und herausmodelliert werden wie die Figur aus dem Stein. Vor dem Hintergrund dieser neostoischen Anthropologie rezipiert Schiller auch den Winckelmannschen Idealbegriff. Es spricht vieles dafür, dass der Klassizismus der Bürger-Rezension nicht nur durch Winckelmann selbst, sondern durch einen Autor vermittelt wird, der in den Kontroversen um die Götter Griechenlandes vehement für Schiller Partei ergriffen hatte – Georg Forster. Er hatte zur Polemik mit dem Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller über Schillers Götter Griechenlands beigetragen, das den Standpunkt Schillers entschieden unterstützte.279 Schiller kannte Forster nicht persönlich, hatte jedoch dessen Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter im neunten Heft der Thalia drucken lassen.280 Ein Brief an Huber vom 13.1.1790 zeigt, dass Forsters, des Anciens, enthusiastisches Plädoyer für die griechische Kunst bei Schiller auf Skepsis stößt: „Mit Forstern hätte ich beynahe Lust eine Lanze zu brechen, und die unterdrückte Parthey der neuen Kunst gegen ihn zu nehmen“.281 Bei aller „Begeisterung“ und „Zaubergewalt seiner Phantasie“ räumt Schiller ein, dass „ich nicht seiner Meinung bin“, vor allem dort, wo ihn „Herderische Ideen zu sehr hingerissen“ hätten. ––––––––––––––

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rungsprozess an sich vollzogen hat: „Ein vertrauter Umgang mit der Natur und mit klassischen Mustern hat seinen Geist genährt, seinen Geschmack gereinigt, seine sittliche Grazie bewahrt; eine geläuterte heitre Menschlichkeit beseelt seine Dichtungen, und rein, wie sie auf der spiegelnden Fläche des Wassers liegen, malen sich die schönen Naturbilder in der ruhigen Klarheit seines Geistes. Durchgängig bemerkt man in seinen Produkten eine Wahl, eine Züchtigkeit, eine Strenge des Dichters gegen sich selbst, ein nie ermüdendes Bestreben nach einem Maximum von Schönheit.“ NA 22, 282. NA 22, 256. NA 22, 246. Fambach: Schiller und sein Kreis, S. 60-69. In Thalia 1790, 3. Bd., 9. Heft, S. 91-109. Im Folgenden nach Georg Forster: Werke in vier Bänden, Bd. 3 (1970), S. 123-134. Rasmussen, Detlef: Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller und seine Beziehungen zu Schlegel und Schiller. In: Ders. (Hg.): Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 189-200, hier bes. S. 195f. NA 25, 391.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

Andererseits aber sind „auch seine unhaltbarsten Meinungen […] mit einer Eleganz und einer Lebendigkeit vorgetragen, die mir einen ausserordentlichen Genuß beim Lesen gegeben hat“.282 Im folgenden (10.) Heft der Thalia erschien ein Teilabdruck der Sakontala des Inders Kalidasa, die Schiller überaus faszinierte. Im 11. Heft druckt Schiller den 4. Brief der Ansichten, der einen Essay über die Humanität des Künstlers enthielt. Forsters wiederholte Präsenz in der Thalia belegt die „entschiedene Hochschätzung seiner Arbeiten durch Schiller“283, der in ihnen eigene Überlegungen verarbeitet bzw. vorbereitet fand. Diese „enge Verwandtschaft Schillers mit Forster“284, man könnte sogar von Einfluss sprechen, schlägt sich unmittelbar in der Bürger-Rezension nieder. Hatten Die Götter Griechenlandes nachhaltig Forsters Begeisterung für hellenische Kunst und Mythologie befeuert, so wirkt dieser Enthusiasmus nun auf seinen Auslöser zurück. Die Kunst und das Zeitalter ist ein glühendes Plädoyer für den Klassizismus im Sinne einer Nachahmung der griechischen Muster. Dies macht schon das Motto aus Horaz’ Ars poetica deutlich („vos exemplaria Graeca / Nocturna versate manu, versate diurna“285). Auf den Spuren Winckelmanns ist die griechische Kunst für Forster eine unerreichte „Blüthe der Kunst“, an der die moderne lediglich ihre „Fackel zu zünden“ versuchen kann.286 Jede Abweichung vom klassischen „Ebenmaas“ bedeute „Verunstaltung“, umgekehrt lässt sich keine „erträgliche Statue neuerer Zeiten“ denken, „wozu die griechische Mythologie nicht den Gedanken, die Formen und Verhältnisse […] hergegeben hätte“.287 Forster ist ein entschiedener Ancien, der die „Entfernung“ und „Kluft“ der neueren von der alten Kunst für „unermeßlich“ hält, ihr allenfalls einen „relativen Werth“ zuerkennt, wo sie durch imitatio zur „Vollkommenheit des Ideals“288 zurückfindet. Das Verhältnis von moderner zu antiker Kunst entspricht der Kluft zwischen „Wahre(m)“ und „Falschem“. In dieser, wie Forster einräumt, „schneidenden Bezeichnung“289, welche die Legitimität moderner Kunst radikal in Frage stellte, lag denn auch der Grund für Schillers Reserve gegen den Aufsatz. Was Schiller sogleich einleuchtete, war der Begriff, den Forster zur Bestimmung der inkommensurablen Qualität griechischer Kunst –––––––––––––– 282 283 284 285 286 287 288 289

NA 25, 391. Rasmussen: Georg Forster, S. 196. Ebd. S. 199. Ars poetica, v. 268f.: „Nehmt die griechischen Modelle Tag und bei Nacht zur Hand.“ Forster: Werke, Bd. 3, S. 123. Ebd. S. 124. Ebd. S. 124 bzw. S. 123. Ebd. S. 124.

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ins Spiel brachte: Forster spricht von der „hohe(n) Idealisirungskunst der Alten“.290 1790 handelt es sich offenbar um einen Neologismus, wie Bürgers ratlose Reaktion nahelegt. Bei Forster steht sie in der Tradition des idea-Konzepts: „Die Norm des Schönen liegt schon im Innersten unseres Wesens“.291 Sie ist eine Art überindividuelles, anthropologisch universelles Stilgewissen, das „des Künstlers Wahl und Ausführung“ bestimmt, ein „der menschlichen Natur angeborene(s) Gefühl“292 des Schönen. Dieses „Schöne des inneren Sinnes“ nun fehle dem „glänzenden Machwerk der Neuern fast gänzlich“.293 Jedes Kunstwerk sei eine Verwandlung der Materie nach inneren „Bildern, welche seine Phantasie, vom Anschauen geschwängert, als ihre geistigen Kinder gebar“.294 Die Bezüge zur idea-Theorie Schillers, der von „Ausflüsse(n) eines innern Ideals von Vollkommenheit“295 spricht, sind evident. Ein Vergleich beider Texte zeigt, dass Schiller einzelne Elemente des Forster’schen Essays fast wörtlich exzerpiert hat. So findet sich der zentrale Satz: „Eine der ersten Erfodernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung“296 fast wörtlich schon bei Forster, der betont: „Die sittliche und physische Vollkommenheit des Künstlers, ist folglich nur das erste Erfordernis der Kunst“.297 Der echte Künstler, heißt es später, sei „reich an innerer Vollkommenheit und Harmonie“.298 Die Achsendrehung des Klassizismus von der Objektästhetik („Ebenmaß“, Symmetrie) zur Anthropologie des Künstlers ist bereits hier vollzogen. Dies ist jedoch nicht alles. Schon Forster verbindet das Schöne mit „Begriffe(n) des Ganzen, Harmonischen, Vollkommenen“.299 Was folgt ist eine Kulturgeschichte der Kunst, die ihrerseits die Spuren der Lektüre der Götter Griechenlandes und der Künstler erkennen lässt. Sie führt von der einfachen Nachahmung der schönen Natur über Elektion und Eklektik („Freiheit der Wahl“) zur Kunst des Ideals. „An der furchtbaren Gränze, wo die Schönheitslinie wieder in Misgestalt übergeht, ergriffen sie die möglichen Gestalten des Erhabenen, deren Urbilder die Natur nicht in sich faßt, und schufen ahn–––––––––––––– 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Ebd. S. 123. Ebd. S. 124. Ebd. Ebd. Ebd. S. 125. NA 22, 253. Ebd. Forster: Werke, Bd. 3, S. 125. Ebd. S. 127. Ebd. S. 126.

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dungsvoll das hohe Ideal!“.300 Die moderne Kunst dagegen zeugt vom Verlust der „ästhetische(n) Empfänglichkeit“301 und des „ästhetischen Sinnes“. In gut humanistischer Tradition beklagt auch Forster das „unpoetische Zeitalter“302, in dem „scholastisches Scheinwissen“, „logische Spitzfindigkeiten und metaphysische Grübeleyen“ mit sittlicher Depravation, „Aberglauben“ und „Vorurteil“ einhergehen.303 All dies mündet in eine scharfe Religions- und Gegenwartskritik, die sich wie eine Variation auf die Götter Griechenlandes liest. Die Krise der Kunst ist eine Krise des „griechische(n) Anthropomorphismus“.304 Wie Schiller bestimmt auch Forster den Zustand der (protestantischen) Gegenwart als ein Leiden an der Ferne Gottes. „Sah und empfand“ der Grieche in den Statuen „den gegenwärtigen Gott“, so versucht der Moderne vergeblich, „den reinen Vernunftbegriff in sinnliche Symbole zu bilden“.305 Schiller paraphrasierend und konkretisierend heißt es: „Seitdem den Völkern der vier Welttheile die hohe Offenbarung: Gott ist ein Geist! gepredigt wird, entweiht ein Bild die heilige Stätte, wo man [ein] reingeistiges Urwesen verehrt“.306 Der Essay schließt mit einer elegischen Klage über die verlorene Simplizität der Griechen. „Die schönen Stunden des unbefangenen Genusses sind auf ewig entflohn“.307 Die Parallelen zwischen Forsters und Schillers „Idealisierkunst“Konzepten ließen sich weiter vertiefen. An dieser Stelle mag die exemplarische Durchsicht jedoch genügen, um die rapiden Wechselwirkungen zwischen den Trägern des klassizistischen Kunstdiskurses in jenen Jahren um 1790 zu belegen. So kommt eine Ideendynamik mit paradoxen Rückkopplungen in Gang. Forster, von Schillers Griechenbild inspiriert, stattet seinen Vordenker wiederum mit einem zentralen Kampfbegriff („Idealisirungskunst“) aus. Eine weitere ironische Volte liegt darin, dass Schiller sich gegen Forsters Hellenismus, in dem ihm der eigene Entwurf der Götter und Der Künstler entgegenschlägt, reserviert verhält. Es ist geradezu Forster selbst, der mit seiner Zuspitzung des Nachahmungsgebots in Schiller die entschiedene Haltung des modernus weckt. Die Folgen dieser Absetzbewegung sind in der Bürger-Rezension zu beobachten. Die moderne Kunst erhält mehr als nur relativen Wert zugesprochen; ausdrücklich wird die –––––––––––––– 300 301 302 303 304 305 306 307

Ebd. S. 128. Ebd. S. 130. NA 22, 245. Forster: Werke, Bd. 3, S. 133. Ebd. S. 133. Ebd. Ebd. Ebd. S. 134.

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Notwendigkeit erkannt, dass die Kunst „mit dem Zeitalter fortschritte“.308 In der Kunst müsste sich die „ganze Weisheit ihrer Zeit […] in einem Spiegel sammeln“.309 Historizität wird zur Norm von Klassizität. Statt kulturpessimistischer Rückwendung ist es ja gerade die Zuwendung zur eigenen Gegenwart und die Herablassung zur ästhetischen Erziehung, auf die Schiller abzielt. Gegen Regression und Renaissance wird am Fortschritts- und Perfektibilitätsmodell festgehalten. Schiller übernimmt Forsters Projekt dem Begriff nach, steuert in der Sache jedoch dagegen, indem er die Verpflichtung der Klassizität auf das Klassische, d.h. die imitatio-Bindung, bewusst und mit bis dato ungekannter Entschiedenheit aufkündigt. ‚Idealisierkunst‘ bedeutet nun Klassizität ohne Klassiker. Die Absage an eine Volksdichtung im Gefolge Homers deutet dies ebenso an wie die völlige Absenz griechischer Kunst und Kultur. Beides verdichtet sich in der Feststellung: „Unsre Welt ist die homerische nicht mehr“.310 Gleichzeitig bleibt unterschwellig die Plastik als Leitmodell der Produktion bestimmend. Indem Schiller deren Ideale auf die Poetik umlegt, wird das Winckelmannsche bzw. Forstersche Statuenideal zur Theorie eines ästhetisch-anthropologischen Über-Ichs bzw. IdealIchs ausgebaut. Wo das Individuum ist, soll das Ideal im Sinne des Allgemeinen werden. ‚Idealisierkunst’ ist Auto(r)therapie und diätetische Maßregel, Einübung in Selbstdisziplinierung und Affektbeherrschung, die sich von Hypochondrie und Solipsismus löst. Dass Bürgers Kunst wesentlich narzisstisch sei, „unter dem Einfluß seiner Eigenliebe“ steht, wird von Schiller ausdrücklich behauptet.311 Von hier führt eine ideengeschichtliche Spur zurück zur Jugendphilosophie, die hier nur anzudeuten ist. Was Bürger in poeticis vorgehalten wird – Fixierung auf seine eigene Individualität – entspricht in philosophicis der moralistischen Problemfigur des Egoismus, den Schiller als Antagonisten der Liebe ausmacht.312 In den ästhetischen Zusammenhang verschoben wird dieser Antagonismus von Selbstverkapselung und –––––––––––––– 308 309 310 311 312

NA 22, 246. Ebd. NA 22, 247. NA 22, 262. Vgl. Fuchs, Hans-Jürgen: Egotismus, Egoismus, Egomismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 315-317; Klein, Wolfgang: Genuss und Egoismus. Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung. Berlin 2002. Grundlegend zu diesem Komplex Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (= Communicatio Bd. 26). Für Schiller vgl. Hiller, Marion: Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Zum Opfergedanken in Schillers Don Carlos und den Philosophischen Briefen. In: Euphorion 99 (2005), S. 115128.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

„Tausch der Persönlichkeit“313 zu einem kommunikativen Prinzip. In den Philosophischen Briefen ist Egoismus Folgelast einer materialistischen Philosophie, die den „himmlischen Trieb“ der Liebe „aus der menschlichen Seele hinweg“ nimmt, „das Gepräge der Gottheit“ verwischt zugunsten einer „kleinmütigen Indifferenz“.314 Die Überwindung des poetischen Narzissmus, den Schiller im poetologischen Brief an Reinwald vom 14.4.1783 selbst vertreten hatte, ist mithin das erste Ziel der ästhetischen Selbsterziehung: „Diese erhabene Geistesstimmung“, schreibt Schiller im Winter 1791 – ein gutes halbes Jahr nach der Rezension – in Ueber die tragische Kunst, „ist das Los starker und philosophischer Gemüter, die durch fortgesetzte Arbeit an sich selbst den eigennützigen Trieb unterjochen gelernt haben“.315 Darin liege der „hohe Wert einer Lebensphilosophie“, die „durch stete Hinweisung auf allgemeine Gesetze das Gefühl für unsre Individualität entkräftet“ und „im Zusammenhange des großen Ganzen unser kleines Selbst uns verlieren lehrt“316. Solche Sätze ziehen die dramentheoretischen Konsequenzen aus der Bürger-Rezension wie aus den Philosophischen Briefen. Individualismus und Egoismus („eigennütziger Trieb“) werden als Entartungsphänomene abgesetzt gegen den Zusammenhang des großen Ganzen, für den in den Philosophischen Briefen Aufopferung und Liebe, in Ueber die tragische Kunst das Mitleid einsteht. 5.2. Bürger-Rezension und Kant-Rezeption Als Schiller diese Zeilen verfasst, haben sich die Koordinaten seiner Ästhetik bereits grundlegend verändert. Am 3. März 1791 – zwei Monate nach Erscheinen der Rezension – vermeldet Schiller seinem Freund Körner: Du erräthst wohl nicht, was ich jetzt lese und studiere? Nichts schlechteres als – Kant. Seine Critik der Urtheilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren neuen lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beygebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hinein zu arbeiten. 317

–––––––––––––– 313 314 315 316 317

NA 20, 119. NA 20, 121. Ebd. S. 151. Ebd. NA 26, 77.

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Die Besteigung des zunächst „unübersteigliche(n) Berg(es)“318 Kant fällt damit exakt in die Phase der polemischen Auseinandersetzung mit Bürger, zwischen die eigentliche Rezension in der ALZ (15.1.1791), Bürgers Antikritik und Schillers Replik auf diese, die unter dem Titel Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik im Intelligenzblatt der ALZ Nr. 46 am 6. April 1791 erscheint.319 In dieser chronologischen Verflechtung wird die ideengeschichtliche Dynamik deutlich, in der sich Schillers Ästhetik entfaltet. Wie nahtlos der Übergang von der Literarkritik zum Kritizismus ist, belegt schon der eben zitierte Brief an Körner. Er beginnt nämlich mit der Genugtuung über den Erfolg der Rezension: „In Weimar habe ich durch die Bürgerische Recension viel Redens von mir gemacht; in allen Zirkeln las man sie vor und es war guter Ton, sie vortrefflich zu finden, nachdem Göthe öffentlich erklärt hatte, er wünschte, Verfasser davon zu seyn“.320 Schillers Antikritik vom April 1791 ist somit das erste Dokument seiner Kant-Rezeption. Die Schiller-Forschung hat diese Priorität der Rezension gegenüber den Kallias-Briefen gemeinhin übersehen. Wo sie vermerkt wird, wird zugleich „Kants direkter Einfluß [als] gering“321 veranschlagt. Dies trifft in der Tat quantitativ zu. Der Reflex der Kritik beschränkt sich auf einen kurzen Abschnitt der Antikritik; qualitativ ist er jedoch bedeutsam, weil er die Spezifik der Schiller’schen Kant-Rezeption erkennen lässt. Sie ist weniger von „Einfluss“ als von „geistige(r) Verwandtschaft“, ja „frappante(r) Ähnlichkeit“322 bestimmt. Schiller trifft nicht unvorbereitet auf Kant, er hat, wie der Brief an Körner untertreibend ausführt, „über Aesthetik schon selbst viel gedacht“323, und so zeigen sich in der Aneignung Konvergenzen, die auf gemeinsamen ideen- und poetikgeschichtlichen Voraussetzungen beider Autoren beruhen. Im Fall der BürgerRezension besteht diese Konvergenz in der Frage der „Allgemeinheit“ und der „Mitteilung“324, an jenem Punkt also, an dem der Ge–––––––––––––– 318 319 320 321

NA 26, 78. NA 22, 259-263. NA 26, 77. Schaarschmidt: Notwendigkeit und Allgemeinheit, S. 49. Noch die ausführlichste neuere Würdigung der Rezension bei Bernauer: Schöne Welt, S. 160-201, erwähnt die Rolle Kants mit keinem Wort. 322 Schaarschmidt: Notwendigkeit und Allgemeinheit, S. 50. 323 NA 26, 77. 324 Schaarschmidt: Notwendigkeit und Allgemeinheit, S. 38-45; zur Frage der Mitteilbarkeit und Allgemeingültigkeit Graubner, Hans: ‚Mitteilbarkeit‘ und ‚Lebensgefühl‘ in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘. Zur kommunikativen Bedeutung des Ästhetischen. In: Kittler, Friedrich A. / Turk, Horst (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt/Main 1977, S. 53-75; Ginsborg,

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

schmacksbegriff als Theorie des ästhetischen Gemeinsinns (sensus communis) fortlebt325. Die Wirkung Kants zeigt sich in einem Abschnitt der Antikritik, der noch einmal die Kritik an Bürgers fehlender Reife präzisiert. Schiller hatte geschrieben, dass „Empfindungen dadurch allein, daß sie sich zum allgemeinen Charakter der Menschheit erheben, einer allgemeinen Mitteilung fähig“326 werden. Noch immer liegt der Schluss von den „Grundsätzen des Geschmacks“ auf die „Gesetze der Sittlichkeit“, die Wechselwirkung von Schönheit und „veredelter Menschheit“327 nahe. Schiller spricht von „idealisierte(r) Empfindung“, ganz im Sinne jener „idealische(n) Allgemeinheit“ der Empfindungen, die in der Rezension als Gegenpol einer „unvollkommenen Individualität“ ausgemacht worden war.328 Schiller wiederholt dies, setzt jedoch einen neuen Akzent: „Menschlich heißt uns die Schilderung eines Affekts, nicht weil sie darstellt, was ein einziger Mensch wirklich so empfunden, sondern was alle Menschen ohne Unterschied mitempfinden müssen“.329 Deutlicher zeichnet sich jetzt das rezeptionsästhetische hinter dem anthropologischen Kalkül ab. Der Dichter muss von seiner individuellen Lage „gerade soviel Lokales und Individuales“ wegnehmen, „als jener allgemeinen Mitteilbarkeit Abbruch tun würde“.330 Von einer solchen „allgemeinen Mitteilbarkeit“ war in der eigentlichen Rezension jedoch noch nicht die Rede. Es ist ein Kantischer Begriff, den Schiller seiner noch frischen Lektüre der Kritik der Urteilskraft (insbesondere §§ 9 und 39) verdankt.331 ––––––––––––––

325 326 327 328 329 330 331

Hannah: Interesseloses Wohlgefallen und Allgemeinheit ohne Begriffe (§§ 1-9). In: Höffe, Otfried (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Berlin 2008 (= Klassiker Auslegen 33), S. 59-77. Amann, Wilhelm: ‚Die stille Arbeit des Geschmacks‘. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, hier S. 1829 zur Bürger-Rezension. NA 22, 260. Ebd. NA 22, 256. NA 22, 260. Ebd. Da sich Schillers Handexemplar der Kritik der Urteilskraft im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erhalten hat, lassen sich die Interessen der Lektüre unschwer anhand der zahlreichen Anstreichungen vor allem im ersten Teil (Kritik der ästhetischen Urteilskraft) nachvollziehen. Schiller hat sich in seiner Kant-Lektüre vorwiegend „auf die Einleitung und die Kritik der ästhetischen Urteilskraft beschränkt.“ Kulenkampff, Jens (Hg.): Friedrich Schiller: Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der ‚Kritik der Urteilskraft‘. In: Ders. (Hg.): Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘. Frankfurt/Main 1974, S. 126-144, hier S. 127. Unterstrichen ist etwa ein Abschnitt aus § 9: „Die subjektive allgemeine Mitteilbarkeit kann nur das freie Spiel der Erkenntniskräfte sein, indem wir uns bewußt sind, daß

5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption

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Die „allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes […] bei der Empfindung des Schönen liege, so Kant, als „subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben“332 zu Grunde. Hintergrund für Kant wie Schiller ist der Begriff des Geschmacks als „einer Art von Sensus communis“ bzw. eines „gemeinen und gesunden Verstandes“.333 Geschmack ist „das Beurteilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht“.334 Was bei Schiller schlechte Individualität heißt, fasst Kant unter dem Begriff der „subjektiven Privatbedingungen“.335 Diese stellen sich bei der „Lust des Genusses“ als Empfindung der „Annehmlichkeit“ ein und sind einer Verallgemeinerung nicht fähig. Das „Schöne als Lust […] der bloßen Reflexion“ muss dagegen „bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntniß überhaupt“336 sind. Daher sei jedes Geschmacksurteil berechtigt, „die subjektive Zweckmäßigkeit“ der Vorstellung eines Gegenstandes „jedem andern an[zu]sinnen“ und „sein Gefühl als allgemein mitteilbar“337 an[zu]nehmen. Mag die Argumentation hier „unpräzis“338 erscheinen, die Anlehnung an Kant nur auf der Begriffsebene erfolgen, so zielt Schiller doch von Anfang an auf die entscheidende Frage der Kritik der Urteilskraft, nämlich die Schwierigkeit, „den objectiven Begriff des Schönen aufzustellen“.339 Was Schiller beinahe intuitiv an Kants Geschmackslehre fasziniert, ist weniger ihre epistemologische als ihre kommunikative Dimension. Geschmack ist für Kant eine vis media der Vergesellschaftung, der „Anfang der Zivilisierung“ und der „Humanität“.340 Das Schönheitsurteil erfüllt sich nicht in solipsistischer Selbstgenügsam––––––––––––––

332 333 334 335 336 337 338 339 340

dieses zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis eben so wohl für jedermann gelten und folglich allgemein mitteilbar sein müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntnis ist, die doch immer auf jenem Verhältnis als subjektiver Bedingung beruht.“ Kant: Werke, Bd. 8, S. 296. Ebd. S. 295. Ebd. S. 388 (§ 39). Ebd. S. 392 (§ 40: Vom Geschmacke als einer Art von Sensus communis). Ebd. S. 389 (§ 40). Ebd. S. 388 (§ 39). Ebd. Schaarschmidt: Notwendigkeit und Allgemeinheit, S. 56. NA 26, 170. KdU § 41, S. 393. Diese Linie wird weiter geführt im Geschmackskapitel des von Michaelis überlieferten ästhetischen Kollegs vom Wintersemester 1792 (NA 21, 68): „Der Geschmack schwächt auch die Sinnlichkeit selbst, indem er Anstand und Mässigkeit fordert, wodurch nicht nur für die Civilisierung, sondern auch für die Sittlichkeit viel gewonnen wird.“

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

keit, in ‚ästhetischem Egoismus‘341. Das Schöne hat eine soziale und kommunikative Funktion, es konstituiert sich erst als kommuniziertes, in der Mitteilung: „Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft“, und der „Trieb zu Gesellschaft“ und „Geselligkeit“ ist für den Menschen als animal sociale ein „Erfordernis“.342 Robinsons Welt wäre eine Welt ohne Schönheit: „Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen“.343 In der Kategorie der Mitteilbarkeit wird dem Geschmacksurteil „Freiheit und Intersubjektivität“ gesichert.344 Dieser Anspruch, Gesellschaft durch apriori geteilten (nicht erst auszuhandelnden) Geschmack zu konstituieren, gilt umfassend und universal, betrifft „Kenner wie Laien“.345 Er zielt auf eine Sphäre, in der „das Ich erst eigentlich zum Ich“ wird und „jedes Ich dem andern verwandt“346 erscheint. Der „sensus communis aestheticus“347 ist das Objektivität verbürgende Widerlager zur notwendig empirischen Subjektivität des Schönheitsurteils. Es zeigt den aufgeklärten „Mann von erweiterter Denkungsart“, der sich von „subjektiven Privatbedingungen des Urteils“ distanziert und zu einem „allgemeinen Standpunkte“ erhebt348. Kants Analytik des Schönen ist Ästhetik in weltbürgerlicher Absicht. Vor dem gemeinsamen Hintergrund des Geschmacksbegriffs rücken Kant und Schiller unabhängig voneinander die Notwendigkeit der Allgemeinheit, der Idealität (Schiller) und der Objektivität (Kant) des Schönen ins Zentrum. Schiller schließt dabei vor allem an die soziologische und kommunikative Seite des Kantischen Schönheitsbegriffs an. Es bedeutet daher eine Synthese der eigenen und der Kantischen Theorie der Mitteilung, wenn Schiller im 27. ästhetischen Brief feststellt: „Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet“.349 Gegen Kant begrün–––––––––––––– 341 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (ersch. 1798). Werke, Bd. 10, S. 410: „Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem sein eigener Geschmack schon genügt; es mögen nun andere seine Verse, Malereien, Musik u.d.g. noch so schlecht finden, tadeln oder gar verlachen.“ Er beraubt sich selbst des Fortschritts zum Besseren, wenn er sich mit seinem Urteil isoliert, sich selbst Beifall klatscht, und den Probierstein des Schönen der Kunst nur in sich allein sucht.“ 342 KdU § 41, S. 393. 343 Ebd. 344 Graubner: Mitteilbarkeit, S. 58. 345 Ebd. S. 60. 346 Cassirer, Ernst: Subjektive Allgemeinheit. In: Kulenkampff: Materialien, S. 287-294, hier S. 294. 347 Kant: Werke, Bd. 8, S. 391; KdU § 40. 348 Ebd. S. 391. 349 NA 20, 410.

5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption

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det Schiller dies jedoch anthropologisch. Die Reintegration des Menschen zum ‚ganzen‘ ist Voraussetzung der gesellschaftlichen Integration, die wiederum mit Kant auf dem Absehen von „Privatbedingungen“ (bei Schiller: „Privatempfänglichkeit“ bzw. „Privatfertigkeit“) beruht. So wird auf der Grundlage eigener, von Kant bestätigter Intuition die Frage nach dem vinculum societatis im Sinne des Schönen beantwortet: Nur die schöne Mittheilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht. Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Antheil nähme.350

Gegen die Gemeinsamkeiten heben sich aber auch Unterschiede ab. Schiller gibt Kants Schönheitsregel eine entschieden kunst-praktische Wendung. Die allgemeine Theorie des Geschmacksurteils wird verengend als Theorie der Rezeption („Auffassung“) und der ästhetischen Kommunikation gelesen. Kant hatte danach gefragt, wie sich ein Abgleich und Konsens zwischen den Beobachtern des Schönen herstellen lasse. Schiller fragt dagegen nicht nach der Einhelligkeit des Publikums, sondern konzentriert sich auf die Kommunikation zwischen Autor und Leser. An die Stelle einer soziologischen tritt eine mediologische Perspektive, die tief in Schillers weit verzweigte Spekulationen über die commercium-Frage eingelassen sind. Wir hatten schon im zweiten Kapitel gesehen, dass das commercium-Problem in seiner wahrnehmungspsychologischen Komponente von Anfang an von proto-ästhetischen Ideen durchzogen war. Die Suche nach dem commercium findet in der Bürger-Rezension im Geschmack als anthropologischem Sensorium eine angemessene Instanz. Der Geschmack avanciert zur ästhetischen Mittelkraft.351 Einige wenige unscheinbare Retuschen an der Semantik und Terminologie Kants verursachen freilich einen veritablen Bruch in der Theoriearchitektur. Wenn Schiller fordert: „Menschlich heißt uns die Schilderung eines Affekts, nicht weil sie darstellt, was ein einzelner Mensch wirklich so empfunden, sondern was alle Menschen ohne unterschied mitempfinden müssen“352, so scheint die Variation gegenüber Kant unwesentlich. In der Tat jedoch ist die Verschiebung von „beistimmen“ zu „mitempfinden müssen“ eine grundsätzliche. Wo Kant an den mündigen, frei reflektierenden Leser oder Betrachter denkt, geht es Schiller um Praktiken der Bemeisterung und der ästhetisch-pädagogischen Anthropotechnik, die den „Menschen formie–––––––––––––– 350 NA 20, 411. 351 Vgl. Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, S. 74-87 („Der Geschmack als Mittelkraft“). 352 NA 22, 260.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

ren“353 soll. Schillers Leser muss müssen, soll das Kunstwerk seinen Zweck erfüllen. Oft genug ist übersehen worden, dass die BürgerRezension gerade kein Plädoyer für eine Autonomie-Ästhetik (im Sinne einer Ästhetik des autonomen Kunstwerks als eines „in sich selbst Vollendeten“) darstellt. Das Kunstwerk dient sehr wohl einem Interesse – dem der anthropologischen Rundung, Harmonisierung und Vervollkommnung des Menschen. Wo Kant die „Emanzipation des Kunstbenutzers“ als „isoliertes Individuum vorschwebt354, hat Schiller neben dem „ekeln Geschmack des Kenners“ immer auch und vor allem den „großen Haufen“355 im Blick. Kants mündigem Kunstrezipienten stellt Schiller bis in die Ästhetischen Briefe hinein das unmündige Publikum mit „Kindersinn“ gegenüber, für das Schiller den Künstler als ästhetischen Vormund und Volkstribun („Wortführer der Volksgefühle“356) bestellt. „Selbsttätigkeit [...], welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt“357, konzediert Schiller allenfalls dem Künstler und der „Auswahl“ der Nation. Wo Kant Erwachsenenbildung betreibt, geht es Schiller um ästhetische Erziehung – um Elementarschule. Anders als Kant ist Schiller die Heterogenität seines Publikums bewusst. Die Herausforderung einer Popularästhetik liegt für ihn darin, eine Kunst für ein doppeltes Publikum, für Aufgeklärte wie die Unaufgeklärte, bereitzustellen. Die Forderung nach Freiheit des Geistes bezog sich dagegen immer nur auf das Individuum nach der ästhetischen Erziehung, auf jenen Zustand also, den Kant wie selbstverständlich als Normalität der ästhetischen Reflexion zugrunde legt. Kants transzendentaler Geschmacksbegriff mag à la longue als „Konsens der gegenseitigen Anerkennung trotz Meinungs- und Handlungsdifferenz“358, mithin als Utopie „demokratischer Geschmacksbildung“359 erscheinen. Diese Habermas’sche Optik übersieht jedoch die historischen Verhältnisse, von denen Kant ausgeht. Wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft den Menschen im Allgemeinen adressiert, ist konkret nur der gebildete und aufgeklärte Mensch gemeint. Dies verrät sich dort, wo ausnahmsweise von der „Propädeutik zu aller schönen Kunst“ die Rede ist und Kant in jene Sphäre ästhetischer Erziehung hinuntersteigt, in der sich Schillers Entwürfe bewegen. Hier wird dann ganz selbstverständlich dieselbe Asymmetrie zwischen –––––––––––––– 353 354 355 356 357 358 359

NA 20, 351 Anm. (13. Brief). Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch. Leben und Werk. Stuttgart 2002, S. 361. NA 22, 248. NA 22, 249. NA 22, 256. Graubner: Mitteilbarkeit, S. 70. Ebd. S. 61.

5. Zwischen Kunstdebatte und Kantrezeption

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Künstler und Publikum, der Kontrast der „Ideen des ausgebildetsten Teils mit dem roheren“360 vorausgesetzt. Im Unterschied zu Schiller, dem Pragmatiker der Kunst, hat Kant alle konkreten pädagogischen, psychologischen und anthropologischen Fragen einer Implementierung des Schönen durch Popularisierung mit seinem apriorischen Modell buchstäblich transzendiert. Wo Kant Ästhetik um ihrer selbst willen betreibt, geht es Schiller um Ästhetik als Pädagogik. Aus dieser Ebenen- und Phasenverschiebung ergeben sich alle Schwierigkeiten, die Schiller bei seiner Kant-Rezeption durchzustehen hat. Es sind die Probleme, die sich aus der Spannung von Interesse und Interesselosigkeit der Kunstbetrachtung, von diskursiver Vermittlung und reiner Reflexion ergeben. Es ist bezeichnend, dass Schiller sich nach dem Punkt der größtmöglichen Annäherung an Kant – den Kallias-Briefen – sukzessive wieder zurückzieht auf die Position des Dichters, der sich seiner Wirkung bewusst ist und auf diese Wirkung – zu welchen Interessen auch immer – nicht verzichten will. Noch in der MatthissonRezension wird Schiller beide Forderungen an den Dichter – „die Einbildungskraft frei spielen und selbst handeln“ zu lassen und sich „nichtsdestoweniger seiner Wirkung gewiß [zu] sein“ – als „widersprechend“361 bezeichnen. Die Diskrepanz zwischen herrschen und dienen wird hier durch das Konzept einer indirekten Steuerung gelöst, die dem Rezipienten eben jene Freiheit lässt, die ihm der Dichter konzediert, indem er „unserer Einbildungskraft keinen andern Gang vorschreibt, als den sie in ihrer vollen Freiheit und nach ihren eigenen Gesetzen“ – d.h. nach dem Gesetz der Assoziation („Ideenverbindung“) – „nehmen müßte“.362 Freilich: auch indirekte, gleichsam über die Bande der anthropologischen Grundausstattung gespielte Manipulation bleibt am Ende Manipulation. Der Dichter muss, wie Schiller fordert, „diesen empirischen Effekt der Assoziation zu berechnen wissen“.363 Die MatthissonRezension erscheint am 11./12. September 1794 in der ALZ364, zu einem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung mit Kant und die ästhetische Theoriebildung bis auf den dreiteiligen Essay über Ueber naive und sentimentalische Dichtung (ersch. 1795) bereits abgeschlossen ist. Unter Verwendung Kantischer Terminologie („freies Spiel der Einbildungskraft“, „Allgemeinheit“, „Notwendigkeit“) wird eine Theorie –––––––––––––– 360 361 362 363 364

Kant: Werke, Bd. 8, S. 464 (KdU § 60). NA 22, 267. Ebd. Ebd. Nr. 298/299, Sp. 665-680.

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VI. Klassizismus und Klassizität im Umkreis der ›Bürger-Rezension‹

formuliert, die weder Kunst- noch Rezeptionsautonomie zugesteht, sondern unter Rekurs auf die vor-kritische sensualistische Assoziationslehre, die Schiller seit der Karlsschule bestens vertraut ist, mit fliegenden Fahnen zur Idee der „Bemeisterungskunst“ und zum „monarchischen“ Zwang der Dichtung zurückkehrt.365

–––––––––––––– 365 Dazu Robert: Die Kunst der Natur.

VII. Kanten zum Trotz. Kallias oder die Sprache des Schönen VII. Kallias oder die Sprache des Schönen 1. Kant-Rezeption und Kant-Revision

1. Kant-Rezption und Kant-Revision 1.1. Ästhetischer Pluralismus

Die Antikritik, mit der Schiller im April 1791 Bürgers Einwände als „lustige Tiraden“1 zurückgewiesen und im Gegenzug seine Leitkonzepte „Idealisierkunst“ und „Classicität“ entworfen hatte, ist das erste Dokument einer „philosophischen Bekehrung“2, deren Ambivalenz sich schon in Schillers stillschweigender anthropologischer Umdeutung des Kantischen Konzepts einer „allgemeinen Mitteilbarkeit“ des Geschmacksurteils bekundet. Dass Schiller am Aspekt der ästhetischen Kommunikation ansetzt, ist alles andere als zufällig. KantRezeption bedeutet schon hier Kant-Revision. Was ihn interessiert, sind Fragen der ästhetischen Kräfteübertragung, das Verhältnis zwischen Dichter-Subjekt und ästhetischer Objektivität, die Reduktion des ‚bloß‘ Kontingenten zugunsten eines Allgemeinen, in dem das Schöne erst als Schönes kommunizierbar und als kommuniziertes erst zum Schönen wird.3 Schon in der Antikritik zeigt sich ein Grundzug der vermeintlichen ‚Bekehrung‘ zu Kant, jener auch von Schiller wiederholt prätendierten Ausrichtung an „Kantische(n) Grundsätzen“4. Angeschlossen wird zwar an Kantische Systematik und Phraseologie; beide werden jedoch im Lichte älterer Traditionen der Aufklärungsästhetik, die auch Kant voraussetzt, modifiziert. Diese Prozesse lassen sich gut an den Briefen erkennen, die Schiller mit dem Freund Christian Gottfried Körner zwischen dem 25. Januar und 28. Februar 1793 wechselt. Gerade weil sie den Augenblick –––––––––––––– 1 2 3

4

NA 22, 259. Vom 13.3.1791; NA 34/I, 57. Dies setzt sich fort in der ästhetischen Vorlesung, die Schiller am 5. November 1792 begann und deren Nachschrift Christian Friedrich Michaelis überliefert hat. NA 21, 66-95, hier S. 67: „Soll die Empfindung der Lust allgemein mittheilbar seyn, so muß alles Empirische, Materielle, aller Einfluß der Neigung davon geschieden seyn.“ Vgl. dort das Kapitel Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils (NA 21, 80f.). NA 20, 309 (1. Brief über ästhetische Erziehung).

