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German Pages 428 [436] Year 2019
Wolfgang F. Schwarz (Hrsg.) Prager Schule: Kontinuität und Wandel
Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprachund Übersetzungswissenschaft Bd. 1 HERAUSGEBER / EDITORS: Klaus Bochmann; Anne Koenen; Elmar Schenkel; Wolfgang F. Schwarz; Anita Steube; Ludwig Stockinger; Alfonso de Tora; Gerd Wotjak BEIRAT/AD VISORY BOARD: Angelika Hoffmann-Maxis; Karlheinz Kasper; Jürgen Kramer; Edgar Mass; Albrecht Neubert; Monika Ritzer; Ekkehard Stärk REDAKTIONELLE MITARBEIT (Bd. 1): Peter Burg und Dorothea Müller
Wolfgang F. Schwarz (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit JiriHoly und Milan Jankoviö
Prager Schule: Kontinuität und Wandel Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration
Frankfurt am Main • Vervuert Verlag • 1997
Die Herausgeber danken der Universität des Saarlandes und der Universität Leipzig für die Unterstützung des Projekts
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Prager Schule, Kontinuität und Wandel : Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration / Wolfgang F. Schwarz (Hrsg.)- In Zusammenarbeit mit Jiff Hoty und Milan Jankoviü. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Oberaetzungswissenjchift ; Bd. 1 ) ISBN 3-893J4-26J-2
NE: Schwatz, Wolfgang Friedrich [Hrsg.]; Hoty, JiH; JankoviC, Milan; GT
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, mit freundlicher Erlaubnis von Jiff Kolâï zur Verwendung seines Werkes Ce lieu t'est réservé: Ce que tu écriras, dessineras, colleras ou accrocheras - c'est toi qui décides ( 1984) Printed in Germany
Inhalt
Vorbemerkung der Herausgeber
vii
I
Aus den Anfängen und zur Vorgeschichte der Literaturästhetik des Prager Strukturalismus Vorbemerkung zu den Übersetzungen der Texte Mukafovskys
3
Jan Mukarovsky: Einführung in die Ästhetik [I] II
5 29
Jan Mukarovsky-. Die Komposition des poetischen Werkes Das Wesen der Epik (Phänomenologische Betrachtung)
43 56
Peter Burg: Tradition und Entwicklungsgeschichte des ästhetischen und poetologischen Denkens Jan Mukafovskys
89
Petr Kaiser: Protostrukturalismus in der tschechischen Ästhetik und Literaturwissenschaft: Otakar Zichs Dichtungstypologie
101
n Präzisierungen und Neubewertungen Oleg Sus: Das Öffnen der Strukturen
113
Milan Jankovic: Sus' Öffnen der Strukturen
129
Miroslav Cervenka: Der literarische Artefakt
139
Mojmir Otruba: Zeichen und Werte (Semiotik und Axiologie der Intertextualität)
159
Milan Jankovic: Wege zum offenen Sinn
183
Wolfgang F. Schwarz: Die .semantische Geste' - ein brauchbares analytisches Instrument? Zur Entwicklung und Kritik eines Kembegriffs in Mukafovskys Literaturästhetik
197
vi
Inhalt
Marie Kubinovä: Das Kunstwerk als Zeichen und das Problem seiner Bedeutung. (Zu Folgen und Ursachen von zweierlei Auffassung des .Werks als Zeichen' bei Jan Mukafovsky)
223
JifiHoly: Das Problem der Interpretation: Prager Strukturalismus und Hermeneutik
233
Peter Zajac: Die gegenwärtige wissenschaftliche Wende und die Literaturwissenschaft
241
Oskdr Öepan: Literatur - System und Geschichte
255
Herta Schmid: Strukturalismus Das Problem des Individuums im tschechischen
265
Peter V. Zima: Formalismus und Strukturalismus zwischen Autonomie und Engagement
305
m Anwendungen: Zur Poetik der Narration Wolfgang F. Schwarz: Zur Diachronie allegorischer Schreibweisen: Vom Tkadleiek zu Komenskys Labyrint svita
319
Kvitoslav Chvatik: Gedanken zur Theorie des Romans und der Narration - mit Blick auf die Romane Milan Kunderas
331
Sylvie Richter. Die Identität des Menschen in der Zeichenwelt
347
Milan Suchomel: Spieler
363
JiKHoly: Onomatopoetik literarischer Gestalten
383
Lubomir Doleiei. Strukturale Thematologie und die Semantik möglicher Welten. Der Fall .Doppelgänger'
399
Anhang Nachweise der Übersetzungsvorlagen Zu den Autorinnen und Autoren dieses Buches
419 421
Vorbemerkung der Herausgeber Das Denken einer bestimmten Schule zeigt sich nicht nur in ihrer Programmatik oder in den ausgereiften Manifestationen, mit denen sie sich etabliert. Es wird zur Inspirationsquelle, zu einem Vermächtnis, das gewiß nicht immer in sich einheitlich ist, zuweilen sogar Widersprüche aufweist. Eben darin liegt aber die Möglichkeit, ständig zu überprüfen, welche ihrer Leistungen dauerhaft Gültigkeit behalten sollen. In diese Richtung zielt unser Sammelband. Er befaßt sich mit dem Vermächtnis der Prager strukturalistischen Schule, ihrer literaturwissenschaftlichen Tradition, mit aus ihr hervorgegangenen Resultaten und Weiterentwicklungen in der Theorie und praktischen Anwendungen. Unser Band stellt sich eine besondere Aufgabe: zu zeigen, wie sich wissenschaftliches Denken, wenn es Zeitgenossen etwas sagen will, über die Grenzen eines Landes hinaus entfaltet. Dies gilt im übrigen schon für den klassischen Prager Strukturalismus, der ohne die Anregungen aus dem Russischen Formalismus nicht möglich gewesen wäre. In unserem Fall wird es darum gehen, auf die gemeinsamen Motive hinzuweisen, auch wenn diese polemisch behandelt werden, und zwar auf die Motive, die heute tschechische, slowakische und deutschsprachige Wissenschaftler einander näherbringen, die sich auf das Erbe der Prager Schule berufen. Dem entspricht die Auswahl der in diesem Band aufgenommenen Beiträge. Der tschechische Strukturalismus wurde vor über einem halben Jahrhundert begründet. Die heute bereits klassische Prager Schule hat seitdem der internationalen Sprach- und Literaturwissenschaft weitreichende Impulse gegeben. Im kulturellen .Nahbereich' hat das Wirken Jan Mukafovsk^s seine Spuren schon früh in der slowakischen Literaturwissenschaft hinterlassen, seit seinen Vorlesungen an der Universität Preßburg zwischen 1931-19371, vor seiner Berufung nach Prag. Daß dabei von Anfang an nicht nur Impulse des frühen russischen Formalismus verarbeitet werden (wie in der Forschung oft genug betont wurde und auch hier wieder im Frühwerk Mukafovskys deutlich wird - etwa im ausgiebigen Zitat von A. A. Reformatskij (1922) in 1
Mikuläü BakoS hatte die Bedeutung der Vorlesungen Mukafovskys für die slowakische Kultur des theoretischen Denkens bereits 1941 gewürdigt (im Nachwort zur slowakischen Ausgabe von Mukafovskys Studie „Dialekticki rozpory v modemim u m i n f [Dialektische Widersprüche in der modernen Kunst], Bratislava 1941); s. K. Chvatik, 1981: Tschechoslowakischer Strukturalismus, München, 65ff.