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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der engsten systematischen Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik darstellen, zeichnen sich hier auch die markantesten Unterschiede ab.5 Die notorische Frage nach der „Mesalliance“6 zwischen beiden Theoretikern wird daher neu zu beantworten sein. Die begriffliche wie systematische Unschärfe der Leitkonzepte „Freiheit in der Erscheinung“, „Technik“, „Medien“ oder „Repräsentation“, die in der Beilage über Das Schöne der Kunst zum letzten Kallias-Brief ins Zentrum treten7, soll nicht als Defizit, sondern als Chance einer Kunstphilosophie verstanden werden, die auf die die semantische Aura des Schlagwortes setzt, an der sich die Reflexion und Argumentation entzündet. Es ging wie schon im Falle Wielands, Moritz’ oder Bürgers um die Erzeugung von Reibungsenergien („Frictionen“8) und theoretischen Zündfunken. Kants dritte Kritik hatte katalysatorische Wirkung, sofern sie Denkfiguren und Ideen, die seit der Karlsschule virulent waren, auf ein neues Reflexionsniveau hob. Jenseits ihrer forcierten Anlehnung an Kantische Systematik sind die Kallias-Briefe daher ein Dokument eklektischen und – in Bezug auf Kant – eristischen Philosophierens. An Körner schreibt Schiller, dass in dem geplanten „Gespräch: Kallias, oder über die Schönheit“9 nicht nur Kant, sondern „die meisten Meinungen der Aesthetiker vom Schönen […] zur Sprache kommen werden“.10 Systematisch schloss diese pluralistische kritische Auseinandersetzung mit Kant an das Kolleg über Ästhetik aus dem Herbst 1792 an, in dem die „Erklärung des Schönen nach Kant“ noch gleichberechtigt neben den Entwürfen Burkes und Moritzens steht.11 –––––––––––––– 5

6 7 8 9 10 11

Zur Frage der Kant-Rezeption in den Kallias-Briefen Düsing, Wolfgang: Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. Zur Rezeption Kantischer Begriffe in Schillers Ästhetik. In: Berghahn, Klaus L. (Hg.): Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes. Kronberg/Taunus 1975, S. 197-239; Schaarschmidt: Notwendigkeit und Allgemeinheit, S. 66-74; zum historischen Ort des Unternehmens Latzel, Siegbert: Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers ‚Kallias‘ mit Bezug auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, N.F. 2 (1961), S. 31-40; Berghahn, Klaus L. (Hg.): Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. München 1973, S. 7-27 (Vorwort); Robert, Jörg: Schein und Erscheinung: Kant-Revision und Semiotik des Schönen in Schillers Kallias-Briefen. In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller – Der unterschätzte Theoretiker. Köln/Wien/Weimar 2007, S. 159-175. Naumann-Beyer: Kant und Schiller – eine Mesalliance. NA 26, 222-229. NA 26, 183 (mit Bezug auf den Dialog mit Körner). NA 26, 170. NA 26, 171. NA 21, 76-79. Das ist jedoch nicht alles. Im Vorfeld des Kallias-Projekts versucht Schiller großflächig die Ästhetik des 18. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Daher bittet er Göschen am 11.1.1793 brieflich, „den Winkelmann (Geschichte der Alten) […] und

1. Kant-Rezption und Kant-Revision

355

Dieser Pluralismus entspricht dem Ungenügen und Unbehagen an Kant, das sich bei aller Faszination von Anfang an findet. Symptomatisch hierfür ist ein Brief an Körner vom 1.1.1792. „Ich treibe mit grossem Eifer Kantische Philosophie“, heißt es da, mit dem Ziel, das Gelernte „in mein Eigenthum [zu] verwandel(n)“.12 Dieses Bekenntnis zu Kant wird jedoch sogleich relativiert durch das Ansinnen, „zu gleicher Zeit gerne Locke, Hume und Leibniz [zu] studieren“.13 Entscheidend ist, dass Schiller Kants Buch nicht als definitives Gesetzbuch, sondern als Provokation begreift. Schiller will „nicht bloß Nachbeter seyn“, sondern sucht Kant „durch die That zu widerlegen“.14 Dies äußert sich schon in dem Bestreben, eine eigene Terminologie und damit Begriffshoheit zu etablieren.15 Körner hatte in seinem Antwortbrief vom 6.1.1792 selbst einen Topos der Kant-Kritik aufgenommen und darauf hingewiesen, dass „der erste Anstoß bey der Kantischen Philosophie […] immer ihre anscheinende Unfruchtbarkeit“ sei16. So zeichnen sich in den Kallias-Briefe zwei Motivationen ab. 1. Die Unfruchtbarkeit der Kritik der Urteilskraft, die eben keine Poetik, noch nicht einmal eine reine Ästhetik, sondern eine Analytik des Geschmacksurteils bieten wollte. 2. Ihre Verweigerung eines objektiven Prinzips und Kriteriums des Schönen, welche das Kunstwerk ‚an sich‘ selbst in die epistemische Unverfügbarkeit rückte. Von Anfang an wird die Anlehnung an Kant durch die Auflehnung überlagert. Es geht darum, wie es Körner formuliert, „Kanten zum Trotz den Stein der Weisen zu finden“.17 Den hatte Kant – Schiller zu Folge – gerade nicht gefunden. Die Kritik der Urteilskraft war für ihn ein aporetischer Text. Schon im Dezember 1792 meinte Schiller, die Kantische Aporie innerhalb des Kantischen Bezugssystems gelöst zu haben: „Den objectiven Begriff des Schönen, der sich eo ipso auch zu einem objectiven Grundsatz des Geschmacks qualificirt, und an welchem Kant verzweifelt, glaube ich gefunden zu haben“.18 Schon im Kolleg über Ästhetik hatte Schiller das Manko der Kritik der Ur–––––––––––––– 12 13 14 15 16 17 18

„Leßings Laokoon“ zu übersenden. NA 26, 172. Am selben Tag wird Körner um „wichtige Schriften über die Kunst“ und „Architectur“ gebeten. NA 26, 174. NA 26, 127. An Körner, 1.1.1793; NA 26, 127. An Fischenich, 11.2.1793; NA 26, 188. NA 26, 228: „[U]m mich meiner Terminologie zu bedienen.“ An Schiller, 6.1.1792; NA 34/I, 123. An Schiller, 4.2.1793; NA 34/I, 225. An Körner, 21.12.1792; NA 26, 170. Vgl. an Fischenich, 11.2.1793, NA 26, 188: „Wirklich bin ich auf dem Weg […] seine Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.“

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

356

teilskraft (formuliert in § 17), hervorgehoben: „Die Kantische Kritik leugnet die Objektivität des Schönen aus keinem genügenden Grunde, weil sich nämlich das Schönheitsurteil auf ein Gefühl der Lust gründe“.19 Schiller betont dagegen, dass „die objektive Beschaffenheit der für schön gehaltenen Gegenstände [...] untersucht und verglichen werden müsse“.20 Kants Erkenntnistheorie des Schönen muss gegründet sein in einer Objektästhetik und Phänomenologie des Kunstschönen. Dieses Unterfangen wird jedoch schon wenige Seiten später in Zweifel gezogen: „Der Umstand, daß das Schöne bloß gefühlt, nicht eigentlich erkannt wird, macht die Ableitung der Schönheit aus Prinzipien a priori zweifelhaft“, es scheint daher, dass „wir uns mit der pluralistischen Gültigkeit der Urteile über Schönheit begnügen müssen“.21 Der Versuch, Kants „empirisch“ bzw. „subjectiv rational“ bestimmter Konzeption des Schönen eine „sinnlich objectiv(e)“22 entgegenzusetzen, bezeichnet den schon begrifflich paradoxen Ehrgeiz, mit dem Schiller am 25. Januar 1793 das Projekt mit dem Arbeitstitel Kallias, oder über die Schönheit in Angriff nimmt. Aus dem geplanten literarischen „Gespräch“ wird dabei ein Briefdialog, der im Widerspiel von These und Antithese, von Konzept und Korrektur Schillers ersten Versuch einer systematischen Ästhetik (und Poetik) begründet.23 –––––––––––––– 19

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NA 21, 81. Dies bezieht sich auf § 17 der KdU: „Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d. i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund.“ Kant: Werke, Bd. 8, S. 313. Ebd. Vgl. Strube, Werner: Schillers Kallias-Briefe oder über die Objektivität der Schönheit. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 18 (1977), S. 115-131; Luserke, Matthias: Die Suche nach dem objektiven Begriff des Schönen. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (1994), S. 24-34. NA 21, 86. NA 26, 176. An dieser Stelle ist ein Wort zur Editionslage angezeigt, die mir symptomatisch für den Umgang mit Schillers Ästhetik insgesamt scheint. Es existiert bislang keine Edition des Briefwechsels, die dessen dynamischen und prozessualen Charakter, den „alchymistische(n) Proceß“ der Reflexion (Körner an Schiller, 4.2.1793, NA 34/I, 225), angemessen abbilden würde. Die Anlage der Nationalausgabe mit ihrer Trennung der Korrespondenz in Briefe Schillers und Briefe an Schiller unterläuft in fataler Weise die Einheit des Zusammengehörigen und macht die Ideogenese, das Unfertige und Vorläufige, den fragmentarischen und „Ferment“-Charakter der Brieffolge wie auch die wechselseitigen Korrekturen und Präzisierungen systematisch unkenntlich. Der Anteil Körners an Schillers Theoriebildung ist überhaupt noch (fast) unerschlossen. Vgl. immerhin Krautscheid, Christiane: Gesetze der Kunst und der Menschheit. Christian Gottfried Körners Beitrag zur Ästhetik der Goethe-Zeit. Diss. Berlin 1998, S. 107142. Die Edition des Körner-Briefwechsels von Klaus Berghahn bietet an sich die vollständigste Dokumentation der Texte, entstellt jedoch den Charakter der Korrespondenz durch willkürliche Kürzungen einzelner, für die Systematik scheinbar irrelevanter Briefpassagen. Zugunsten einer vordergründigen theoretischen Konsistenz – so als

1. Kant-Rezption und Kant-Revision

357

1.2. Commercium und Mitteilung Die Forschung hat die Kallias-Briefe eher zurückhaltend aufgenommen. Das Ansinnen, Kant durch Kant zu revidieren, die Subjektästhetik in ihrem eigenen kategorialen Rahmen zu übernehmen und ins Objektive umzupolen, musste den Kantianern als Scheitern24 – bestenfalls als fruchtbares – erscheinen.25 Schon die Tatsache, dass der geplante Dialog am 28. Februar 1793 ohne jede Fortsetzung abbricht, schien einem Eingeständnis des Scheiterns gleichzukommen.26 Hinzu kamen grundsätzliche Bedenken: Schiller habe sich hier in „glasige ––––––––––––––

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handle es sich bereits um eine auskristallisierte Theorie, ein „Gesetzbuch“ – werden die Spuren des Vorläufigen und Vorsichtigen getilgt. So kürzt, um zwei Beispiele zu geben, der Text der Hanser-Ausgabe den Beginn des Briefes vom 18. bzw. 19.2.1793 (NA 26, 190f.), weil dieser „nur“ Schillers korrigierende Replik auf einige „Mißverständnisse“ (S. 190) im vorausgehenden Brief des Freundes enthalte. Diese Korrektur enthält jedoch ihrerseits bedeutsame Klarstellungen wie die folgende: „Denn ich bin so weit entfernt die Schönheit von der Sittlichkeit abzuleiten, daß ich sie vielmehr damit beynah unverträglich halte“ (S. 190f.), oder das prägnante Schönheitsprinzip als „Existenz aus bloßer Form“ (S. 191). Hier fällt auch das meist aus dem Kontext zitierte Wort: „Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst.“ (S. 191). Eine zweite Kürzung betrifft den Schluss von Schillers Brief vom 8.2.1793, in dem dieser doch charakteristische Hinweise auf die Form der Diskussion, Schillers maieutischen Impuls gibt: „Viel kannst Du aus dem Wenigen, was hier gesagt ist, schon prognosticieren und errathen. Auch freue ich mich, wenn du einige Resultate selbst findest.“ Körner wird also ausdrücklich zu einem – zudem ergebnisoffenen – Symphilosophieren aufgefordert. Der Briefdialog mit dem Freund ist notwendiges Ferment der Spekulation: „Gewiß würden sich unsere Ideen durch Friction noch beßer entwickeln“ (NA 26, 183). Am Ende des Briefes fällt dann Schillers bekanntes Urteil über die französische Revolution: „Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.“ Für die theoretische Kontur der Kallistik (scheinbar) entbehrlich, wird hier doch ihr zeithistorischer Resonanzraum fassbar: Die Verschiebung des Freiheitsbegriffs aus der politischen in die ästhetische Sphäre wird von dieser Notiz in limine als Kompensation begreifbar. Mein, Georg: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik. Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000, S. 176. Immerhin betont Dieter Henrich in einem wegweisenden Aufsatz den Gewinn des Versuchs, „durch die Konsequenz einer überkommenen Systematik die Einsicht in Phänomene hindurchzuführen und festzuhalten, die eben für dieses System ein ungelöstes und unlösbares Problem darstellen, und somit, zwar in ihm selbst verbleibend, doch unüberhörbar über es hinausweisen.“ Henrich, Dieter: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527547, hier S. 529. So etwa Zelle, Carsten: Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Schönen. In: Glaser, Horst Albert / Vayda, György M. (Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820. Epoche im Überblick. Amsterdam/Philadelphia 2001, S. 371397, hier S. 374.

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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Schöpfungen“ verstiegen, „an denen keiner sein Genügen finden konnte: nicht der Philosoph und nicht der spekulierende Poet“.27 Diese Phänomenferne hat Schiller selbst eingeräumt. Unmittelbar vor dem Beginn des Projekts beschreibt er seine „Ungeduld, etwas poetisches vor die Hand zu nehmen“ (gedacht ist an den Wallenstein)28, jedoch auch seinen Theoriezwang: „In der Theorie muss ich mich immer mit Principien plagen“, in denen er doch „bloß ein Dilettant“29 sei: „Ich sehe mich jetzt erschaffen und bilden, ich beobachte das Spiel meiner Begeisterung“.30 Ziel kann es daher nur sein, dass „mir Kunstmäßigkeit zur Natur wird“.31 Die Naturferne der Theorie wird hier, wo die Polarität des Naiven und des Sentimentalischen ein erstes Mal vorbegrifflich diskutiert wird, dialektisch zur Natur geadelt. Die Spannung zwischen poetischer Praxis und ästhetischer Spekulation wird kategorisch an den Beginn der ästhetischen Vorlesung gestellt: „Die Aesthetik vermag nicht, Künstler hervorzubringen, sondern blos, die Kunst zu beurtheilen“.32 Schon die Kallias-Briefe suchen erkennbar einen Ausweg aus diesem Dilemma. Denn keineswegs „weicht [Schiller] hier, wie so oft in seinen theoretischen Abhandlungen, praktischen Fragen aus“.33 Vielmehr wird schon in den Kallias-Briefen jene „Brücke zu der poetischen production“34 gesucht, die dann 1794 über das Hilfskonstrukt der Literarkritik (Matthisson-Rezension) wieder errichtet wird. Auch die Theorie des Schönen ist immer schon von ihrer Praxis bestimmt, wenngleich Aspekte des Poetologischen, ja alles Technische nur mehr als Oktroi („aufgedrungen“), als äußerer Zwang und Gewalt erscheinen. Weil dies so ist, sind die Kallias-Briefe ex negativo auch KunstTechnologie bzw. „Technikästhetik“.35 Immerhin enthält die Beilage über Das Schöne der Kunst die „erste kunsttheoretische Prägung des Wortes Technik in der deutschen Sprache“.36 Beharrlich wird Schiller dabei nach jener Grenze fragen, an der Kunst in Natur, Zwang und –––––––––––––– 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Mayer, Hans: Schillers Ästhetik und die Revolution (Der Moralist und das Spiel) [1966]. In: Ders.: Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt/Main 1986, S. 292-314; S. 300 und S. 309. An Körner, 25.5.1792; NA 26, 141. Ebd. Ebd. Ebd. NA 21, 66. Rainer, Ulrike: Schillers Prosa. Poetologie und Praxis. Berlin 1988 (= Philologische Studien und Quellen 117), S. 35. An Körner, 12.9.1794; NA 27, 46. Vgl. Pudelek, Jan-Peter: Der Begriff der Technikästhetik und ihr Ursprung in der Poetik des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2000, bes. S. 163-174. Ebd. S. 164.

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Gewalt in Freiheit umschlagen. Das liest sich dann wie folgt: „Technik ist die notwendige Bedingung unserer Vorstellung von der Freiheit“.37 Jedes Kunstwerk ist notwendig ein Kunstprodukt, ein Gemachtes. Außerhalb von Kunst – im Sinne von ars bzw. techne – gibt es keine Kunst. Die neue Kunst beruht nun auf der Negation ihrer selbst. Ihre Technik besteht darin, die „Verläugnung“38 alles Technischen zu betreiben. Schiller findet diese Vorstellung nicht in der Kritik der Urteilskraft. Sie nimmt die alte rhetorische Maxime der dissimulatio artis auf und integriert sie in ein neues, durch Kant bezeichnetes Bezugssystem.39 Die heteronomen Aspekte des Technik-Begriffs (Zwang, Gewalt, Fesseln usw.) belegen, wie die ästhetische Freiheit aus der politischen durch Übertragung hervorgeht. Schon begrifflich kompensiert die ästhetische Revolution die – in Schillers Augen – gescheiterte politische. Die ausgeprägte Metaphorik von Triumph, Kampf, Sieg und Überwindung verrät ein Freiheitspathos, das aus dem aktuellen politischen Kräftespiel ins ästhetische verlagert wird. Für den historischen Ort und Moment der Kallias-Briefe ist damit ein grundsätzlicher Aspekt berührt. Schillers Wende zur Ästhetik ist eine Abwendung von der (aktuellen) Politik: Es ist kein Zufall, dass das Kallias-Projekt in jenem Moment begonnen wird, als sich die Ereignisse in Frankreich dramatisch zuspitzen.40 Schiller, der am 26. August 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Bürger Frankreichs ernannt worden war, plante bis in den Dezember hinein, sich „in die Streitsache wegen des Königs einzumischen, und ein Memoire darüber zu schreiben“41, diese Verteidigungsschrift möglicherweise sogar persönlich in Paris vorzutragen. Durch den Lauf der Ereignisse wird das –––––––––––––– 37 38 39

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NA 26, 202. NA 26, 225. Ohne Bezug auf die rhetorische Strategie betont Peter Bürger: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik. Frankfurt/Main 1983 (= stw 419), S. 62: „Verdeckt wird auf der Seite des Produzenten keineswegs nur die Regel [...], sondern die Tatsache, daß das Kunstprodukt ein Hergestelltes ist. Verdeckt wird die Arbeit.“ Die Vernachlässigung des Zeichens, die nach David E. Wellbery: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge/London/New York 1984, S. 71 die Semiotik von der Rhetorik trennt, ist transformiert selbst eine rhetorische Strategie, die dissimulatio artis. Die alte ars-natura-Dialektik gleitet so beinahe unbemerkt in den neuen Theorie-Horizont hinein. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 433-513. Zum folgenden High, Jeffrey L.: Schillers Plan, Ludwig XVI. in Paris zu verteidigen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 178-194; ders.: Schillers Unabhängigkeitserklärungen. Die niederländische ‚Plakkaat van Verlatinge‘, der ‚amerikanische Krieg‘ und die unzeitgemäße Rhetorik des Marquis Posa. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 54 (2010), S. 82-110. NA 26, 171.

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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Vorhaben obsolet, die begonnene Schrift bleibt liegen42. Der König wird am 14. Januar für schuldig befunden, am 21. Januar hingerichtet. Schiller echauffiert sich am 8. Februar 1793 gegenüber Körner mit dem eben zitierten Urteil über die „elenden Schindersknechte“43 der Revolution. Es ist zugleich jener Brief, in dem sich Schiller emphatisch auf den Freiheits- und Selbstbestimmungsbegriff Kants beruft. In Formulierungen wie den folgenden wird die Surrogatfunktion der Ästhetik gegenüber der vertan geglaubten politischen Freiheit und Gleichheit deutlich: „In der aesthetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden sondern zu allem schlechterdings consentiren muß“.44 Kant, die Revolution, die Suche nach einem objektiven Prinzip des Schönen als einer Lehre des schönen Objekts – mit diesen Stichworten sind mögliche Linien einer Rekonstruktion des KalliasProjektes bezeichnet. Diese soll nicht die „verunglückte Deduktion“45 des Schönen und die vermeintliche Verkennung Kantischer Grundsätze betonen, sondern die mediologischen Aspekte der Briefe und damit zugleich die Kontinuitäten zu Schillers eigenen Ideen von ästhetischer Kommunikation. Auszugehen ist einmal mehr von der Offenheit und Vieldeutigkeit bzw. „Bedeutungsfülle“46 der Schiller’schen Begriffe, die Raum für assoziative Weiterungen der theoretischen Bestände zulässt. Eine solche metaphorologische Rekonstruktion bietet sich vor allem für Schillers begriffliches Hauptresultat, die Leitdefinition des Schönen als „Freiheit in der Erscheinung“47 an. Am Ende wird sie einen Begriff ins Licht setzen, dessen Aufwertung zum ästhetischen Terminus im letzten Kallias-Brief vollzogen wird: der Begriff ‚Medium‘. Die Darstellung orientiert sich an folgenden Arbeitshypothesen: 1. Die Ästhetik der Kallias-Briefe ist noch keine ‚doppelte‘. Das Schöne und das Erhabene bilden – wie schon für die Bürger-Rezension festgestellt – noch keinen systematischen, allenfalls einen kausalen und genealogischen Gegensatz. Das Schöne ist das Erhabene, oder anders ausgedrückt: das Schöne geht als Effekt aus der ‚Erhebung‘ des Geistigen („Person des Dinges“) über die physische Hemmnis des Stoffes hervor. –––––––––––––– 42 43 44 45 46 47

NA 26, 183. Ebd. NA 26, 212. Berghahn: Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, S. 22. Sayce, Olive: Das Problem der Vieldeutigkeit in Schillers ästhetischer Terminologie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 149-177, S. 176f. NA 26, 182.

1. Kant-Rezption und Kant-Revision

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2. Ein altes Thema der vor-kritischen Ästhetik ist die Frage des ästhetischen Scheins, die in der Junktur „Freiheit in der Erscheinung“ mit verhandelt ist. Die Kallias-Briefe sind Schillers erster systematischer Versuch einer „Ästhetik des Erscheinens“.48 Diese Erscheinung ist nun in den Kallias-Briefen ein vieldeutiges semantisches Gebilde, dessen Bedeutung zwischen Phänomen, Epiphanie und Schein (Täuschung, Illusion usw.) changiert, letzteres mit all jenen ästhetischen und para-ästhetischen Konnotationen, die sich seit dem Geisterseher an diesen Komplex geheftet hatten. Im Mittelpunkt steht das Konzept der Darstellung (evidentia)49, das hier als zentrale Operation aller Kunst verstanden wird. Der Ablauf der Reflexion folgt dabei einer theorieimmanenten Dramaturgie: Rückt die Frage des ästhetischen Scheins in den ersten Briefen ins Zentrum einer allgemeinen, wesentlich auf Kant bezogenen Kallistik, so geht es der Beilage am Ende der Brieffolge um die spezifische Frage nach seiner artistischen Erzeugung – und ihren Schwierigkeiten im Fall der Sprachkunst. Die allgemeine Theorie des Schönen spitzt sich auf die Frage nach der „Schönheit der poetischen Darstellung“50 zu. Aus „Freiheit in der Erscheinung“ wird über „Natur in der Kunstmäßigkeit“51 schließlich „Freiheit der Darstellung“52, die im Hinblick auf die Dichtung bestimmt wird als „freie Selbsthandlung der Natur in den Feßeln der Sprache“.53 Mit der Frage nach der Wirkung der sprachlichen Zeichen betritt Schiller eine neue Ebene im Vergleich zu Kant. Die kritische Reflexion über die Ambivalenz der Sprache als Medium der Darstellung, mit der die KalliasBriefe schließen, ist der Versuch, zwischen der älteren Aufklärungsäs–––––––––––––– 48 49

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Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München 2000 (= stw 1641), der es allerdings fertig bringt, in seinen Reflexionen über den ästhetischen als „tragenden“ Schein Schiller nur ein einziges Mal zu erwähnen. Dazu grundsätzlich und mit Bezug auf die Kallias-Briefe Zelle, Carsten: Darstellung – zur Historisierung des Mimesis-Begriffs bei Schiller (eine Skizze). In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 73-86; vgl. die älteren Studien von Kai Puntel: Die Struktur künstlerischer Darstellung. Schillers Theorie der Versinnlichung in Kunst und Literatur. München 1986 (= Die Geistesgeschichte und ihre Methoden 13); Heuer, Fritz: Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst. Köln 1970 (= Kölner germanistische Studien 3). Im Überblick: Schlenstadt, Dieter: Darstellung. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2000, S. 831-875. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. NA 26, 229. NA 26, 203. NA 26, 222. NA 26, 229. Das Konzept der ‚freien Selbsthandlung‘ hatte Schiller bereits eingehend in seiner Ästhetischen Vorlesung diskutiert. Vgl. Nachschrift NA 21, 84: „Dargestellte freie Selbsthandlung in der Natur durch die Sprache ist Schönheit in der Dichtkunst.“

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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thetik (v.a. Lessings Laokoon) und Kant eine Synthese herzustellen, die der Spezifik der sprachlichen Kommunikation gerecht wird.54 Schiller war sich des Grundsatzcharakters und der bleibenden Gültigkeit der hier vorgelegten Reflexionen bewusst, daher dürfte sich der Brief mit der Beilage unter jenen befunden haben, die er am 31. August 1794 an Goethe übersandte – gleichsam als ästhetisches Selbst- und Glaubensbekenntnis.55 In der Tat stellt die Beilage Schillers bedeutendsten Versuch dar, die Philosophie der Kunst auf eine Philosophie der Sprache zu beziehen, die Vorgaben der Kantischen Ästhetik im Kielwasser der Aufklärungsästhetik semiotisch zu transformieren.56 Wenn Humboldt in seinem Schiller-Essay beklagt, dass dieser „bei seinen Räsonnements über den Entwicklungsgang des Menschengeschlechts auch nicht einmal der Sprache erwähnt, in welcher sich doch gerade die zwiefache Natur des Menschen, und zwar nicht abgesondert, sondern zum Symbole verschmolzen, ausprägt“57, so dürfte dies in Unkenntnis der Kallias-Beilage geschehen und überhaupt die Bedeutung verkennen, die das Problem der Sprache noch für die großen Abhandlungen besitzt. Dass die „Sprachskepsis als Lebensproblem des Autors“ Schiller sowie als „Zeitproblem der Epoche“58 zu betrachten ist, hat sich in der neueren Schiller-Forschung gegen Humboldts Feststellung weithin durchgesetzt. –––––––––––––– 54

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Zu Schillers Sprachtheorie liegt inzwischen eine reiche Literatur vor. Die wichtigsten Beiträge sind Jolles, Matthijs: Dichtkunst und Lebenskunst. Studien zum Problem der Sprache bei Friedrich Schiller. Hg. von Arthur Groos. Bonn 1980 (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 91); Bräutigam, Bernd: ‚Generalisierte Individualität‘. Eine Formel für Schillers philosophische Prosa. In: Czucka, Eckehard (Hg.): ‚Die in dem alten Haus der Sprache wohnen‘. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Münster 1991, S. 147-158; Oschmann, Dirk: Schillers Verknüpfung von Sprach- und Gattungstheorie. In: Bollenbeck, Georg / Ehrlich, Lothar (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 137-157; ders.: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, bes. S. 149-169. Vgl. NA 26, 704. Apel, Karl-Otto: Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik. In: Ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt/Main 1973, S. 157-177; Menges, Karl: Schönheit als Freiheit in der Erscheinung. Zur semiotischen Transformation des Autonomiegedankens in den ästhetischen Schriften Schillers. In: Wittkowski, Wolfgang (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Tübingen 1982, S. 181-199; Huebner, Kathinka: Die Kallias-Briefe von Friedrich Schiller – eine Analyse des Kunstschönen. Eine Darstellung der Kunsttheorie Friedrich Schillers mit semiotischen Mitteln. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 7 (1977), S. 173-187. Seidel, Siegfried (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. 2 Bde. Berlin 1962, hier Bd. 1, S. 19. Bartl, Andrea: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen 2004, S. 185-237, hier S. 185.

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹

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2. Freiheit in der Erscheinung. Metaphorologie des Schönen

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹ 2.1. Übertragung, Metapher, enargeia

„Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung“59 – zu dieser bereits in der Ästhetischen Vorlesung gewonnenen Definition gelangt Schiller im Kallias-Brief vom 8. Februar 1793. Kant folgend steht das „Verhältnis des Schönen zur Vernunft“ zur Diskussion. Schiller verweist die Schönheit nicht ins Gebiet der theoretischen, sondern in das der praktischen Vernunft, d.h. in die Ethik. Der praktischen Vernunft gehorchen bedeutet, „durch sich selbst bestimmt sein, avtonomisch (sic) bestimmt seyn“.60 Das heißt nun nicht, dass das Schöne unmittelbarer Ausdruck oder Spiegelung des sittlich Guten bzw. der Freiheit sei. Die Autonomie des Schönen ist nur eine scheinbare, ihr Status ist metaphorisch. Sie ist buchstäblich eine Unmöglichkeit, denn „reine Selbstbestimmung“ kommt ausschließlich dem Vernunftwesen Mensch zu. Es handelt sich also um eine Übertragung – im doppelten Sinne von Metapher und Projektion. „Entdeckt“ nämlich „die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben [...] Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu“61, sie „leyht dem Gegenstand [...] ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen, einen Willen“.62 Diese Analogie könne jedoch, da „nichts frei sein kann als das Übersinnliche“, niemals Freiheit im eigentlichen Sinne begründen, „sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Avtonomie in der Erscheinung“.63 Daher die Definition: Schönheit ist mithin „nichts anderes als Freiheit in der Erscheinung“64, mit anderen Worten: eine Autonomie, die nur Auto–––––––––––––– 59 60 61 62 63 64

NA 21, 86: „Freiheit der Erscheinungen ist das Objekt der ästhetischen Beurteilung. Freiheit eines Dinges in der Erscheinung ist dessen Selbstbestimmung, wiefern sie in die Sinne fällt.“ NA 26, 181. NA 26, 182. NA 26, 181. NA 26, 182. NA 26, 183. Diese Übertragung von der Ethik auf die Ästhetik gilt auch umgekehrt. Im Begriff der „schönen Handlung“ wird eine ästhetische Kategorie auf die Ethik angewandt – auch dies ein Kategorienfehler. Schiller betont dies ausdrücklich im Kallias-Brief vom 18. Februar („der Begriff der Schönheit [wird] doch auch in uneigentlichem Sinn auf das moralische angewendet“; NA 26, 195). Dagegen bleibt der offensichtlichste (im Hinblick auf Winckelmann und den Klassizismus) Fall ausgespart – der schöne Mensch. Er lässt sich vor dem neuen Theoriehintergrund nur als schön handelnder (d.h. erhabener) Mensch denken. Der schöne Körper bleibt dagegen aus der Betrachtung ausgeklammert. Die Kallias-Briefe sind denn auch primär eine Theorie des dinglichen Schönen bzw. des schönen Dings. Darin zeigt sich der vielleicht einschneidendste Einfluss Kants und seiner Unterscheidung von pulchritudo vaga und

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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nomie scheint („als ob“) oder Autonomie, wie sie an einem Gegenstand erscheint (sichtbar gewordene Freiheit – ein Widerspruch). Es ist immer gesehen worden, dass Schiller mit seiner Ableitung der Schönheit an § 59 der Kritik der Urteilskraft anschließt, und dies in doppelter Weise: Schiller folgt Kant (1.) darin, das Prinzip der praktischen Vernunft in die Sphäre des ästhetischen Urteils zu übertragen: „Das Schöne“, hatte Kant statuiert, „ist das Symbol des Sittlich-Guten“.65 Nicht weniger bedeutsam sind jedoch (2.) Kants methodische Vorüberlegungen zu dieser Übertragung. Kant bindet sie an die – ursprünglich rhetorische – Figur der Hypotypose (exhibitio oder subiectio sub adspectum; dt. Darstellung). Begriffen oder Ideen, denen „keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann“, wird eine solche „korrespondierende“ Anschauung unterlegt: sei es durch Worte oder „sichtbare (algebraische, selbst mimische) Zeichen“.66 Dieses Analogieverfahren erinnert an zwei rhetorische Figuren: die Metapher und die Enargeia / evidentia. Letztere firmiert in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts unter dem prägnanten Terminus der ‚Darstellung‘ als einer Versinnlichungsoperation mit vor allem poetischer Relevanz.67 In den Kallias-Briefen wie in den Schriften zu Tragödie, Pathos und zum Erhabenen der frühen neunziger Jahre wird es bei Schiller zu einer „Überlagerung des älteren mit einem neueren Darstellungsbegriffs, der Enargeia mit der Hypotypose“68 kommen. Schiller versteht Kants philosophischen Darstellungsbegriff vor dem Hintergrund des rhetorisch-poetologischen. Auf den Aspekt der Meta––––––––––––––

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pulchritudo adhaerens, auf die Schiller immer wieder zu sprechen kommt. Die Beispiele, die im Verlauf der Briefe geboten werden, ziehen vor allem Artefakte (Architektur, Vase, Gebäude), „unbeseelte“ landschaftliche Natur (Garten), allenfalls die Tierwelt (Pferde, Vögel) heran. Zwar mokiert sich Schiller darüber, dass für Kant die Arabeske „reiner sey als die höchste Schönheit des Menschen“ (NA 26, 176). Andererseits zwingt ihn sein Übertragungsbegriff, diesen Aspekt aus der Betrachtung auszuklammern: „Ich widerstehe der Versuchung, Dir an der menschlichen Schönheit die Wahrheit meiner Behauptungen noch anschaulicher zu machen; dieser Materie gebührt ein eigener Brief“ (NA 26, 206). Diese Ankündigung wird, abgesehen von einem Hinweis auf die Plastik (s.u. Kap. 3.1.), erst in Ueber Anmut und Würde, nicht aber im Zusammenhang des Kallias-Projektes eingelöst. Kant: Werke, Bd. 8, S. 461. Ebd. S. 459 (KdU § 59). So etwa Klopstock in seinem Dialogessay Von der Darstellung. In: Menninghaus, Winfried (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Frankfurt/Main 1989, S. 167-173. Grundlegend zu diesem Problemkreis Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München 1998 (ohne Bezug auf Schiller). Zelle: Darstellung, S. 78.

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹

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pher, in Kants Sprachgebrauch als „Symbol“69 bezeichnet, hat Hans Blumenberg in der Einleitung seiner Paradigmen zu einer Metaphorologie hingewiesen.70 Schillers Übertragung der Kantischen Symboltheorie führt mithin zu einer Theorie der Übertragung. Die Bestimmung der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“ ist ein Notbehelf, eine „absolute Metapher“ im Sinne Blumenbergs.71 Sie bezeichnet eine ansonsten namenund begrifflose Qualität, ein je ne sais quoi des schönen Gegenstandes, der mit dem menschlichen Vorrecht der Selbstbestimmung ausgestattet wird: Ist der Gegenstand auf den die praktische Vernunft ihre Form anwendet, nicht durch einen Willen, nicht durch praktische Vernunft da, so macht sie es eben so mit ihm, wie die theoretische es mit Anschauungen machte, die Vernunftähnlichkeit zeigten. Sie leyht dem Gegenstand (regulatif und nicht, wie bey der moralischen Beurtheilung, constitutiv) ein Vermögen sich selbst zu bestimmen, einen Willen, und betrachtet ihn alsdann unter der Form dieses seines Willens (ja nicht ihres Willens, denn sonst würde das Urtheil ein moralisches werden) Sie sagt nehmlich von ihm aus, ob er das, was er ist, durch seinen reinen Willen d. i. durch seine sichselbstbestimmende Kraft, ist; denn ein reiner Wille und Form der praktischen Vernunft ist eins. 72

Diese Logik des „als ob“, der doppelten „Übertragung“ (Projektion und Metapher) bestimmt das Schönheitsurteil doppelt: es macht seinen operativen Kern aus und betrifft auch seine theoretische Formulierung. Schiller ist sich bewusst, dass seine Deduktion des Schönheitsurteils immer wieder von einer Logik der Bilder geregelt wird. Statt zum Problem selbst vorzustoßen, werden metaphorische Annäherungen unternommen. Am Ende muss Schiller daher die Spuren dieses Übertragungsvorgangs verwischen, das Uneigentliche und Unangemessene der Bestimmung des Schönen unkenntlich machen. Das Stigma des Metaphorischen wird gelöscht, indem „Freiheitähnlichkeit“ nun „kurzweg“ mit Freiheit gleichgesetzt wird.73 Dieses Durchstreichen des „als ob“-Vorbehalts betrifft nicht nur das Theoriedesign selbst, es muss vielmehr in jedem Schönheitsurteil wirken. Das Schö–––––––––––––– 69

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Zur Schiller’schen Symboltheorie zusammenfassend Alt: Begriffsbilder, S. 599-623; weiterhin Berghahn, Klaus L.: Zu Schillers Symbolbegriff. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 70 (1978), Nr. 4, S. 392-398; Sørensen, Bengt Algot: Die ‚zarte Differenz‘. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe. In: Haug, Walter (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979, S. 632-641. Blumenberg: Paradigmen, S. 12 verweist ausdrücklich auf § 59 der Kritik der Urteilskraft. Ebd. S. 10. NA 26, 181f. NA 26, 183.

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ne bedarf der kalkulierten Selbsttäuschung eines Betrachters, der für einen Moment vergisst, dass Dinge keine Person haben oder wie Personen handeln können. Ohne diese Übertragung der Ethik auf die Ästhetik wird die Ästhetik bodenlos. Mit ihr erweist sich das Schöne als eine menschliche Projektion, die den Gegenstand gerade dort der Heteronomie des fremden Blickes aussetzt, wo sie in ihm die Autonomie zu konstatieren scheint. Was das schöne Ding an sich sei, verschwindet hinter dem Bedürfnis zu wissen, was das Schöne für ihn sei. 2.2. Das Schöne ist das Erhabene Die Schönheitsformel der Kallias-Briefe impliziert folgenden ästhetischen Imperativ: Man betrachte unbewegte Dinge wie handelnde Personen und vergesse im Betrachten das Uneigentliche dieser Übertragungsoperation. Die Handlung bzw. das Handelnkönnen des Objekts ist der entscheidende Aspekt, von dem Schiller ausgeht. Damit setzt er bei einer zentralen philosophischen und zugleich poetologischen Kategorie an. Die Pointe der Kallias-Briefe liegt nicht nur im Import der Ethik, sondern auch im Import der Dramenpoetik in die Ästhetik. Die Kallias-Briefe lassen auch die Handschrift des Dramatikers erkennen, der – vor allem über Lessing – mit der Aristotelischen Tragödiendefinition („Nachahmung handelnder Menschen“; 1448a) bestens vertraut ist. Die Kallias-Briefe stehen damit noch vor der Ausdifferenzierung einer doppelten Ästhetik. Schon der Titel legt den Akzent auf die Kallistik. Das Erhabene wird dem Schönen untergeordnet, als seine Quelle und Möglichkeitsbedingung. Das freie Selbsthandeln eines Gegenstandes wird in Worten beschrieben, die eine dramatische Aktion suggerieren. Die unbelebte Natur ist ein „immer wechselnde(s) Drama“.74 Das Schöne erhebt sich über die Materie durch die Kraft der Form. Das Schöne ist das Erhabene. Schiller folgt damit nicht Kants Dichotomie zwischen dem Schönen und dem Erhabenen, sondern der Position Winckelmanns, der das Schöne aus dem Erhabenen (siehe „edle Größe“ und Laokoon-Deutung)75 hervorgehen lässt. Erst in dem im Mai 1793 begonnenen Essay Vom Erhabenen wird Schiller das Modell des Erhabenen für sich entdecken. Das Erhabene wird dort folgendermaßen definiert: –––––––––––––– 74

75

NA 22, 275. Vgl. schon Ernst Cassirers Bemerkung: „In der Aufstellung des fundamentalen Gegensatzes von Stoff und Form […] verfährt Kant als transzendentaler Analytiker, verfährt Fichte als absoluter Ethiker, verfährt Schiller als Dramatiker.“ Cassirer: Idee und Gestalt, S. 102. Mit dieser Konstellation – das Schöne ist das Erhabene – folgt Schiller dem stoisierenden Klassizismus Winckelmanns, auf den unten noch einzugehen sein wird.

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹

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Erhaben nennen wir ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben.76

Die Analogie zwischen der Bestimmung des Erhabenen und der Schönheitsdefinition der Kallias-Briefe liegt auf der Hand. Der schöne Gegenstand wird bei Schiller zu einer (frei) handelnden Person. Er erscheint wie ein Dramenheld, der seine Vernunft- und Willensautonomie gegen die Anfechtungen seiner Physis behauptet. Schönheit ist ein Akt des Heroismus, der Sieg des Geistes über den Körper, der Form über die Materie. Mit großem Nachdruck spricht Schiller immer wieder von Ringen und Widerstand, von Freiheit und Entfesselung der ‚Person‘ eines Gegenstandes: „Frey und siegend“, heißt es am Ende der Briefe, „muß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen“.77 Die Erscheinung des Schönen bedeutet Befreiung aus den „Feßeln der Sprache“78. Was in den Kallias-Briefen zur Bestimmung des Schönen wird, seine Autonomie, sein „nicht von aussen Bestimmtseyn“79, das war in den unmittelbar vorausgehenden Schriften wie Ueber das Vergnügen an tragischen Gegenständen und Ueber die tragische Kunst (beide aus dem Jahr 1792) noch Ziel und Gegenstand der Tragödie. Kunst bringe die Autonomie des Vernunftwesens Mensch, „unser intelligibles Selbst“80 zur Erscheinung, sie ist „indirekte Darstellung des Uebersinnlichen“.81 „Je furchtbarer die Gegner“, heißt es im Aufsatz Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), „desto glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen“.82 2.3. Phänomen und Epiphanie Nicht weniger ambivalent als der Begriff der Freiheit ist jener der Erscheinung. Im Fortgang seiner Bestimmung des Schönen muss Schiller aufgegangen sein, dass der ästhetisch bedeutsame Terminus weniger ‚Freiheit‘ als ‚Erscheinung‘ war. Mit ihm war das Problem des ästhe–––––––––––––– 76 77 78 79 80 81 82

NA 20, 171. NA 26, 229. Ebd. NA 26, 193. NA 20, 184 (Vom Erhabenen). NA 20, 202 (Ueber das Pathetische). NA 20, 139 (Ueber den Grund des Vergnügens).

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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tischen Scheins berührt.83 Der Erscheinungsbegriff der Kallias-Briefe ist ambivalent. Seine semantische Mehrbödigkeit befördert die innere Bewegung der Argumentation. Schiller arbeitet nicht mit Begriffen, sondern lässt den einen Begriff sukzessive in verschiedenen Bedeutungsfacetten erscheinen. Drei Schichten heben sich ab. Erscheinung bedeutet 1. sichtbar werden (mit der Idee des Glanzes oder Lichtes im Hintergrund; Auftreten eines Gottes als Lichtgestalt), 2. Auftritt (einer Person). 3. Phänomen.84 In dieser letzten Variante zeigt sich am deutlichsten die Wirkung Kants, der zu Beginn der transzendentalen Ästhetik seiner Kritik der Urteilskraft definiert hatte: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung“.85 Erscheinung ist die Art und Weise, wie uns die Dinge unter den Bedingungen der Sinnlichkeit gegeben sind. In den Kallias-Briefen bildet diese Bedeutung der transzendentalen Ästhetik gleichsam die tragende Schicht, und so scheint es plausibel, dass Schiller „hierin der direkte Erbe Kants ist“.86 Doch dies trifft nur bedingt zu. Tatsächlich verweisen die Begriffe Schein bzw. Erscheinung in den Kallias-Briefen nicht nur auf die Ästhetik Kants, sondern vor allem auf die des 18. Jahrhunderts. 1793 haben sie bei Schiller bereits eine dichte Reflexionsgeschichte durchlaufen (erinnert sei an den prekären Status des theatralen und ästhetischen Scheins im Geisterseher). Erscheinung schwankt in den KalliasBriefen ständig zwischen den Bedeutungspolen Phänomen, Phantasma und Epiphanie. Die Komponente des ästhetischen Ereignisses als „Lichtgestalt“ und „Apparenz“87 wirkt sich semantisch auch dort aus, wo ‚nur’ der Kantische Sachverhalt des ästhetischen Scheins als Apriori der Anschauung gemeint ist. Damit tritt ein Moment des Visionären hervor, das in die ethische Ableitung des Schönen eine zweite, metaphysisch-religiöse und platonische mischt, Vorahnung der Hegelschen Definition des Schönen als „sinnliche(s) Scheinen der Idee“.88 –––––––––––––– 83 84 85 86 87 88

NA 26, 201f. spricht er daher vom „Schein der Freiheit“; ebd. S. 212: „Schein von Freiwilligkeit“; letztere Formulierung bestimmt (NA 20, 297) auch die Anmut. Wernly: Prolegomena, S. 113-115. Vgl. Herring, Herbert: Erscheinung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 724-726. Kant: Werke, Bd. 3, S. 69. Wernly: Prolegomena, S. 118. Ebd. S. 113 bzw. S. 114. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, S. 151: „Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee.“

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹

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Nicht ohne Grund wird Schiller im letzten Kallias-Brief, den die Beilage begleitet, auf die „Fruchtbarkeit der platonischen Ideen“89 hinweisen. Die Kallias-Briefe fassen das Schöne als unvermittelten Einbruch eines Übersinnlichen ins Sinnliche. Dieser Einbruch wird in Bildern beschrieben, die an Epiphanien des Göttlichen erinnern; immer wieder wird von Offenbarung gesprochen.90 Ein andermal heißt es, dass der Gegenstand „aus dem Darstellenden hervorscheint“91 und sich so der Anschauung „offenbart“.92 Solche Stellen belegen eine Ästhetik der „Plötzlichkeit“93, in der die „Kunstwerke als Epiphanien und apparition bestimmt“ sind.94 Der schöne Gegenstand enthüllt sich in seiner Präsenz und seinem ‚an sich Sein‘ in einem Moment unmittelbarer Intuition.95 In das Kantische System kehrt so eine – im alten Sinne – transzendentale Note zurück. Das Erscheinen des Schönen wird wieder Erscheinung, d.h. „sinnliche(s) Wunder“96, wie es Mortimer in Maria Stuart bei seinem Besuch der römischen Kirchen erlebt, ein Moment religiöser und ästhetischer Erhebung. Das Schöne ist hier

–––––––––––––– 89

90 91 92 93 94 95

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Vgl. Pugh: Dialectic of Love, S. 150: „The formula ‚Freiheit in der Erscheinung‘, the Kantian meaning of which would be ‚freedom in the phenomenon‘, is made to carry the additional meaning of ‚the illusory appearance of freedom‘.“ Pugh sieht (S. 76) in der Formel ‚Freiheit in der Erscheinung‘ zu Recht ein „derivative of the Platonic tradition.“ Im Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung wird das Schöne als „eine beständige Göttererscheinung“ bezeichnet. NA 20, 415. NA 26, 229. NA 26, 192. Bohrer: Plötzlichkeit und ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/Main 1994. Bürger: Kritik der idealistischen Ästhetik, S. 61; ders.: Zum Problem des ästhetischen Scheins in der idealistischen Ästhetik. In: Oelmüller, Willi (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie 2: Ästhetischer Schein. Paderborn u.a. 1982, S. 34-50, hier S. 38. Um sich klar zu machen, welche Bilder Schiller dabei vor Augen stehen, sei an die lichtmagische Séance bzw. die ‚Erscheinung‘ der schönen Griechin im Geisterseher oder an die poetischen Evokationen und Visionen der griechischen Götter in den Göttern Griechenlandes erinnert. Auf den zwielichtigen Charakter dieses Scheins ist im Zusammenhang mit dem Geisterseher hingewiesen worden. Erscheinung liegt nahe bei Täuschung und Betrug, die allzu leicht in Desillusionierung münden. In Resignation zerstiebt so die elegische Erinnerung an Arkadien („Auch ich war in Arkadien geboren“): „Der stille Gott taucht meine Fakel nieder, / und die Erscheinung flieht.“ NA 1, 166, v. 9f. Kommerell: Der Dichter als Führer, S. 232, der jedoch die sinnlichen und kunstreligiösen Emphasen der theoretischen Schriften unterschätzt: „Schiller war nahe daran in der Schönheit das fleischgewordene Nichts zu verehren“; erst als er aus den „Zwängen des Denkens“ heraustritt, kann er das Schöne als „ein sinnliches Wunder“ beschreiben.

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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„Evidenzverheißung“97; sein Erscheinen ähnelt den „Elisiumssekunden“, „seeligen Augenblike(n)“ und „Verzückungen“ der Laura-Dichtungen. Auch hier werden die idealistischen Energien des Frühwerks nach dem Durchgang durch die Resignation auf das Feld der Ästhetik umgeleitet, wo sie als metaphorischer Abhub weiter mit- und abgeführt werden.98 Noch die großen Abhandlungen sind durchzogen von Wendungen, die „das Gefühl des Überfallen-Werdens im Angesicht jedes bedeutenden Werks“99 bezeugen. So hebt die Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung mit der Beschwörung eines fruchtbaren Moments an, in dem sich durch „ästhetische Unterscheidung“100 der Umschlag von Indifferenz in ästhetische Bedeutung vollzieht: „Es giebt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landschaften […] eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen.“101 Wie das Schöne so ist auch das Naive ein ‚Ereignis‘, bei dem der Betrachter etwa durch „den Anblick der einfältigen Natur überrascht wird“102 Der Anblick der Schönheit verschafft Erlebnisse mystischer Ergriffenheit und Einheit. Kant wiederum verdankt Schiller das, was man den doppelten Blick auf die Dinge nennen könnte. Das Schönheitsurteil erschließt eine eigene Dimension der Wirklichkeit. Gegenstände erscheinen entweder im Licht eines Zwecks und Interesses oder unter der Perspektive des „Wohlgefallens ohne alles Interesse“.103 Die ästhetische Weltzuwendung ist weder durch „Begierde nach dergleichen Gegenständen“104 motiviert noch zielt sie auf ein sittliches Gut, das der Vernunft –––––––––––––– 97

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100 101 102 103 104

Pfotenhauer, Helmut: Evidenzverheißungen. Klassizismus und ‚Weimarer Klassik‘ im europäischen Vergleich. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 59), S. 137-155. Diese kompensatorische Tendenz spricht aus Schillers gleichzeitigem Plan, „eine Theodicee zu machen“ (NA 26, 220), angeregt und provoziert durch die Lektüre von Kants Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, in der dem Menschen ein „natürlicher Hang zum Bösen“ unterstellt wird, welches Kant hier das ‚radikale‘ nennt. Kant: Werke, Bd. 7, S. 685. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 111992 (zuerst 1970), hier S. 123. Vgl. die beiden Kapitel „Das Kunstschöne: ‚apparition‘, Vergeistigung, Anschauung“ (S. 122-154) und „Schein und Ausdruck“ (S. 154-179). Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990 (zuerst 1960), S. 91. NA 20, 413. Ebd. Schillers Philosophie des Schönen ist damit auch eine Ästhetik des Staunens und der Überraschung. Matuschek, Stefan: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991 (= Studien zur deutschen Literatur 116). Kant: Werke, Bd. 8, S. 280f (§ 2 Überschrift). Ebd. S. 283.

2. ›Freiheit in der Erscheinung‹

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„durch den bloßen Begriff“ gefällt105. Sie folgt auch keinem Erkenntnisinteresse oder anderen pragmatischen Zwecken. Diese Unterscheidung des Weltverhältnisses in eine Sphäre der Zwecke und eine des „Ueberflusses“106 zählt zu den prägenden Überzeugungen, die Schiller aus Kant zieht. Das Geschmacksurteil muss „völlig rein“ sein, es muss von „Werth“ und „Stoff“ des Objektes selbst „ganz und gar [...] abstrahirt werden“. Dabei ist das Schöne universell, es kann an jedem beliebigen Gegenstand erscheinen, „mag es seyn, was es will!“107 Durch seine Universalität und Ubiquität verlagert sich das Schöne aus der Abgeschlossenheit der Museen in den Verkehr des Alltags. Das Schöne wird ein Faktor der Lebenswelt. In der Konsequenz einer solchen Pragmatik des Schönen geht Schiller jedoch deutlich über Kant hinaus: Das Schöne zeigt sich in den Kallias-Briefen gerade an den täglichen Verrichtungen und unscheinbaren Kulissen der Lebenswelt, deren ästhetische Formen den Menschen begleiten und einfangen. Neben Gartenarchitektur spricht Schiller Gefäße, Kleidung108, Vasen und andere Alltagsgegenstände an, die ihren bloßen Zweck transzendieren und der „Verschönerung“ des gemeinen „Daseyns“ dienen.109 Der Geschmack erschließt eine eigene Weltdimension, er „betrachtet alle Dinge als Selbstzwecke“.110 Fließend geht an solchen Stellen der Kunsttheoretiker in den Kultur- und Modekritiker über, der im 23. Ästhetischen Brief fordern wird, „den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen“. Kants Theorie der „pulchritudo adhaerens“ (KdU § 16) liefert so den Ausgangspunkt für eine Reflexion über eine klassizistische Lebenswelt, eine Tendenz, die bei Kant in der nur scheinbar merkwürdigen Empfehlung von Arabesken und Ornamenten auf Teppichen und Tapeten bereits angelegt war.111 –––––––––––––– 105 Ebd. 106 NA 20, 405 (27. Brief). 107 NA 26, 192. Der Begriff selbst fällt in den Ästhetischen Vorlesungen (NA 21, 75), hier noch abwertend gegenüber den „freie[n] Schönheiten […]: „Die adhärierende Schönheit aber steht unter dem Zwange eines Begriffs, der nur gewisse Arten der Schönheit ausschließend gestattet, und einen Zweck im Gegenstande voraussetzt. Ein unvermischtes, reines Schönheitsurtheil wird nur über freie Schönheit gefällt.“ 108 Z.B. der Rock, der weder „ganze enge“ noch „ganz weite“ anliegen darf. NA 26, 212. 109 NA 20, 405. 110 NA 26, 212. 111 Vgl. den Beitrag von Helmut Pfotenhauer: Anthropologische Ästhetik und Kritik der ästhetischen Urteilskraft oder Herder, Schiller, die antike Plastik und Seitenblicke auf Kant. In: Ders.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 59), S. 201-220, hier S. 203ff.

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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Den Hintergrund solcher Überlegungen bildet die neue klassizistische Mode, Wohn- und Lebenskultur, deren Verbreitung durch die neuen industriellen Manufaktur- und Reproduktionserzeugnisse112 befördert wurde. Ihr ästhetisches Komplement findet sie im Ornamentdiskurs.113 Das Schöne erscheint in der Kleidung ebenso wie im „gute(n) Ton“114, in dem Schiller geradezu den Mittelpunkt seiner Kallistik sieht. Aspekte der Alltags- und Konversationskultur wie der Tanz werden zu Topoi der Präsenz des Schönen. Im letzten der Ästhetischen Briefe wird diese Schönheit der alltäglichen Lebenswelt zur Schwelle der Kulturentstehung und Anthropogenese. Längst hat sich hier die Kunsttheorie aufgelöst in eine spekulative Kulturtheorie, eine große Erzählung von der Menschwerdung aus der „ästhetische(n) Zugabe“, die den „Formtrieb“ über das bloße „Bedürfniß“ hinaus befriedige.115 Was den Wilden zur Kultur bringt, ist „die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele“.116 Das Schöne ist eine vergesellschaftende und buchstäblich humanisierende Kraft. Auch hier ging Schiller völlig konform mit Kant und mit der humanistischen Tradition seit Cicero, auf die anlässlich der Künstler hingewiesen wurde. 3. Die Beilage über Das Schöne der Kunst

3. Die ›Beilage‹ über ›Das Schöne der Kunst‹ 3.1. Kallias-Briefe und Brief eines reisenden Dänen

Fasst man solche semantischen Bewegungen ins Auge, erklärt sich der scheinbar unvermittelte Neueinsatz jener Beilage über Das Schöne der Kunst, die Schiller dem letzten Kallias-Brief vom 28. Februar als selbstständigen Traktat hinzufügt.117 Bereits im dritten Kallias-Brief –––––––––––––– 112 Man denke an Josaiah Wedgwood, der die englische Tonwarenindustrie in den sechziger Jahren in seinem Industriestädtchen Etruria begründet und zur ornamentalen Gestaltung diverser Vasen, Krüge, Broschen, Salzfässer, Teekannen, Terrinen usw. den Bildhauer und Zeichner John Flaxmann hinzugezogen hatte, aber auch an den Wandel der enger anliegenden Damenmode, die nun – wie von Schiller gefordert – im Stile der klassischen Statue den Körper durchscheinen lässt. Schulz, Gerhard / Doering, Sabine: Klassik. Geschichte und Begriff. München 2003, S. 50f.; Reilly, Robin: Josiah Wedgwood (1730–1795). London 1992; Quilitzsch, Uwe: Wedgewood (1795 – 1995). Englische Keramik in Wörlitz. Leipzig 1995 (= Bestandskataloge der Staatlichen Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum, Luisium 1). 113 Exemplarisch Oesterle: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. 114 NA 26, 216. 115 NA 20, 405. 116 NA 20, 399 (26. Brief). 117 NA 26, 222-229.

3. Die ›Beilage‹ über ›Das Schöne der Kunst‹

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vom 23. Februar war Schiller auf den schwierigen Status des Kunstgegenüber dem Naturschönen zu sprechen gekommen: „Wenn die Form mit der Existenz des Dinges zusammen eins machen muß, um Schönheit hervorzubringen“, so hatte er einen Einwand seines Briefpartners Körner fingiert, „wo bleiben die Schönheiten der Kunst, welche diese Heautonomie niemals haben können?“ Schiller verspricht, er wolle „darauf antworten, wenn wir erst zu dem Schönen der Kunst gekommen sind, denn dieses erfodert ein ganz eignes Capitel“.118 Die Beilage zum letzten Kallias-Brief vom 28. Februar 1793 trägt dieses Kapitel nach und stellt sich der im Zitatkontext erhobenen Forderung, dass „auch die Formen der Kunst mit der Existenz des geformten Eins ausmachen müssen“, eine Forderung, die indes nie vollständig realisiert werden kann, sofern, wie Schiller unter Hinweis auf die Plastik betont, „die menschliche Form an einem Marmor immer zufällig bleibt“.119 In der Beilage wird nun das Erscheinen der Freiheit zur Frage des ästhetischen Scheins und seiner Erzeugung präzisiert. Schiller geht aus von einer Theorie der Darstellung, die er zu einer buchstäblichen Medienästhetik ausbaut. Hier geht Schiller gegenüber Kant eigene Wege, indem er Struktur und Materialität des ästhetischen Mediums bzw. die Medialität des Ästhetischen als solche reflektiert. Dabei gilt jedoch: Medientheorie um 1800 kann das Medium noch nicht als „Träger von Informationen“ in den Blick nehmen, „der diese nicht mehr oder weniger neutral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt“.120 Man kann die Beilage somit als den Versuch begreifen, im Rückgriff auf Muster und Kategorien der Ästhetik des 18. Jahrhunderts einen Ausweg aus dem Dilemma der gescheiterten oder doch prekären Kantischen Vorgaben zu suchen. Kants Unterscheidung des Naturund Kunstschönen121 dient zwar als Ausgangspunkt der Reflexion: „‚Das Schöne der Natur‘, sagt Kant sehr richtig, ‚ist ein schönes Ding; das Schöne der Kunst ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge‘.“122 Schiller geht darüber hinaus, indem er Kants Bestimmung des Ideals (KdU § 17) unmittelbar mit Winckelmann und dem Ideal des Klassizismus zu verbinden sucht: „Das Idealschöne, könnte man hinzusetzen, ist eine schöne Vorstellung von einem schönen Ding“.123 –––––––––––––– 118 NA 26, 207. 119 Ebd. 120 Schulte-Sasse, Jochen: Medien / medial. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart/Weimar 2002, S. 1-38, hier S. 1. 121 Kant: Werke, Bd. 8, S. 410 (KdU § 48): „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.“ 122 NA 26, 222. 123 Ebd.

VII. Kallias oder die Sprache des Schönen

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Das Kunstschöne oder „Schöne der Form“ liegt anders als das Naturschöne oder „Schöne der Wahl“ nicht im Gegenstand selbst begründet, sondern in der Art, „wie er darstellt“.124 Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, „was den Künstler und Dichter macht“.125 Ging es Kant allein um die Struktur des Geschmacksurteils, so beschäftigt den Dichter Schiller die Möglichkeit, aus der Bestimmung des Schönen Regeln für dessen Produktion abzuleiten. Kants Überlegungen werden zu einer Poetik des Idealschönen ausgebaut, die freilich mit der Schwierigkeit zu kämpfen hat, keine Regeln entwerfen zu dürfen: „Das schöne Produkt darf und muß sogar regelmäßig seyn, aber es muß regelfrey erscheinen“.126 Damit sind verschiedene Vorentscheidungen getroffen: Zunächst die dialektische Spannung von Natur und Kunst, die in der BürgerRezension als Spannung von individueller und generalisierter Empfindung, von unreiner Individualität und wahren ‚Naturtönen‘ konstitutiv gewesen war. Dabei scheint die eingangs der Beilage getroffene Unterscheidung zwischen dem Kunst- und Naturschönen nunmehr relativiert. Denn schön ist das Naturprodukt jetzt erst, wenn es in ein Kunstprodukt verwandelt wird. Das hat wiederum Folgen für den ursprünglichen Plan, einen „Begriff der Schönheit objectiv aufzustellen“.127 Denn es geht hier nicht um das Naturschöne als Eigenschaft eines Objektes, sondern um seine poetische Evidenz, die Wirkung auf das Subjekt. Die Suche nach dem objektiven Schönen bzw. dem schönen Objekt bricht sich an den Grenzen des Technischen, der poetischen Mittel. Gegenpol zur Darstellung ist die Beschreibung: „Ein Gegenstand heißt also dargestellt, wenn die Vorstellung desselben unmittelbar vor die Einbildungskraft gebracht wird“.128 Davon ausgehend formuliert Schiller eine Aporie, die im Folgenden in den Mittelpunkt rücken wird: die Frage nach der geglückten Repräsentation: „Aber wie kann er [der darzustellende Gegenstand; J.R.] ihr als durch sich selbst bestimmt vorgehalten werden, da er selbst nicht einmal da ist, sondern in einem andern bloß nachgeahmt wird; da er nicht in –––––––––––––– 124 125 126 127 128

Ebd. NA 22, 266 (Matthisson-Rezension). NA 26, 193. NA 26, 175. NA 26, 223. Vgl. die Definition im Brief vom 8.2.1793 (NA 26, 182): „Weil aber diese Freiheit dem Objekt von der Vernunft bloß geliehen wird, da nichts frey sein kann als das übersinnliche und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann – kurz – da es hier bloß darauf ankommt, daß ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der praktischen Vernunft nicht Freiheit in der Tat, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung. Avtonomie in der Erscheinung.“

3. Die ›Beilage‹ über ›Das Schöne der Kunst‹

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Person, sondern durch einen Repräsentanten sich vorstellt?“129 Damit ist das Problem des Schönen als eines der Mitteilung und der Medien erkannt. Das „Kunstschöne nehmlich ist nicht die Natur selbst, sondern nur eine Nachahmung derselben in einem Medium, das von dem Nachgeahmten ganz verschieden ist“.130 Angelegt ist die schwierige Unterscheidung zwischen dem Schönen der Kunst und dem Schönen der kunst-losen Gegenstände (sei es der Natur oder des alltäglichen Hantierens) schon bei Kant. Die Kritik der Urteilskraft war schon im Ansatz ein ambivalentes, zwitterhaftes Unternehmen. Kant sucht mit ihr eine allgemeine Theorie des Schönen mit einer Theorie des Kunstschönen zu versöhnen, die ihre Verpflichtung auf den klassizistischen Geschmackskonsens nie verhehlen kann. Die Kritik der Urteilskraft zeigt hier ihre nur schlecht überbrückte Dichotomie. Sie ist zugleich philosophische Ästhetik und Beitrag zur Klassizismusdebatte. Der von Schiller gegen Kant gehegte Relativismusverdacht ist kaum von der Hand zu weisen. Dies gilt sowohl für die Subjektivität des Geschmacksurteils als auch für die historische Bedingtheit seiner Auffassungen über Kunstphänomene. Kapitel 17 der KdU (Vom Ideale der Schönheit) zeigt Kants diesbezügliche Nöte, indem es zwischen der Absage an alle „objektive Regel“ und der stillschweigenden Anerkennung „exemplarisch(er)“, also antiker „Produkte des Geschmacks“131 laviert. Die Lage der Ästhetik ist also verworren: Die Theorie des Schönen ist dem herrschenden Geschmack, aus dem sie entwickelt ist, voraus, ohne ihm entkommen zu können. Auch Schiller scheut davor zurück, den logischen Schritt zu einer Entkoppelung des Schönen von der schönen Kunst (der Antike) zu gehen. Er sucht im Gegenteil, die Kantischen Grundsätze mit dem status quo der klassizistischen Kunstdebatten, in denen er durch die Hohe Karlsschule sozialisiert wird, zu versöhnen, und dies sachlich wie begrifflich. Ihrem theoretischen Impuls nach entfernt sich seine Kallistik zwar vom Klassizismus, im Substrat ihrer Bilder und Beispiele bleibt sie diesem jedoch weiter verpflichtet. Dies zeigt sich schon eingangs der Beilage. Gegen die Prämisse, wonach „Schönheit an keiner Materie hafftet, sondern bloß in der Behandlung besteht“132, sucht Schiller den Künstler doch auf das Schöne des Gegenstandes und das der Form gleichermaßen zu verpflichten. Man sieht hier gut Schillers Synthesestreben: Schiller versöhnt energisch den Klassizismus mit der Kantischen Geschmackstheorie. Was bei Kant als sys–––––––––––––– 129 130 131 132

NA 26, 223. Ebd. Kant: Werke, Bd. 8, S. 313. NA 26, 216.

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temimmanenter Widerspruch besteht, wird von Schiller ausdrücklich vermittelt: „Das Idealschöne, könnte man hinzusetzen, ist eine schöne Vorstellung von einem schönen Ding“133, gleichsam Schönheit zweiten Grades. Hier kommt Schiller nicht aus seiner klassizistischen Haut heraus. Um nun das Kunstschöne mit seiner Formel von der „Freiheit in der Erscheinung“ in Einklang zu bringen, wendet Schiller einen semantischen Verschiebetrick an. Der ethische Begriff der Freiheit wird in einen logisch-privativen (‚Freiheit von‘) verschoben. Das Kunstschöne bestimmt sich in seiner Autonomie dadurch, dass es von Spuren der „Technik“ und „Regel“ frei scheint (obwohl es diese – bei genauerem Zusehen – natürlich aufweist). Kunst muss, um den Gegenstand sichtbar zu machen, sich selbst zum Verschwinden bringen. Anders als bei nicht artistischen Objekten muss die Freiheit des Gegenstandes gleich doppelt gewahrt werden. Zunächst, indem der Gegenstand selbst schön ist, dann, indem diese Schönheit in der künstlerischen, vor allem der sprachlichen Fassung unangetastet bleibt. Der schöne Baum oder die schöne Landschaft müssen „rein“134, d.h. ohne entstellende technische Bedingtheiten und „Härte(n)“135 in der „Zeichnung“136 repräsentiert werden. Solche Härten ergeben sich für Schiller aus der Tatsache, dass der Gegenstand „durch einen ihm ganz unähnlichen Stoff geführt“137 wird. Sowohl die Natur des Stoffes als auch –––––––––––––– 133 134 135 136 137

NA 26, 222. NA 26, 210. NA 26, 217. NA 26, 225. NA 26, 224. Hier sei eine weiterführende Überlegung erlaubt: Schiller argumentiert mit Konzepten wie ‚Schwere‘ und ‚Leichtigkeit‘ in einem Überschneidungsbereich unterschiedlicher Diskurse. Bedeutsam ist die Konvergenz von Ästhetik und Mechanik (Physik), der Bezug auf das schon in den Göttern Griechenlandes perhorreszierte „Gesetz der Schwere“ – also die Schwerkraft und damit die (Newton’sche) Physik. Die Kallias-Briefe und Ueber Anmut und Würde entwerfen gleichsam ex negativo eine „Ästhetik der Schwere“, wie sie Georg Simmel – ganz auf den Spuren Schillers – in einem gleichnamigen Kurzessay anregt. Simmel wertet gegenüber Schiller die Massivität des Stoffes auf und betont dabei die oben erwähnten ‚manichäischen‘ Züge von Schillers Stoff-Form-Dialektik. Dies zeigt sich etwa dort, wo er daran erinnert, dass „wir ohne ihre [sc. der Natur; J.R.] Härte und ihren Widerstand gar kein Material am Marmor haben würden, an dem unser inneres Leben sich zu vollziehen, sich auszuprägen vermöchte.“ Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. 1. Hg. von Rüdiger Kramme / Angela Rammstedt / Otthein Rammstedt. Frankfurt/ Main 1995, S. 43-48, hier S. 43. Im Widerstreit zwischen der Schwere des Stoffes und dessen Überwindung enthülle sich die „ästhetische Form des großen Kampfes zwischen der menschlichen Seele und den Mächten der bloßen Natur“ (ebd. S. 48). Simmels Ästhetik der Schwere leitet – wie Schiller in den Kallias-Briefen – das Schöne aus dem Erhabenen ab. Vorgeprägt findet sich dies bei Schiller, der weniger die theologischen („großer Kampf“) als die mechanistischen Aspekte (Überwindung der Schwerkraft) betont. Schönheit zeigt sich da, „wo die Maße von der Form, und (im Thier-

3. Die ›Beilage‹ über ›Das Schöne der Kunst‹

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die des Künstlers interferieren mit der „Natur des Gegenstandes“138, statt hinter und in dieser zu verschwinden. Sie mischen ihr, wie Schiller sagt, ästhetische „Heteronomie“ bei, tun seiner individuellen „Persönlichkeit“ dadurch „Gewalt“ an, dass sie diese mit fremder Form überziehen. Das Schöne der Kunst erscheint nur dort, wo „bloß die Natur des Nachgeahmten“ (nicht etwa die Spuren des Materials oder des Arbeitsvorganges selbst) sichtbar wird.139 Der „Stoff (die Natur des Nachahmenden)“ muss in der Form (des Nachgeahmten)“ untergehen140, sich, um im Bild zu bleiben, dem höheren Zweck der Formgebung aufopfern. Schillers Beispiel ist ein Kunst-Gegenstand, die Statue. Die Philosophie des Schönen mündet in eine „Philosophie des Marmors“141, die ––––––––––––––

138 139 140 141

und Pflanzenreich) von den lebendigen Kräften […] völlig beherrscht wird.“ NA 26, 205. Greift der junge Schiller die Gleichsetzung von Gravitation und Liebe auf (Riedel: Anthropologie, S. 182-198), so entfalten die Kallias-Briefe eine Kallistik als Gegenphysik, eine Philosophie der Gravitation bzw. der Levitation: „Sobald die Schwerkraft an einem Dinge für sich selbst und unabhängig von einer speciellen Beschaffenheit bloß als allgemeine Naturkraft wirkt, so wird sie als fremde Gewalt angesehen und ihre Wirkungen verhalten sich als Heteronomie gegen die Natur des Dinges“ (NA 26, 203). Die physikalische Erscheinung wird hier mit einem allegorischspirituellen Sinn versehen. Schiller macht die Schwerkraft zum Emblem der endlichen, körperlichen Existenz. Mit einer Formulierung Hegels aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse: „Die Gravitation ist der wahrhafte und bestimmte Begriff der materiellen Körperlichkeit, der zur Idee realisiert ist.“ Hegel: Werke, Bd. 9, S. 82. Die Brücke zu Symbol und Emblem zeigt sich bei Schiller in folgendem Beispiel: „Ein Vogel im Flug ist die glücklichste Darstellung des durch die Form bezwungenen Stoffs, der durch die Kraft überwundenen Schwere.“ NA 26, 205. Der Gravitation wirkt die Levitation entgegen, nicht umsonst ist „Leichtigkeit“ eines der hervorstechendsten Merkmale des Schönen, nicht umsonst schreibt Schiller im Brief eines reisenden Dänen über den Abguss des vatikanischen Apolls: „Die Statue schwebt“ (NA 20, 104). In derselben Tradition – das Schöne als „Wunder“ der Überwindung der Schwerkraft, ja als klassizistische Himmelfahrt – stellt sich dann die Apotheose des Herakles in Das Ideal und das Leben dar („fließt er aufwärts“). Kallistik und Kinetik berühren sich, weniger Kant als Newton scheint der geheime Bezugspunkt. Zu diesem Komplex anregend McCarthy: Kopernikus und die bewegliche Schönheit, S. 31: „In den Kallias-Briefen findet man direkte Entlehnungen aus der Bewegungslehre der Zeit.“ McCarthy sieht Schiller hier wiederum in der Nachfolge Kants, freilich nun des vorkritischen Naturphilosophen und Autors von Schriften wie Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747), Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) oder Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1755): „Ohne die vorhergehende Erörterung von Kants Gravitationsund Bewegungslehre wären Schillers Entlehnungen aus der Bildersprache der Naturwissenschaften weniger augenfällig und rhetorisch wirksam“ (ebd. S. 31). NA 26, 223. NA 26, 224. NA 26, 225. Pfotenhauer, Helmut: Rückwärtsgewandte Moderne. Der Klassizismus in den ästhetischen Schriften Schillers. In: Robert, Jörg (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 73-91, hier S. 81.

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– pointiert gesagt – Kant durch Winckelmann zu überbieten und zu korrigieren sucht: „Ist an einer Bildsäule ein einziger Zug, der den Stein verräth, der also nicht in der Idee, sondern in der Natur des Stoffes gegründet ist, so leidet die Schönheit, denn Heteronomie ist da“.142 Die Illusion werde zerstört, sobald die „Marmornatur, welche hart und spröd ist“ über die „Natur des Fleisches, welches biegsam und weich ist“143, siegt. Mit den Bestimmungen Schwere und Härte greift Schiller zwei in den vorausgehenden Briefen bereits genannte Heteronomie-Faktoren auf, die Schönheit negativ definieren.144 Beide verweisen auf die bildende Kunst, insbesondere die Plastik; sogar der konkrete Ausgangstext, an den hier angeschlossen wird, lässt sich noch benennen: Es ist der Brief eines reisenden Dänen (1785). Schon dort fällt, auf den Farnesischen Herkules bezogen, die anerkennende Frage, wer „den starren, widerstrebenden Stein in so weiche, so geschmeidige Fleischmassen hingegossen“145 habe. Der Gegensatz von Stoff und Form erscheint als ein „manichäischer“146 Kampf antagonistischer Prinzipien. Kunst ist Krieg gegen eine übermächtige Natur, der die Form abgerungen wird. Auch das Schaffen selbst, der Akt der Poiesis, folgt dem Modell des Erhabenen. Schiller spricht vom „Triumph einer Menschenhand über die hartnäckige Gegenwehr der Natur“.147 Nicht der Ausgleich zwischen Natur und Technik, sondern die Kunst als Organon von Zivilisation steht hier im Mittelpunkt. Im Schönen macht sich der Mensch, wie es in den Künstlern (v. 10) hieß, zum „Herr der Natur, die (s)eine Fesseln liebet“.148 Schiller geht in der Beilage von den Kriterien der klassizistischen Kunstauffassung aus, um diese in einem zweiten Schritt zu einer allgemeinen Theorie der Kunst auszubauen. Schon der Brief eines reisenden Dänen ließ eine Sensibilität für das Verstellende des Stoffes, für technische Heteronomien erkennen, etwa wenn der „fehlerhafte Abguß“149 einer Antinous-Statue gerügt wird. Schon hier durchdringt der Blick die Materialität des Marmors oder bricht sich an Details und Härten der Ausführung. Die „Wahrheit“ der Darstellung, etwa des Farnesischen Herkules, halte sogar der „strengste(n) Prüfung des –––––––––––––– 142 143 144 145 146

NA 26, 225. Ebd. NA 26, 203: „Schwerkraft“ als „fremde Gewalt“ an einem Objekt. NA 20, 102. Ernst H. Gombrich spricht für das Gedicht Das Ideal und das Leben (1795), das unmittelbar in unseren Zusammenhang zu ziehen wäre, von einem „fast manichäische(n) Dualismus.“ Gombrich: Das Symbol des Schleiers, S. 105. 147 NA 20, 101. 148 NA 1, 201. 149 NA 20, 104.