viii
Vorbemerkung
„Das Wesen der Epik"), sondern Mukafovsky an eine schon bestehende Traditionslinie (Oleg Sus sprach deshalb vom tschechischen ,Formismus') der tschechischen Ästhetik anschloß, untersucht - gestützt auf Vorarbeiten von Sus - der Beitrag von Petr Kaiser. Die für den vorliegenden Band übersetzten Vorlesungstexte Mukafovskys aus dieser Zeit sind Dokumente wesentlicher Stimuli für eine Denktradition, deren Resultate letztlich in Arbeiten slowakischer Wissenschaftler wie Oskär Cepan und Peter Zajac sichtbar werden (ebenfalls in diesem Buch). Eine kontinuierliche Entwicklung und offene Auseinandersetzung mit ihrem geistigen Potential war jedoch vor der Wende im Lande unmöglich. Auch die Rezeption im Westen blieb notgedrungen fragmentarisch.2 Angesichts der postmodemen Theoriekrise sind sinnstiftende Angebote jedoch ständiges Desiderat. Es wäre wünschenswert, daß der an der Universität Leipzig in Kooperation mit dem Literaturinstitut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften edierte Sammelband zum Abbau dieses Defizits beitragen könnte. Ein Gedanke, der sich durch dieses Buch zieht, ist daher die Frage der Sinnkonstitution. Dies kann sowohl für den Bereich der Theorie des literarischen Textzeichens (Teile I und II) als auch in der praktischen Analyse (Teil III) gelten. Eine solche Fragestellung gehört zum traditionellen Kernbereich der Präger Literaturästhetik, in der seit Jan Mukafovsky (der seinerseits auf dem tschechischen Protostnikturalismus, insbesondere auf Otakar Zieh, aufbaut) der Semantik ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Der in verschiedenen Arbeiten (bei Peter Burg, Milan JankoviC, Wolfgang F. Schwarz, Peter Zajac, Jiii Holy, Herta Schmid, Kvötoslav Chvatik) in diesem Buch diskutierte Begriff der .semantischen Geste' ist dafür ebenso bezeichnend wie die Frage nach dem Zusammenhang von Sinnübertragungsverfahren und Wertkonstruktion im Rahmen eines erweiterten Intertextualitätsbegriffs (Mojmir Otruba), die Frage nach dem Ort des Artefakts (Miroslav Cervenka) oder die Erörterung der Problematik von Mukafovskys Zeichenkonzept vor dem Hintergrund von Kategorien wie .Absichtlichkeit' und ,Unabsichtlichkeit' (Marie Kubinovä). Auch die Studien in Teil III reflektieren diesen Ansatz unter verschiedenen Aspekten, an unterschiedlichem Textmaterial aus dem Bereich der Erzählpoetik.
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Zur Rezeption vgl. die Besprechung von Chvatik 1981 durch Schwarz, W.F. 1983 in Die Welt der Slaven, Jg. XXVIII,1, N.F. VII, 1, 208f„ Anm. sowie M. Sedmidubsky: „Zu Mukafovskys Rezeption und Wirkung in der deutschen Literaturwissenschaft", in Mukafovsky, J. 1986: Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik, Hg. H. Siegel, Tübingen, VII-XX, insbes. VIII-XII.