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Anatomikers“150 (also Schillers eigenem medizinischen Blick) stand. Das Exemplarische der griechischen Kunst liegt darin, daß sie alles Technische an der Kunst durch „Verläugnung“ ihrer selbst verschwinden lässt: „Der Marmor scheint ein Mensch“, auch wenn er „in der Wirklichkeit, Marmor“151 bleibt. Das schließt direkt an die Mannheimer Visionen an, wendet sie jedoch ins Grundsätzliche. Durch die Solidität des Marmors hindurch hatte Schiller dort den antiken Menschen gesehen, ihn durch Imagination reanimiert: „Meine Phantasie leiht dem Kolossen Bewegung“152 oder, wie es im Anschluss an Lessings Laokoon heißt, „meine Einbildung vollendet das Gemählde“.153 Was im Vergleich mit dem Brief von 1785 auffällt, ist die Emphase des ‚seligen‘ Kunstaugenblicks, die Beschwörung der ästhetischen Präsenz. Schon der Gang durch den Mannheimer „Tempel der Kunst“ ist eine Abfolge von Epiphanien, in denen der ästhetische Schein zur „himmlische(n)“154 Erscheinung wird: „Eine unsichtbare Hand scheint die Hülle der Vergangenheit vor Deinem Aug wegzustreifen“155, heißt es eingangs der Beschreibungen. „Du stehst auf einmal mitten im schönen lachenden Griechenland, wandelst unter Helden und Grazien und betest an, wie sie, vor romantischen Göttern“.156 Der Rückblick auf den Brief kann auch den Blick für die rhetorischen Quellen von Schillers Ästhetik der Präsenz in den Kallias-Briefen schärfen. Ihr visionärer Gestus, die Emphase des reinen Sehens und der Plötzlichkeit, die den Betrachter aus der Zeit reißt, entstammt der Topik der Ekphrasis mit ihren Unmittelbarkeits- und Präsenzphantasien, dem Grundsatz der enargeia, die dem Gegenstand imaginativ Leben und Bewegung verleiht. Hier, in der Tradition der Kunstbeschreibung, liegt der Ansatzpunkt für die Feier des visionären Augenblicks, wie er in der Formel „Freiheit in der Erscheinung“ nachhallt. Im Brief bereits wird Lessings „prägnanter Augenblick“157 in ungeheurer Weise verdichtet zu einem kunstreligiösen Erlebnis, zur –––––––––––––– 150 151 152 153

154 155 156 157

NA 20, 102. NA 26, 225. NA 20, 103. NA 20, 101. Vgl. Lessing, Laokoon (Kap. III): „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ Lessing: Werke, Bd. 6, S. 25f. NA 20, 103. NA 20, 102. Ebd. Lessing: Werke, Bd. 6, S. 124: „Diesen einzigen Augenblick macht er so prägnant wie möglich, und führt ihn mit allen den Täuschungen aus, welche die Kunst in Darstellung sichtbarer Gegenstände vor der Poesie voraus hat.“

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Entzückung bzw. Entrückung. In der Statue selbst „ergreift“ der griechische Künstler einen „Augenblick“ in der Folge der Handlung, in dem sich eine Epiphanie oder Theophanie (z.B. des Gottes Apoll) ereignet, der dann entrückt und „sichtbar empor“158 getragen wird. In der Imagination des Textes ist es nicht die Kunst, sondern der Gott selbst, der erscheint, während die Kunst als Medium hinter der Vision göttlicher Parusie verschwindet. Die Reaktionen entsprechen denen aus den Kallias-Briefen, es sind Bekundungen des Numinosen. Auch hier ist stupor, „Ueberraschung“159 und Überwältigung vor dem Heiligen, dem Tremendum160 der griechischen Kunst, die einzig angemessene Reaktion. Auf der anderen Seite sind „Leichtigkeit“ und „Freiheit“ schon hier die höchsten Qualitäten des Dargestellten und der Darstellung. Schon im Brief fällt auf, dass sich ästhetische und moralische Autonomie in den Beschreibungen wechselseitig spiegeln. Schiller überträgt das Erhabene des Inhalts (Laokoons Ringen mit der Schlange) auf seine Darstellung (das Ringen der Form mit dem Stoff). Wie sich Laokoon über das physische Leid erhebt, so seine „delikat(e)“161 Darstellung über die physische Dichte des Materials. Die Darstellung wird zur Allegorie des Dargestellten. Ein medialer Aspekt kommt hinzu. Er betrifft den Paragone, in den schon der Brief eines reisenden Dänen eintritt, den Mediensprung vom Marmor ins Wort, also die Frage der (Kunst-)Beschreibung oder Beschreibungskunst.162 Die kritischen Bemerkungen zur Sprache speisen sich aus der Notwendigkeit, die sinnliche Evidenz der Bilder ins Medium der Sprache retten zu müssen. Was im Brief eines reisenden Dänen implizit vorgeführt wird – die Schwierigkeit, den „Augenblick“ im Zeitmedium der Dichtung einzufangen – bietet nun den Hintergrund für eine kritische Reflexion des Sprachmediums. Die Sprache, so heißt es in der Beilage, gerät durch ihre „Tendenz zum Allgemeinen“163 in einen medienspezifischen Nachteil gegenüber der bildenden Kunst, den Schiller über die Kallias-Periode hinaus nicht müde wird zu betonen.164 Das Erlebnis des ästhetischen Moments –––––––––––––– 158 NA 20, 104. 159 Ebd. 160 Im Sinne von Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 2004 (zuerst 1917). 161 NA 20, 103. 162 Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. 163 NA 26, 228. 164 Z.B. in der Matthisson-Rezension: „Der Dichter nämlich befindet sich bei Kompositionen dieser Art immer in einem gewissen Nachteil gegen den Maler, weil ein großer Teil des Effekts auf dem simultanen Eindruck des Ganzen beruhet, das er doch nicht

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droht sich der Sprache zu entziehen. Für sie gilt daher: Wo Zeichen (Begriffe) sind, muss Anschauung werden. Auch hier steht die Topik der Bildbeschreibungen mit ihren Unsagbarkeitsgesten und fingierten Aposiopesen im Hintergrund: „Der Anblick selbst überwältigt alle Beschreibungskraft“165, schreibt Schiller über den Mannheimer Laokoon. Nicht reden, sondern zeigen – dies ist auch der Vorzug des dramatischen Spiels gegenüber szenischem Bericht und Monolog. Schon mit den Idealen von Anschaulichkeit und Lebendigkeit schließt Schiller in der Beilage an Überlegungen des Essays Ueber die tragische Kunst (entstanden wohl Dezember 1791; publ. 1792) an. Ein gutes Jahr vor den Kallias-Briefen entstanden, ist hier der mediale Paragone der Beilage, der Gegensatz von Darstellen und Beschreiben, im Nebeneinander von szenischer Handlung und Erzählung auf der Bühne (Botenbericht, Teichoskopie usw.) angelegt. Was als Ziel des Dramatikers gefordert wird – „unmittelbare lebendige Gegenwart und Versinnlichung“166 – avanciert ein Jahr später in den Kallias-Briefen zum Vorzug der poetischen Sprache im Allgemeinen. „Ungleich stärker“, heißt es da, „affizieren uns Leiden, von denen wir Zeugen sind, als solche, die wir erst durch Erzählung und Beschreibung erfahren“.167 Der Gegensatz von Aktion und Narration wird in der Beilage zum letzten Kallias-Brief auf das Verhältnis der Künste übertragen. Wo Lessing in der „Geistigkeit“168 der Poesie noch deren Vorzug begründet sah, findet Schiller nur noch ein ästhetisches Handicap, eine Vermittlung „durch die dritte Hand“.169 Worte sind nur „abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen“.170 Was in der Dramentheorie noch ein gattungsspezifisches Problem ist („Stillstand –––––––––––––– 165

166 167 168

169 170

anders als sukzessiv in der Einbildungskraft des Lesers zusammensetzen kann.“ NA 22, 274. Dies setzt sich fort im Essay Ueber das Pathetische (Sommer 1793): „In den Bildsäulen der Alten findet man diesen ästhetischen Grundsatz anschaulich gemacht, aber es ist schwer, den Eindruck, den der sinnlich lebendige Anblick macht, unter Begriffe zu bringen und durch Worte anzugeben.“ NA 20, 205. NA 20, 160. NA 20, 159. Lessing: Werke, Bd. 6, S. 52: „Man ist geneigt diese Einschränkung zu vermuten, noch ehe man sie durch Beispiele erhärtet sieht; bloß aus Erwägung der weitern Sphäre der Poesie, aus dem unendlichen Felde unserer Einbildungskraft, aus der Geistigkeit ihrer Bilder, die in größter Menge und Mannigfaltigkeit neben einander stehen können, ohne daß eines das andere deckt oder schändet, wie es wohl die Dinge selbst, oder die natürlichen Zeichen derselben in den engen Schranken des Raumes oder der Zeit tun würden.“ NA 26, 223. NA 26, 227.

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in der Handlung“171) wird nun verallgemeinert zum medialen Handicap der Sprache an sich. „Bey der Erzählung [...] wird das Besondre erst zum Allgemeinen erhoben, und aus diesem dann das Besondre erkannt“172, heißt es in Ueber die tragische Kunst. Durch diese „Operation des Verstandes“ wird dem „Eindruck sehr viel von seiner Stärke entzogen“.173 Dieses gattungspoetische Argument wird in der Beilage zum medientheoretischen. Die Vorteile der szenischen Handlung (als unmittelbare Darstellung) werden in den Kallias-Briefen der bildenden Kunst zugeschrieben; der Part der Erzählung geht auf die Sprache (als mittelbare Beschreibung) über. Die Dramatik lebt – damit kehren wir zu unserer Ausgangsthese zurück – in der Kallistik fort und wird in ihr aufgehoben. 3.2. Einfache Nachahmung, Manier und Stil Anders als Lessing im Laokoon geht es Schiller nicht um eine Unterscheidung der Künste nach der Art ihrer Zeichenorganisation, sondern um die gemeinsame Leistung der Kunst als Symbol- und Repräsentationssystem. Lessing hatte im Laokoon den Versuch unternommen, pictura und poesis auf der gemeinsamen Grundlage des aristotelischen Mimesis- und Handlungskonzepts sowie „der vollkommenen Ähnlichkeit“ ihrer Wirkung „sowohl in den Gegenständen als in der Art ihrer Nachahmung [als] verschieden“174 zu differenzieren. Dieser Wille zur Unterscheidung der Künste wird von Schiller nicht geteilt, das eigentliche Laokoon-Problem spielt für ihn keine Rolle. Bis in die ästhetische Erziehung hinein tendiert er zur Mischung, nicht zur Differenzierung der Gattungen. Der Künstler müsse sowohl „die Schranken, welche der specifische Charakter seiner Kunstgattung mit sich bringt“ als auch „diejenigen, welche dem besondern Stoffe, den er bearbeitet, anhängig sind […], durch die Behandlung überwinden“.175 In der Beilage wird dieses Gemeinsame der Künste klar benannt: „Architektur, Schöne Mechanik, Gartenkunst, Tanzkunst u dgl“ sind vergleichbar, weil sie sich – Batteux redivivus – „demselben Princip unterordnen“.176 Dieses Prinzip freilich ist nichts anderes als Mimesis: –––––––––––––– 171 172 173 174 175 176

NA 20, 159. Ebd. Ebd. Lessing: Werke, Bd. 6, S. 10. NA 20, 381f. (22. Brief). Schiller liest die Beaux arts, réduits à un même principe (1746) unter Anleitung Abels bereits auf der Karlsschule (Abel hält dort 1777 ein Kolleg über Batteux), wohl in der Übersetzung Johann Adolf Schlegels. Die abwertende Reaktion gegen Batteux und

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„Schönes der Darstellung oder der Form – Nachahmung der Natur. Ohne letzte gibt es keinen Künstler“177, heißt es mit großer Entschiedenheit. Ob diese Rückkehr zur Mimesis-Ästhetik als Rückfall zu werten ist, sei dahingestellt.178 Ist die Auseinandersetzung um die Grenzen von Malerei und Dicht- bzw. Sprachkunst sowie die Diskussion um Nachahmung und Darstellung einmal als Zentrum der Beilage ausgemacht, lassen sich von hier aus weitere Bezüge zur zeitgenössischen Ästhetik jenseits von Kant aufspüren. Zunächst scheint für die Kunst der Zeichnung evident, dass die Überführung des Naturprodukts in ein Kunstprodukt nur bei störungsfreier Übertragung gelingt: Ist an einer Zeichnung ein einziger Zug, der die Feder oder den Griffel, das Papier oder die Kupferplatte, den Pinsel oder die Hand, die ihn führte, kenntlich macht, so ist sie hart oder schwer; ist an ihr der eigenthümliche Geschmack des Künstlers, die KünstlerNatur sichtbar, so ist sie manierirt. Leidet nehmlich die Beweglichkeit eines Muskels (in einem Kupferstich) durch die Härte des Metalls oder durch die schwere Hand des Künstlers, so ist die Darstellung häßlich, weil sie nicht durch die Idee sondern durch das Medium bestimmt worden ist. Leidet die Eigenthümlichkeit des darzustellenden Objekts durch die GeistesEigenthümlichkeit des Künstlers, so sagen wir, die Darstellung sey manierirt.179

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seinen Gewährsmann Aristoteles in der Vorrede der Räuber – „Hier war Fülle ineinandergedrungener Realitäten vorhanden, die ich unmöglich in die allzu engen Palisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen konnte“ (NA 3,5) – dürfte sich dem Einfluss von Herders polemischer Batteux-Rezension von 1772 verdanken. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 115 und S. 130. Schon am 9.12.1782 bittet Schiller Reinwald um Vermittlung wichtiger ästhetischer Arbeiten, darunter auch Lessings kritischer Schriften und Ramlers Einleitung in die Schönen Wissenschaften nach Batteux. An Körner schreibt er am 11.1.1793, unmittelbar vor dem ersten Kallias-Brief also (NA 26, 174): „Besitzest oder weißt Du wichtige Schriften über die Kunst, so teile sie mir doch mit: Burke, Sulzer, Webb, Mengs, Winckelmann, Home, Batteux, Wood, Mendelssohn, nebst 5 oder 6 schlechten Compendien besitze ich schon.“ 177 NA 26, 222. Vgl. auch Aus einer Nachschrift der ästhetischen Vorlesung, hier im Abschnitt Vom Geschmack: „Jede Kunstschönheit erfordert, als Nachahmung der Natur, Wahrheit, und steht insofern unter objektiver Beurteilung.“ 178 Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000 (= Uni-Taschenbücher 8191), S. 199 verkennt in seiner Skizze der Kallias-Briefe Schillers Rehabilitierung der Mimesispoetik, indem er den Sachverhalt geradezu in sein Gegenteil verkehrt: „Schiller, der ja am Ende der Geniebewegung steht und sie deshalb eigentlich schon zu überblicken vermag, dürfte der Nachahmungsgedanke in Wahrheit ziemlich obsolet erschienen sein, so daß man sich fragt, ob der Ausdruck ‚Nachahmung‘ hier nicht bloß noch routinemäßig Verwendung findet.“ Das Gegenteil ist richtig: Die Abkehr von der Ausdruckspoetik in der Bürger-Rezension lässt mit dem Problem der Repräsentation das der Mimesis neuerlich virulent werden. 179 NA 26, 225.

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Der Vorwurf des Manierierten, der Einmischung einer ‚schlechten‘ Individualität, nimmt die Kritik an Bürger auf. Aber auch ein neuer Bezugspunkt kommt ins Spiel. Schon terminologisch betritt Schiller hier den Bannkreis von Goethes Aufsatz über Einfache Nachahmung, Manier und Stil, der im Februarheft des Teutschen Merkur 1789 erschienen war.180 Was in der Bürger-Rezension ‚Ideal‘ hieß – Ausdruck reiner Objektivität – wird nun probeweise ‚Stil‘ genannt. Was dort „unvollkommene Individualität“ war, ist nun „Manier“181. Stil wird „als die höchste Unabhängigkeit der Darstellung von allen subjektiven und allen objektivzufälligen Bestimmungen“182 definiert, mehr noch: „Reine Objektivität der Darstellung ist das Wesen des guten Stils: der höchste Grundsatz der Künste“183 und damit – wir denken an die Ausgangsposition der Briefe – die Lösung der Kantischen Objektivitätsfrage. Es kann nicht überraschen, dass diese Lösung wiederum dialektisch durch Einbezug älterer Theorietraditionen erreicht wird. Die Ästhetik wird in der Rhetorik (Stillehre, elocutio) neu fundiert. Damit ist ein dauerhafter Kompromiss gefunden. Als ‚großer Stil‘, der „nur in Wegwerfung des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen“184 möglich sei, kehrt er in der Matthisson-Rezension wieder. Schillers Stilbegriff steht in polemischer Frontstellung gegen den Individualstil, wie ihn Bürgers Sturm-und-DrangPoetik repräsentiert. Stil in Schillers Sinne steht für reine Transparenz (perspicuitas); noch in den Briefen über ästhetische Erziehung ist der „vollkommene Styl“ Garant für das „eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt“.185 Entscheidend hierfür ist die Natur („Genius“186) der Sprache selbst. Schiller schließt mit dieser Formulierung an eine Ende des 18. Jahrhunderts geläufige Rede vom „Genius“ des Deutschen, Französischen usw. an.187 Im sprachphilosophischen Diskurs der Zeit bezeichnet der „Genius der Sprache“ die Grammatik und Idiomatik einer –––––––––––––– 180 MA Bd. 3, 2, S. 186-191. Zur Provenienz des Schiller’schen Stilbegriffs Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, S. 140-145. 181 NA 26, 225. 182 Ebd. 183 NA 26, 225. 184 NA 22, 269. 185 NA 20, 381 bzw. 382 (22. Brief). 186 NA 26, 228. 187 Einer ihrer wichtigsten Bezugspunkte ist Condillacs Essai sur l’origine des conoissances humaines (1746), dessen zweiter Teil eine Abhandlung zum génie des langues enthält (II, I, 15). Vgl. Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein 2006, S. 170-177.

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Einzelsprache (des Deutschen, Französischen oder Chinesischen).188 Den normalen Gebrauch spiegelt Herder, wenn er im Journal meiner Reise (1769/70) von der „Verschiedenheit des Genius der Sprache“189 spricht. „Genius der Sprache“ oder „Le génie de la langue“ wird um 1800 zum beliebten Titel grammatisch-rhetorischer Repertorien, Übungs- und Übersetzungswerke.190 Schiller gibt dieser Wendung eine neue, grundsätzliche Bedeutung. Ihm geht es nicht mehr um die Genien unterschiedlicher Sprachen, sondern den Genius der Sprache im Unterschied zu anderen Zeichensystemen. Es ist, so könnte man den abschließenden Gedanken der Beilage zusammenführen, Sache des Genies, den Genius der Sprache zu überwinden.191 3.3. Das Paradigma des Schauspielers Das Schöne der Form muss sich, dies ist die Quintessenz der Beilage, mit der Deformation durch Kunst und „Technik“ auseinandersetzen. Gegenüber der Bürger-Rezension werden jetzt zwei Störfaktoren – neben dem Künstler die Materialität des Mediums – unterschieden: „Es sind also hier dreyerley Naturen, die miteinander ringen“.192 Beides war zuvor insofern zusammengefallen, als die Sprache des Lyri–––––––––––––– 188 In diesem Sinne spricht Wilhelm von Humboldt in seinem Brief an M. Abel-Rémussat Über die Natur grammatischer Formen im allgemeinen und über den Geist der chinesischen Sprache im besonderen. Hg. von Christoph Harbsmeier. Stuttgart/Bad Cannstatt 1979, S. 17 synonym von der „Besonderheit der chinesischen Sprache“ im Unterschied namentlich zu den „klassischen Sprachen.“ 189 Herder, Johann Gottfried: Werke. Hg. von Wolfgang Pross. 3 Bde. München/Wien 1984-2002, Bd. 1 (1984), S. 436. Ebenso im 102. der Briefe zur Beförderung der Humanität: „Das mindeste Gefühl des Genius unsrer Sprache und unsrer Schriften zeigt etwas anders von den urältesten Zeiten her.“ In: Werke, Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/Main 1991 (= Bibliothek deutscher Klassiker 63), S. 553. 190 Z.B. das wiederholt aufgelegte Lehrbuch von Jean Menudier: Le Génie de la Langue Françoise: c’est à dire, ses Proprietés, ses Elegances & ses Curiosités. [Jena] 1685 oder Johann Renatus Wilhelm Beck: Geist der Französischen Sprache oder Sammlung von Idiotismen, Sprüchwörtern, und auserlesenen Redensarten, die den Genius der französischen Sprache bezeichnen. Leipzig 1796. Schlaps, Christiane: Der ‚Genius der Sprache‘: Beleggeschichte und Typologie des Konzepts. Diss. Heidelberg 1998 (Mikrofilm). 191 Explizit ausgesprochen in Ueber naive und sentimentalische Dichtung (NA 20, 426): „Wenn der Schulverstand […] seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu seyn […] so giebt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint.“ 192 NA 26, 224.

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kers als unwillkürlicher, gleichsam physiognomischer Ausdruck seiner Individualität genommen wurde193. Versucht sich die Rezension noch an einer Reformulierung des Ausdrucksparadigmas, so tritt die Spannung von Individualität und Ideal nun in den Rahmen des Repräsentationsmodells ein.194 Im Kern jedoch hat sich die Argumentation lediglich präzisiert. Schon in der Bürger-Rezension war an zentraler Stelle in einem prägnanten Sinn von Repräsentation die Rede: „Ein erzürnter Schauspieler wird uns schwerlich ein edler Repräsentant des Unwillens werden“.195 Die Kallias-Briefe greifen das Modell des Schauspielers ihrerseits auf und schließen damit einen Reflexionsbogen, der in den Dissertationen begonnen worden war. Der Schauspieler ist für Schiller zunächst anthropologisches, dann poetologisches, schließlich mediologisches Paradigma. Noch immer steht dabei der Gegensatz von Feuer und Kälte, Selbstaffektion und Selbstdistanz im Mittelpunkt. Schillers Positionen in dieser Frage wandeln sich jedoch von der frühen zur mittleren und klassischen Zeit. Im Versuch ueber den Zusammenhang dient das Modell des Schauspielers dazu, den „Konsens“ zwischen geistiger und physischer Natur des Menschen zu belegen: „Schon der nachgemachte Affekt macht den Schauspieler augenbliklich krank, und wenn Garrik seinen Lear und Othello gespielt hatte, so brachte er einige Stunden in gichterischen Zuckungen auf dem Bette zu“.196 Nur wenig später, im 1782 verfassten Aufsatz Ueber das teutsche Theater, wirft Schiller die Frage auf, „wie sich die Geschöpfe der Fantasie im Spieler verkörpern“.197 Dieser müsse zunächst „sich selbst“ sowie „die horchende Menge vergessen, um in der Rolle zu leben“, andererseits jedoch auch „sich selbst und den Zuschauer gegenwärtig denken, auf den Geschmack des leztern reflektiren“ und vor allem „die Natur mässigen“.198 Schiller votiert also im Streit um vérité und fiction für einen Kompromiss, privilegiert jedoch in der Frühschrift im Zweifelsfall die ‚Feuer‘-Position: „Von der Empfindung zum Ausdruck der Empfindung“ soll „eben die schnelle, und ewig bestimmte Sukzession [herrschen] als vom Wetterleuchten zu Donnerschlag“.199 Begründet wird der immediate Austausch damit, dass „der Körper […] die Seele in allen ihren Veränderungen so getreulich be–––––––––––––– 193 NA 22, 247: Der „reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes.“ 194 Wellbery: Lessing’s Laokoon, S. 43-49. 195 NA 22, 255. 196 NA 20, 61. 197 NA 20, 83. 198 Ebd. 199 Ebd.

3. Die ›Beilage‹ über ›Das Schöne der Kunst‹

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gleitet“.200 Schiller stellt sich damit ausdrücklich auf die Seite des „Affekttopos“, der Schauspieler soll „des Affektes voll“ sein, er befinde sich „einigermaßen im Zustande eines Nachtwandlers“, mit dem er „Abwesenheit des Bewußtseyns“ und der „Perception“, die „Grabesruhe der äussern Sinne“201 teile. Nur dieser Zustand des Somnambulen gewährt die „natürliche Grazie der Stellung“, während die Empfindung „man beobachtet mich“202 den Sturz aus dem Zustand der unbewussten Harmonie verursacht. In der Beilage nimmt Schiller den Vergleich mit dem Schauspieler auf, gibt ihm jedoch eine Wendung, die an die Überlegungen zur „Idealisierkunst“ anschließt: „Reine Objektivität der Darstellung“, so beginnt dieser Abschnitt, „ist das Wesen des guten Stils: der höchste Grundsatz der Künste“. Und so gilt: „Der große Künstler […] zeigt uns den Gegenstand (seine Darstellung hat reine Objektivität), der mittelmäßige zeigt sich selbst (seine Darstellung hat Subjektivität) der schlechte seinen Stoff (die Darstellung wird durch die Natur des Mediums und durch die Schranken des Künstlers bestimmt)“.203 Aus dieser Typologie geht hervor, dass die Kategorien des Subjektiven und Objektiven hier nicht mehr im Kantischen Sinne zu verstehen sind. Die Ausgangsfrage nach dem „objectiven Begriff des Schönen“ wird vielmehr an Kant vorbei im Rückgriff auf Konfigurationen der Bürger-Rezension weitergeführt. Dabei kommt die Theorie des Schauspielers als genuiner Beitrag des Dramatikers und Bühnenpraktikers ins Spiel: Wenn Eckhof oder Schröder den Hamlet spielten, so verhielten sich ihre Personen zu ihrer Rolle wie der Stoff zur Form, wie der Körper zur Idee, wie die Wirklichkeit zur Erscheinung. Eckhof war gleichsam der Marmor, aus dem sein Genie einen Hamlet formte, und weil seine (des Schauspielers) Person in der künstlichen Person Hamlets völlig unterging, weil bloß die Form (der Carakter Hamlets) und nirgends der Stoff (nirgends die wirkliche Person des Schauspielers) zu bemerken war – weil alles an ihm bloß Form (bloß Hamlet) war, so sagt man, er spielte schön. Seine Darstellung war im großen Stil, weil sie erstlich völlig objectiv war und nichts subjectives sich mit einmischte, zweytens, weil sie objectiv nothwendig nicht zufällig war (wovon die Erläuterung bey einer andern Gelegenheit). 204

Anders als Lessing im Laokoon argumentiert Schiller nicht semiotisch (die ‚kinesischen‘ als natürliche Zeichen), sondern greift auf die aris–––––––––––––– 200 201 202 203 204

NA 20, 84. NA 20, 83. NA 20, 84 NA 26, 226. Ebd. Zu den historischen Persönlichkeiten siehe den Kommentar der Nationalausgabe (NA 26, 702f.).

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totelische Polarität von Stoff und Form zurück. Der Schauspieler formt sich selbst als eine bewegliche Statue – Autopoiesis der Hypokrisie. Wie der Lyriker drückt er ‚sich selbst aus‘, ist sich also zugleich Stoff- und Form-Ursache, „causa objectiva und causa efficiens“.205 Mit Hilfe von Goethes Typologie sucht Schiller die Abweichungen von diesem Ideal der Schauspielkunst zu bestimmen: Die Kunst der „Madame Albrecht“ hat „nur Manier“, keinen „Stil gezeigt“, weil die „Natur des Stoffes“ durch die „willkührliche Idee der Schauspielerinn“206 verstellt werde. Der Part Bürgers geht nun auf den Schauspieler Brückl über, bei dem „die Natur des Mediums über die Form (die Rolle des Königs) herrsche, denn aus jeder Bewegung blickt der Schauspieler (der Stoff) eckelhaft und stümperhaft hervor“.207 Schuld daran ist das Unvermögen, „den Stoff (den Körper des Schauspielers) einer Idee gemäß zu formen“.208 Letzteres läuft auf den Vorwurf des Dilettantismus hinaus. So grenzt das Schema Über den Dilettantismus209 den Künstler vom Dilettanten durch die „Annahme einer objektiven Kunst“210 ab. Der alte Konflikt von Individualität und Ideal wird auch hier noch einmal aufgenommen: „Es giebt in allen Künsten ein Objektives und ein Subjektives, und je nachdem das eine oder das andere darinn die hervorstechende Seite ist, hat der Dilettantism Werth oder Unwerth“.211 Jetzt wird jedoch nach den Kunstarten differenziert, die Lyrik als subjektive Gattung teilweise oder graduell vom Verdikt ausgenommen: „Wo das Subjective für sich allein schon viel bedeutet, muß der Dilettant sich dem Künstler nähern, z.B. Tanz, Musik, schöne Sprache, lyrische Poesie“.212 Auf der Gegenseite stehen jene objektiven Künste oder Gattungen wie „Architektur, Zeichenkunst, Schauspielkunst, epische oder dramatische Dichtkunst“, in denen der Dilettantismus „schädlich“ wirkt, „weil der Dilettant seinen Beruf zum Selbstproducieren“213 absolut setzt. Hier werden im Sommer 1799 noch einmal die Positionen der Kallias-Beilage zusammengefasst, die Schiller bereits im Aufsatz Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen erörtert hatte. Der Dilettant verhält sich „passiv“ gegen–––––––––––––– 205 Moses Mendelssohn: Von der lyrischen Poesie. Nach Völker, Ludwig (Hg.): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 2000 (= RUB 8657), S. 93. 206 NA 26, 226. 207 Ebd. 208 NA 26, 227. 209 NA 21, 60-62. 210 NA 21, 60. 211 Ebd. 212 Ebd. 213 Ebd.

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über seiner „jugendlichen Imagination“. Die Kritik des Dilettantismus ist Kritik der Einbildungskraft, die sich von der ‚Herzensausgusspoetik‘ ebenso distanziert wie von der romantischen Phantasie als einem Organon der Poesie: Der verführerische Reiz des Großen und Schönen; das Feuer womit es die jugendliche Imagination entzündet und der Anschein von Leichtigkeit, womit es die Sinne täuscht, haben schon manchen Unerfahrnen beredet, Palette oder Leyer zu ergreifen, und auszugießen in Gestalten oder Tönen, was in ihm lebendig wurde.214

4. Eine Philosophie der Grammatik. Medium und Sprache

4. Eine Philosophie der Grammatik. Medium und Sprache 4.1. Repräsentation als Metapher

Auf die Philosophie des Marmors und die Philosophie der Schauspielkunst folgt am Ende der Beilage eine Philosophie der Sprache und der Grammatik. Schiller beginnt mit zwei Prämissen. 1. „Das Medium des Dichters sind Worte; also abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen“.215 Es folgt 2. die Feststellung, dass „zwischen den Sachen und den Worten keine materiale Aehnlichkeit (Identität) statt findet“. Lessing hatte das aristotelische Differenzkriterium der Künste (‚Stoff und Modus der Nachahmung‘) semiotisch umgedeutet: ‚natürliche‘ Zeichen hier (Bildkunst), ‚künstliche‘ Zeichen dort (Dichtung). Diese Unterscheidung wird von Schiller nicht aufgenommen. Er aktualisiert dagegen die Opposition von Individuellem und Allgemeinem, die schon in der Bürger-Rezension eine Hauptrolle gespielt hatte. Das besondere Problem der Sprache ist nicht die stoffliche Verschiedenheit von Zeichen und Bezeichnetem, „denn diese findet sich auch nicht zwischen der Bildsäule und dem Menschen, deßen Darstellung sie ist“.216 Schiller teilt also auch nicht unbedingt die „Sehnsucht nach dem natürlichen Zeichen“.217 Er un–––––––––––––– 214 NA 21, 20 (Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen). Vgl. exemplarisch Mix, York-Gothart: Die ästhetische Erziehung des Dilettanten. Die literarische Öffentlichkeit, die Klassizität der Poesie und das Schema über den Dilettantismus von Fr. Schiller, J.W. Goethe und L.H. Meyer. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997 (= Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa 4), S. 327-343. 215 NA 26, 227. 216 Ebd. 217 Krieger, Murray: The Desire for the Natural Sign: Poetic Uses and Political Abuses. In: Carroll, David (Hg.): The States of ‚theory‘. History, Art, and Critical Discourse. New York 1994, S. 221-253; ders.: Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign. Baltimore u.a. 1992.

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terscheidet nicht wie Lessing zwischen dem „Koexistierende(n) des Körpers“ und dem „Konsekutiven der Rede“.218 Die semiotische Argumentation wird durch eine aristotelische ersetzt, d.h. durch die Unterscheidung von Stoff und Form.219 Wo Lessing sich auf den Modus bezieht, wählt Schiller den Stoff als differentia specifica. Dieser Griff zum Aristotelismus mag auf den ersten Blick anachronistisch scheinen, bedeutet jedoch insofern einen Gewinn, als Schiller durch ihn – anders als Lessing – die Materialität des Mediums als (Stör-)Faktor eigenen Rechts in den Blick bekommt. Im Laokoon stand ja gerade nicht die materiale, sondern die „formale Aehnlichkeit“ im Mittelpunkt, ging es Lessing doch um die innere Struktur der Zeichenrelationen, nicht um die Materialität der Zeichen selbst. Was das ‚natürliche Zeichen‘ der bildenden Künste charakterisiert, ist nicht der materiale Unterschied zwischen dem Marmor und dem Menschen, sondern das „bequeme Verhältnis“, d.h. die Passung der Zeichen mit dem von ihnen Bezeichneten (eine Art ‚mediales aptum‘).220 Der Wortlaut ist bekannt: „So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen“.221 Schiller entwirft eine Sprachphilosophie der Kälte und Distanz. Zeichen und Bezeichnetes, Wort und Gegenstand bleiben einander doppelt fremd und heterogen: einerseits in ihrer Materialität, andererseits in der Arbitrarität ihrer Verknüpfung: Aber auch die bloß formale Aehnlichkeit (Nachahmung) ist zwischen Worten und Sachen so leicht nicht. Die Sache und ihr Wortausdruck sind bloß zufällig und willkührlich (wenige Fälle abgerechnet) bloß durch Uebereinkunft miteinander verbunden.222

Tatsächlich komme es jedoch in der Sprache weder auf materiale noch „formale Aehnlichkeit“ an, sondern darauf, „welche Vorstellung es [sc. das Wort] erweckt“.223 Diese Voraussetzung teilt Schiller mit ––––––––––––––

218 Lessing: Werke, Bd. 6, S. 113. Schiller spielt darauf im Brief vom 15.2.1793 an: „Diese Schranken sind: a: in der Reihe der Sukzession – Zeit; b. in der Reihe der Koexistenz – Raum.“ 219 Zur Tradition (ohne Hinweis auf Schiller) Bormann, Claus von u.a.: Form und Materie (Stoff). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 9771030; Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 161-170 (zusammenfassend zum Verhältnis zu Kants Begriff von Notwendigkeit und Allgemeinheit). 220 Lessing: Werke, Bd. 6, S. 102. Stierle, Karlheinz: Das ‚bequeme Verhältnis‘. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Gebauer, Gunter (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Stuttgart 1984, S. 23-58. 221 Laokoon, Kap. 16; Lessing: Werke Bd. 6, S. 102f. 222 NA 26, 227. 223 Ebd.

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Lessing. Mögen sich die Künste in ihren Mitteln unterscheiden, so teilen sie doch ein Ziel: „Das nämliche Bild mag also in unserer Einbildungskraft durch willkürliche oder natürliche Zeichen wieder erregt werden, so muß auch jederzeit das nämliche Wohlgefallen, ob schon nicht in dem nämlichen Grade, wieder entstehen“.224 Hier eben liegt das Problem der Sprache. Sie muss mit unsinnlichen (‚geistigen‘) Elementen (Worten, Begriffen) sinnliche Wirkungen erzielen: Die „Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe“.225 Was Schiller erhofft, ist also nicht das natürliche Zeichen, sondern Natur ohne Zeichen. Ein Medium, das immer schon Bild und Anschauung ist, ohne der Umformung und des „Umwegs“ über die Repräsentation zu bedürfen. Das aber ist ein Paradox, eine Medien-Utopie, die sich als skeptische Absage an das Laokoon-Modell lesen lässt. Schiller wendet Lessings Ergebnis in sein Gegenteil: die „Geistigkeit“ der Poesie, die wesentlich Imaginationskunst ist, schlägt ihr zum medialen Nachteil aus. Die bildende Kunst wird zum Ideal der Poesie – Anti-Lessing. In der Beilage wird daher weniger bei Lessing als bei den eigenen Überlegungen der Bürger-Rezension zur „Idealisierkunst“ angesetzt. Im anthropologischen Appell, „sich zum allgemeinen Charakter der Menschheit [zu] erheben“ und „einer allgemeinen Mitteilung fähig“ zu werden226, war der kommunikative Imperativ: „teile dich mit!“ schon mitgedacht. Nicht Ausdruck, sondern Mitteilung von Empfindungen war das Ziel der geforderten „Idealisierkunst“. Diese Überlegung wird in den Kallias-Briefen fortgesetzt. Der ursprüngliche Kontext scheint dabei immer wieder durch, etwa in der Metapher von der „Persönlichkeit“ bzw. „Person des Dings“ (d.h. seinem Wesen, seiner Natur). Schon gegenüber Bürger spielte der Person-Begriff eine Rolle, etwa in der Feststellung, dass „an der selbsteignen Person des Dichters nur insofern etwas liegen kann, als sie die Gattung vorstellig macht“.227 In der Beilage kehrt dies fast wörtlich wieder in der Feststellung, dass der Gegenstand in der Darstellung durch ein Medium „nicht in Person sondern durch einen Repräsentanten sich vorstellt“.228 Er ist, heißt es weiter, „nicht selbst gegenwärtig, sondern seine Sache wird durch einen ihm ganz unähnlichen, fremden Stoff geführt“.229 In dieser Formulierung scheint ein weiterer Kontext des Repräsentationsbegriffes auf, der aus der Sphäre der Ästhetik heraus–––––––––––––– 224 225 226 227 228 229

Laokoon, Kap. 6; Lessing: Werke Bd. 6, S. 52. NA 26, 228. NA 22, 260. NA 22, 261. NA 26, 223. NA 22, 228.

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weist. Es ist meist übersehen worden, dass die Kallias-Briefe eben nicht nicht nur auf Kant und /oder die „rhetorische Poetik der Aufklärung“230 zurückweisen. Im Terminus ‚Repräsentation‘ scheint darüber hinaus eine politische Dimension der Ästhetik auf. ‚Repräsentation‘ bedeutet hier Stellvertretung durch Abgeordnete, Abgesandte oder Deputierte; seit dem 16. Jahrhundert ist dies der „Zentralbegriff für das Verhältnis des gesellschaftlichen Ganzen zu seinen Teilen“.231 Der politische Repräsentationsbegriff war Ende des 18. Jahrhunderts, zumal im Vor- und Umfeld der Revolution, heftig umstritten. Vertrat Rousseau die These, dass „eine legitime Legislative nur direkt im ‚peuple en personne’, ohne intermediäre Brechungen liegen könne“232, so betonte Diderot die Legitimität der Repräsentation und bestimmte die Repräsentanten einer Nation als „les citoyens choisis, qui […] sont chargés par la société de parler en son nom“. In der französischen Verfassung vom 3. September 1791 artikuliert sich der Wille der Nation in der Repräsentation: „La Nation de qui seule émanent tous les pouvoirs, ne peut les exercer que par délégation. La Constitution française est représentative“.233 Die Terminologie der ästhetischen Repräsentation – Person, Repräsentant, Vermittlung durch Medien bzw. intermediäre Instanzen – speist sich aus der politischen Aktualität der Verfassungsdiskussion, die an anderer Stelle, in den Ästhetischen Briefen, in ihren ursprünglichen Kontext zurückkehren wird. Diese Rückverwandlung ins Eigentliche und Politische erfolgt im vierten ästhetischen Brief. Die Funktion der Sprache als Instanz des Allgemeinen wird durch die des Staates ersetzt: „Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen giebt, wird repräsentiert durch den Staat“.234 Später heißt es, dass „der Staat der reinen und objektiven Menschheit in der Brust seiner Bürger zum Repräsentanten dient“.235 Genetisch betrachtet, bedeutet das: Schiller entwirft seine Staatstheorie zunächst innerhalb der Sprachtheorie, um sie wenig später aus dieser wieder herauszuwickeln. Dabei wird die Sprache als fait social, als Medium der Vergesellschaftung entdeckt, bei dem es auf die Aussöhnung von Individuum und Allgemeinem, Universalisierung und „Eigenthümlichkeit“ ankommt.236 –––––––––––––– 230 Zelle: Darstellung, S. 76. 231 Haller, Benedikt: Repräsentation (in Politik und Recht). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8. Basel 1992, Sp. 812-826, hier Sp. 826. 232 Ebd. S. 819. 233 Ebd. 234 NA 20, 316. 235 NA 20, 317f. 236 NA 20, 318.

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Wie die politische Theorie um die Gefahr der Unterdrückung des Individuellen weiß, so weiß die Sprachtheorie um die Gefahren der Abstraktion, das Oktroi der Grammatik: Gäbe es also überhaupt nur Worte oder Wortsätze, welche uns den individuellsten Karakter der Dinge, ihre individuellsten Verhältniße und kurz die ganze objektive Eigenthümlichkeit des Einzelnen vorstellten, so käme es gar nicht darauf an, ob dieß durch Convenienz oder aus innrer Nothwendigkeit geschähe. Aber eben daran fehlt es.237

Jeder Satz ist ein Verfehlen der Wirklichkeit, der konkreten Dinge in ihrer sinnlich gegebenen Singularität. Versprachlichung bedeutet unweigerlich Entfremdung. Kommunikation ist nur um den Preis von Stellvertretung zu haben. Das „Verhältniß der allgemeinen Begriffe und der auf diesen erbauten Sprache zu den Sachen und Fällen und Intuitionen“ bleibt bis zum Ende ein „Abgrund, in den ich nicht ohne Schwindeln schauen kann“.238 Die Unfähigkeit der Sprache, das Individuum und das Individuelle als das, was der Fall ist, zu erfassen, gibt dem Topos von der Sprache der Verstellung eine Wendung ins Grundsätzliche, in die Erkenntnis nämlich, dass jede Sprache nun Verstellung, ein „Vergessen des Unterscheidenden“239 ist: Die Menschen suchen immer gleich Worte zu allem, und durch Worte hintergehen sie sich dann. Jede Empfindung ist nur einmal in der Welt vorhanden, in dem einzigen Menschen der sie hat; Worte aber muß man von tausenden gebrauchen, darum passen sie auf keinen.240

Exemplarisch formuliert diese Einsicht das Epigramm Sprache aus dem Musenalmanach für das Jahr 1797: Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.241

Was angesichts dieser Aporie bleibt, sind Kommunikationsutopien, in denen die Hoffnung auf eine un-vermittelte „Verwechslung der Wesen“242 ästhetisch-semiotisch weiterbesteht. Wo die Sprache endet, beginnt der Eros, und dies buchstäblich, denn auf das Epigramm Sprache folgt in den Tabulae votivae sogleich ein Stück mit dem Titel –––––––––––––– 237 NA 26, 227f. 238 An Goethe; 27.2.1798; NA 29, 212. 239 Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 880. 240 An Charlotte von Lengefeld; 10.2.1790; NA 25, 415. 241 NA 1, 302. 242 NA 23, 79.

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An die Dichter, das die Lösung der Sprachkrise in der „Konkretion der sinnlich-geistigen Einheit des Menschen“243 formuliert: Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden; er nur Ists, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint.244

Die neuere Medienwissenschaft wird an dieser erotischen Linguistik (oder linguistischen Erotik) anschließen.245 Bei Schiller ist die poetische Sprache die erotische, eine ‚Sprache der Nähe‘, die der prosaischen ‚Sprache der Distanz‘246 als Ideal vorgehalten wird. Die Schwierigkeit einer Sondersprache – der Sprache der Liebe – wird verallgemeinert zur Utopie bzw. Aporie sprachlicher Kommunikation überhaupt. Will sich das Individuum verständlich machen, bedarf es der Zeichen, die es andererseits wiederum in seiner Autonomie verstellen. Autonomie bedarf, um sich artikulieren zu können, der Heteronomie. Hierin liegt die immanente Tragik jeder begrifflichen Sprache und Kommunikation, die selbst „untergehen“ muss, um ihr Ziel zu erreichen. Will die „poetische Darstellung frey“ sein, so muß der Dichter „die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden“247: Die Natur der Sprache (eben diese ihre Tendenz zum Allgemeinen) muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehn, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren. Frey und siegend muß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen, und trotz allen Feßeln der Sprache in seiner ganzen Wahrheit, Lebendigkeit und Persönlichkeit vor der Einbildungskraft dastehen. Mit einem Wort. Die Schönheit der poetischen Darstellung ist „freie Selbsthandlung der Natur in den Feßeln der Sprache“ […].248

Schillers poetische Sprache liegt am Indifferenzpunkt zwischen Ideellem und Sinnlichem; sie ist das individualisierte und inkarnierte Allgemeine. Ist das Wesen (die „Person“) der Dinge unzugänglich und opak geworden, so muss Kunst sie wenigstens für die Einbildungskraft sichtbar werden lassen. Daher die Emphase der Befreiung, der Gestus des Triumphes im geglückten Sprachakt, der zugleich eine –––––––––––––– 243 Bräutigam: Generalisierte Individualität, S. 151. 244 NA 1, 302 (Tabulae votivae). 245 Man hat zwischen einem „postalischen“ Prinzip der Kommunikation, das auf „das Herstellen von Verbindungen zwischen räumlich entfernten körperlichen Instanzen“ und einem „erotischen“ unterschieden, das „Individuen mit ihren heterogenen, zuerst einmal unzugänglichen Innenwelten“ verbindet. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 15 bzw. 16. Diese beiden Pole scheinen sich in Schillers Sprachpoetik noch zu berühren. 246 Koch / Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. 247 NA 26, 228. 248 NA 26, 229.

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semiotische ‚Aufopferung‘ des Zeichens für das Bezeichnete ist (dies impliziert die Semantik des Untergangs im eben zitierten Passus). Die gebundene Natur wird durch die poetische Darstellung erweckt und zu sich selbst und zur „freien Selbsthandlung“ befreit. Das Darzustellende tritt „siegend“ hervor, nicht, weil es an sich ein schönes Ding wäre, sondern weil es schön hervortritt. Dazu bedarf es jedoch eines Mediums, und das bedeutet: „Freiheit kann also nur mit Hilfe der Technik sinnlich dargestellt werden“, d.h. „Schönheit ist Natur in der Kunstmäßigkeit“.249 4.2. Medium und Mittelkraft Am Begriff der Repräsentation ist einmal mehr das Verfahren der Schiller’schen Theoriebildung ablesbar. Übertragung im Sinne von Projektion ist nicht nur die zentrale Operation, die im Schönheitsurteil vollzogen wird, schon ihre Deduktion selbst ist durchzogen von Bildern, Metaphern, Personifikationen. Dies gibt dem Gang der Reflexion ein eigenes Ansehen, die Ambiguität eines „Denkens in Bildern“250. Es entfaltet sich in Prozeduren der Verschiebung und Übertragung vom Eigentlichen ins Uneigentliche und zurück. So wandert die Dialektik von Individuum und Allgemeinem zunächst aus der anthropologischen in die ästhetische Sphäre, um dann in die politische verschoben zu werden, der sie – Aktualität der Revolution – von Anfang an entstammte. Solche Prozeduren zeigen das Offene der ästhetischen Terminologie, ihre ‚unbegrifflichen‘ Anteile, welche die Dynamik der Systembildung ebenso vorantreiben wie die explizite Auseinandersetzung mit den Kantischen Kategorien selbst. Diese metaphorologische Logik bestimmt auch einen Begriff, den Schiller in die Geschichte der Ästhetik einführt: Medium. „Die Natur des Gegenstandes“, schreibt Schiller in der Beilage, „wird also in der Kunst nicht selbst in ihrer Persönlichkeit und Individualität, sondern durch ein Medium vorgestellt“.251 Und weiter: „Das Medium des Dichters sind Worte; also abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen“.252 Der Gegenstand erscheint „gemodelt durch den Genius der Sprache“253, und es bedarf gerade des Genies, um diesem „Genius“ der Sprache, d.h. der Neigung jeder Sprache zur Abstrakti–––––––––––––– 249 250 251 252 253

NA 26, 203. Koopmann: Denken in Bildern. NA 26, 223. NA 26, 227. NA 26, 228.

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on und Entsinnlichung entgegen zu wirken. Die Wörter der Sprache sind buchstäblich „Typen“ und „Modeln“, die das Sinnlich-Konkrete der Welt ins Korsett ihrer Gussformen zwingen.254 Schiller hat mit der Beilage zum letzten Kallias-Brief einer Gelegenheitsmetapher zu ästhetischer Dignität verholfen. Er ist einer der ersten, wenn nicht der erste moderne Theoretiker, der den aus der antiken Wahrnehmungslehre stammenden Terminus medium (griech. meßson/méson) in die Kunst einführt und ihn so von der alten aisthetischen zur (neuen) ästhetischen Bedeutung umprägt.255 Die Kallias-Briefe markieren damit einen Wendepunkt in der Geschichte des Medienbegriffs.256 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, genau–––––––––––––– 254 Adelung definiert „Model“ als „eine vertiefte Form, einen andern Körper darein zu gießen oder zu drücken, um ihm dadurch die verlangte Gestalt zu geben; eine Gießform, Form oder Patrone. Ein Gießmodel, einen flüssig gemachten Körper darein zu gießen, um ihm eine gewisse verlangte Gestalt zu geben.“ Adelung: Grammatischkritisches Wörterbuch, Bd. 3, S. 254. Das Bild der Model lässt an Schillers Klage über seine Karlsschulzeit in der Ankündigung der Rheinischen Thalia denken (NA 22, 93): „Die vierhunderte, die mich umgaben, waren ein einziges Geschöpf, der getreue Abguß eines und eben dieses Modells, von welchem die plastische Natur sich feierlich lossagte.“ Die vollständige Typisierung ist ein Verbrechen gegen die Individualität – ob auf der Kadettenschule oder in der Sprache. 255 Der Locke’sche – wie wohl auch der Schiller’sche – Medienbegriff steht in der Tradition der Aristotelischen Wahrnehmungslehre, in der „die Transparenz des Mediums zur conditio sine qua non seiner Funktion wird.“ Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 29. Aristoteles hebt hervor, dass jede Wahrnehmung notwendig auf Medien angewiesen ist. Vgl. Über die Wahrnehmung und die Gegenstände der Wahrnehmung. In: Aristoteles: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia). Hg. und übers. v. Eugen Dönt. Stuttgart 1997, S. 47-86, hier S. 76: Das Auge als Fernsinn bedarf der räumlichen Distanz des Wahrnehmungsgegenstandes. Dieser Abstand muss vollständig durch eine körperliche Substanz ausgefüllt werden. Das „Medium gewinnt bei Aristoteles also eine materiale Faktizität“ (Krämer S. 29). Bedingung ist, dass es sich um „durchscheinende Medien“ (media diaphana) handelt – z.B. Kristalle, Luft, Wasser. Aristoteles: Über die Seele. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Ernst Grumach. Bd. 13. Darmstadt 1996, hier p. 418b und Über die Wahrnehmung, S. 55f. Körperlichkeit und Transparenz schließen sich also nicht aus. In der Transparenz des Mediums „kreuzen sich die Dinglichkeit und das Transitorische“ (Krämer S. 30). Vgl. auch Welsch, Wolfgang: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987, hier bes. S. 188-197 („Die Bedeutung des Mediums“). Hier S. 189: „Aristoteles’ wesentliche Veränderung liegt also darin, dass er die Funktion des Mediums zuhöchst positiv denkt.“ Er hat freilich, soweit ich sehe, seinen physikalisch-optischen Medienbegriff gerade nicht auf die Sprache bezogen. Aristoteles trennt „Kognition und Kommunikation“ und betont die „Sprachlosigkeit der Erkenntnis.“ Trabant: Europäisches Sprachdenken, S. 32 bzw. S. 34. Erkenntnis verläuft prinzipiell medienfrei, die Sprache ist ein arbiträres und Sinn-indifferentes Organon der Kommunikation, das nicht weiter als Störpotential ins Gewicht fällt. Vgl. Trabant, ebd. S. 29-34. 256 Vgl. die instruktive Studie von Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg 2002 (= Archiv für Begriffsgeschichte 3), die jedoch den literarischen Medienbegriff nur am Rande kommentiert. Die Vor- und Begriffsgeschichte des modernen Medienbegriffs ist den medienwissenschaftlichen Publikationen meist nicht mehr als

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er: seit den späten sechziger Jahren, wird Medium in übertragenem Sinne gebraucht.257 Die Belege zeigen, dass der ursprünglich physikalische Terminus in anderen Kontexten als neue und ungewöhnliche Metapher empfunden wird.258 Der Gebrauch ist zunächst sporadisch und nicht auf die Ästhetik begrenzt. Blanckenburg nennt das Herz (der Romanfiguren) ein „Medium, durch das die Person, oder die Begebenheit, hindurch gehen müsse, um irgend eine Wirkung auf eine andre zu machen“.259 Lichtenberg spricht vom „Medium der Mode“, das es verhindere, „eine Sache neu anzusehen“.260 Zur Lieblingsmetapher avanciert ‚Medium‘ bei Herder. Es bezeichnet zunächst im genuin physikalischen Sinn („Medium der Luft“) ein Fluidum, in dem sich etwa „die elektrische Materie und der magnetische Strom“ bewegen, mithin alle „Naturwirkungen auf der Erde“ erfolgen.261 Man erkennt hier noch gut den ursprünglichen Kontext, der schließlich bei Schiller ästhetisch gewendet wird. Das Medium ist Voraussetzung von Fernwirkung (actio in distans), durch die ein wirkender Körper (agens) „auf einen von ihm räumlich entfernten Körper (patiens) ohne Ver––––––––––––––

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eine Fußnote wert. Symptomatisch hierfür der Artikel ‚Medien‘ (Gerd Hallenberger) im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2 (2000), S. 551-554, der auf den Begriff „Medium“ selbst nicht weiter eingeht. Das Historische Wörterbuch der Rhetorik bietet gar keinen Eintrag. Das gilt auch für rezente medientheoretische Arbeiten wie Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt/Main (= stw 1683) oder Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt/Main 2008. Zu Recht betont Hans-Dieter Bahr: „Erstaunlicherweise hat sich die Philosophie dem Problem der Medien und der Medialität […] kaum zugewandt.“ Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie. In: Leonhard, Joachim-Felix / Ludwig, Hans-Werner / Schwarze, Dietrich / Straßner, Erich (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 1. Teilband. Berlin/New York 1999 (= HSK 15.1), S. 273281, hier S. 273. Schulte-Sasse: Medien / medial, S. 1. Abzuheben hiervon ist der philosophische Medienbegriff im Sinne von „Mittel zum Zweck“, causa instrumentalis oder auch als Übersetzung von griechisch mesoßthw (mesótēs = Mitte zwischen zwei Extremen). Für das 18. Jahrhundert bestimmend wird Wolffs Definition von medium im Sinne von „quicquid rationem continet, cur finis actum consequatur.“ Philosophia Prima sive Ontologia. Frankfurt/Leipzig 21736 (Ndr. Hildesheim u.a. 1962), § 937. Vgl. Hügli, Anton: Mittel. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5. Basel 1980, Sp. 1432-1439. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 260. Diese Metapher mag auf Wielands Agathon, Blanckenburgs Mustertext, zurückgehen. „Und die Erfahrung lehrt, daß wir selten zu einer neuen Entwicklung unsrer Selbst, oder zu einer merklichen Verbesserung unsers vorigen innerlichen Zustandes gelangen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen, welches eine falsche Farbe auf uns reflectiert, und unsre wahre Gestalt eine Zeitlang verdunkelt.“ 9. Buch, 5. Kapitel. Wieland: Werke (hg. v. Martini / Seiffert), Bd. 1, S. 759. Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 3 Bde. München 1967 ff., Bd. 2, S. 153. Herder: Ideen, Bd. 1, S. 33.

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mittlung eines dazwischenliegenden Körpers (medium) eine Wirkung ausüben [kann]“.262 Dass im Horizont von Leseflut und Lesekritik die Distanz zwischen Autor und Publikum zum Problem, d.h. zu einer Frage der medialen „Fernwirkung“ geworden war, ist in den vorausgehenden Kapiteln mehrfach betont worden. Der Medienbegriff steht hier im Kontext einer Übertragung leitender Kategorien der Mechanik (Physik) auf die Ästhetik.263 Dieses mechanistische Denken ist auch bei Schiller gegenwärtig. Dass auch er die Fernwirkung als Kraftübertragung versteht, verrät sich in der Beilage etwa in der Einschränkung, dass das darzustellende Objekt auf seinem Weg zum Rezipienten „viel von seiner Lebendigkeit (sinnlichen Kraft)“ einbüße, weil es „durch das abstrakte Gebiet der Begriffe einen sehr weiten Umweg nehmen“ müsse.264 Idee und Begriff des Mediums haben ihre Vorgeschichte beim jungen Schiller. Dieser scheint auf das Problem der Repräsentation, der Fernwirkung und der medialen Brechungen und Interferenzen von Sinnesdaten im Zuge seiner medizinischen Spekulationen über das ungelöste Problem des commercium mentis et corporis gestoßen zu sein. Der Medienbegriff der Kallias-Briefe wurzelt letztlich in der Anthropologie der Karlschule, er ist präfiguriert in der MittelkraftHypothese der Philosophie der Physiologie. Nichts anderes als eine solche Mittelkraft ist das Sprachmedium, nichts anderes wiederum als die Struktur der Repräsentation mit all ihren Störpotentialen steht bereits in der frühen Wahrnehmungspsychologie im Zentrum. Schon hier ist die Mittelkraft „‚Medium‘ und ‚Mittelding‘ zugleich“.265 Es war Schiller, der im Abgleich von medizinischem266 und physikali–––––––––––––– 262 Jammer, Max: Fernwirkung in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 933-935, hier Sp. 933. 263 Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, die sich jedoch ausschließlich der Kraft- und Energie- (bzw. enargeia-)Metaphorik widmet. 264 NA 26, 228. 265 Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 100. Die Rezeption des MittelkraftBegriffs legt diese Vermutung nahe. In Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne verwendet Nietzsche den singulären Terminus in einer Weise, die an die Kallias-Briefe erinnert, aber auch den spekulativen Terminus der medizinischen Dissertation wieder aufleben lässt: „Denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.“ Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 884. 266 Hier ist Haller zu nennen, der in den Elementa physiologiae die Nerven als „medium […] inter corpus et animam“ definiert. Haller, Albrecht von: Elementa physiologiae corporis humani. 7 Bde. Lausanne 1757-66, hier Bd. 4, S. 378. Riedel: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1175.

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schem Sprachgebrauch den ästhetischen Terminus Medium aus der Taufe hob. Stützen konnte er sich dabei, wie gesagt, auf Anregungen Herders, der in seiner Auseinandersetzung mit Lessing (im 1. Kritischen Wäldchen, Kap. 16) den Begriff zur Charakterisierung der unterschiedlichen Sphären der Künste eingesetzt hatte.267 Lessing hatte im Laokoon von „Fälle(n)“ gesprochen, „wo es für den Künstler ein größeres Verdienst ist, die Natur durch das Medium der Nachahmung des Dichters nachgeahmet zu haben, als ohne dasselbe“.268 Die Medienmetapher findet sich vor den Kallias-Briefen an zwei Stellen aus der Zeit um bzw. kurz nach 1790. Beide sind für die Begriffs- und Konzeptgeschichte bedeutsam. Die erste findet sich in der Jenaer Antrittsvorlesung (erschienen im Oktober 1789). In einer wenig beachteten Reflexion über die Grenzen historischer Erkenntnis beschäftigt sich Schiller mit dem Problem „der geschichtlichen Wahrheit“, d.h. mit Überlieferung und Quellenkritik.269 Geschichte stellt ein Kontinuum dar, eine Art great chain of history. Diese „lange Kette von Begebenheiten“, die „wie Ursache und Wirkung“ ineinander greifen, könne nur „der unendliche Verstand“ überschauen270. Der forschende Mensch bedarf dagegen der Tradition. Vier Faktoren begrenzen die Rekonstruktionsmöglichkeiten des Historikers. 1. das Fehlen von Sprache, 2. die mündliche Mitteilung schriftloser Epochen und Kulturen („Sagen“), 3. die physische Zerstörung von Schriftdokumenten, 4. Verzerrungen durch subjektive Voreingenommenheit des Verfassers einer Quelle. Als Historiker betrachtet Schiller die Erfindung von Sprache und Schrift als zivilisatorischen Fortschritt, der Tradition und Geschichte allererst ermöglicht: „Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache“, wohingegen die „ganze Epoche vor der Sprache [...] für die Weltgeschichte verloren“ ist.271 Anders als der Dichter und aestheticus Schiller, der immer wieder als Kritiker der Schrift auftritt und die paulinische Dialektik von „leben–––––––––––––– 267 Herder: Kritische Wälder. In: Sämmtliche Werke (Hg. v. Suphan), Bd. 3, Berlin 1878, S. 137: „Welche Gegenstände kann diese Poetische Kraft besser an die Seele bringen, Gegenstände des Raums, coexsistirende Gegenstände, oder Gegenstände der Zeitsuccessionen? Und um wieder sinnlich zu reden: in welchem Medium wirkt die Poetische Kraft freier, im Raume, oder in der Zeit?“ 268 Lessing: Werke, Bd. 6, S. 86. 269 NA 17/1, 370f. Dann, Otto: Schiller, der Historiker und die Quellen. In: Ders. / Oellers, Norbert / Osterkamp, Ernst (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart/Weimar 1995, S. 109-127, hier S. 110. 270 NA 17/1, 370. 271 NA 17/1, 370f.

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dige(m) Geist“ und „tote(m) Buchstabe(n)“ zitiert272, ist der Historiker notgedrungen ein Anwalt der Schrift. Geschichtsschreibung hat es mit Dokumenten und „Urkunden“ zu tun, die in der Regel buchförmig vorliegen, sie folgt – wie es im Untertitel des Aufsatzes Etwas über das erste Menschengeschlecht heißt – „dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. Oralität scheint dagegen eine Quelle für historische Verzerrungen zu sein. Dies gilt etwa für den „unsichern und wandelbaren Weg der Sagen“: Von Munde zu Munde pflanzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media gieng, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese Veränderungen mit erleiden. Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverläßige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren.273

Der Medienbegriff erscheint hier beinahe schon in der semantischen Füllung der Kallias-Briefe, im Sinne von Entstellung. Sie geht hervor aus den subjektiven Zusätzen der Autoren, die sich in der Historiographie zu einer Kette von Brechungen addieren: Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die gröbere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand, und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und unkennbar gemacht. Das Mistrauen erwacht bey dem ältesten historischen Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal bey einer Chronik des heutigen Tages.274

Historische Objektivität wird durch das schreibende Subjekt als „Medium“ des Dialogs mit der Geschichte verhindert. „Genie“ steht hier nicht nur für Genialität, sondern vor allem für Eigenart und Charakteristikum, in jenem Sinn, in dem Schiller in den Kallias-Briefen vom „Genie der Sprache“ spricht.275 Schiller formuliert das Bekenntnis neu im Sinne eines aufgeklärten Skeptizismus („Mistrauen“) und historiographischer Quellenkritik. –––––––––––––– 272 Nach 2 Kor. 3: Denn der Buchstaben tödtet / Aber der Geist machet lebendig. Vgl. NA 22, 273 (Matthisson-Rezension): „Der tote Buchstabe der Natur wird zu einer lebendigen Geistersprache.“ 273 NA 17/1, 371. 274 Ebd. 275 Natürlich handelt es sich um einen altehrwürdigen historiographischen Topos. Schiller spielt erkennbar auf Tacitus’ Annalen-Proömium an, in dem der Autor bekennt, er wolle seinen Gegenstand „sine ira et studio“ darstellen. Tacitus: Annalen 1, 1, 14: „Deshalb beabsichtige ich, nur weniges über Augustus, und zwar das Ende seiner Regierung, zu berichten, dann den Prinzipat des Tiberius und die Folgezeit darzustellen, ohne Abneigung und Vorliebe, wofür mir jeglicher Anlaß fehlt.“ P. Cornelius Tacitus: Annalen. Lat. u. dt. hg. von Erich Heller. München/Zürich 1982 (= Sammlung Tusculum), S. 17.

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Ein zweites Mal wird die Medienmetapher in genuin literarischem Zusammenhang aufgenommen. Dies geschieht in der Vorrede zur Zerstörung von Troja, der Stanzen-Übersetzung des zweiten Buches der Aeneis, die im ersten Stück der Neuen Thalia 1792 erscheint.276 Die Stelle ist für die Kallias-Briefe unmittelbar einschlägig, da sie im Kontext der Übersetzungsproblematik auf die „Sprachverschiedenheit“ und somit auf den „Genius“ der Sprache(n) eingeht, der dann ja in der Beilage eine tragende Rolle spielt.277 Als Übersetzer zieht Schiller aus der differierenden Sprachnatur des Deutschen und aus dem Kontrast des Vergilischen mit dem deutschen, durch Voß repräsentierten Hexameter die Folgerung, dass es „durch dieses Medium“ unmöglich sei, „mit der Schönheit des Virgilischen Verses zu ringen“.278 Auch hier bildet das Sprach-Medium einen materiellen Störfaktor. Im Besonderen gilt dies für das Deutsche, dem Schiller „angestammte Härte“ und „männliche(n) Karakter“279 zuschreibt. Wie es scheint, hat die Übersetzung der lateinischen und griechischen Autoren (Euripides) Schiller für das Problem der Sprache und der Sprachdifferenz überhaupt erst sensibilisiert und eine Reflexion in Gang gesetzt, die dann, abstrahiert von den Einzelsprachen und vom Übertragungsproblem, in den Kallias-Briefen grundsätzlichen Charakter und Status gewann. Was Schiller daran gereizt haben muss, den Medienbegriff zu einer universalen Kategorie der ästhetischen Kommunikation zu erheben, lässt sich aus den zitierten Belegen wie der allgemeinen Ideengeschichte des Terminus erahnen. In allen zitierten Belegen, bei Schiller selbst, aber auch bei Autoren wie Lessing, Herder und Lichtenberg, ist der Medienbegriff immer mit einer Störung der Übertragung, mit den Schwierigkeiten der Repräsentation und der ästhetischen Fernwirkung verbunden. Stets ist es das Medium, das die Perzeption oder Rezeption verfälscht oder abschwächt; die Prägung des Begriffs indiziert ein Unbehagen an wachsenden Distanzen, das Strategien medialer Kompensation auf den Plan ruft. Ein solcher Kompensationsbegriff ist nun auch der Medienbegriff. Hinter seinem Aufstieg steht die Erkenntnis der Ambivalenz der Sprache. So wenig Mitteilung ohne Vermittlung denkbar ist, so wenig kann sie ohne störendes „Rauschen“ des Mediums gelingen280. Die von Kant vorausgesetzte „allgemeine Mitteilbarkeit“ bringt es mit sich, dass nun auch die individuelle (konkrete) Information durch ein allgemeines Medium (Begriff, –––––––––––––– 276 277 278 279 280

Thalia 1, S. 3-78; und S. 131-17. NA 15/1, 115. Ebd. NA 15/1, 116 Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs, S. 153.

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Zeichen) codiert werden muss. Gesucht wird also die Quadratur des Kreises: eine Sprache jenseits der Sprache, eine „solche Art Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt“, wie Schiller in Fortführung der Problematik in Ueber naive und sentimentalische Dichtung schreibt.281 Solche Forderungen nach Transparenz stehen in einer langen Tradition neuzeitlicher Sprachkritik. Die Nähe zu zur Position eines Francis Bacon (Wörter als „idola fori“) oder John Locke fällt ins Auge.282 In seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) hatte Locke dem Problem der Sprache ein eigenes Buch mit dem Titel Of Words gewidmet (Buch III), das sich treffender als „Buch über die Gefahr der Wörter“283 bezeichnen ließe. Sein Zentrum hat es im neunten Kapitel, überschrieben mit Of the Imperfection of words, in dem Locke die Wörter als „Dunst vor unseren Augen“ bezeichnet und in diesem Zusammenhang den Medienbegriff bemüht: At least [words] interpose themselves so much between our understandings and the truth which it would contemplate and apprehend that, like the medium through which visible objects pass, their obscurity and disorder does not seldom cast a mist before our eyes and impose upon our understandings.284

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Schiller diesen locus classicus aufklärerischer Sprachskepsis vor Augen hatte, als er den Abschnitt der Beilage verfasste. Immerhin äußert er in demselben Brief, der Körner das Studium Kants anzeigt, auch das Ansinnen, „zu gleicher Zeit gerne Locke, Hume und Leibniz [zu] studieren“.285 Er sucht sogar den Freund zu bewegen, eine Übersetzung des Essays vorzubereiten. Schiller hatte die Anregung zur Locke-Lektüre offenbar von Reinhold empfangen, der gegenüber Baggesen bekannt hatte, es sei Pflicht für ihn, „die Collegien meiner alten Lehrer: Leibnitzens, Locke’s, Hume’s und Kant’s fleißig zu wiederholen, die mich jedesmal mit Neuigkeiten überraschen“.286 Schon 1787 hatte sich Schiller mit Lockes Essay beschäftigt. Aus der gut sortierten Weimarer Hofbibliothek ließ er sich –––––––––––––– 281 NA 20, 426. 282 Andrea Bartl kommt in ihrem instruktiven Schiller-Kapitel beiläufig auf Locke zu sprechen, führt die Sprachreflexion der Beilage jedoch auf Kant und Herder zurück. Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 218. Oschmann: Bewegliche Dichtung stellt Beziehungen zu Lichtenberg (S. 156-159) und Fichte (S. 179-182) her. 283 Trabant: Europäisches Sprachdenken, S. 161. 284 Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. 2 Bde. Hg. von John W. Yolton. London 1971-1974, hier III, 9, S. 87f. 285 NA 26, 127. 286 Vgl. den Kommentar zur Stelle in NA 26, 575.

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eine französische Übersetzung des Traktats kommen.287 Schwer auszumachen ist, ob er durch seinen Lehrer Abel schon an der Karlsschule mit Locke bekannt wurde. An genuin Locke’schen Konzepten dürfte Schiller von Abel vor allem Grundzüge der Assoziationspsychologie und die Ablehnung der ideae innatae bezogen haben.288 Zu einem eingehenderen Studium des Essays selbst dürfte es jedoch tatsächlich erst in Weimar und Jena gekommen sein. Die Locke’sche Spur in der Beilage unterstreicht jedenfalls die eingangs betonte konstitutive Pluralität der Schiller’schen Kunstphilosophie von ihrem ersten Tag an. Die Kallias-Briefe beginnen mit einer Kantischen Aporie, um mit einer Locke’schen zu schließen. Hatte Locke in epistemologischer Perspektive die Schwäche der Sprache als philosophisches Erkenntnisinstrument betont, so verweist Schiller auf die Gefährdung der poetischen Sprache unter dem „Einfluß abstraktionsbeflissener Wissenschaftssprache“.289 Das Defizitäre der Sprache wird auf beiden Seiten betont, jedoch mit gegensätzlichen Akzenten. Nicht die semantische, sondern die energetische Unvollkommenheit der Wörter rückt bei Schiller ins Zentrum. Beide argumentieren in konträre Richtungen: Der Philosoph bezichtigt die Sprache ihrer individualisierenden, der Dichter ihrer generalisierenden Tendenz. Was dem Philosophen als Gewinn und Ideal erscheint („general terms“), wird dem Dichter zum „mißliche(n)“ Nachteil.290 Wo der eine die Untauglichkeit der Sprache zur Philosophie hervorhebt, unterstellt ihr der andere, Schiller, Untauglichkeit zur Poesie aufgrund einer immanenten philosophischen ‚Tendenz‘. Gerade in der Ökonomie der Abstraktion vom Einzelfall hatte Locke freilich die Möglichkeit einer allmählichen Vervollkommnung der Sprache erblickt291. Wenn Schiller beklagt: „Sowohl die Worte als ihre Biegungs–––––––––––––– 287 NA 24, 134f.: „Ich habe gegenwärtig ein Buch daraus [aus der Weimarer Hofbibliothek] genommen, das Du in 100 Jahren nicht errathen würdest – Locken. Ich habe eine französische Uebersetzung, die von Locke selbst durchgesehen und empfohlen ist.“ Es handelt sich offenbar um die Ausgabe: Essay concerning human understanding: Essai philosophique concernant l’entendement humain […] Traduit de l’anglois de Mr. Locke, par Pierre Coste, sur la 4e édition, revue, corrigée et argumentée par l’auteur. Amsterdam 1700. 288 Riedel: Jacob Friedrich Abel, S. 49: „Locke aliique ideas innatas plane excludunt“ (Theses historico-philosophicae, These II). 289 Bräutigam: Generalisierte Individualität, S. 152. 290 NA 26, 228. 291 Locke: Essay III, 1, S. 9: „It is not enough for the perfection of language that sounds can be made signs of ideas, unless those signs can be so made use of as to comprehend several particular things: for the multiplication of words would have perplexed their use, had every particular thing need of a distinct name to be signified by. To remedy this inconvienience, language had yet a further improvement in the use of general terms, whereby one word was made to mark a multitude of particular existences.“

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und Verbindungsgesetze sind ganz allgemeine Dinge, die nicht Einem Individuum, sondern einer unendlichen Anzahl von Individuen zum Zeichen dienen“292, so wendet dies Lockes Ausführungen über „general terms“ ins Gegenteil. Einerseits, schreibt Locke, wäre es „völlig vernünftig, wenn die Worte, die den Dingen entsprechen sollen, es ebenfalls wären“. Dies trifft jedoch empirisch nicht zu, sind doch „bei weitem die meisten Worte in den Sprachen allgemeine Ausdrücke“; dies ist nicht „mißlich“, sondern Folge von „Verstand und Nothwendigkeit“293, dient es doch der „Vermehrung des Wissens“.294 Anders als Lockes philosophische ist Schillers poetische Sprachkritik – in der Genealogie Hamanns und Herders295 – von einer Sehnsucht nach sinnlicher Präsenz bestimmt, die für Locke gerade den archaischen Ausgangspunkt einer sukzessiven Spracharbeit bildet.296 Was Locke als „Missbrauch“ (abuse) erscheint: die Ambiguität und Ambivalenz der Sprache, ihre semantische Unzuverlässigkeit, wird für die poetische Sprache, die auf Assoziation, Bild-Erregung und Hinzudenken beruht, eben zum Ziel. Immerhin ist auch Locke durchaus bereit, die Eigengesetzlichkeit poetischer Mittel anzuerkennen und vom Verdikt des „Missbrauchs“ auszunehmen. Die bildliche Rede („figurative speech“) sei nicht eigentlich als ‚abuse‘ zu bezeichnen: „da Witz und Phantasie leichter als trockene Wahrheit und richtige Kenntnisse in der Welt Aufnahme finden, so wird man die bildliche Rede und die Anspielungen schwerlich als eine Unvollkommenheit oder als einen Missbrauch der Sprache gelten lassen.“297 Damit lässt sich resümieren: Medienbegriff bzw. Medienmetapher etablieren sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine terminologische Verwendung im Gebiet der Ästhetik ist zum ersten Mal in den Kallias-Briefen belegbar. Dass Schiller den bis dato nur sporadisch gebrauchten physikalischen Medienbegriff hier –––––––––––––– 292 NA 26, 228. 293 Locke: Essay III, 3, S. 15: „All things that exist being particular, it may perhaps be thought reasonable that words, which ought to be conformed to things, should be too, I mean in their signification, but yet we find the quite contrary. The far greatest part of words that make all languages are general terms: which has not been the effect of neglect or chance, but of reason and necessity.“ 294 Ebd. S. 16. 295 Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 227. 296 Peters, John Durham: John Locke, the Individual, and the Origin of Communication. In: Quarterly Journal of Speech 75 (1989), S. 387-399. 297 Locke: Essay X, 10, S. 105: „Since wit and fancy finds easier entertainment in the world than dry truth and real knowledge, figurative speeches and allusion in language will hardly be admitted as an imperfection or abuse of it. I confess, in discourses where we seek rather pleasure and delight than information and improvement, such ornaments as are borrowed from them can scarce pass for faults.“