Vorbemerkung
ix
Gegenüber der postmodernen und dekonstmktivistischen These von der Sinnauflösung erwächst aus dem Systemdenken des Prager Strukturalismus ein Komplementärmodell (oder Alternativmodell?), das Polysemie, Sinnschwankung, semantische Oszillationen, antinomische Spannungen keineswegs als Defizite deutet, sondern als konstruktive Faktoren in dynamischen, ganzheitlich-organischen .offenen' Strukturen gelten läßt. Die semiotische Perspektive bleibt dabei nicht nur auf die Relation von Zeichensyntaktik und Semantik gerichtet, sondern ist offen für die Pragmatik (vgl. insbes. Otruba, Cervenka). Unsere Auswahl ist freilich auch durch Nebenbedingungen beeinflußt, durch die gegebenen Möglichkeiten der Herausgeber, insbesondere durch den Grundsatz, keine bereits anderweitig in Buchform publizierten Übersetzungen von Originaltexten aufzunehmen. Dies betrifft vor allem die Arbeiten von Roman Jakobson und Felix Vodiöka. Jede Auswahl aus einem breiten Arbeitsspektrum ist kritisierbar. Auch die Auswahl der Studien in unserem Band ist sicherlich - im Hinblick auf ein Gesamtbild der Prager literaturästhetischen Schule - unvollkommen. Von den Repräsentanten oder Nachfolgern der Prager Schule, die hier nicht vertreten sind, nennen wir ohne wertende Reihenfolge: Mojmir Grygar, Miroslav Prochäzka, Jifi Veltrusky und von slowakischer Seite MikuläS Bakoä. Der Band ist ein erster Schritt, an den weitere Textsammlungen mit ähnlichen Zielen, ohne nationale Verengungen und dogmatische Fixierung auf starre Ausgangspositionen, anknüpfen sollten. Leitmotiv soll vielmehr die Idee einer sich ständig im Wandel offenbarenden Vitalität sein. Hier sollte man vom Vollständigkeitskriterium absehen können, da es um Wissenschaft im nicht abgeschlossenen Prozeß geht. Die hier erstmals deutsch zugänglich gemachten Preßburger Vorlesungen Mukafovskys aus den Jahren 1931/32 sind mit Kommentaren versehen, die ihre Problematik in den passenden Kontext rücken. Am Ende des Bandes haben wir die Autoren der auf Mukafovsk^ folgenden Generationen mit einer Kurzbiographie und einer Auswahlbibliographie vorgestellt. Unser Dank gebührt dem Leipziger Team mit cand. phil. Doris Boden und Constanze Derham, Dipl.-Übers. Dorothea Müller, Eric Stumpf, M.A. und Dr. Olga Wilhelm, die in verschiedenen Arbeitsphasen wertvolle Mitarbeit
Vorbemerkung
X
geleistet haben, ohne die dieses Buch nicht hätte in der vorliegenden Form erscheinen können. Der Universität des Saarlandes - insbesondere Herrn Prof. Dr. Walter Koschmal - und der Universität Leipzig danken wir für die Unterstützung des Projekts, das seinen Anfang in der Kooperation Saarbrücken - Prag genommen hat und in Leipzig beendet wurde.
Prag und Leipzig 1996
Milan
Jankoviö
Jif (Holy-
Wolfgang F. Schwarz
I Aus den Anfängen und zur Vorgeschichte der Literaturästhetik des Prager Strukturalismus
Vorbemerkungen zu den Übersetzungen der Texte Mukarovskys Bei den Originaltexten Jan Mukarovskys, welche für diesen Band zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurden, handelt es sich um Vorlesungsskripte aus der Zeit seiner Lehrtätigkeit an der Universität Bratislava zu Beginn der dreißiger Jahre. Vom thematischen Aufbau her und im Hinblick auf die Komplexität der darin entwickelten Hypothesen und Argumente waren die Vorlesungen offenbar für den ersten Studienabschnitt gedacht. Mukarovsky geht sukzessiv aufbauend vor. Von der funktionalen Satzperspektive her gesehen, sind die Texte thematisch linear progredierend. Der Vortragsstil Mukarovskys ist sehr kultiviert, in der Präsentation jedoch gezielt langsam, um den Studierenden ein Verständnis seines Denkens zu ermöglichen. Er verwendet gesprochene Sprache, die Diktion ist nicht die einer systematisch konzentrierten Abhandlung. Mukarovsky ist stets bemüht, seine Thesen und Argumente mit einer Vielzahl von Beispielen aus der Geschichte der Kunst und Literatur zu exemplifizieren. Dadurch entsteht mit Blick auf sein Auditorium zwangsläufig eine Vielzahl von Längen und Abschweifungen, welche für die Fragen der Ästhetikkonzeption im Prinzip redundant, wenngleich didaktisch sinnvoll sind. Bei den Übersetzungen wurde der prosodische Stil beibehalten. Es erschien uns nicht sinnvoll, ein schriftliches Traktat aus den Vorlesungen zu machen. Fast alle Thesen, wie auch der semantische Aufbau der Texte, wurden erhalten. Im Bereich der illustrierenden Beispiele wurden jedoch Kürzungen vorgenommen, welche die Texte überschaubarer machen. Die Texte wurden nicht in einer einzigen Vorlesung, sondern über das gesamte Semester verteilt vorgetragen. Von daher war es kaum vermeidbar, daß immer wieder auf schon zuvor Gesagtes rekurriert wurde. Diese Rekurrenzen wurden gekürzt. Wir hoffen, damit die Verständlichkeit und Lesbarkeit der Texte erhöht zu haben. Die vorliegenden Texte stammen ursprünglich aus dem handschriftlichen Nachlaß Mukarovskys, der im Prager Památník národního písemnictví [Denkmal des nationalen Schrifttums] aufbewahrt wurde. Sie sind für den tschechischen Druck bereits von Miroslav Procházka redigiert worden. Die Anmerkungen, die Sie unten finden, stammen von ihm. Sofern von unserer Seite zusätzliche Anmerkungen eingefügt wurden, sind diese mit (*) gekennzeichnet. Da es uns nicht allein um eine Übersetzung, sondern auch um metawissenschaftliche Einordnung ging, sind den Originaltexten jeweils zusammenfassende Kommentare in Form von abstraéis nachgestellt. Wir wollten damit der Rezeption der bisher im Deutschen nicht publizierten Texte einen Rahmen anbieten, der sie auch für Nicht-Bohemisten leichter nachvollziehbar und verwertbar macht. Peter Burg