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zum Kunst-Terminus erhebt, lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass er dem verwandten Konzept „Mittelkraft“ bereits in seiner ersten Dissertation nachgegangen war. Was sich in den Kallias-Briefen ereignet, ist demnach eine Verschiebung der anthropologisch-medizinischen commercium-Pruseoblematik zur Frage der ästhetischen Kommunikation. Durch die (Mittel-)Kraft der poetischen Sprache wird die Dichotomie von (sinnlichem) Signifikanten und (geistigem) Signifikat aufgehoben, vollzieht sich das commercium von Geist und Körper. „Das Repräsentierende“ hat sich „mit dem Repräsentierten vollkommen ausgetauscht“.298 Der zitierte Ausschnitt aus Lockes Essay zeigt, dass die Rede vom Medium der Wörter für Locke noch eine starke Metapher war, die als solche auch markiert wird („like“). Metaphernspender ist auch hier die Optik, ausdrücklich wird auf die Lichtbrechung durch farbige Medien verwiesen. Ist das Licht Emblem der Aufklärung, so indizieren die optischen Instrumente – Brillen, farbige Gläser, Lichtbrecher (wie sie Schiller selbst besaß), Mikroskope und Fernrohre – als Dingsymbole ihr Anderes: Täuschung, Illusion, Verkennen der Dinge durch fremd- oder selbstinduzierte Verblendung und Verzerrung.299 Die Medienmetapher gehört damit demselben Bildkomplex an, der im Geisterseher-Kapitel ausgehend von der Metapher der Projektion umrissen wurde. Der ‚Nebel‘ der Sprache beerbt, ins Grundsätzliche und Mediologische abstrahiert, die Spekulationen um Schein und Sein, die Ambivalenz von optischer Täuschung und theatralem Hohlspiegel. Inmitten der Kant-Rezeption lebt der Refraktionstheoretiker und Farbentheologe Schiller fort, der in den „Leiden des Lichts“ die Leiden der Kommunikation metaphorisch einfängt.300 ––––––––––––––

298 NA 26, 225. 299 Vgl. Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz: „Hier ist auch nicht die leiseste Erinnrung an Arbeit, Kunst und Bedürfnis. Wir werden das Medium nicht mehr gewahr, die Hülle schwindet, und unmittelbar genießen wir die reine Schönheit.“ KFSA, 1. Abt. Bd. 1, S. 298. Vgl. Neumann, Gerhard: Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik der Defiguration. In: Ders. / Kablitz, Andreas (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg i. Br. 1998 (= Rombach Litterae 52), S. 377-417; Stadler, Ulrich: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 91-105. 300 Schöne, Albrecht: Goethes Farbentheologie. München 1987, S. 63-67 („Leiden des Lichts“). Von Schillers kontinuierlichem Interesse an Fragen der Optik, die ihn auch immer wieder Anteil an Goethes Farbenlehre nehmen lässt, war bereits die Rede. Vielleicht gebührt auch hier Körner das Verdienst, den Vergleich angestoßen zu haben (an Schiller, 4.2.1793; NA 34/I, 227): „Ein gefärbter Körper wirft von der Oberfläche nur einen gewissen Theil der Lichtstrahlen zurück. Daß er diesen Teil in seiner Reinheit zurückwerfe, ist das Ziel der Kraft, welche das Ganze der Farbe begründet. Diese Kraft wird durch die Wirksamkeit heterogener Teile beschränkt. Daher das Schmutzige der Farben.“

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5. Eine Ästhetik der Vergesellschaftung 5.1. Sprachkrise (Ueber Anmut und Würde)

Mit den Kallias-Briefen erreicht dieser Weg durch Schillers Werk und Ästhetik vor der Klassik einen End- und Höhepunkt – nicht nur in chronologischer Hinsicht. Zwei Aspekte seien hervorgehoben: Einerseits sind die Briefe ein Schwellendokument, das die frühe mit der klassischen Ästhetik verbindet. Dass sie nicht das erste Dokument der Kant-Rezeption sind, hat die Analyse der Bürger-Rezension gezeigt. Dennoch nehmen sie auch in der Auseinandersetzung mit Kant eine Schlüsselposition ein. Diese ist nicht ohne Paradoxien. Einerseits ist in den Kallias-Briefen die Kant-Nähe am größten (nach Systematik und Begrifflichkeit), andererseits tritt gerade hier die Fortdauer eigener Positionen und Bildungsvoraussetzungen in Ethik, Poetik und Ästhetik am deutlichsten hervor (auf die aktuellen politischen Implikationen des Freiheits- oder Repräsentationsbegriffs wurde hingewiesen). Nichts zeigt diese Kontinuität deutlicher als die Verschiebung des Mittelkraft-Problems zur mediologisch-semiotischen Frage nach der Sprache als Organon eines nunmehr kommunikativ gewendeten commercium. Die Beilage setzt damit einerseits die Anthropologie der Karlsschulzeit, andererseits den an Winckelmann geschulten Klassizismus („Idealisierkunst“) der Bürger-Rezension fort, der immer wieder um die Opposition von Individuum und Ideal kreist. Andererseits enthalten die Kallias-Briefe Schillers klassische Ästhetik in nuce. Ihr wesentlicher Impuls ist das Projekt, Kant durch Kant zu korrigieren und zu überbieten. Kants Absage an ein objektives Prinzip des Schönen wird durch Entlehnung des Freiheitsprinzips aus der Kritik der praktischen Vernunft Umgangen und aufgelöst. Diese Übertragung bedingt eine kommutative Beziehung von Ethik und Ästhetik, Freiheit und Schönheit. Beide können bei Schiller in wechselseitiger Übertragung und Uneigentlichkeit aufeinander verweisen. Ist das Schöne ein Effekt des Sittlichen (Darstellung von Freiheit), so ist das Sittliche wiederum ein möglicher Ausdruck des Schönen („sittliche Schönheit“). Diese Kopplung von Schönheit und Erhabenheit ist eine Lösung der Kallias-Briefe, die schon in Ueber Anmut und Würde wieder kassiert wird zugunsten einer an Kant ausgerichteten doppelten Ästhetik des Schönen und des Erhabenen. In den KalliasBriefen dagegen wirkt das Paradigma des Klassizismus, Winckelmanns Griechenbild aus dem Brief eines reisenden Dänen weiter (das nun auch in Kant seine Spuren hinterlassen hat – so verschlingen sich die Einflüsse). Für die Kallias-Briefe gilt: Das Schöne ist das Erhabene.

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Erst die Erhebung über alles Heteronome, Schwere und Verformende des Stoffes ermöglicht den Aufstieg des Übersinnlichen, die „moralische Selbständigkeit des Menschen“.301 Im Rückgriff auf Winckelmann und gegen Lessing bleibt Laokoon das Paradigma des Schönen aus dem Erhabenen – diesseits und jenseits von Kant.302 Die Überwindung des Leides (Pathos) durch Freiheit ist Inbegriff des Menschen und Inbegriff der Kunst. Daneben bieten die Kallias-Briefe ein ganzes Spektrum von Themen an, die ohne Fortsetzung bleiben, über die klassische Ästhetik hinausweisen und das Briefkonvolut als ein ästhetisches Brouillon der eigenen, provisorischen Art ausweisen, von der am Anfang die Rede war. Auf diese verborgene und ungeschriebene Ästhetik sollen am Ende dieser Untersuchung zwei exemplarische Schlaglichter fallen. Das erste beleuchtet das Verhältnis von Ästhetik und Lebenswelt und zeigt Schiller auf dem Weg zu einer Theorie der Alltagskultur und der ‚Konversation‘ (im alten Sinne von Etikette, Zivilität, ‚Umgang‘), die am Ende sogar zum Zentrum des gesamten Schönheitsdiskurses erklärt wird. In der Geschmacksfrage stehen Kant und Schiller auf dem gemeinsamen Boden des aufgeklärten Diskurses. Das Schöne ist für Schiller eine soziale Kraft, die sich in konkreten Lebensvollzügen und in der Performanz des geselligen Lebens zeigt, in Tanz oder Konversation, in Kleidung, Interieurs oder in der Stilisierung des Lebensumfeldes. Viele dieser Themen finden sich beiläufig bei Kant, sie spielen ihre Rolle im Ornamentdiskurs und in den Debatten um das Manufakturwesen. Dennoch weisen Schillers Versuche, sie in eine allgemeine Kallistik einzugliedern, weit voraus. Nicht zufällig klingen in den Kallias-Briefen eine Reihe von Themen und Thesen an, die Georg Simmel um 1900 zum Gegenstand einer Soziologie der Kunst erheben wird (Ästhetik der Schwere, Über Schmuck, Mode u.a.). Wir verfolgen diese noch zarte Soziologie des Schönen andeutungsweise in die Ästhetischen Briefe hinein, wo sie am Ende dazu dient, Zivilität und Geselligkeit zur Keimzelle einer vorweggenommenen civitas aesthetica zu erklären. Der zweite Aspekt schließt an die Sprachphilosophie der Beilage zum letzten Kallias-Brief an und zieht die radikale Konsequenz aus der Krise der poetischen Sprache. Die Spekulationen der Beilage enden in derselben Aporie wie die commercium-Problematik insgesamt: der Dichotomie zwischen der schon von Lessing konstatierten „Geis–––––––––––––– 301 NA 20, 205. 302 Vgl. die Analyse in Ueber das Pathetische; NA 20, 205-209. Zum Rezeptionskontext kursorisch Nisbet, Hugh Barr: Laocoon in Germany: The Reception of the Group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 22-63, hier S. 39-41.

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tigkeit“ der Sprache und der prätendierten Sinnlichkeit der poetischen Rede, wie sie die evidentia-Tradition und vor allem Lessing und Klopstock forderten. Die klassische Ästhetik wird den Faden der Sprachreflexion nicht mehr aufgreifen, so dass Wilhelm von Humboldt ihr vollständiges Fehlen konstatieren konnte. Die großen Essays entwerfen eine Ästhetik im Zeichen von Anthropologie (Ueber Anmut und Würde) und Politik, Kultur- und Zivilisationsgeschichte (letzteres am Ende der Ästhetischen Briefe). An ihrem Ende steht die Einsicht, dass in der Sprache die „vollständige anthropologische Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt“303, wie es der vierte Ästhetische Brief formuliert, „an ihre Grenze zu stoßen“ scheint304. Die ideale poetische Sprache ist eine Sprache jenseits der Sprache, die Wesen und „Tendenz“ der Sprache zum Unsinnlichen durchbricht. „Hier beginnt der Bereich des Verstummens bei Schiller“305, der sich bereits in den frühen Dramen ankündigt. „Ein entsetzliches Schicksal hat die Sprache unsrer Herzen verwirrt“, ruft schon Luise in Kabale und Liebe aus (V, 7).306 Die Sprachnot treibt ein fein instrumentiertes körpersprachliches Spiel hervor, welches das Verstummen der Luise durch die sprechenden Züge der Pathognomik kompensiert. So lässt sich Kabale und Liebe als Drama der Medien verstehen, in dem der Konflikt zwischen Hofberedsamkeit und eloquentia corporis mit dem zwischen verstellender Schrift und rettender, jedoch verwehrter Mündlichkeit verschränkt ist. Zwar versucht sich Schiller im Don Karlos in einer „ganz neue[n] Art von Sprache“307; die gestörte Hermeneutik sprachlicher wie außersprachlicher Zeichen, die Labilität der Kommunikation und die daraus resultierende „existentielle Verunsicherung“308 der Menschen bleibt jedoch das zentrale Thema – vor und nach der Klassik. Schon das „räthselhafte Schweigen“309, in das Karlos in der 1. Szene versunken ist, besitzt leitmotivische Funktion für ein Stück, das Sprache vor allem als Hindernis von Verständigung zeigt. Karlos’ Weg ist der einer „zunehmende(n) Desillusionierung, was die Möglichkeiten des Wortes angeht“.310 Lüge, Missverstehen, verweigerte Auskunft oder rätselhaftes Verstummen sind Symptome einer Agonie der Sprache, –––––––––––––– 303 304 305 306 307 308 309 310

NA 20, 316. Bräutigam: Generalisierte Individualität, S. 150. Wiese: Schiller, S. 437. NA 5, 102. Vgl. Müller-Seidel, Walter: Das stumme Spiel der Luise Millerin. In: Goethe-Jahrbuch N.F. 17 (1955), S. 91-103. NA 42, 73. Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 199. NA 7 I, 363. Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 201.

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die nur scheinbar auf die höfische begrenzt bleibt. Paradigma einer Kommunikation der Kälte und Distanz ist die Schrift. Don Karlos ist vor allem ein Drama des Schreibens, in dem der Buchstabe tötet, wie im Falle der „Bluturtheile“311 oder der „Zeugnisse, die ganz / unwidersprechlich sie [die Königin] verdammen“.312 Die schriftliche Mitteilung, hier in Form des Briefes, symbolisiert „die kaum zu kontrollierende Vieldeutigkeit und die fehlende Unmittelbarkeit linguistischer Zeichen“.313 Das Hantieren mit Unterschriften, Verpflichtungen, Akten und Dokumenten bestimmt denn auch kaum zufällig die zentrale Intrige des Wallenstein. Und noch das Demetrius-Fragment lässt sich als skeptisches Lehrstück über die prekäre Sprache der Identität lesen, dessen Pointe gerade darauf beruht, dass in der entscheidenden Begegnung zwischen dem falschen Prinzen Demetrius und seiner vorgeblichen Mutter Marfa die Natur nicht spricht.314 Der klassische Schiller gibt also seine sprachskeptischen Positionen keineswegs auf, eher im Gegenteil. Im Anschluss an die Sprachreflexion der Kallias-Briefe wird die Reflexion über ein Jenseits der Sprache forciert. Aus der Aporie der Begriffssprache wird in Ueber Anmut und Würde der Versuch, die gesprochene Sprache als Fessel und Widerstand ihrerseits zu umgehen und die Körpersprache als das Andere der Worte kompensatorisch aufzubauen. Ueber Anmut und Würde ist daher negative Sprachpoetik. In Schillers Tonfall ausgedrückt: Die Sprache des Schönen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie keine Sprache mehr ist. Sprachphilosophie wird abgelöst durch Physiognomik, das Trauma der Repräsentation durch die Unwillkürlichkeit der Mimik und Pathognomik getröstet – um den Preis einer weiteren Entfernung von der Frage literarischer Sprache und Mitteilung. Die Anthropologisierung der Ästhetik ist der Ausweg aus einer ästhetischen Aporie, aus den Schwierigkeiten mit der poetischen Sprache. Immer wieder umspielt die klassische Ästhetik daher die im Aphorismus Sprache konstatierte Aporie. Dies führt dazu, dass das (die) Schöne nicht (mehr) spricht. Wesenserkenntnis wird in Ueber Anmut und Würde zur Sache des Blicks, nicht mehr des Ohrs. Bezeichnend ist eine Stelle wie die folgende: „Indem eine Person spricht, sehen wir zugleich ihre Blicke, ihre Gesichtszüge, ihre Hände, ja oft –––––––––––––– 311 NA 6, 22 (v. 355). 312 NA 6, 197 (v. 4001). 313 Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 206; Seidlin, Oskar: Schillers „trügerische Zeichen“. Die Funktion der Briefe in seinen frühen Dramen. In: Berghahn, Klaus L. / Grimm, Reinhold (Hg.): Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen. Darmstadt 1972 (= Wege der Forschung 323), S. 178-205. 314 Robert: Selbstbetrug und Selbstbewusstsein.

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den ganzen Körper mitsprechen, und der mimische Theil der Unterhaltung wird nicht selten für den beredtsten geachtet“.315 Die Tendenz zum Sprach- und Medienwechsel wird von einer „Logik des Komplements“316 angetrieben, welche Anmut in eine unabschließbare Dialektik von künstlich und natürlich, willkürlich und unwillkürlich einlässt.317 Gegen die bewusste Sprachkunst setzt Schiller eine Theorie der unbewussten, gleichsam somnambulen Physis. Dies bedeutet nicht nur eine Abwertung der Kunst, sondern auch der Sprache insgesamt. Die Sprache des Körpers ist das Andere der Begriffssprache, aber auch das Andere der Kunst: Die willkührliche Bewegung ist mit der ihr vorangehenden Gesinnung zufällig, die begleitende hingegen nothwendig damit verbunden. Jene verhält sich zum Gemüth, wie das conventionelle Sprachzeichen zu dem Gedanken, den es ausdrückt; die sympathetische oder begleitende hingegen wie der leidenschaftliche Laut zu der Leidenschaft. 318

Vertrauen verdient damit nur die sympathetische Sprache der Affekte. Was den Menschen ‚zeigt‘, ist die Sprache der Kreatürlichkeit. Nicht in der willkürlichen Bewegung der intendierten Zwecke, sondern nur in der „begleitende(n) Bewegung“, so Schiller, „offenbare“ sich „der Geist“. Daher wird man aus den Reden eines Menschen zwar abnehmen können, für was er will gehalten seyn, aber das, was er wirklich ist, muß man aus dem mimischen Vortrag seiner Worte und aus seinen Gebärden, also aus Bewegungen, die er nicht will, zu errathen suchen.319

Das ist, nur wenig variiert, die Quintessenz jener „dramatischen Methode“, von der Schiller in der Vorrede der Räuber gesprochen hatte, nämlich „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“.320 Grazie als „bewegliche Schönheit“ ist zugleich transitorische Schönheit, die im Sinne einer Ästhetik der Präsenz überraschend, plötzlich und unvermittelt hervorleuchtet, wie jene „Freiheit in der Erscheinung“ der Kallias-Briefe. Andererseits wird hier an den Versuch ueber den Zusammenhang angeschlossen, der über die Voraussetzungen der Physiognomik in einem „Nervenzusammenhang“ spekuliert hatte.321 Noch das alte, mit Lichtenberg geteilte Unbehagen –––––––––––––– 315 316 317 318 319 320 321

NA 20, 266. Schneider, Sabine: Die schwierige Sprache des Schönen, S. 122. Ebd. S. 122-135. NA 20, 268. Ebd. NA 3, 5 (Vorrede zur ersten Auflage der Räuber). § 22; NA 20, 68: „Eben diese innige Korrespondenz der beiden Naturen stüzt auch die ganze Lehre der Physiognomik. Durch eben diesen Nervenzusammenhang, wel-

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gegenüber Lavaters Physiognomik der ‚festen Teile‘ hat Bestand, Schiller geht es um Pathognomik, die Semiotik der Affekte.322 Was auf der Seite der Worte negativ zu Buche schlägt, wird umgekehrt zum Vorzug der Körpersprache. Arbitrarität wird durch Natürlichkeit überboten, das konventionelle Zeichen zugunsten des natürlichen abgewertet. Es fällt schwer, dies nicht als grundlegende Sprach- und Medienkritik zu werten. Das entseelte Wort ruft nach der beseelten Geste, die zum „mimischen Spiegel der Seele wird“.323 Der Anmut wird die Aufgabe zugewiesen, zwischen willkürlich und unwillkürlich zu vermitteln, indem sie Kunst und Natur integriert: Ob aber gleich die Anmuth etwas unwillkührliches seyn oder scheinen muß, so suchen wir sie doch nur bey Bewegungen, die, mehr oder weniger, von dem Willen abhängen. Man legt zwar auch einer gewissen Gebärdensprache Grazie bey, und spricht von einem anmuthigen Lächeln und einem reizenden Erröthen, welches doch beydes sympathetische Bewegungen sind, worüber nicht der Wille, sondern die Empfindung entscheidet. 324

Anmut steht am ‚Indifferenzpunkt‘ von Natur und Kunst, sie ist jene „Natur in der Künstlichkeit“, von der in den Kallias-Briefen die Rede war: Wenn also die Anmuth eine Eigenschaft ist, die wir von willkührlichen Bewegungen fodern, und wenn auf der andern Seite von der Anmuth selbst doch alles willkührliche verbannt seyn muß, so werden wir sie in demjenigen, was bey absichtlichen Bewegungen unabsichtlich, zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüth entsprechend ist, aufzusuchen haben.325

Kant hatte betont, dass im Falle der menschlichen Gestalt „das Ideal in dem Ausdrucke des Sittlichen“ bestehe, „ohne welches der Gegenstand nicht allgemein […] gefallen würde“.326 Aus dem Als-ob-Verhältnis von Sittlichkeit und Schönheit wird bei Schiller ein Spiegelungsverhältnis im Sinne der Physiognomik. Auch ihm geht es um die „sympathetischen Bewegungen“, unter denen diejenigen verstanden

––––––––––––––

322 323 324 325 326

cher, wie wir hören, bei der Mittheilung der Empfindungen zum Grunde ligt, werden die geheimsten Rührungen der Seele auf der Aussenseite des Körpers geoffenbahrt, und die Leidenschaft dringt selbst durch den Schleier des Heuchlers.“ Riedel: Anthropologie, S. 142-151. NA 20, 269. NA 20, 270f. NA 20, 271. Kant: Werke, Bd. 8, S. 318 (KdU § 17). Zweifellos steht auch er hier im Bann Winckelmanns und des Klassizismus; dies zeigen an dieser Stelle sittliche Kategorien wie „Seelengüte, oder Reinigkeit, oder Stärke, oder Ruhe usw.“

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werden, „welche der moralischen Empfindung oder der moralischen Gesinnung zur Begleitung dienen“.327 5.2. Doppelte Anthropologie (Ästhetische Briefe) Der Essay Ueber Anmut und Würde entwirft eine Sprachtheorie ex negativo bzw. ex silentio: Mitteilung ohne oder doch ohne sichtbare Vermittlung, Kommunikation ohne Repräsentation. Auch diese Sprache bleibt jedoch notwendig auf Mitteilung und Gesellschaft bezogen, das Schöne zeigt sich im intersubjektiven Raum – oder es existiert gar nicht. Schiller stimmt mit Kant darin überein, dass das Schöne causa publica sein muss, die sich eo ipso nicht auf „Privatbedingungen“ beschränken kann. Grazie entfaltet sich daher nur als soziale Tugend, als Schönheit im Anschauen der Anderen. Zur Spezifik des Schönen bei Schiller gehört eine pragmatisch-performative Funktion, die sich im Sprach-Handeln offenbart. Das Schöne stiftet Gesellschaft und Gemeinschaft. Diese intersubjektive Dimension des Schönen, ihr Bezug auf Geselligkeit, gehört zu jenen Grundbeständen, die Schiller und Kant auf je eigene Weise der Aufklärungsästhetik und -poetik verdanken.328 Nur als animal sociale ist der Mensch auch animal poeta329. „Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft“330, schreibt Kant. Schiller stimmt ihm darin zu, geht jedoch noch einen Schritt weiter in Richtung einer Soziologie der schönen Formen, wie sie ein Jahrhundert später Georg Simmel fortführen wird (auf die Überschneidung der Themen und Interessen wurde bereits hingewiesen). In dieser ‚guten‘ Gesellschaft als Raum kultivierter ästhetischer Sitten behauptet sich punktuell, was in der „schönen Welt“ Griechenlands (im Sinne der Götter Griechenlandes) universell galt. So wenig wie Kant sieht Schiller dabei, dass er konkrete soziale und historische Kulturen der Geselligkeit anthropologisch universalisiert. Aus der guten Gesellschaft wird Gesellschaft überhaupt deduziert. Am Ende der Kallias-Briefe heißt es in diesem Sinne: „Es ist auffallend, wie sich der –––––––––––––– 327 NA 20, 266. 328 Ich erinnere an dieser Stelle exemplarisch an die grundlegende Studie von Fritz Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Exemplarisch Gaus, Detlef: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart 1998; Peter, Emanuel: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999 (= Studien zur deutschen Literatur). 329 Eibl, Karl: Animal poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004; ders.: Kultur als Zwischenwelt. 330 KdU § 41, S. 393.

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gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt“. Da Schönheit von Anfang an eine Kategorie der praktische Vernunft ist, kann sie nun zurück in die soziale Praxis scheinen. Die Doppelforderung „schone fremde Freiheit“ und „zeige selbst Freiheit“ bezeichnet hier das „Ideal des schönen Umgangs“, der „gute Ton“ macht den „vollendeten Weltmann“.331 Aus der revolutionären Forderung nach einer neuen Gesellschaft wird auf diese Weise die Forderung nach guter Gesellschaft, in der sich Freiheit durch wechselseitige Achtung, Rücksicht und Dezenz wie spontan einstellt. Schiller verschiebt den Freiheitsbegriff damit aus der Sphäre der (aktuellen) Politik in die der Geselligkeit. Zugleich bezieht er den Freiheitsbegriff der Kantischen Ethik auf ältere sozialgeschichtliche Konzepte aus der Geschichte des Zivilisationsprozesses. Die Kallistik kehrt, kurz gesagt, zur Tradition der Hoftrakte und der Verhaltenslehren, der ‚pragmatischen‘ Anthropologie und ihrer Verhaltenslehren zurück332. Das Ideal des schönen Umgangs steht in der frühneuzeitlichen Tradition der conversatio civilis333. Der Ursprung des ästhetischen Staates liegt, wie schon die Konzepte Anmut und Grazie, in der Hofmannliteratur in der Tradition Baldassares Castigliones („sprezzatura“), die um 1800 einen letzten Höhepunkt in Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788) und Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (erschienen 1798) findet.334 Eine Besonderheit der Schiller’schen Konzeption des ‚guten Tones‘ steht im Zu–––––––––––––– 331 NA 26, 216. 332 Neben Simmel wird Helmuth Plessner der große Nachfolger dieser Tradition einer soziologischen Ästhetik im 20. Jahrhundert werden. Sein Werk Grenzen der Gemeinschaft (1924) schließt in vielen Aspekten („Hygiene des Taktes“, Zivilisationstheorie) an die doppelte Genealogie der Hofliteratur und der Schiller’schen Ästhetik an. Dies zeigt ein zentraler Satz an wie: „Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spieles.“ Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Mit einem Nachwort von Joachim Fischer. Frankfurt/Main 2001 (= stw 1540), hier S. 94. Unmittelbar gegenwärtig ist Schiller in Plessners Definition von sozialem ‚Verkehr‘ (ebd. S. 80): „Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen.“ 333 Bonfatti, Emilio: La ‚Civil Conversazione‘ in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge (1574-1788). Udine 1979. 334 Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 51-61. Die Beschreibung des Marchese von Civitella im Geisterseher mag den ‚Sitz im Leben‘ der Anmut in der Adelsgesellschaft verdeutlichen: „Denken Sie sich die bezauberndste Figur, mit Würde und Anmut getragen, ein Gesicht voll Geist und Seele, eine offne einladende Miene, einen einschmeichelnden Ton der Stimme, die fließendste Beredsamkeit, die blühendste Jugend mit allen Grazien der feinsten Erziehung vereinigt. Er hat gar nichts von dem geringschätzigen Stolz, von der feierlichen Steifheit, die uns an den übrigen Nobili so unerträglich fällt. Alles an ihm atmet jugendliche Frohherzigkeit, Wohlwollen, Wärme des Gefühls.“ NA 16, 118.

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sammenhang mit der Sprachskepsis der Kallias-Briefe. Zivilität verwirklicht sich nicht primär in ‚Konversation‘ (im heutigen Sinne), sondern im „gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren componierten englischen Tanz“.335 Dabei kommt es nicht auf das Paar an, sondern auf den „Zuschauer [auf] der Galerie“, der „unzählige Bewegungen“ beobachtet, „die sich aufs bunteste durchkreuzen, und ihre Richtung und muthwillig verändern, und doch niemals zusammenstoßen“.336 Insofern ist der Tanz das „treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen und der geschonten Freiheit des andern“.337 Die ästhetische Form wird zur Grundlage der sozialen. Gesellschaft wird rhythmisiert, der ästhetische Staat ist eine Tanzgemeinschaft. In ihr verwirklicht sich das Ideal einer kollisionsfreien Selbstorganisation, das Schiller in der Elegie Der Tanz (1795) als „stilles Gesetz“ bezeichnen wird.338 Damit ist ein Gipfel in der Mythisierung konkreter historischer Lebenswelten zu universaler Bedeutsamkeit erreicht. Höfisch-bürgerliche Repräsentationskultur wird zum Analogon kosmischer Konstellationen und scheinbar prästabilierter Harmonie. Schillers Ästhetik der Geselligkeit zielt auf Vermeidung von Unfällen und Zusammenstößen, auf Konfiguration statt Kollision. Dass damit zugleich eine politische Leitidee formuliert wird, liegt auf der Hand. Wie sehr Schiller politische aus ästhetischer Ordnung, Gesellschaft aus Geselligkeit ableitet, zeigt der letzte der Ästhetischen Briefe. Er greift die Überlegungen der Kallias-Briefe zum schönen Ton auf, konkretisiert diese jedoch mit dem ominösen Hinweis, dass dieser „in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift“.339 Der Hinweis auf die „wenigen auserlesenen Zirkeln“340 erinnert nicht nur an den Hermetismus der Geheimlogen, deren Bannkraft einmal mehr durchscheint. Vor allem wird hier ein ideen- und kulturgeschichtlicher Kreis geschlossen. Das Gründungsdokument der Weimarer Klassik schließt „Kantische Grundsätze“ unmittelbar an Traditionen der europäischen Adelskultur341 und ihrer Kommunikationsideale342 an. Ästhetische Erziehung mündet somit in das ein, was Kant – zeitgleich mit Schiller – als „pragmatische Anthropologie“ neu fassen und von der Platnerschen als „physiologische(r) Menschenkenntnis“ ab–––––––––––––– 335 336 337 338 339 340 341 342

NA 26, 216. NA 26, 216f. NA 26, 217. NA 1, 228, v. 18. NA 20, 412. Ebd. Burger: Europäisches Adelsideal. Göttert: Kommunikationsideale, bes. S. 157-162.

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heben wird.343 Während diese „auf die Erforschung dessen“ abziele, „was die Natur aus dem Menschen macht“, richtet sich pragmatische Anthropologie auf „das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“.344 Mit seiner letzten großen Schrift konkretisiert Kant damit den Kern seiner Ethik. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist ihr lebensweltliches Komplement, eine Pragmatik der praktischen Vernunft. Zwei Anthropologien stehen sich hier gegenüber. Mit Entschiedenheit weist Kant dabei die der ‚philosophischen Ärzte‘ zurück. „Wer den Naturursachen nachgrübelt“, kann über Phänomene wie Erinnerung oder Wahrnehmung spekulieren, bleibe jedoch dabei stets ein „bloßer Zuschauer“, welcher „die Natur machen lassen muss“.345 Alles „theoretische Vernünfteln hierüber“ sei „reiner Verlust“ gegenüber einem Zugewinn an „Weltkenntnis“.346 Unabhängig voneinander formulieren damit Schiller und Kant im Abstand weniger Jahre eine Theorie der Gesellschaft als Theorie des „schönen Umgangs“. Wenn Schillers Ästhetik eine ‚doppelte‘ ist (im Sinne von Carsten Zelle), dann muss auch von einer „doppelten Anthropologie“ im Sinne Kants gesprochen werden. Am Ende der Genealogie des Schönen steht der Versuch, beide Anthropologien in den Ästhetischen Briefen in ein Bedingungsverhältnis zu setzen, Triebstruktur und Gesellschaft zu vermitteln und nicht, wie Kant vier Jahre später, die radikale Ausgrenzung der einen zugunsten der anderen zu betreiben. Schillers ästhetische Anthropologie bewegt sich am Kreuzungspunkt beider Anthropologien. Erst die Restitution des Individuums zum ‚ganzen‘ Menschen lässt das Ziel der gesellschaftlichen Restitution mindestens als Utopie denkbar erscheinen. Am Ende der ästhetischen Erziehung gewinnt der Blick auf den „Staat des schönen Scheins“, mit dem auch unsere Genealogie der Schiller’schen Ästhetik an ihr Ende gelangt, ein schillerndes, „zwitterartiges“ Ansehen, dessen ideen- und diskursgeschichtlichen Filiationen aus der Vor-Klassik hier ansatzweise zu klären waren. Die ‚auserlesenen Zirkel‘, von denen die Rede ist, stehen genealogisch zwischen „höfisch-bürgerliche(r) Spielkultur der Literatur-, Musik-, Kunst- und Theaterverbindungen“347 und heilsgeschichtlich-eschatologischer Emphase. Wenn Schiller das neue Reich des Schönen als weltliches Gegenstück zur „reine(n) Kirche“ denkt, steht ein altes Modell spirituel–––––––––––––– 343 344 345 346 347

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Kant: Werke, Bd. 10, S. 399. Ebd. Ebd. Ebd. Zelle: Über die ästhetische Erziehung, S. 436.

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ler Staatsgründung Paate. Der ästhetische Staat ist der säkulare Erbe des augustinischen Gottesstaates. Jenseits von Kant kommt damit am Ende eine Grundfigur alteuropäischer Geschichtsreflexion neu und folgenreich – man denke an die Spekulationen um das Geheime Deutschland im George-Kreis348 – wieder auf die Tagesordnung. Die civitas dei steht bei Augustinus der civitas terrena ebenso spannungsvoll gegenüber wie bei Schiller der Natur- dem Vernunftstaat. Der wesentliche Unterschied besteht nun darin, dass Schiller die Idee einer ‚unsichtbaren Kirche‘349, die unbemerkt schon hier und jetzt inmitten der ‚falschen‘ existiert (als Gemeinschaft der echten Christen), auf die Bürger des ästhetischen Staates überträgt. Einmal mehr wird Religion durch Kunst kompensiert, christliche Heilsgeschichte zur ästhetischen verwandelt. Das Finale der Ästhetischen Briefe fasst damit noch einmal die wichtigsten Motive und methodischen Prämissen jener ästhetischen Vor-Klassik zusammen, deren Wege und Umwege in den vorausgegangenen Kapiteln beschrieben wurden: der „Bildertaumel der Darstellung“350 zeigt sich in der Ambivalenz seines Staatsbegriffs. Dies gilt im Grunde schon für Rousseaus „état naturel“. Er lässt eine Auflösung ins Anthropologie (Natur-Zustand) wie ins Politische (NaturStaat) zu. Beide Bedeutungstendenzen nimmt Schiller nicht nur auf, sondern setzt sie sogar zueinander in Beziehung, so dass die anthropologische geradezu zur Voraussetzung und Erklärung der politischen wird. Die politische Ordnung wird aus der anthropologischen Unordnung abgeleitet. Schiller macht aus einer semantischen Unschärfe ein Argument in der Sache. ‚Staat‘ – ohnehin changierend mit ‚Reich‘ – nimmt bei Schiller ganz heterogene Bedeutungen an: Neben dem Staatsgebilde und der Staatsverfassung (politisch), findet sich Staat im Sinne von Gesellschaft sowie Reich im biologischen Sinne (imperium naturae, imperium plantarum). Eine andere Kontinuität zwischen Vorklassik und klassischer Ästhetik ist eine Faszination für Geheimbünde und Initiation. Die ‚auserlesenen‘ Zirkel besetzen dabei die Funktion neu, die im gleichnamigen Gedicht den Künstlern als Missionaren (oder besser: Emissären) des Schönen aufgetragen war. Schon in den Künstlern setzt diese Funktion einen kulturkritischen Standpunkt voraus. Die Diagnose der Krise tritt jedoch gegenüber dem Optimismus, an der Schwelle –––––––––––––– 348 Zur George-Filiation vgl. meinen Beitrag: Schiller – Kommerell – George – Eine Konstellation der Moderne.“ In: High, Jeffrey / Martin, Nicholas / Oellers, Norbert (Hg.): „Who is this Schiller now”. Essays on his Reception and Significance. Rochester / New York 2011, S. 367-382. 349 Simonis, Walter: Ecclesia visibilis et invisibilis. Frankfurt/Main 1970. 350 Alt: Schiller, Bd. 2, S. 150.

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einer neuen Epoche der Vernunft zu stehen, in den Hintergrund. Fünf bzw. sechs Jahre später haben sich die Verhältnisse geändert, die Revolution hat die Krise der politischen Ordnungen konkretisiert. Die Lösung bleibt jedoch zwischen 1789 und 1793/94 gleich. Der Ausweg aus dem gegenwärtigen Unheil wird einer ästhetischen Peergroup zugewiesen, die Schiller mit Zügen der modischen Geheimbünde versieht. Nicht mehr die Künstler sondern die Angehörigen der monde selbst sind nun die Illuminaten des Schönen. Die ästhetische Erziehung wäre ohne den Hintergrund der Geheimbünde – und ihres Scheiterns – nicht vorstellbar. Bei aller Polemik gegen die Infiltrations- und Manipulationsstrategien der geheimen Orden (ob Jesuiten oder Illuminaten) hält Schiller doch an der Idee einer Aufklärung ‚von oben‘ fest. Diese kollidiert keineswegs mit dem Appell zur Rettung der Freiheitsrechte des Individuums, sofern diese immer nur die Freiheit des mündigen Subjekts meint, die durch pädagogische List bzw. Hinterlist erst geweckt werden muss. Der ästhetische Staat setzt „eine symmetrische Kommunikationssituation“351 voraus. Diese ist unter den Bedingungen ästhetischer „Notstandsgesetzgebung“352 vorerst das Ziel, aber nicht die Regel. Die „Vision einer unterdrückungsfreien Kultur auf der Ebene einer reifen Zivilisation“353 bedarf in der gesellschaftlichen Realität („der That nach“354) eines Zivilisierungsprogramms, das auf die verschwiegene Führung der Erzieher setzt. Nicht die Frage ‚Was ist Aufklärung‘ treibt Schiller um, sondern die Frage ‚Was ist Erziehung‘ und mit welchen Mitteln ist sie zu bewerkstelligen. Die Widersprüche zwischen einer Ethik bzw. Ästhetik der Freiheit und der Notwendigkeit der Nötigung sind nur auf den ersten Blick verwirrend. Tatsächlich ist zu wenig gesehen worden, dass Schillers doppelte Ästhetik auch eine doppelte Wirkungsästhetik impliziert355, die einmal den mündigen und das andere Mal den unmündigen Rezipienten fordert. Die Theorie des Erhabenen als eine Theorie der Freiheit zielt auf das mündige Subjekt, wo die Theorie des Schönen mit der Betonung von Wunder, Magie und Faszination ältere Tradition der Aufklärungspoetik („Bemeisterungskunst“) zitiert. Die Irritation besteht –––––––––––––– 351 Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 435. 352 Zelle, Carsten: Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch, S. 440-468. 353 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt/Main 1987, S. 195. 354 NA 20, 412. 355 Dazu erstmals klar im Hinblick auf die Wirkungsästhetik Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 122-150.

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nun darin, dass Schiller auch nach der Wende zu Kants Freiheitsbegriff, zum Erhabenen und zum freien Vergnügen an der unbedingten Wirksamkeit der älteren Idee von Einfluss und Einwirkung festhält. Ihre Analogien zur „influxus physicus“-Vorstellung sind evident.356 Schiller teilt völlig Kants Ideale von Freiheit, Mündigkeit und Aufklärung, sieht jedoch den „Ausgang“ aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ weniger optimistisch. Die Aufgabe der Künstler wie der bereits in das Schöne Initiierten besteht gerade darin, diesen „Ausgang“ möglich zu machen und zu steuern. Dass sich die Kunst systematisch im Vorfeld der Vernunft situiert, in einer Art konstitutiver Vorläufigkeit, ist eine Heteronomie, die Schillers Ästhetik und Geschichtsphilosophie bis zum Ende nicht verarbeitet. Die Sehnsucht nach einem Zweck in Geschichte und Gesellschaft widerstreitet der prätendierten Zweckfreiheit. Die ästhetische Erziehung und das Reich des schönen Scheins bleiben ein Transit(be)reich auf dem Weg des Menschen zu seiner Bestimmung, die dann gleichsam exterritorial, außerhalb der Künste, liegen müsste. So ist Schiller der erste und wichtigste Garant für jenes Ende der Kunst, das Hegel dann – im Namen der Philosophie – proklamieren wird. Zwischen den Künstlern und den Ästhetischen Briefen hat sich wenig an dieser elementaren, von Wieland zuerst gesehenen Aporie geändert. Autonomie und Heteronomie der Kunst stehen weiterhin in paradoxer Weise nebeneinander. Der Ton ist nun resignativer, verschwunden die Hoffnung auf eine baldige Realisierbarkeit der passage zur Vernunft. Dies zeigt sich schon darin, dass in ganz skandalöser Weise unklar bleibt, wer eigentlich die ästhetische Erziehung und mit welchen Mitteln bewerkstelligen soll. Präsentierten die Künstler eine ästhetische Elite nach dem Modell eines militärischen Ordens oder Geheimbundes, so klingen die Briefe mit ihren ‚auserlesenen Zirkeln‘ verhaltener und ziviler, aber auch ein wenig ratlos aus. Mag das Spiel der Schönheit gelegentlich als „ein Kriegsspiel im Dienst der Vernunft“357 erscheinen, so löst doch der „gute Ton“ den Ton der militärischen Disziplin aus den Künstlern oder den Malthesern ab. Den Schlusspunkt bildet ein Motiv aus dem Fundus der säkularisierten Heilsgeschichte, die alsbald ihrer Resakralisierung durch die jüngere Idealistengeneration entgegensieht. Die Idee einer „reine(n) Kirche“ zeigt die kompensatorischen Energien, die Schillers Weg von der Metaphysik zur Ästhetik, von der Religion zur Kunst antreiben. Hier –––––––––––––– 356 Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 139-141. 357 Riecke-Niklewski, Rose: Die Metaphorik des Schönen. Eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen‘. Tübingen 1986 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 39), S. 91.

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werden andere anschließen, etwa drei Tübinger Stiftler, deren „Systemprogramm“ nun – wie sich gezeigt hat – keinesfalls mehr das ‚erste‘ des deutschen Idealismus genannt werden sollte.

VIII. Resümee und Ausblick VIII. Resümee und Ausblick 1.

Ziel dieser Studie war ein Neuansatz innerhalb der Schiller- und der Klassikforschung. Im Zentrum stand Schillers frühe Ästhetik – im weitesten Sinne. Untersucht wurden die vielfältigen Diskurse, Formen und Themen der Reflexion über Kunst, Poetik und Medien im Bogen von der Hohen Karlsschule bis zur Kantrezeption und darüber hinaus. In der Wahl dieses zeitlichen Untersuchungsfeldes spiegelt sich eine Vorannahme dieser Studie. Sie besagt, dass bereits in der Periode vor der Klassik – d.h. vor der Lektüre der Kantischen Ästhetik und der Begegnung mit Goethe – bleibende Strukturen der Schiller’schen Ästhetik ausgebildet werden. Der Blick auf den Ausschnitt kann so die Physiognomie des Autors in seiner Epoche erhellen. Dieser Ansatz ist geeignet, unterschätzte Kontinuitäten jenseits der topischen Kehren (Goethe und Kant) zu erhellen. Er ist genetisch und – mit Nietzsche – genealogisch zu nennen. Letzteres gilt in doppelter Weise. Genealogisch ist zunächst die Bedeutung, die der Chronologie, Dynamik und inneren Evolution der Schiller’schen Theoriebildung zugewiesen wird. Schiller zeigt sich als aestheticus schon in seinen medizinischen Studien. Seine Reflexion über Kunstfragen setzt weder mit Kant ein noch endet sie mit ihm. Die Kant-Rezeption bleibt eine, wenn auch zentrale Episode innerhalb einer Entwicklung, die durch äußere Anregungen, Begegnungen und ‚Konstellationen‘ immer neu angestoßen wird. Wesentliches Anliegen dieser Studie war es daher, diesen kontinuierlichen Prozess offener, ja provisorischer Theoriebildung im Blick auf ihre Konstitutionsphase neu und in methodischer Pluralität herauszuarbeiten. Die innere Vielfalt der Texte und Probleme erfordert eine bewegliche Literaturwissenschaft, die zwischen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, klassischer Literaturwissenschaft und Kultur- bzw. Mediengeschichte vermittelt. Die zuletzt (durch die Schiller-Jubiläen) neu belebte Diskussion um Schillers Ästhetik musste dazu von der teleologischen Fixierung auf die Kant-Rezeption gelöst werden. Tatsächlich ließ sich zeigen, dass die Kant-Lektüre keineswegs eine ästhetische ‚Stunde Null‘ bedeutet, im Gegenteil. Schiller begegnet dem Kantischen System vor dem Reflexionshorizont der Anthropologie und

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Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die er sich auf der Hohen Karlsschule und teilweise noch parallel zur Kantlektüre selbst aneignet. 2. Solchen Einschränkungen zum Trotz bleibt das Verhältnis zu Kant eine Kardinalfrage – auch in dieser Studie, die mit einem Ausblick auf Kallias-Briefe, Ueber Anmut und Würde und die Briefe über die ästhetische Erziehung schließt. Das Eindriften auf Kant ist schwerlich als bloßes Missverständnis, als Irrweg oder schlicht als „Mesalliance“1 zu bezeichnen. Schiller hat sich in wesentlichen Punkten (Freiheits- und Schönheitsbegriff, ‚doppelte Ästhetik‘, allgemeine Mitteilbarkeit des Schönen, auch in der Geschichtsphilosophie) als überzeugter Kantianer verstanden. Die Begegnung mit der Kritik der Urteilskraft stellt zweifellos den Wendepunkt seiner theoretischen Bemühungen dar. Dennoch kann der Schwur auf „Kantische Grundsätze“2 nicht den Fortbestand vorkritischen Gedankenguts verdecken. Schiller rezipiert Kant vor dem Hintergrund einerseits der Platnerschen Anthropologie, andererseits der Ästhetik der Aufklärung, deren Prämissen und Autoritäten ja auch Kant oft unausgesprochen teilt (Geschmack, doppelte Ästhetik, Klassizismus usw.). Noch die ästhetischen Briefe verarbeiten die Kantische Transzendentalphilosophie unter den Voraussetzungen der frühen „Mittellagenanthropologie“3. Ein erheblicher Teil der Briefe (vor allem das erste und letzte Drittel) schließt an Themen und Thesen aus der Phase der Künstler an, die im Gespräch mit Wieland, Moritz und Körner erarbeitet wurden. Schillers Denken ist zugleich beharrlich und wandlungsfähig. Es ist bestimmt von der Suche nach Anknüpfung und Synthese im Strukturellen wie im Begrifflichen. Ältere Konzeptbestände werden nicht verworfen, sondern semantisch neu gefüllt („Spiel“, „Anmut“, „naiv“, „sentimentalisch“, „lebende Gestalt“ usw.). Ein solches Synthesenbedürfnis ist nicht als Ausdruck konzeptioneller Schwäche zu werten. Es folgt vielmehr dem Impuls, mit Hilfe der frühen Erfahrungen die Aporien der Kantischen Ästhetik – und der Aufklärungsästhetik insgesamt – zu überwinden. Der Schritt über die Kantische Grenzlinie erfolgt über den dialektischen Rück-Schritt zur älteren Aufklärungsästhetik. Die Suche nach einem „objectiven Begriff des Schönen, der sich eo ipso auch zu einem objectiven –––––––––––––– 1 2 3

Naumann-Beyer: Kant und Schiller – eine Mesalliance. NA 20, 309. Zelle: Ästhetische Erziehung, S. 429.

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Grundsatz des Geschmacks qualificirt“4, ist dabei das leitende Interesse. Die von Kant indizierte Frage nach der Objektivität des Kunstschönen bzw. nach der Schönheit des Kunstobjekts muss das Ungenügen des Künstlers Schiller wecken, der auch in seiner philosophischen Phase immer wieder nach einer „Brücke zu der poetischen production“5 sucht. Die Sprachreflexion der Kallias-Briefe bezeugt den Versuch, die philosophische Ästhetik in Richtung einer Poetik zu transzendieren, die dazu ältere oder alternative Diskussionsbestände (Klopstock, Lessing) integrieren muss. Andere Einwände gegen Kant betreffen Menschenbild und Anthropologie. In Ueber Anmut und Würde greift Schiller Kant als Vertreter einer „finstern und mönchischen Ascetik“6 an, die jede Hoffnung auf eine naturhaft-instinktive Moralität ausschloss. Die Differenz, die Kant in einer Fußnote seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) noch bekräftigte7, war mehr als eine philosophische. An der „moral grace“-Problematik schied sich eine optimistische von einer pessimistischen (auch protestantischen) Anthropologie, die Kant in der genannten Schrift auf das Diktum vom „radikalen Bösen“ bringen sollte. Obwohl Schiller 1795 seine „philosophischen Bude“8 zu schließen gedenkt, bleibt das „Streben nach Elementarbegriffen in aesthetischen Dingen“ bestehen. Rückblickend erscheint allerdings der Versuch fragwürdig, „die Metaphysic der Kunst zu unmittelbar auf die Gegenstände an[zu]wenden“ und sie als ein „praktisches Werkzeug wozu sie doch nicht gut geschickt ist, [zu] handhaben“.9 Die Theorie – und hier mehr und mehr Aristoteles’ Poetik – wird in der Arbeit am Wallenstein zum unverzichtbaren Maßstab der praktischen Arbeit. Im Umkreis der Johanna schreibt Schiller: „Gegenwärtig erscheinen mir die beyden Operationen, des poetischen Hervorbringens und der theoretischen Analysis, wie Nord- und Südpol von einander geschieden“.10 Die klassische Ästhetik nach den Essays sucht daher nach einer Theorie, die „absolut nothwendig und wesentlich bey der Pro-

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21.12.1792; NA 26, 170. Vgl. an Fischenich, 11.2.1793, NA 26, 188: „Wirklich bin ich auf dem Weg […] seine Behauptung, daß kein objektives Princip des Geschmacks möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.“ An Körner, 12.9.1794; NA 27, 46. NA 20, 284. Kant: Werke, Bd. 7, S. 669f. An Goethe, 17.12.1795; NA 28, 132. NA 29, 248. NA 31, 95.

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duction selbst“ ist11. Kunstbetrachtung muss sich offen und beweglich halten. Sie nimmt Abschied vom Prinzipiellen und entwickelt eine „neue Art von Critik, nach einer genetischen Methode“12, wie Schiller an Goethe schreibt. 3. Dem Geist dieser genetischen Methode ist auch diese Studie verpflichtet. Wenn sie sich unter den Titel Vor der Klassik stellt, so drückt dies keine teleologische Perspektive, gar ein Werturteil aus (wie es in der Rede von der ‚vorkritischen‘ Philosophie und Ästhetik Kants gerne mitschwingt). Sie unternimmt vielmehr den Versuch, im Durchgang durch ein breites Spektrum an Texten und Diskursen, in gelegentlichen Rück- und Ausblicken die bleibenden Konturen und Strukturen in Schillers Denken gleichsam in statu nascendi herauszuarbeiten. Sie akzentuiert dazu die Aspekte des Fragmentarischen, des Provisorischen und der unaufhebbaren Metaphorizität heraus. Mit Nietzsche plädiert sie für die „kleinen unscheinbaren Wahrheiten“13, die Aufschluss über Reflexions- und Verarbeitungsprozesse gewähren. Die genetisch-genealogische Methode weitet sich zur philologischen, wo sie erschließt, wie „etwas aus seinem Gegensatz entstehen“ kann, etwa „interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen“.14 Solche Phänomene der Umkehrung, der Verschiebung und der Negation bestimmen Schillers Denken nachhaltig. Im Frühwerk bilden sie eigene Strukturen und Formen aus. So hat der Dichter seine frühe Laura-Lyrik durch Selbstrezension eingeklammert und als pathologischen Petrarkismus gekennzeichnet, der mehr als „eine schlüpfrige Stelle in platonischem Schwulst verschleiert“.15 Auch im Fall der Räuber ist die Selbstrezension die psychodynamisch bemerkenswerteste Form der frühen Selbstreflexion. Sie setzt eine publizistische Spaltung des Autorindividuums voraus. Wo die Lyrik pathologische Zustände (‚Fieber‘) inszeniert, wird der Kritiker zum Arzt, der die Ergebnisse seiner fachmedizinischen Fieberanalyse in die Lyrikanalyse einbringt. Die Diagnose der Krisis wird zum Ferment der Kritik. Dieses an der eigenen Lyrik erprobte Dissoziationsschema wird später auf die Lyrik Bürgers übertragen, der als Febrizitant, melancholicus und Hypochonder analog zur Figur des Eleven Grammont ge–––––––––––––– 11 12 13 14 15

An Christian Gottfried Schütz, den Begründer der Allgemeinen Literatur-Zeitung; 22.1.1802; NA 31, 94. Wilm: Die Jungfrau von Orleans. NA 28, 80. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 25. Ebd. S. 23. NA 22, 133.

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zeichnet wird. Eine andere Form der Selbstreflexion ist die Zerlegung in die Partialfiguren der philosophischen Dialoge und Briefe oder der Dramen.16 Der unaufgelöste Widerspruch, die entfaltete Antithese wird hier zum Impuls einer strukturellen Antithetik. Die genealogische Perspektive legt so die Ausgangspunkte der klassischen in der frühen Ästhetik offen. Diese Ansätze sind oft verdeckt und überraschend. Zentrale Konzepte der späteren Essays verdanken sich der Berührung mit dem Ambivalenten und Zwielichtigen. Dies gilt z.B. für die Theorie des ästhetischen Scheins, wie sie in den Kallias-Briefen und in den Ästhetischen Briefen entwickelt wird. Sie ist nicht denkbar ohne das Gegenbild des ‚betrügerischen‘ Scheins, wie ihn der Sizilianer im Geisterseher in seinen phantasmagorischen Illusionen inszeniert. Der Schein der Zauberlaterne ist das Andere der Kunst. Andererseits sind die Verhältnisse offener, ambivalenter. Auch der reine Schein der Kunst bleibt dem Phantasmagorischen verpflichtet; dies beweist nicht zuletzt Schillers Schwäche für optische Medien und Metaphern wie Guckkasten, Laterna magica oder Hohlspiegel. Im Horizont der klassischen Ästhetik als einer Ästhetik der Distanz und der Freiheit (im Horizont des Erhabenen) bleibt ein Widerspruch zurück: Vor allem als Bühnenpraktiker bleibt Schiller der Sache und der Semantik nach der Idee einer poetischen Zauberkunst verpflichtet. „Republikanische Freiheit“ wird nur dem „lesenden Publikum“ zugebilligt17. Die Auswahl des Textkorpus’ ermöglicht eine dichte Beschreibung der frühen Ästhetik. Die ästhetisch-poetologische Theoriebildung wird durch zentrale Zeugnisse wie die Schaubühnenrede, Die Künstler, Bürger-Rezension oder Kallias-Briefe (mit Ausblick auf Ueber Anmut und Würde und Ästhetische Briefe) vertreten. Diese Grundtexte der Schiller’schen Ästhetik werden flankiert einerseits von einer repräsentativen Reihe poetischer Versuche (Die Räuber, Anthologie auf das Jahr 1782, Don Karlos, Geisterseher u.a.), andererseits von Texten wie der Fieberdissertation, die nur lose mit dem ästhetisch-anthropologischen Kernfeld verbunden scheinen. Gerade im Hinblick auf die Fieberdissertation erweist sich die Frage nach einer Poetik des Wissens als besonders fruchtbar. Eine genaue Lektüre kann zeigen, dass zentrale Konstellationen des poetischen Werkes (v.a. der Räuber) im medizinischen wiederkehren – und umgekehrt. Poetizität und Metaphorizität des medizinischen Textes bilden hierfür die Voraussetzung. Schiller interpretiert das Fieber als Drama, das –––––––––––––– 16 17

Schiller selbst hat dies in einem berühmten Brief an Reinwald vom 14.4.1783 bemerkt. NA 23, 78-82. NA, 16, 8.

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Drama als Fieber, d.h. als Kampf zweier antagonistischer Fiebercharaktere. Ähnliche Umkehrungen betreffen etwa das Verhältnis von Schaubühne und Panopticum, das Schiller in seiner Mannheimer Rede zuerst behandelt. Im Polizey-Fragment aus der klassischen Zeit, aber auch im Geisterseher und im ‚Don-Karlos-Komplex‘ zeigt sich, wie ästhetische und polizeiliche Direktiven im Horizont von ‚Überwachen und Strafen‘ eine höhere Allianz eingehen. Wie Benthams Panopticon zur Schaubühne wird, so empfiehlt sich die Schaubühne als ästhetisches Panopticon. 4. Das Beispiel von Schaubühnenrede und Polizey-Drama zeigt, wie Schillers ästhetische Reflexion auf zeitgenössische Wissensformationen und soziale Praktiken bezogen ist. Selbst da, wo Ästhetik die Autonomie der Kunst im „Reich des schönen Scheins“ einfordert, reagiert sie auf Anforderungen der politischen Zeitläufe. Die Entwicklung der Schiller’schen Ästhetik lässt sich daher nicht im Lichte einer immanenten Geschichte der Ästhetik nach dem Schema: ‚Von Lessing zu Kant‘ erfassen. In einer Doppelbewegung musste daher immer wieder die verborgene Ästhetik der pragmatischen Texte und die verborgene Pragmatik der ästhetischen herausgearbeitet werden. Alle für Schillers Denken zentralen Themenfelder werden so in ihren ästhetischen und außerästhetischen Voraussetzungen erschlossen. Zu den wichtigsten zählen Medizin und Anthropologie, deren Wechselwirkung zumal für die früheste Phase (Räuber, Anthologie, Geisterseher) bestimmend ist. Unter dem Eindruck eigener Erfahrungen an der Hohen Karlsschule rücken „Beobachtungsdispositiv“18 und ‚panoptischer‘ Blick in den Mittelpunkt. Überwachung, Kontrolle und Bürokratie werden in immer neuen Anläufen zwischen Geisterseher und Don Karlos thematisiert. Die Frage der Identität steht am Schnittpunkt ästhetischer und pragmatischer Diskurse. Die Ödipus-Rezeption mit ihrem Schlagwort „tragische Analysis“19 konvergiert mit Debatten um die Möglichkeiten des Staates, durch Ausweis und „Formulare“20 Individualität zu erzeugen und festzustellen. Noch im Demetrius, dem spätesten Entwurf, schreibt sich diese Interessenallianz fort. Ein anderes Thema dieser verborgenen Ästhetik ist das Problem des Scheins. Es ist von Anfang an verbunden mit einer kritischen Reflexion auf Medien und Dispositive des Theaters. Der Sizilianer des –––––––––––––– 18 19 20

Schäffner / Vogl: Polizey-Sachen, S. 54. NA 29, 141. NA 20, 324 (6. Brief).

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Geistersehers ist als Illusionist und Erzähler das Zerrbild des Künstlers, wie ihn die ästhetischen Briefe später entwerfen. Dem betrüglichen („logischen“21) Schein verpflichtet, steht er für eine Ästhetik, die auf Überwältigung durch Mimesis und Simulation setzt. Wenn der klassische Schiller späterhin nur jenen Schein gelten lässt, der sich „aufrichtig selbst zerstört“ und eine Kunst, die „ihren Schein / Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt“22, so ist hier die Erfahrung der Familienähnlichkeit von Zauberer und Künstler enthalten. Dass Schiller von der ‚phantasmagorischen‘ Wirkung der neuen Medien (Zauberlaterne, Guckkasten) nachhaltig fasziniert ist, zeigen zahlreiche Anspielungen auf diese aktuellen Medien der Gegenaufklärung (etwa das Gedicht Spiel des Lebens). Schon im philosophischen Gespräch des Geistersehers wird Projektion zu einem Konzept geadelt, das den ästhetischen Schein gegenüber der religiösen Erkenntnis legitimiert. Die Zukunft des Menschen bleibt von einer undurchdringlichen Decke verhüllt, auf der sich die Leidenschaften – „hopes and fears“ mit David Hume – abzeichnen. Die Metaphern der opaken Leinwand und der Projektion werden von späteren Illusionisten wie Robertson in die konkrete mediale Praxis rückübertragen. In den Bildern von Decke, Schleier und Hülle zeichnet sich die Funktion ab, die Ästhetik fortan in Schillers Lebensund Denkökonomie zugewiesen ist. Kunst und Ästhetik erhalten ihre Bedeutung aus dem Prozess der Resignation, den Schiller im Untersuchungszeitraum durchläuft. Der Verzicht auf letzte Antworten erzeugt im Bild der Projektion sinnliche Kompensationen und ‚Glücksversprechen‘ – die Ästhetik. Kunst malt „Elysium“ auf die „Kerkerwand“23 des Menschen, wie es in den Künstlern heißt. Der „liebliche Betrug“ ist Voraussetzung dafür, dass der Trost durch die Kunst im Sinne einer consolatio aesthetica gelingen kann. Kunst leistet innerweltliche Kompensation für ein unverfügbar gewordenes Überweltliches. Sie ist jener Schleier, auf den der Mensch zu schauen hat, ohne hinter ihn zu blicken (dies die Botschaft der Ideenballade Das verschleierte Bild zu Sais). Die offene und unabgeschlossene Frage nach dem Übersinnlichen bedingt im Fall des Geistersehers und der Philosophischen Briefe auch die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Textes selbst.

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NA 20, 399 (26. Brief). NA 2/1, v. 136-138 (Wallenstein, Prolog). NA 1, 203, v. 76f. (Die Künstler).

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5. Die Genese des Scheinbegriffs zeigt den dunklen Untergrund, von dem sich Schillers klassische Theorie des ‚ästhetischen Scheins‘ – und damit auch die Theorie der „Classicität“ im Drama – abhebt. Überhaupt ist die Genealogie der Schiller’schen Ästhetik auch und vor allem die Genealogie ihrer Begriffe. Schillers Terminologie ist selbst ein ästhetisches Phänomen; viel beklagt ist die Offenheit und Inkonsistenz zentraler Kategorien wie Schein, Medium, Spiel oder auch Künstler. Schiller ist auch und gerade in aestheticis Begriffspolitiker. Zumeist greift er etablierte Termini auf („schöne Seele“ nach Wieland, „Idealisierkunst“ nach Georg Forster, „Freiheit in der Erscheinung“ nach Kant), um sie seinem Systemhorizont einzuschreiben. Symbiose und Integration sind auch hier die leitenden Kräfte. Dabei bleibt Raum für Assoziationen. In den Kallias-Briefen etwa bedient sich Schiller konsequent des Begriffes Medium, um die schwierige Aufgabe der Sprache zu charakterisieren, als ästhetische ‚Mittelkraft‘ die Einkörperung des Konkreten ins Allgemeine (die Begriffe) zu leisten. Die Medienmetapher erscheint dabei zum ersten Mal in der Geschichte der Ästhetik in ihrer ganzen Ambivalenz: als eine Kraft, die das commercium der Mitteilung ermöglicht und als ein Störfaktor, der den Verlust des Sinnlichen zugunsten des Geistigen als eine konstitutive Tragik der Sprache selbst beschreibt. Eine Strategie dieser Studie ist es, das Irritationspotential der Bilder für eine Untersuchung von Tiefenstrukturen der Schiller’schen Ästhetik fruchtbar zu machen. Diese Analytik erweist sich vor allem dort als fruchtbar, wo die Reflexion auf die poetische Bildlichkeit selbst schon Teil der Aussage ist, etwa im großen Gedicht Die Künstler. Einerseits zeigt sich auch hier die schon beschriebene Dialektik des Begehrens. Wo der Sache nach in platonischer Perspektive der Aufstieg von der Sinnlichkeit zur Vernunft beschrieben wird, verleihen die poetischen Bilder diesem Prozess eine gegenläufige Tendenz, an deren Ende buchstäblich die nackte und hüllenlose Wahrheit steht. Das absolut Geistige wird im Medium des absolut Sinnlichen beschworen. Andererseits wird in den Künstlern die prekäre Nähe des ästhetischen Erziehungsprogramms zu den Praktiken der Geheimbünde deutlich. Nur graduell unterscheiden sich diese Ritter des Schönen von den ästhetischen Erziehungs- und Infiltrationstechniken der aufklärerischen Geheimbünde. Schillers Künstler sind die Emissäre der Vernunft: Als Illuminaten des Schönen versehen sie einen universalhistorischen Geheimauftrag, der notwendig den Augen der Öffentlichkeit entzogen bleibt. Sie sind die unsichtbare Hand der Weltvernunft. In seinem längsten Gedicht überhaupt entwirft Schiller

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nicht nur eine Summe der frühen Ästhetik, die bis in die Ästhetischen Briefe hinein wegweisend bleibt. Die Künstler enthalten auch Vorüberlegungen zur Führungsrolle der Dichter, die dann Max Kommerell ebenso aufgreifen sollte wie Stefan George das Horenprogramm und die Idee eines ‚Geheimen Deutschlands‘.24 6. Am Ende ergibt sich ein widersprüchliches Bild, ein Bild der Widersprüche. Hugo von Hofmannsthal trifft in seiner Schiller-Charakteristik den Kern, wenn er feststellt: „Seine Werke bei all ihrem Glanz und ihrer szenischen Schlagkraft erscheinen uns manchmal fast provisorisch und überhastet“.25 Was für die Dramen gilt, lässt sich auch für die Ästhetik sagen. Sie ist und bleibt ein groß angelegtes Fragment, wenn auch nicht Fragment als Projekt (im Sinne der Frühromantik). Mit vielen Autoren der zweiten Jahrhunderthälfte teilt er das Bewusstsein des ästhetischen Normverlusts. Aus diesem Vakuum, das mit dem Zusammenbruch der älteren Systempoetik entstanden war, resultiert die Sehnsucht nach dem System, die sich an Kant und – etwas später – an Aristoteles kristallisiert. Schiller ist sich des Normvakuums, das Fehlen eines „Gesetzbuches“26 stets bewusst. Seine Ästhetik steht daher unter den Vorzeichen des Vorläufigen und Übergänglichen, sie ist Ästhetik par provision27. In einer solchen Situation kann Theoriebildung nur offen, dialogisch-dialektisch und hantierendbruchstückhaft ausfallen. Dass Kritik nur „fermenta cognitionis“28 oder „litterarische Sämereyen“29 bieten kann, zählt zu jenen Einsichten Lessings, die um 1800 zum innersten Überzeugungsbestand aller Beteiligten zählen. –––––––––––––– 24

25 26 27

28 29

So heißt es in den Künstlern auf Kommerells Studie von 1928 vorausdeutend: „So führt ihn [den Menschen], in verborgnem Lauf, / Durch immer reinre Formen, reinre Töne.“ NA 1, 212, v. 424f. Zur George-Filiation vgl. meinen Beitrag: Schiller – Kommerell – George – Eine Konstellation der Moderne. Ebd. S. 13. NA 27, 40. In jenem Sinne, in dem Descartes in seinem Discours de la Méthode eine „Moral auf Zeit“ etabliert, die sich an pragmatischen ‚Maximen‘ orientiert. Descartes, René: Discours de la Méthode. Bericht über die Methode. Stuttgart 2001 (= RUB 18100), S. 46: „Je me formai une morale par provision, qui ne consistait qu’en trois ou quatre maximes.“ Lessing: Werke, Bd. 4, S. 670. Blüthenstaub Nr. 114. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1999, hier S. 285.

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Wenn Schillers Ästhetik zwischen Karlsschule und Kantrezeption (aber auch darüber hinaus) Theorie im Fermentationsstadium ist, muss die Philologie lernen, mit Widersprüchen zu leben, die schon die Zeitgenossen verunsicherten. Wie kann es sein, dass sich in engster zeitlicher Nachbarschaft – später (Ueber naive und sentimentalische Dichtung) in ein und demselben Text – Zivilisationskritik (Die Götter Griechenlandes) und Fortschrittsenthusiasmus (Die Künstler) begegnen? Wie ist es möglich, dass Natur zugleich als verlorenes Ideal und dunkle, „seelenlose“ Maschine erscheint (Matthisson-Rezension, Der Taucher). Wie ist es ferner denkbar, dass Schiller das Wesen des Menschen allein in seine Vernunftnatur legt (z.B. im Essay Ueber das Erhabene), aber doch den ‚ganzen Menschen‘ zum Leitbild erhebt? Und schließlich: wie ist der Widerspruch zu lösen, dass Kunst zugleich Medium und Ziel des Zivilisationsprozesses ist, das Reich des Schönen ein ästhetisches Heterotop oder nur ein Transitraum zum Reich (Staat) der Vernunft? Die Reihe der offenen Widersprüche, der strukturellen und semantischen Inkonsistenzen, ließe sich fortsetzen. Ziel dieser Arbeit war jedoch weder die Kritik noch die Harmonisierung des Unaufgelösten. Weder die Destruktion des vermeintlich schwach Gedachten noch die Rettung des (ebenso vermeintlich) unterschätzten Theoretikers stand im Vordergrund. Schillers Ästhetik bedarf keiner ‚Rettung‘, sondern einer neuen Würdigung, die ihre Modernität und Zeitgenossenschaft angemessen, sine ira et studio, zur Geltung bringt, eine Position jenseits der Rede von der „Klassiklegende“. Ein erster Schritt auf diesem Wege wäre geglückt, wenn sich aus der dichten Beschreibung der Phänomene das vorläufige Gesamtbild einer Epoche abheben würde, die sich selbst eine vorläufige war – vor der Klassik.

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Namensregister Namensregister

Abbt, Thomas 284 Abel, Jacob Friedrich 55, 96, 194-195, 247-248, 265, 273, 284, 325, 382, 385, 403, 431, 434, 460 Abelardus, Petrus 94 Adelung, Johann Christoph 137, 147, 150- 151, 192, 235, 265, 396, 431 Adorno, Gretel 7, 370, 432 Adorno, Theodor W. 6-8, 220, 270, 370, 431-432 Agrippa von Nettesheim, Heinrich 106 Ahrens, Hans Joachim 192, 455 Albrecht, Michael von 82, 437 Alewyn, Richard 172, 437 Allemann, Beda 15, 438 Alt, Peter-André 9, 11, 17-18, 43-44, 50, 56, 58, 71, 89, 90, 100, 116-117, 123, 136, 164, 170, 185, 225, 230, 234, 236, 242, 249, 255, 272, 365, 383, 416, 431, 438, 460 Amann, Wilhelm 346, 349, 384, 438 Andronicus 82, 437 Aner, Karl 243, 438 Anger, Alfred 334, 433 Anstett, Jean-Jacques 10, 436 Apel, Friedmar 56, 126, 451, 460 Apel, Karl-Otto 362, 438 Aquin, Thomas von 247 Ariès, Philippe 276, 438 Ariost(o), Ludovico 16-17, 286, 319-321 Aristides, Quintilianus 106 Aristoteles 167-168, 299, 300-301, 306, 330, 382-383, 388-389, 396, 423, 429, 432, 450, 453, 459, 461, 463 Arnold, Günter 217, 434 Arntzen, Helmut 362, 441 Arz, Maike 38, 438 Ashworth-Underwood, Edgar 65, 445 Assmann, Aleida 33, 438 Assmann, Jan 33, 438 Aurnhammer, Achim 93-94, 96, 104, 149, 264, 271, 273, 320, 438-440, 442, 444, 463-464

Bach, Carl Philipp Emanuel 91, 108, 440 Bacon, Francis 66, 72, 402 Bahr, Hans-Dieter 397, 438 Baldes, Jacob 114, 447 Barck, Karlheinz 115, 302, 361, 373, 458, 462-463, 467

Barkhoff, Jürgen 41, 107, 438, 459 Barner, Wilfried 10-14, 16, 138, 298, 301, 338, 435, 438-439, 450 Barone, Paul 123, 439 Bartels, Klaus 177-178, 180, 183, 201202, 205-206, 439 Bartl, Andrea 89, 362, 402, 404, 408-409, 439 Basedow, Johann Bernhard 278 Bassenge, Friedrich 96, 432 Batteux, Charles 328, 382, 432 Baudrillard, Jean 189-190, 439 Bauer, Jens-Heiner 154, 439 Bauer, Waldemar 169, 439 Bauereisen, Astrid 37, 191, 460 Baumgarten, Alexander Gottlieb 106, 226, 298-299, 302, 432, 462 Beaujean, Marion 154, 165, 439 Beck, Herbert 239, 456 Beck, Johann Renatus Wilhelm 432 Becker-Cantarino, Barbara 94, 439 Beetz, Manfred 431 Behler, Ernst 10-11, 16, 436, 439 Beiser, Frederick 22, 277, 439 Bender, Wolfgang F. 261, 298, 432, 439 Benn, Gottfried 1, 45-46, 334, 432, 442 Bentham, Jeremy 151-153, 426, 432 Benzenhöfer, Udo 218, 437 Berger, Jürgen 199, 241, 439 Berghahn, Klaus L. 8-9, 326-327, 354, 356, 360, 365, 409, 431, 439-440, 443, 463 Bernauer, Joachim 90, 223, 345, 440 Beßlich, Barbara 96, 440 Beulwitz, Caroline von 21, 104, 129, 161, 190, 233, 465 Bienville, J.D.T. 218 Bimberg, Siegfried 106, 113, 440 Birke, Joachim 269, 433 Bitter, Carl Hermann 91, 440 Blanckenburg, Christian Friedrich von 322, 397, 432 Blanckenburg, Friedrich von 322, 397, 432 Blankertz, Herwig 275, 440 Bloch, Ernst 171, 440 Bloom, Harold 16, 440 Bluhm, Lothar 135, 456 Blume, Bernhard 301, 453

470

Namensregister

Blumenberg, Hans 37, 40-41, 46, 50, 229, 237, 249, 251, 253, 365, 440 Blumenthal, Liselotte 431 Böcking, Edurard 224, 436 Böckmann, Paul 314, 316, 440, 455 Bode, Johann Christoph 174 Bodmer, Johann Jacob 296, 298-299, 326, 432, 462 Boehm, Gottfried 380, 457 Boerhaave, Herman 62, 64-67, 73, 432, 458 Boëthius 82, 106, 437 Bohrer, Karl Heinz 246, 369, 440 Boie, Ernestine 120 Boileau, Nicolas 28, 96, 226, 300, 468 Boissier de Sauvages, François 64, 69, 73, 79 Bol, Peter C. 239, 456 Bollenbeck, Georg 23, 204, 354, 361362, 440, 454, 456, 460-461, 468 Bölsing, Gottfried 91, 435 Bolten, Johann Christian 313, 432 Bonfatti, Emilio 413, 440 Bonnet, Charles 116 Borgards, Roland 72, 440 Bormann, Claus von 390, 440 Borsche, Tilman 31, 440 Bösmann, Holger 56, 440 Bosse, Heinrich 48, 440 Bossuet, Jacques Bénigne 300 Botsch, Walter 38, 440 Bouhours, Dominique 300 Bouterwerk, Friedrich 166 Boževič, Miran 151, 432 Brandstetter, Gabriele 20, 441 Brandt, Reinhart 194, 441 Braungart, Georg 20, 40, 59, 107, 114, 271, 337, 441, 453-454, 456, 460 Braungart, Wolfgang 43, 56, 126, 441, 451, 460 Bräutigam, Bernd 276, 362, 394, 403, 408, 441 Breitinger, Johann Jakob 229, 261, 296, 299, 326, 432, 462 Brelage, Manfred 25, 241, 441 Brendecke, Arndt 223, 256, 441 Brendel, Johann Gottfried 62 Brinkmann, Hellmut 66, 441 Brittnacher, Hans Richard 124, 169, 441 Brockes, Barthold Heinrich 72, 126, 440, 465 Brown, Andrew 63, 442 Bruch, Rüdiger vom 4, 441 Bruckmann, Christoph 313, 441 Brummack, Jürgen 163, 455 Brusniak, Friedhelm 105, 113, 119, 441 Büchner, Georg 72, 440 Buhr, Gerhard 96, 462 Bülow, Bernhard von 4 Bürger, Gottfried August 9, 11-12, 1415, 17, 33, 49, 93, 127, 131-132, 162,

184, 198, 224, 260, 275, 281, 293-296, 301-319, 321-331, 333-336, 338-339, 341-346, 349-350, 353-354, 359-360, 369, 374, 383-389, 391-392, 406, 416, 424-425, 432, 442, 447-448, 450, 455 Burger, Heinz Otto 29, 414, 441 Bürger, Peter 359, 442 Burke, Edmund 95, 148, 221, 354, 383, 432 Burkert, Walter 183, 441 Buscaroli, Piero 238, 436 Busch, Bernd 252, 442 Büssgen, Antje 334, 442 Bußmann, Walter 169, 442 Büttner, Stefan 254, 442 Bynum, Wiliam F. 61, 63, 442 Cagliostro, Alessandro Graf von (Giuseppe Balsamo) 162-163, 184, 449, 455, 465 Callieres, François de 300 Calvin, Johannes 141 Campe, Rüdiger 331, 442 Carr, Gilbert 41, 459 Carroll, David 389, 451 Cassirer, Ernst 8, 21, 26, 29, 261, 348, 366, 442 Castelvetro, Lodovico 300 Catull(us), Valerius 310 Cave, Terence 135, 442 Chapelle, Jean de la 226 Chodowiecki, Daniel Nikolaus 154, 178, 439, 444, 465 Cicero, Marcus Tullius 262, 264, 266267, 325, 330-331, 372, 432-433, 468 Claudius, Matthias 89 Cohen, I. Bernhard 67, 108, 436 Colli, Giorgio 2, 436 Condillac, Étienne Bonnot de 384 Conrady, Karl Otto 22, 448 Consbruch, Johann Friedrich 59, 62, 73, 75, 86 Corneille, Pierre 300 Correggio 214, 219 Cotta, Heinrich 306 Craig, Gordon Alexander 4, 442 Cramer, Carl Friedrich 226 Cremerius, Johannes 453 Creuz, Friedrich Karl Kasimir von 226 Cronegk, Johann Friedrich von 226 Cullen, William 112 Cunningham, Andrew 63, 442 Curtius, Ernst Robert 3, 102, 442 Cusack, Andrew 126, 442 Cysarz, Herbert 271, 442 Czucka, Eckehard 362, 441 Dacier, André 300 Dahlhaus, Carl 105, 112, 118-119, 442 Damm, Sigrid 33, 96, 435 Dann, Otto 399, 442