Jan Mukarovsky
Einführung in die Ästhetik [I] Universitätsvorlesung, Bratislava 1931/32 [gekürzte Fassung]
Die Ästhetik ist eine Wissenschaft mit einer sehr bewegten Vergangenheit. Ihren Name bekam sie erst im 18. Jahrhundert (Baumgarten), aber ihr Ursprung liegt, wie bei so vielen anderen Wissenschaften, im Griechischen (Piaton). Ihre Entwicklung ist voller Antinomien. Von ihrem Beginn an befaßte sie sich mit Kunst, aber es war niemals klar, ob sie sich auf diese beschränken dürfe, ob sie ein Anrecht auf die gesamte Kunst habe. Es war immer die erste Forderung, die an sie gestellt wurde, Normen zu erstellen, nach denen es möglich wäre, Kunstwerke zu bewerten, aber wann auch immer sie versuchte, diese Normen aufzustellen, ging sie jedesmal mit leeren Händen aus. Die Kunst, die lebendige Kunst, zerrann ihr unter den Händen. Sie wurde lange für einen Bestandteil der Philosophie gehalten, aber diese Position hielt sie in den Höhen der Abstraktion, weit von der lebendigen Kunst entfernt. Im 19. Jh. schließlich hielt sie die Zeit für reif genug, sich abzuspalten und mit konkretem Material zu arbeiten. Die Ästhetik wurde eine Wissenschaft, aber in diesem Moment und durch diesen Schritt bedrohte sie ihre Existenz. Es gab Momente, in denen es schien, daß sie durch andere Wissenschaften, besonders durch die Psychologie und darüber hinaus auch durch die Soziologie absorbiert würde. Die Geschichte der Ästhetik ist darum eine sehr komplexe Sache und ein sehr dramatisches Geschehen. Es geht mir überhaupt nicht darum, sie Ihnen hier darzulegen. In dieser Einführung möchte ich nur den heutigen Zustand und die heutigen Möglichkeiten skizzieren. Es scheint mir, daß wir jetzt bereits in einer Zeit sind, in der es möglich ist, auch in der Ästhetik eindeutig und ohne Eklektizismus zu sprechen. Ich denke, daß heute klar ist (wenn auch nicht allen), was das Material der Ästhetik ist, wie die Probleme der Ästhetik lauten und wie die Einteilung dieser Wissenschaft ist. Ich meine das natürlich nicht idyllisch: das bedeutet für mich nicht, aufzuhören zu fragen, sondern es bedeutet, daß wir die Möglichkeit haben, systematisch zu fragen, in der Hoffnung, daß die Antworten auf unsere Fragen, die Ergebnisse unserer Forschungen zur Grundlage für eine sich gesetzmäßig entwickelnde weitere Forschung werden können. Es wäre vielleicht angebracht, Ihnen zur Einführung eine
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Jan Mukafovsky
Definition der Ästhetik zu geben. Nun, ich denke nicht, daß dies möglich wäre. Es gibt nicht nur eine Definitionen der Ästhetik, es sind derer viele und sehr verschiedenartige. Sie aufzuzählen und zu konfrontieren würde bedeuteten, eine Kritik der Geschichte der Ästhetik abzugeben, also gerade das, was ich vermeiden will. Irgendeine dieser Definitionen herauszunehmen, bedeutet eine gewisse Begrenzung des Materials dieser Wissenschaft vorzunehmen, es bedeutet, einen gewissen Standpunkt, mit welchem ich an dieses Material herangehe, einen bestimmten Problemkreis mit einer bestimmten Hierarchie vorwegzunehmen. Sonst zerbröckelt einem jede Definition unter den Händen. Ein Beispiel. Eine ehrwürdige Definition der Ästhetik: Die Wissenschaft vom Schönen. Gut, aber was ist Schönheit? Ist das eine platonische Idee, deren bloßer Widerschein künstlerische Werke sind, die aber außerhalb und über diesen existiert? Oder ist es eine gewisse Vollkommenheit, die jedem einzelnen Werk immanent ist (z.B. ein Werk ist nur dann schön, wenn es auf eine gewisse Weise der Wirklichkeit entspricht, auf welcher es aufgebaut ist)? Oder am Ende noch schlimmer: existiert Schönheit überhaupt als etwas Objektives, das heißt, durch ein Werk Gegebenes? Existiert sie nicht vielleicht durch das bloße Verhältnis eines wahrnehmenden Individuums, bzw. eines Kollektivs (einer Gesellschaft, einer Zeit, einer Generation, eines Milieus) zu einem gegebenen Werk? Sehen Sie, was für ein Schwann von Fragen? Was bleibt von der Definition übrig?1 Oder ein anderes Beispiel: nach einer sehr breiten und fast neutralen Definition nun eine Definition, die ausschließlich auf eine bestimmte Richtung beschränkt ist: Die Ästhetik ist die Wissenschaft des Ausdrucks der Persönlichkeit. Sofort erheben einige Einspruch (unser Einwand ist das nicht). Aber was ist mit dem Naturschönen? Die Natur ist auch schön und drückt doch keine schöpferische Persönlichkeit aus. Das aber ist ein Einwand, den man widerlegen kann. Dadurch, daß das Naturschöne einfach amputiert wird. Man sagt: die Natur hat keinen beständigen ästhetischen Wert, einmal gefällt uns z.B. die Ebene, ein anderes Mal gefallen uns die Berge, einmal gefällt uns die kultivierte Natur, ein anderes Mal die wilde. Diese Unterschiede gibt es darum, weil die Natur ästhetische Werte nur dadurch gewinnt, daß sie sub specie einer künstlerischen Schule betrachtet wird. Es scheint uns, daß wir die Schönheit der Natur wahrnehmen, in Wirklichkeit apperzipieren wir sie jedoch in einem Rahmen, der durch eine gewisse künstlerische Richtung ge-
1
Hier hat Mukafovsky einen Einschub markiert; was jedoch eingefügt werden sollte, ist aus der Handschrift nicht ersichtlich.
Einführung in die Ästhetik I
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geben ist (z.B. sehen wir eine Landschaft als ein impressionistisches Bild etc.). Dieser Einwand widerlegt die Definition also nicht, aber es ist ein anderer - und zudem wirksamerer - Einwand möglich. Das Kunstwerk ist also der Ausdruck der Persönlichkeit seines Schöpfers; und nach dem Grad der Vollkommenheit seines Ausdrucks richtet sich auch sein Wert. Gut. Aber dann wird stillschweigend vorausgesetzt, daß das Werk mit apriorischer Notwendigkeit mit der Persönlichkeit (d.h. der psychologischen Struktur) seines Schöpfers verbunden ist. Aber diese Voraussetzung ist nicht richtig. Es ließen sich an die hundert Belege anführen, in denen das Werk und diese Persönlichkeit klar divergieren. Z.B. ist die Erotik von Mächas Tagebuch, eines gewiß bereits wegen seiner Intimität sehr unmittelbaren Dokumentes (ganze Passagen sind chiffriert), eine völlig andere als die Erotik des „Mäj". Mancher sagt: ich denke nicht an den Inhalt des Werkes, sondern an dessen ästhetische Struktur. Diese ist einfach notwendig durch die dichterische Persönlichkeit gegeben. Auch hier Belege; z.B. Pasternak (nach einem Bericht Jakobsons): er begann in der Linie, in der Struktur zu schaffen, die später von Majakovskij ausgearbeitet wurde, und er wußte nichts davon; dann hörte er Majakovskij die eigene Arbeit rezitieren. Er machte sich bewußt, daß diese Struktur zu Majakovskij besser paßte als zu ihm: so begann er also von neuem und anders. Was das bedeutet: ein gewisser Bereich von Möglichkeiten kann gegeben sein, und er ist wahrscheinlich durch die Persönlichkeit gegeben (zu Majakovskij „paßte" diese Struktur besser). Aber diese Verbindung ist nicht eindeutig, der Künstler hat eine gewisse Wahlmöglichkeit (Pasternak wählte.) Im übrigen ist es nicht notwendig, sich an individuellen und anekdotischen Beweisen festzuhalten. Man kann auch einen allgemeinen Beweis führen. Die Geschichte der Kunst (welcher auch immer) hat ihre Gesetzmäßigkeit (anders wäre sie keine Geschichte, sondern eine Sammlung von Zufällen, das muß jeder anerkennen, egal, wie er das Problem ihrer Methode in concreto für sich löst). Nun, zu glauben, daß gerade in einer bestimmten Zeit, als durch evolutionäre Notwendigkeiten diese oder jene Form der Kunst vorhanden war, nur die Menschen künstlerisch tätig waren, denen es möglich war, ihre Persönlichkeit eben in dieser Form adäquat auszudrücken - das bedeutet, an eine vorgefaßte Harmonie zwischen evolutionären Gesetzen und Persönlichkeiten (vielleicht sogar zwischen evolutionären Gesetzen und Gesetzen der Population) zu glauben. Dazu ist ein starker Glaube notwendig, doch wissenschaftlich ist das nicht. Und so ist uns schon die zweite Definition auseinandergefallen. Sie sehen, wie gefährlich es wäre, wenn wir versuchten, eine Definition aufzustellen (oder irgendeine zu
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Jan Mukafovsky
übernehmen, die bereits existiert), noch bevor wir ihre Voraussetzungen erforscht hätten. Mit diesen Vorbehalten glaube ich natürlich an die Möglichkeit einer Definition der Ästhetik und bin mir sicher, daß sie auch für uns als Ergebnis hervorgehen wird. Sie als Beginn aller Erwägungen erzwingen zu wollen, wäre nicht sinnvoll und ist auch nicht nötig. Auch ohne Definition kann man sich vorläufig ganz gut verständigen, denn eines ist uns allen klar: daß der Hauptgegenstand unserer Überlegungen die Kunst sein wird und daß die primäre und grundlegende Frage, die wir uns stellen, die Frage nach dem Zweck und dem Wesen der Kunst ist (mag die Kunst nun das gesamte Gebiet ästhetischer Erscheinungen in Anspruch nehmen oder nicht, und mag die Kunst gänzlich oder nur teilweise, von einer gewissen Seite her, ästhetisch sein). Übrigens: wir können uns einen solchen Zugang erlauben, obgleich er scheinbar langsam ist. Es geht mir nicht darum, Ihnen hastig und schematisch darzulegen, was wer über die Ästhetik denkt. Ein solcher Überblick wäre gewiß interessant - und wäre nicht leicht. Mir geht es aber nur darum, Ihnen eine theoretische Rechtfertigung der Grundlagen zu geben, auf welchen ich in meinen konkreten Vorlesungen aufbauen werde, um mir und Ihnen zu beweisen, daß ich auf festem Boden und nicht auf einem Paradox stehe. Das bedeutet das konsequente Durchdenken eines einzigen Standpunktes. Wenn dieses Durchdenken konsequent und kritisch sein soll, ist es riskant genug. Für mich ist das selbstverständlich nützlich. Ich sage das als Entschuldigung, falls in diesen Vorlesungen nicht alles so vollständig sein wird, wie ich es gern möchte. Für unseren zukünftigen Kontakt verspreche ich mir von diesem Kolleg, daß wir uns später besser verstehen werden. *
Vor allem das Material, auf dem die Ästhetik aufbaut. Frage: gibt es das Ästhetische nur in der Kunst oder auch außerhalb der Kunst? Können wir nur zu Kunstwerken ein ästhetische Verhältnis einnehmen oder auch zu anderen Erscheinungen? Zu welchen? Sind irgendwelche objektiven Bedingungen des ästhetischen Erlebens nötig oder nicht? Dreierlei Möglichkeit: 1. Objektive Bedingungen (eine gewisse Wirksamkeit der Sache selbst) sind nötig, und diese Bedingungen sind nur in der Kunst erfüllt (in diesem Fall deckt sich der Bereich der Ästhetik als Wissenschaft mit dem Bereich der Kunst als Material). [...] 2. Objektive Bedingungen sind nötig, aber sie können auch außerhalb des Gebietes der Kunst erfüllt sein. Das ist insbesondere