Namensregister Darwin, Charles 68, 449 David, Claude 223, 442 Deinet, Klaus 171, 443 Deleuze, Gilles 247, 443 Denis, Michael 311 Deotte, Jean-Louis 209, 443 Descartes, René 31, 40, 42, 47, 106, 429, 433 Dewhurst, Kenneth 58, 62, 66, 75, 443 Diepgen, Paul 63, 443 Dobbek, Wilhelm 217, 434 Dönt, Eugen 396, 432 Döring, Heinrich 4, 443 Döring, Sabine 175, 443 Dülmen, Richard van 287-291, 443 Dürbeck, Gabriele 311, 443 Durst, David C. 27, 443 Dusch, Johann Jacob 166, 226 Düsing, Wolfgang 354, 443 Dyck, Joachim 43, 91, 98, 268, 443 Eckhof, Konrad 387 Eder, Jürgen 141-142, 443 Ehrlich, Lothar 23, 204, 354, 361-362, 440, 454, 456, 460-461, 468 Eibl, Karl 21, 196, 412, 435, 443 Eichner, Hans 10, 436 Eldridge, Richard 27, 443 Eleftheridis, Anastasia 63, 443 Elias, Norbert 141 Elwert, Emanuel Gottlieb 100, 433 Engel, Manfred 41, 335, 460 Engelhardt, Dietrich von 38, 65, 443, 446 Engelmann, Wilhelm 154, 444 Erler, Gotthard 219, 433 Ernesti, Johann August 265, 433 Essarts, Nicolas-Toussaint 134 Esterhues, Josef 278, 436 Euripides 13, 15, 176, 302, 401 Fambach, Oscar 16, 18, 258, 294, 339, 444 Fechner, Jörg-Ulrich 89, 94, 444 Feger, Hans 22, 124, 441, 444 Fénelon, François 300 Feßler, Ignaz 166 Fetz, Reto Luzius 3, 446 Feuerbach, Ludwig 192, 194, 200, 433, 448 Fichte, Johann Gottlieb 16, 26, 28, 4344, 127-128, 131-132, 136-137, 366, 402, 433, 446, 466-467 Finscher, Ludwig 104, 444 Fischenich, Bartholomäus Ludwig 12, 355, 423 Fischer, Joachim 413, 444, 458 Fischer, Ludwig 444 Fludd, Robert 106 Fontane, Theodor 219, 433 Fontenelle, Bernard le Bouvier de 300

471

Forster, Georg 219, 270, 283, 336-337, 339-342, 428, 433, 458 Foucault, Michel 56, 64-65, 68-69, 77, 79, 117, 134, 137, 139-141, 143, 151153, 279, 281, 444 Franke, Ursula 239, 444 Freud, Anna 2, 433 Freud, Sigmund 2, 52, 112, 193-194, 303, 433, 467 Frick, Werner 13, 15, 302, 444 Fricke, Harald 329, 444 Friedl, Gerhard 264, 271, 273, 444 Friedrich II. 320, 338, 433 Friedrich, Hein 27, 445 Friedrich, Hugo 98, 444 Frühwald, Wolfgang 41, 460 Fuchs, Hans-Jürgen 343, 444 Fuhrmann, Manfred 330, 432 Funk, Christian Benedict 134, 179, 433 Furetière, Antoine 300 Füsslin, Georg 155, 444 Gadamer, Hans-Georg 27, 370, 444 Gaier, Ulrich 157, 227, 267, 434, 445 Gaiser, Konrad 251, 445 Ganz, Thomas 155, 182, 298, 445 Garrick, David 386 Garve, Christian 34, 265, 267, 270 Gassner, Johann Joseph 112, 177, 184, 189, 254 Gaus, Detlef 412, 445 Gawlick, Günter 194, 445 Gebauer, Gunter 390, 464 Geertz, Clifford 19, 445 Geimer-Stangier, Mia 155, 445 Geitner, Ursula 413, 445 Gellert, Christian Fürchtegott 226, 261 Gendolla, Peter 71, 468 Gerabek, Werner 31, 445 Gerhard, Ute 1, 445 Gess, Nicola 105, 445 Gessner, Salomon 311 Gfrereis, Heike 200, 445 Ghasempour, Morteza 27, 445 Gilbert, C.E.S. 22, 41, 105, 445, 454, 459 Ginsborg, Hannah 345, 445 Ginzburg, Carlo 51, 445 Glaser, Horst Albert 357, 468 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 94, 313, 333-334, 433, 439 Gluck, Christoph Willibald 119 Göbel, Helmut 21, 435 Goerke, Heinz 68, 445 Goethe, Johann Wolfgang 3, 5, 8-10, 13, 16-17, 21, 23, 33, 43, 74, 120, 130, 138, 150, 157, 159, 163, 169, 180, 182, 185, 192, 197, 200, 211, 220, 222-223, 264, 293, 302, 305-307, 311, 321, 338, 345, 356, 362, 365, 384, 388-389, 393, 405, 408, 421, 423-424, 431, 433, 435, 439,

472

Namensregister

442-443, 445, 449-451, 454-455, 461465 Goldammer, Peter 219, 433 Goldschmid, Edgar 65, 445 Golz, Jochen 107, 445 Gombrich, Ernst H. 102, 223, 378, 446 Göpfert, Herbert G. 21, 174, 431, 433, 435, 450 Göritz, Friedrich Ludwig 180 Görner, Rüdiger 28, 446 Göschen, Georg Joachim 162, 265, 335, 354 Göttert, Heinz 29, 414, 446 Gottsched, Johann Christoph 269, 296, 299-302, 305, 326, 331-433, 462 Gozzi, Carlo 5, 234 Grammont, Joseph Friedrich 294, 424 Granville Hatcher, A. 115, 464 Grathoff, Dirk 58, 454 Graubner, Hans 345, 348, 350, 446 Greenblatt, Stephen 35, 53, 446 Greiner, Bernhard 20, 40, 59, 107, 337, 453-454, 456, 460 Grimm, Gunter E. 298, 438 Grimm, Reinhold 8, 326, 409, 439, 446, 463 Grimm, Sieglinde 16, 446 Grisebach, Eduard 219, 437 Groebner, Valentin 127-128, 134-135, 446 Grumach, Ernst 396, 432 Grünbein, Durs 225, 448 Guattari, Félix 247, 443 Guazzo, Stefano 413, 440 Guibal, Nicolas 271 Gumbrecht, Hans Ulrich 50, 446 Guntermann, Georg 52, 462 Guthke, Karl S. 3, 21, 283, 435, 446 Haas, Rosemarie 167, 169, 446 Habermas, Jürgen 298, 301, 350, 446 Hafner, Gotthard 178, 434 Hagedorn, Friedrich von 226, 334 Hagenbüchle, Roland 3, 446 Hahn, Karl-Heinz 83, 435 Hallenberger, Gerd 397, 446 Haller, Albrecht von 67, 217, 226, 228, 239, 261, 392, 398, 446 Haller, Benedikt 67, 217, 226, 228, 239, 261, 392, 398, 446 Hamann, Johann Georg 42, 267, 404, 434 Hamburger, Käthe 328, 433, 446 Hammer, Stephanie B. 1, 446 Hammerstein, Reinhold 114, 446 Hanstein, Adalbert von 164, 446 Harbsmeier, Christoph 385, 435 Hardenberg, Friedrich 18, 429, 436 Hartmann, Fritz 65, 446 Hartmann, Volker 82, 447 Hartwich, Wolf-Daniel 25, 447

Haslinger, Adolf 171-172, 447 Haug, Walter 114, 365, 447, 464 Haydn, Joseph 119 Hederich, Benjamin 235, 434 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24, 2628, 128, 132, 145, 237, 293, 297, 368, 377, 418, 434, 443, 445, 447, 449, 456, 458, 466-467 Hegewald, Wolfgang 16, 455 Hehn, Karl 102, 447 Heine, Heinrich 22, 358, 434, 453 Heinse, Wilhelm 206, 209, 210, 220, 434 Heinz, Jutta 27, 29, 68, 83, 95, 135, 239, 246, 265, 310, 317, 322, 434-435, 440441, 444-447, 456, 462 Hell, Regina 63, 212, 447 Heller, Erich 400, 437 Helvétius, Claude Adrien 174 Hempfer, Klaus W. 96, 447 Henkel, Arthur 3, 450 Henrich, Dieter 26-27, 327, 357, 436, 447 Herder, Johann Gottfried 104, 108-109, 163, 217, 227, 229, 233, 237, 240, 266268, 270, 302, 317-318, 327, 339, 371, 383, 385, 397, 399, 401-402, 404, 434, 445, 450, 457, 462 Hermand, Jost 8, 326, 439, 446 Herring, Herbert 368, 447 Herrmann, Hans-Christian von 146, 447 Herrmann, Ulrich 275, 447 Hess, Günter 114, 447 Hettner, Hermann 89, 447 Heuer, Fritz 361, 447 High, Jeffrey L. 359, 416, 447 Hildebrand, Olaf 225, 447 Hill Green, Thomas 194, 435 Hillebrand, Bruno 1, 432 Hillen, Gerd 21, 435 Hiller, Marion 343, 448 Hinck, Walter 225, 448 Hinderer, Walter 2, 17, 22, 55, 129, 181, 295, 314, 438, 448, 460-462, 467 Hinrichs, Ernst 154, 178, 439, 465 Hippokrates 57, 62, 65-66, 80, 446, 465 Hirsch, Rudolf 1, 434 Hjelt, Otto Edvard August 68, 448 Hochadel, Oliver 112, 182, 448 Hodge Grose, Thomas 194, 435 Höffe, Otfried 346, 445 Hoffmann, E.T.A. 61, 169, 178, 181182, 405, 434, 450, 455, 464 Hoffmann, Friedrich 61, 434 Hoffmann, Stefan 396, 448 Hoffmeister, Gerhart 97, 448 Hofmann, Michael 259, 265, 448 Hofmannsthal, Hugo von 1-5, 9, 45, 129, 165, 295, 429, 434, 446 Hofmeister, Björn 4, 441 Hogarth, Wiliam 155 Hohendahl, Peter Uwe 296, 448

Namensregister Hohenheim, Franziska von 247, 273, 466 Hölderlin, Friedrich 8, 22, 26, 28, 242, 258, 357, 442-443, 450, 453, 458, 466467 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 91, 94-95, 97, 311, 334, 434 Holzmüller, Thilo 192, 448 Home (Kames), Henry 383 Homer 2, 16, 157, 175-176, 234, 254, 286, 317, 319-320, 322-323, 335, 343, 466 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 12, 148-149, 256, 268, 297, 300, 310, 312, 328, 331- 333, 340, 434 Huebner, Kathinka 362, 448 Hufeland, Christoph Wilhelm 65, 119, 446 Hügli, Anton 397, 448 Humboldt, Alexander von 38, 124, 441, 447 Humboldt, Wilhelm von 23, 124, 305, 362, 385, 408, 431, 434-435, 441 Hume, David 42, 194-195, 199, 202, 218, 305, 355, 402, 427, 435, 441, 445 Hunecke, Volker 276, 448 Hüttemann, Andreas 108, 461 Irigaray, Luce 252, 448 Irmscher, Hans Dietrich 267, 385, 434 Irrlitz, Gerd 350, 448 Iser, Wolfgang 27, 447 Jäger, Hans-Wolf 389, 454 Jahn, Ilse 66, 68, 448-449 Jammer, Max 108, 398, 449 Janke, Wolfgang 135, 449 Jannidis, Fotis 21, 449 Jaumann, Herbert 269, 296, 299, 304, 436, 449 Jauss, Hans Robert 11, 449 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 10, 14, 31, 331-332, 436, 445, 450 Jens, Walter 264, 436 Jolles, Matthijs 362, 449 Jørgensen, Sven-Aage 42, 434 Jung, Carl Gustav 193, 433, 435, 449 Kablitz, Andreas 405, 455 Kafka, Franz 223, 443 Kain, Philip J. 27, 449 Kaiser, Gerhard 33, 449 Kant, Immanuel 3, 8-9, 11-12, 17, 19-20, 22, 23-30, 34, 39-42, 50, 52, 69, 71- 73, 118, 123, 138-139, 145, 158, 169, 176, 182, 185, 188, 190-192, 199- 200, 203204, 220, 222, 224, 227, 241, 244, 253, 263-264, 277, 300, 305, 307, 315, 322, 332, 344-351, 353-357, 359-366, 368373, 375, 377-378, 383-384, 387, 390,

473

392, 395, 401-402, 405-407, 411-415, 418, 421-424, 426, 428-429, 435, 438, 440-441, 443-448, 451, 453-455, 457, 461 Karst, Wilhelm 65, 449 Kästner, Abraham Gotthelf 226 Kaufmann, Hans 22, 133, 154, 179, 434, 439, 465 Käuser, Andreas 167, 171, 449 Kavanagh, Richard 313, 451 Kennedy, Philip F. 135, 449 Kepler, Johannes 106-108 Kersting, Christa 275, 449 Kiefer, Klaus K. 163, 449 Kiel, Rainer-Maria 326, 449 Kiesel, Helmuth 298, 438 Kircher, Athanasius 181, 205 Kittler, Friedrich A. 96, 137-139, 142, 178, 186, 188-189, 211, 247, 282, 345, 446, 450, 462 Klein, Wolfgang 59, 75, 275, 343, 450 Kleist, Ewald von 312 Kleist, Heinrich von 8, 311-312, 334, 362, 442, 456 Klemme, Heiner 194, 441 Klopstock, Friedrich Gottlieb 82-83, 94, 225, 228, 311, 313, 323, 335, 364, 408, 423, 435, 439, 444, 448, 450 Knigge, Adolph 287, 413, 440 Knobloch, Eberhard 226, 456 Koch, Peter 184, 394, 450 Kommerell, Max 3, 24, 224, 369, 416, 429, 450 Kondylis, Panajotis 26, 31, 108, 450 König, Dominik von 174, 450 Koopmann, Helmut 1, 13, 23, 44, 71-72, 89, 92, 105, 123, 141, 227, 241, 293, 295-297, 307, 395, 439, 441, 443-445, 450, 454, 459 Kopernikus, Nikolaus 107, 377, 453 Köpf, Gerhard 149, 307, 316, 450 Kopperschmidt, Josef 331, 442 Korch, Katrin 93, 104, 450 Körner, Christian Gottfried 5, 8-9, 1315, 22, 25, 30-31, 51, 63, 71, 105, 118, 161-164, 174-175, 182, 190-191, 193, 203, 205, 223-224, 226, 229, 232-235, 240, 246, 256, 261, 284, 293-294, 302, 320-321, 344-345, 353-356, 358, 360, 373, 383, 402, 405, 422-423, 431, 451 Kortholt, Christian 106, 435 Koschorke, Albrecht 35, 64, 95, 113, 174, 326, 450 Koselleck, Reinhart 65, 69, 139, 150, 303, 450-452 Košenina, Alexander 55, 123, 139, 218, 225, 451, 460 Koyré, Alexander 67, 436 Kraft, Herbert 2, 6, 8, 30, 34, 45, 51, 53, 76, 84-85, 91-92, 105, 112, 121, 134, 164, 196, 219, 237, 240-241, 255, 266,

474

Namensregister

313, 331, 365-367, 372, 377, 398-399, 405, 407, 428, 451 Kramer, Martin 298, 438 Krämer, Sybille 394, 396-397, 451 Kramme, Rüdiger 376, 437 Krautscheid, Christiane 356, 451 Kreimendahl, Lothar 194, 435, 445 Krieger, Murray 389, 451 Krüger, Johann Gottlob 311, 453, 468 Kulenkampff, Jens 346, 348, 442, 451 Kurscheidt, Georg 89-90, 451 Kurzawa, Lothar 189, 439 La Mettrie, Julien Offray de 174, 195 La Motte, Antoine Houdar de 300 Laak, Lothar van 126, 451 Lacan, Jacques 221, 451 Lämmert, Eberhard 138, 450 Langen, August 153-156, 451 Laplanche, Jean 193, 451 Lasson, Georg 26, 434 Latzel, Siegbert 354, 451 Lauer, Gerhard 21, 449 Lausberg, Heinrich 40-41, 271-272, 451 Lechner, Georg Martin 246, 452 Lefèvre, Wolfgang 68, 452 Leibfried, Erwin 58, 454 Leibniz, Gottfried Wilhelm 78-79, 81, 106, 299, 355, 402, 435, 462 Lengefeld, Charlotte von 94, 161, 176, 190, 233, 294, 393 Lenz, Jakob Michael Reinhold 94, 96, 435, 440 Leonhard, Joachim-Felix 292, 397, 436, 438 Lepenies, Wolf 65, 303, 452 Lesky, Erna 65, 452 Lessing, Gotthold Ephraim 13, 21, 40, 118, 147, 154, 219, 236-237, 239, 261, 265-266, 268, 270, 286, 288-289, 293, 296-298, 300-301, 303-304, 306, 311, 313, 334, 358-359, 362, 366, 379, 381383, 386-387, 389-390, 391, 399, 401, 407, 423, 426, 429, 435, 438-450, 453, 455-456, 460, 464, 467 Lethen, Helmut 142, 334, 452 Lévi-Strauss, Claude 41, 452 Lichtenberg, Georg Christoph 112, 397, 401-402, 410, 435 Liepe, Wolfgang 276, 452 Linné, Carl von 65, 68-71, 73-74, 304, 445, 448-449 Locke, John 305, 355, 396, 402-405, 435, 457 Lohmann, Gustav 332, 436 (Pseudo-)Longin(os) 300 Lovejoy, Arthur O. 69, 73, 303, 452 Löwith, Karl 200, 241, 433, 452 Lüdke, Martin 161, 456 Ludwig XV. 155 Ludwig XVI. 359, 447

Ludwig, Hans-Werner 397, 438 Lühr, Rosemarie 45, 452 Lukács, Georg 320, 452 Lukian 312 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 226 Luserke-Jaqui, Matthias 11, 21, 28, 49, 71-74, 89, 123, 356, 451-452, 462, 468 Luther, Martin 141, 220 Lutz, Hans 79, 452 Macor, Laura Anna 22, 452 Macrobius 106 Mähl, Hans-Joachim 18, 429, 436 Mahlmann, Theodor 82, 452 Malles, Hans-Jürgen 223, 256, 452 Manger, Klaus 271, 438, 444 Manilius, Marcus 226 Manton, Jean-Rémy 328, 432 Marcuse, Herbert 417, 453 Marquard, Odo 76, 453 Martin, Dieter 225, 320, 453 Martin, Nicholas 23, 416, 453 Martin, Uwe 313, 453 Martinez, Matias 21, 449 Martini, Fritz 312, 397, 437 Marx, Karl 27, 194, 449 Matt, Peter von 130, 143, 170, 172, 453 Mattheson, Johann 90-91, 435 Matthisson, Friedrich 12, 37, 40, 44, 91, 118, 280, 302, 305, 319, 325, 333, 338, 351, 358, 374, 380, 384, 400, 430, 435 Matuschek, Stefan 370, 453 Matussek, Paul 112, 453 Mauser, Wolfram 311, 313, 453 Mayer, Hans 293, 301, 358, 453-454 Mayer, Mathias 114, 163, 441 McCarthy, John A. 107, 377, 453 McGlashan, Alan 193, 433 McGuire, William 193, 433 Meier, Albert 431 Meier, Heinrich 327 Mein, Georg 22, 357, 453 Mendelssohn, Moses 298, 311, 328-329, 383, 388, 468 Menges, Karl 362, 454 Menninghaus, Winfried 364, 435 Menudier, Jean 385, 435 Mercier, Louis-Sébastien 129, 148, 150, 156, 435 Merklin, Harald 262, 432 Merlio, Gilbert 22, 454 Mertens, Wolfgang 247, 454 Mesmer, Franz Anton 182 Meumann, Markus 275-277, 454 Meyer, Jacob 112 Meyer, L.H. 389, 454 Michaelis, Christian Friedrich 347, 353 Milton, John 82, 323, 335 Misch, Manfred 13, 293, 454 Mitchell, P.M. 269, 433 Mix, York-Gothart 389, 454

Namensregister Mlynek, Klaus 217, 454, 463 Moldenhauer, Eva 24, 128, 434 Mombour, Eva Maria 155, 445 Mommsen, Katharina 89, 431 Mommsen, Wolfgang J. 4, 454 Montesquieu 300 Montinari, Mazzino 2, 436 Morelli, Giovanni (Ivan Lermolieff) 46, 51, 445 Mörike, Eduard 114, 441 Moritz, Karl Philipp 2, 22, 176, 223, 239, 305, 310, 354, 357, 422, 444, 453, 463 Mozart, Wolfgang Amadeus 119, 466 Mücke, Dorothee von 337, 454 Muehleck-Müller, Cathleen 22, 454 Mülder-Bach, Inka 364, 454 Müller, Adam 264, 436 Müller, Ingo Wilhelm 63, 454 Müller, Irmgard 57-58, 60, 80, 454 Müller, Jan-Dirk 304, 454, 461 Müller, Peter 147, 266, 455 Müller-Braunschweig, Hans 230, 455 Müller-Seidel, Walter 163, 287, 316, 325, 408, 455 Müller-Tamm, Jutta 192, 455 Mulsow, Martin 287, 455 Muralt, Beat Ludwig von 300 Napoleon 207 Naumann-Beyer, Waltraud 23, 354, 422, 455 Neuburger, Max 78, 465 Neumann, Gerhard 405, 455 Neumann, Josef F. 277, 455 Neuser, Jürgen 192, 455 Newton, Isaac 34, 63, 67, 107-108, 197, 226, 376, 436, 442 Nicolai, Ernst Anton 218, 311, 443, 451, 468 Niehaus, Michael 131, 455 Nietzsche, Friedrich 2, 22, 24, 28, 38, 40, 46, 52, 126, 159, 220, 222, 250, 393, 398, 421-424, 436, 453-454, 463466, 468 Nipperdey, Thomas 4, 455 Nisbet, Hugh Barr 407, 455 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 18, 225, 429, 436, 458 Nowitzki, Hans-Peter 44, 56-57, 455 Nüßlein, Theodor 266, 433 Nutton, Vivian 61, 63, 442 Oberembt, Gert 16, 455 Oehme, Matthias 135, 455 Oellers, Norbert 2, 33, 52, 89, 107, 138, 194, 216, 223, 294, 399, 416, 431, 442, 445, 449-450, 452, 455-456, 459, 462 Oelmüller, Willi 27, 369, 442, 456 Oesterle, Günter 16, 20, 59, 239, 456 Oesterle, Kurt 161, 456 Oesterreicher, Wulf 184, 394, 450

475

Oettermann, Stephan 153, 456 Opitz, Martin 226, 269, 436 Oschmann, Dirk 362, 402, 456 Osinki, Jutta 52, 462 Osterkamp, Ernst 399, 442 Otto, Regine 93, 456 Otto, Rudolf 380, 456 Ovid (Publius Ovidius Naso) 82, 226, 310, 332 Pabst, Stephan 37, 191, 460 Paetzold, Heinz 239, 444 Palladio, Andrea 206-208, 211, 215 Panofsky, Erwin 304, 456 Pape, Walter 135, 456 Paulin, Roger 41, 459 Paulus (Apostel) 236 Peil, Dietmar 135, 456 Pelzer, Barthold 225, 271, 281, 456 Perpeet, W. 223, 456 Perrault, Charles 300 Pestalozzi, Karl 329, 457 Peter, Emanuel 412, 457 Peters, John Durham 404, 457 Petersen, Julius 4, 431 Petersen, Jürgen H. 383, 457 Pethes, Nicolas 55, 457 Petrarca, Francesco 93-98, 101, 268, 438440, 444, 448, 450, 459 Pfaff, Peter 150, 435 Pfeiffer, Joachim 231, 248, 463 Pfotenhauer, Helmut 8, 14, 19, 23, 31, 42, 51, 154, 303, 338, 370-371, 377, 380, 457 Pichot, Pierre 68, 457 Pikulik, Lothar 123, 458 Pinel, Philippe 64 Piñero Costas, Trinidad 123, 458 Pitcairne, Archibald 63, 442 Platner, Ernst 29, 56-57, 414, 422, 436 Platon 97, 166, 177, 183, 196, 202-203, 205, 236, 240, 248, 251-254, 280, 302, 309, 334, 384, 436, 442, 445, 465 Plessner, Helmuth 413, 458 Plutarch 175-176 Pontalis, Jean-Bertrand 193, 451 Pope, Alexander 226 Pott, Hans-Georg 27, 458 Pott, Sandra 225, 458 Priever, Andreas 207, 458 Probst, Christian 65-66, 458 Promies, Wolfgang 397, 435 Pross, Wolfgang 385, 434 Prudentius (Aurelius P. Clemens) 82 Pudelek, Jan-Peter 358, 458 Pugh, David 35, 225, 229-230, 248, 251, 255, 262, 268-369, 458 Puntel, Kai 361, 458 Quester, Yong-Mi 217, 458 Quilitzsch, Uwe 372, 458

476

Namensregister

Quintilian, Marcus Fabius 106, 265, 271, 296, 331, 442, 449 Racine, Jean 226, 300 Raffael 165, 190, 214, 219 Rainer, Ulrike 358, 458 Ramler, Karl Wilhelm 383 Rammstedt, Angela 376, 437 Rammstedt, Otthein 376, 437 Rank, Otto 2, 458 Rasmussen, Detlef 339-340, 458 Raulet, Gérard 302-303, 458 Reeves, Nigel 58, 62, 66, 75, 443 Regn, Gerhard 94, 96, 459 Rehm, Walther 219, 437 Reiff, Arno 14, 459 Reilly, Robin 372, 459 Reinhardt, Hartmut 123, 225, 306, 459460 Reinhold, Carl Leonhard 289, 292, 402, 436 Reinwald, Wilhelm Friedrich Hermann 21, 163, 197-198, 202-303, 344, 383, 425 Rémussat, Abel 385, 434 Renneke, Petra 20, 459 Renneville, Constantin de 163 Reuß, Christian Gottlieb 59, 62, 75 Richter, Karl 163, 449 Ricœur, Paul 135, 459 Ridder, Klaus 56, 126, 451, 460 Riecke-Niklewski, Rose 418, 459 Riedel, Wolfgang 20, 23, 28, 31, 34, 37, 41, 55, 57-59, 67, 73, 82, 87, 100, 105, 107-108, 110, 112, 116-117, 123, 165, 167, 173, 176, 190-191, 194-195, 204, 225, 284, 287, 289, 325, 330, 377, 398, 403, 411, 431, 455, 459, 460 Riethmüller, Albrecht 107, 460 Rilke, Rainer Maria 225, 458 Ripa, Cesare 238, 436 Robert, Jörg 3, 11, 45, 52, 55, 106, 125, 135, 283, 304, 320, 333, 352, 354, 377, 409, 442, 449, 457, 460-461, 466 Robertson, Etienne Gaspar 199, 205, 427 Rochlitz, Johann Friedrich 22-23 Rohbeck, Johannes 288, 461 Rölleke, Heinz 135, 317, 434, 456 Rotterdam, Erasmus von 275, 462 Rousseau, Jean-Jacques 267, 276-278, 327, 392, 416, 436, 441, 452 Rüsen, Jörn 259, 448 Sachs, Hanns 2, 6, 461 Sagarra, Eda 41, 459 Saint-Evrémonde, Charles 300 Samuel, Richard 18, 429, 436 Sanders Peirce, Charles 362, 438 Saporiti, Katia 108, 461 Sarcone, Michele 62

Sass, Hans-Martin 192, 461 Sasse, Günter 225, 373, 397, 453, 463 Sauder, Gerhard 116, 431, 433, 461 Sauer, August 256, 269, 437, 461 Sauerländer, Wolfgang 193, 433 Savoy, Bénédicte 209, 461 Sayce, Olive 44-45, 360, 461 Sayers, Dorothy L. 168, 461 Scaliger, Julius Caesar 300, 305, 320, 461 Schaarschmidt, Peter 22, 345, 347, 354, 461 Schaefer, Volker 189, 439 Schäfer, Eckart 148, 333, 434, 460 Schäffner, Wolfgang 129, 133, 139-140, 145, 147, 150, 426, 461 Schanze, Helmut 157, 461 Schelling, Friedrich Wilhelm 26, 28, 119, 466-467 Scherpe, Klaus 302, 462 Scheuerl, Hans 275, 462 Schiller, Caroline 21 Schilling, Diana 49, 462 Schings, Hans-Jürgen 9, 31, 55, 105, 417, 459, 462, 468 Schlaffer, Hannelore 96, 462 Schlaffer, Heinz 95, 310 Schlaps, Christiane 385, 462 Schlegel, August Wilhelm 224, 226, 436 Schlegel, Friedrich 10-11, 16, 18, 134, 232, 326, 405, 436, 446, 462 Schlegel, Johann Adolf 382 Schlenstadt, Dieter 361, 462 Schlömilch, Daniel Gottlieb 119 Schlözer, August Ludwig von 79 Schmidt, Benjamin Marius 16, 462 Schmidt, Delf 161, 456 Schmidt, Gustav 4, 462 Schmidt, Horst-Michael 299, 462 Schmitt, Carl 136, 462 Schmitt, Michael 68, 449 Schmitz-Emans, Monika 52, 181, 183184, 462 Schnabel, Johann Gottfried 207, 436 Schneider, Georg 296, 463 Schneider, Johann Nikolaus 187, 463 Schneider, Sabine 239, 310, 410, 463 Schoeller, Bernd 1, 434 Scholtz, Gunter 106, 109, 113, 440 Schönau, Walter 231, 248, 463 Schöne, Albrecht 197, 405, 463 Schönert, Jörg 21, 163, 435, 449 Schopenhauer, Arthur 356, 452 Schott, Andreas 205 Schrader, Monika 298, 463 Schrader, Wolfgang H. 28, 466-467 Schramm, Hans-Peter 217, 454, 463 Schramme, Thomas 68, 457 Schröpfer, Johann Georg 112, 180, 184, 189, 254 Schubert, Werner 207, 320, 436, 463 Schulte-Sasse, Jochen 373, 397, 463

Namensregister Schulz, Gerhard 9, 372, 463 Schulze-Bünte, Matthias 194, 463 Schütz, Christian Gottfried 306, 424 Schwarz, Egon 301, 453 Schwarze, Dietrich 397, 438 Schwegelin, Anna 218 Seel, Martin 361, 463 Segeberg, Harro 155, 177, 439, 465 Seggern, Hans-Gerd von 23, 463 Seidel, Siegfried 163, 287, 316, 325, 362, 408, 431, 433, 455, 460 Seidlin, Oskar 409, 463 Seiffert, Hans Werner 312, 397, 437 Semler, Johann Salomo 243 Seng, Joachim 4, 434 Shaftesbury 26, 280 Shakespeare, William 5, 81, 86 Sigwart, Georg Friedrich 61, 437 Simmel, Georg 376, 407, 412-413, 437 Simonis, Walter 416, 463 Sintenis, Christian Friedrich 166 Sloterdijk, Peter 20, 240, 249, 463 Söffing, Werner 300, 463 Solon 244, 281 Sophokles 126, 135, 142 Sørensen, Bengt Algot 236, 365, 463-464 Spalding, Johann Joachim 243 Specht, Rainer 31, 464 Spencer, Herbert 275, 462 Spener, Johann Karl Philipp 158 Spiess, Christian Heinrich 139, 451 Spitzer, Leo 115, 464 Springer, Mirjam 8, 128, 259, 284, 448, 464 Stachel, Thomas 22, 48, 390, 417-418, 464 Stadler, Ulrich 405, 464 Stahl, Georg Ernst 77 Staiger, Emil 97, 464 Stäudlin, Gotthold Friedrich 293, 307, 338 Steele, Richard 300 Steigerwald, Jörn 126, 311, 443, 453, 464-465, 468 Steinecke, Hartmut 52, 462 Steiner, Gerhard 219, 270, 433 Steinmetz, Horst 298, 338, 433, 464 Stempel, Wolf-Dieter 96, 447 Stenzel, Jürgen 331-334, 464 Stettenheim, Ludwig 129, 464 Stier, Bernhard 277, 464 Stierle, Karlheinz 96, 390, 447, 464 Stifter, Adalbert 5 Stocker, Peter 329, 444 Stöckmann, Ingo 56, 464 Stoichita, Victor I. 246, 464 Stolberg, Friedrich von 258, 336 Stoll, Maximilian 62 Storz, Gerhard 14-15, 89-90, 104, 170, 464 Straberger-Schuster, Marianne 184, 464

477

Strack, Friedrich 264, 271, 273, 438, 444, 464 Straßner, Erich 397, 438 Sträter, Udo 275, 277, 455, 464 Strube, Werner 96, 356, 432, 465 Sulzer, Johann Georg 90, 104-105, 109111, 115, 147-148, 237-239, 262-263, 267, 271-272, 311-312, 326, 328, 331, 335, 383, 437, 459 Suphan, Bernhard 104, 109, 399, 434 Suppanz, Frank 7, 128, 134, 284, 465 Susman, Margarete 329, 465 Sutermeister, Hans Martin 58, 63-64, 465 Sydenham, Thomas 62-63, 65-69, 73, 7681, 85, 92, 437, 441-443, 446-447, 465 Szondi, Peter 11, 465 Sztaba, Wojciech 155, 465 Tacitus, P. Cornelius 204, 400, 437 Tasso, Torquato 17, 96, 286, 320- 321, 459 Taubes, Jacob 25, 447 Temkin, Owsei 63, 67, 78, 465 Thomasius, Christian 296, 449 Thomé, Horst 10, 14, 465 Thome, Johannes 68, 457 Thums, Barbara 126, 268, 465 Tieck, Ludwig 43, 206 Tiedemann, Rolf 7, 370, 432 Till, Dietmar 12, 263, 331, 359, 465 Tirpitz, Alfred von 3-4 Tizian 207, 210, 214, 219, 220 Todorov, Tzvetan 169, 465 Torra-Mattenklott, Caroline 104, 398, 465 Trabant, Jürgen 384, 396, 402, 465 Traeger, Jörg 178, 185, 465 Traverso, Paola 2, 465 Treder, Uta 163, 465 Trunz, Erich 433 Tschierske, Ulrich 22, 26, 466 Turk, Horst 96, 345, 446, 462 Ueding, Gert 229, 264-265, 267, 270, 273, 466 Uhland, Robert 125, 466 Ulrichs, Lars-Thade 23, 466 Urban, Astrid 12, 172, 293, 296, 302, 316, 466, 468 Utz, Peter 149, 466 Uz, Johann Peter 94, 269, 334, 437 Valentin, Erich 120, 466 Valéry, Paul 251, 437 Vayda, György M. 357, 468 Vely, Emma 247, 273, 466 Vergil (Publius Vergilius Maro) 2, 13, 17, 81-83, 226, 319-321, 463, 466 Veronese, Paolo 207-210, 458 Vertot, René 285-286

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Namensregister

Verweyen, Theodor 241, 466 Vesper, Achim 37, 191, 460 Villain, Jean 129, 435 Vitet, Louis 65 Voges, Michael 167, 170, 466 Vogl, Joseph 20, 60, 129, 133, 139-140, 145, 147, 150, 426, 461, 466 Vogt, Jochen 51, 168, 320, 445, 461, 466 Vogt-Spira, Gregor 320, 466 Voigt, Christian Gottlob 23 Völker, Ludwig 329, 388, 466 Vollhardt, Friedrich 343, 412, 466 Voltaire 141, 159, 226, 300 Voß, Abraham 120, 437 Voss, Eva Maria de 298, 466 Voß, Johann Heinrich 401, 437 Voßkamp, Wilhelm 10, 14, 37, 234, 439, 457, 466 Wackenroder, Wilhelm 43, 206 Wacker, Manfred 89, 447 Wagner, Mercier 150, 435 Wagner, Richard 119 Waibel, Violetta L. 28, 466 Waiblinger, Wilhelm 219, 437 Waldenfels, Bernhard 167-168, 466 Walzel, Oskar 329, 466 Watson, Robert 171, 283 Watzke, Daniela 126, 311, 443, 453, 464465, 468 Webb, Daniel 383 Wedgwood, Josaiah 372, 459 Weischedel, Wilhelm 11, 435 Weishaupt, Adam 286-290, 292, 455 Weissberg, Liliane 2, 166, 193, 207, 212, 467 Weizman, Ernst 178-179, 467 Wellbery, David E. 40, 115, 359, 386, 467 Welsch, Wolfgang 396, 467 Wernly, Julia 45, 368, 467 Wieland, Christoph Martin 22, 26, 30, 94, 139, 170, 223-224, 226-227, 233235, 261, 269, 286, 297, 310-314, 318, 320-322, 334, 354, 397, 418, 422, 428, 437, 448, 454

Wiese, Benno von 55, 88-90, 101-102, 173, 180, 203-204, 230-231, 241-242, 267, 282, 303, 315, 408, 431, 450, 467 Wildenburg, Dorothea 28, 467 Wilkinson, Elizabeth M. 33, 249, 332333, 467 Willems, Gottfried 361, 467 Wilm, Marie-Christin 13, 306, 424, 467 Winckelmann, Johann Joachim 10-11, 119, 206, 213, 219, 235-236, 266, 334, 337-340, 343, 363, 366, 373, 378, 383, 406-407, 411, 437, 455 Windfuhr, Manfred 229, 432 Winkler, Hartmut 397, 467 Winko, Simone 21, 449 Wit(t)hof, Johann Philipp Lorenz 226 Wittgenstein, Ludwig 384, 465 Witting, Gunter 241, 466 Wittkowski, Wolfgang 224-225, 362, 448, 454, 467 Wolff, Christian 226, 299, 397, 437, 462 Wood, Robert 383 Wordsworth, William 33, 467 Worstbrock, Franz Josef 260, 467 Wunberg, Gotthard 135, 467 Württemberg, Carl Eugen von 247, 273, 466 Yolton, John W. 402, 435 Young, Edward 226 Zahn, Manfred 127, 433 Zedler, Johann Heinrich 99, 116, 156, 197, 437 Zehm, Edith 431 Zelle, Carsten 11-12, 19, 21, 28, 59, 7172, 74, 123, 149, 218, 279, 309, 311, 313, 357, 361, 364, 392, 415, 417, 422, 451, 467-468 Zielinski, Thaddäus 267, 468 Zimmermann, Christine 109, 468 Zimmermann, Hans Dieter 172, 468 Zimmermann, Johann Georg 67, 109, 172, 217-218, 437, 454, 463, 468 Žmegač, Victor 172, 437 Zotti Minici, Carlo A. 155, 468 Zückert, Johann Friedrich 284 Zymner, Rüdiger 41, 460