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der Fall bei dem Naturschönen. Denn es stellt sich auch die Frage, was das für Bedingungen sind, die die Landschaft erfüllen muß (oder eine andere Naturerscheinung), damit sie ästhetisch wirkt. Dabei muß allerdings die Natur ausgeschlossen werden, die absichtlich so gestaltet wurde, daß sie ein ästhetisches Erleben hervorruft (z.B. Gärten, Parks, wo bereits gewisse Elemente des Landschaftsbildes hervorgehoben sind [....]). Denn in diesem Falle geht es nicht um das landschaftlich Schöne, sondern um ein Kunstwerk, dem die Natur nur als Material dient; dieses Material ist natürlich weit weniger fügsam als ein anderes Material - eine gegebene Situation. Es geht also nicht um solche Fälle, sondern um nicht gestaltete Natur. Wenn wir anerkennen, daß in der Natur objektive Bedingungen des ästhetischen Erlebens gegeben sein können, müssen wir diese Bedingungen bestimmen. Das ist auch wirklich gemacht worden, und es existiert eine ganze Literatur über das Naturschöne, über die Schönheit des menschlichen Körpers usw. 3. Ästhetisches Erleben ist auch ohne objektive Bedingungen möglich, obgleich diese objektiven Bedingungen gegeben sein können (gerade in der Kunst) und obwohl sogar die Fälle, in denen diese Bedingungen gegeben sind, die normalsten sind. Das heißt: wir können alles mögliche ästhetisch erleben, wenn wir dazu ein besonderes Verhältnis einnehmen (das ästhetische Verhalten). Also nicht nur die Schönheit von Landschaften und von Naturerscheinungen generell, sondern auch ganz subjektive psychische oder physische Zustände. Z.B. Gefühle beim Besteigen von Bergen, bei einer physischen Übung, bei intellektueller Arbeit etc. Der französische Ästhetiker Guyau (Vitalist, Problèmes de l'esthétique contemporaine, Sociologie de l'art) spricht über das ästhetische Erleben beim Austrinken eines Glases frischer Milch. Nun, für welche der drei Möglichkeiten wollen wir uns entscheiden? 2 Die erste und dritte sind sich sehr nahe. Eine wichtige gemeinsame Eigenschaft, die beide haben: sie begrenzen die objektive Bedingtheit des ästhetischen Erlebens auf die Kunst. Damit wird die Zielgerichtetheit dieser objektiven Bedingtheit erhalten. Das Kunstwerk wird erschaffen, um ein ästhetisches Erleben hervorzurufen, um „das ästhetische Verhalten" herbeizuführen. Das ist unter Umständen jedem klar. Aber wie kann man in den Naturerscheinungen (und zwar nur in einigen, deren Wahl ganz der Willkür des Ästheten über2
Auf Seite 7 der Handschrift ist folgende Passage durchgestrichen: Die erste vereinfacht die Situation erheblich. Ihr Nachteil ist aber: bleibt dann überhaupt noch etwas vom ästhet... [tschechisch z estet...; der Abbruch läßt die Wortart (Adj. oder Subst.) unklar, der Zusammenhang scheint für den Bezug auf „estetické proiivâni" (ästhetisches Erleben) zu sprechen; d. Übers.]
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Jan Mukafovsky
lassen ist) eine solche Zweckhaftigkeit voraussetzen? Das ist ein innerer Widerspruch, aufgrund dessen notwendigerweise der Standpunkt wegfällt, den ich an zweiter Stelle angeführt habe. Es bleiben also nur die Standpunkte eins und drei übrig. Der Unterschied zwischen ihnen ist der, daß der erste Standpunkt die Entstehung des ästhetischen Verhältnisses zu einer Sache (das ästhetische Verhalten) ausdrücklich nur an die objektive Bedingtheit knüpft, während der zweite Standpunkt erlaubt, die Möglichkeit eines ganz spontanen ästhetischen Verhältnisses zu einer Sache, d.h. ohne objektive Bedingungen, vorauszusetzen. Mir scheint, daß der erste Standpunkt gewisse Gefahren für den weiteren Ansatz der Forschung in sich birgt. Bedenken wir nur: das ästhetische Erleben ist nach diesem Standpunkt notwendig mit dem Kunstwerk verbunden. Außerhalb der Grenzen der Kunst tritt das ästhetische Erleben nicht auf. Doch das ästhetische Erleben an sich ist ein gewisser geistiger Zustand. Also eine rein subjektive Angelegenheit. Erkennen wir seine notwendige Beziehung zum Kunstwerk an, wird das Werk dadurch entweder selbst subjektiv (Croce - das Werk als Ausdruck der Schöpferpersönlichkeit, d.h. daß Croce sich auf die psychologische Reaktion des Wahrnehmenden auf das Werk stützt, die eine Einfühlung in die Persönlichkeit des Schöpfers ermöglicht). Oder umgekehrt - der psychische Zustand des Wahrnehmenden wird zu Unrecht objektiviert (Hegel - das Werk als Verkörperung einer Idee). Darum wählen wir lieber den dritten Standpunkt, der nicht bestreitet, daß das ästhetisches Erleben einzig und allein im Kunstwerk objektiv bedingt sein kann, der aber die Möglichkeit des ästhetischen Erlebens auch dort zuläßt, wo es überhaupt keine objektiven Bedingungen gibt. Durch diese Voraussetzung wird das ästhetische Erleben als ganz selbständige Erscheinung bewahrt, klebt aber nicht am Kunstwerk, und so ist eine Möglichkeit gegeben, zwischen das objektiv gegebene Werk und den psychischen Zustand des Rezipienten (und Produzenten) eine Art phänomenologischer Realität zu schieben, die wir „ästhetisches Objekt" nennen. Das ästhetische Objekt ermöglicht es uns dann, das Prinzip des ästhetischen Wertes aus seiner Abhängigkeit von subjektiver Willkür zu befreien, es ermöglicht uns z.B. zu erklären, wie es möglich ist, daß dasselbe Kunstwerk zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden kann, ohne daß wir dabei dem ästhetischen Relativismus anheimfallen müssen usw. [....] Die einzige Definition des Kunstwerkes, welche wir für möglich halten, ist folgende: der Artefakt wird geschaffen, um ein auf ihn bezogenes ästhetisches Verhältnis hervorzurufen (das ästhetische Verhalten). Wenn wir von dieser Definition abließen, würde uns das Kunstwerk völlig zerfließen, dann
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ist es überhaupt nicht möglich zu sagen, was ein Kunstwerk ist, weil nicht klar sein wird, wozu es dient. Wir fragen jetzt aber: ist es möglich, daß das Kunstwerk gleichzeitig vom Standpunkt zweier Werte betrachtet wird? Und daß diese zwei Werte völlig gleichberechtigt sind? Es ist möglich.[...] Ästhetisch zu werten bedeutet, alle übrigen möglichen Werte eines gegebenen Objektes inaktiv zu machen (darin liegt der Sinn von Kants Formel des „interesselosen Wohlgefallens")- Und darum können wir die Ansicht nicht akzeptieren, daß es eine Vielzahl gleichberechtigter Werte im Kunstwerk gibt. Wir leugnen nicht, daß ein Werk einige unterschiedliche Werte beinhalten kann. Aber in solch einem Fall sind die nichtästhetischen Werte notwendig dem ästhetischen Wert untergeordnet. Es entsteht eine Werthierarchie. Die nichtästhetischen Werte treten in die Struktur des Werkes als deren Bestandteile ein, die Elemente und die Struktur des Werkes sind somit ein System von Elementen, das auf die Evokation eines ästhetischen Verhältnisses zum Werk als einer Sache gerichtet ist. Das, was ich hier ganz theoretisch sage und wozu ich scheinbar nur durch logische Deduktion gelange, kann man durch eine konkrete Analyse von Werken oder eventuell auch aus den Zeugnissen von Dichtern selbst empirisch beweisen. So z.B. Tolstojs „Krieg und Frieden". Ideologie: der Sieg des Kollektivs über das Individuum. Dieser ideologische Gegensatz wird durch das Paar „Kutuzov versus Napoleon" verkörpert. Tolstojs Napoleon ist ein armer Teufel, unintelligent, eingebildet und in fiebriger Eile - und seine Eile, seine gesamte Aktivität, hat überhaupt keinen Einfluß auf die Entwicklung der Ereignisse. Der historische Napoleon ist ganz anders. Auch in Tolstojs Vorstellungen sah er ganz anders aus; Rybnikova führt in ihrem Buch Kompozicija3 eine Notiz Tolstojs zu Napoleon an, die etwa so lautet (ich zitiere nur approximativ, aus dem Gedächtnis): Napoleon - großer Intellekt - Energie - aber ohne Schwung; er verursachte viel Durcheinander auf der Erde - unnötig. Also Intellekt; er verursachte etwas. Das genaue Gegenteil ist der Napoleon in „Krieg und Frieden". Stellen Sie sich vor, Tolstoj hätte Napoleon entsprechend der historischen Wahrheit oder zumindest entsprechend seiner Vorstellung geschildert? Die Folge? Eine völlig andere Struktur des Werkes, eine andere Komposition, weil ein ganz anderes Verhältnis der Personen. Aber auch eine andere Ideologie; der Gegensatz Kutuzov - Napoleon wäre entweder verschwunden, oder hätte zumindest nicht diese Ideologie, die er 3
M.A. Rybnikova 1924: Po voprosam kompozicii, Moskva.
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Jan Mukafovsky
in der jetzigen Gestalt des Werkes hat. [...] Kein einziges Element des künstlerischen Werkes steht außerhalb des Bereichs der Ästhetik. Das Verhältnis der Ästhetik und der Kunst ist nicht K
Ä sondern Ä
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Heute einige Worte über die Schönheit, über die Problematik der Schönheit. Sie wird gewöhnlich für einen Grundbegriff der Ästhetik gehalten - die Ästhetik wird als Wissenschaft vom Schönen definiert. Sie wird uns nicht so sehr interessieren, daß wir uns immerfort mit ihr beschäftigten werden. Dennoch gedenken wir nicht unbeachtet an ihr vorüberzugehen. Was ist das, die Schönheit? Vor allem Schönheit außerhalb der Kunst. Irgendeine Eigenschaft irgendwelcher Dinge, eine Eigenschaft, die sie objektiv haben, vielleicht in unterschiedlichem Maße (es gibt schöne und schönere Dinge)? Es gibt auch Dinge, die zur Schönheit ein negatives Verhältnis haben, die die umgekehrte Eigenschaft haben, die häßlich sind. Und es gibt Dinge, welche im Hinblick auf die Schönheit indifferent sind. Das ist empirisch klar, dazu brauchen wir keine Ästhetik. Die Ästhetik ist eher dazu da, die Dinge, jedenfalls auf den ersten Blick, zu komplizieren und unklar zu machen. So z.B. gibt es Ästhetiker, die behaupten, daß es außerhalb der Kunst keine Schönheit gebe, letztens habe ich einige zitiert (Hegel, Croce und Lalo). Überall anderswo geht es entweder um irgendein sinnliches Wohlgefallen (die Schönheit der Farben) oder um Konventionen (die Schönheit der Natur) oder um die Vollkommenheit einer Art (die Schönheit des menschlichen oder tierischen Körpers) oder schließlich um die Vollkommenheit eines Typus (bei menschlichen Produkten), beziehungsweise um eine vollkommene Zweckhaftigkeit. Das ist wahr. Man kann sogar noch einen anderen Grund gegen die geläufige Auffassung der Schönheit außerhalb der Kunst anführen. Und zwar diesen: die Schönheit scheint uns gerade außerhalb der Kunst eine unstrittige Sache zu sein, weil sie uns als reale Eigenschaft der Dinge
Einführung in die Ästhetik I
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erscheint, dabei genügt es, nur ein wenig genauer hinzuschauen, damit sie sich uns in ihrer ganzen Veränderlichkeit zeigt. Nehmen wir z.B. die Schönheit des menschlichen Körpers. Einige Merkmale der Schönheit des menschlichen Körpers sind offensichtlich Angelegenheit der Konvention der Zeit, z.B. die Farbe der Augen und Haare. Es wurde, glaube ich, festgestellt (ich zitiere aus dem Gedächtnis), daß Kollärs Mina schwarze Haare und dunkle Augen hatte - der Dichter schildert sie als blauäugige Blondine. Ein Zugeständnis an die Konvention der Zeit. Es gibt aber auch Merkmale, die beständig zu sein scheinen, beispielsweise die Proportionen. Damit rechnen besonders diejenigen, die über die Schönheit des menschlichen Körpers geschrieben haben. Man gibt einen Kanon von Maßen an: z.B. der Augenabstand, die Breite des Brustkorbs, das Verhältnis zwischen der Länge des Rumpfes und der Beine u.a. Auch dies unterliegt der Konvention. (Botticellis schmalbrüstige Frauen, die heutige Vorliebe für den schlanken Typ u.ä.). Ähnlich ist es mit der Schönheit der Farben, sowohl einzelner als auch Farbkonventionen. Dasselbe ließe sich noch für andere Arten der Schönheit außerhalb der Kunst feststellen. Und nun? Dennoch darf man die Schönheit außerhalb der Kunst nicht außer Acht lassen, sie nicht gänzlich negieren. Nehmen wir ein Beispiel, das den meisten unter uns vielleicht am nächsten ist, die Schönheit einer sprachlichen Äußerung. Wir alle wissen, daß man auch dann, wenn man etwas gänzlich Unkünstlerisches schreibt, z.B. einen wissenschaftlichen Text, auf den ästhetischen Gesichtspunkt, auf die Schönheit dieser Äußerung achten kann. So z.B. ein gewisser Intonationsverlauf des Satzes - die Intonation soweit als möglich abgerundet - gleichmäßige Verteilung der Intonationssegmente im Satz. Damit verbunden eine bestimmte rhythmische Gestaltung, eine gewisse Wortwahl: z.B. Vermeidung der Wiederholung von Worten etc. Das steht in jedem stilistischen Handbuch, und danach wird auch der Stil von Schülern in der Schule beurteilt usw. Nehmen wir z.B. die Aussprache: wir empfinden sehr wohl (obgleich bei uns, leider Gottes, wie die Sprachkultur insgesamt, die Kultur der Aussprache wenig gepflegt wird), daß es auch in einer gänzlich unkünstlerischen Äußerung, wie z.B. in einer öffentlichen Rede oder auch in einem Gespräch, eine hübsche und weniger hübsche Aussprache gibt. Kurz gesagt, es gibt im Leben eine ganze Reihe von Dingen, die wir ästhetisch beurteilen, schon indem wir sie (wenn Sie wollen), schön oder häßlich finden, obgleich sie in unserem Bewußtsein überhaupt nicht mit Kunst in Zusammenhang stehen. Dabei denke ich keineswegs an Dinge des alltäglichen Lebens, die dennoch mit der Kunst zusammenhängen und ästhetisch als Kunstwerke bewertet
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werden, oder an Dinge, die einer anderen Klasse angehören als die sich selbst bezweckende Kunst. So z.B. das gesamte Kunsthandwerk, aber auch solch einfache Dinge wie das Decken einer Tafel für ein Festmahl oder die Gestaltung des häuslichen Gartens. Diese Dinge gehören zu einer anderen Klasse. Das sind künstlerische Werte. Aber das Ziel der Kunst, wie wir bald sehen werden, ist nicht die Schönheit. Die Schönheit, wie wir sie hier angedeutet haben, ist Proportionalität und Ebenmäßigkeit. Eine Aussprache ist dann schön, wenn sie glatt dahinfließt und den Sprechwerkzeugen keine Schwierigkeiten bereitet. Ein Satz ist dann schön, wenn z.B. kein Mißverhältnis zwischen der Entfaltung einzelner Glieder besteht, wenn einer tonalen Hebung eine gleich lange Senkung folgt etc. Kunst hingegen ist Revolution, Entautomatisierung - die Schönheit kommt in diesem Sinne nur manchmal, in einigen Zeiten zur Geltung4. *
Vor allem: die Schönheit ist also Eigenschaft von Dingen, aber was für eine Eigenschaft? Eine solche, wie es z.B. die Farbe ist? Bedeutet das, daß sie durch eine sinnliche Wahrnehmung gegeben ist? Auf den ersten Blick offenbar nicht. Sie ist keine reale, sondern eine ideelle Eigenschaft, durch die Sinne nicht wahrnehmbar. Das bedeutet keinesfalls Zweifel an ihrer Existenz. Es gibt solche Objekte und Eigenschaften, die existieren, ohne daß es möglich wäre, sie sinnlich wahrzunehmen. Einen Laut hören wir, eine Farbe sehen wir. Aber z.B. Anzahl und Beziehungen nehmen wir nicht mit den Sinnen wahr. An ihrer Existenz kann jedoch kein Zweifel bestehen. Und dennoch: den Unterschied zwischen zwei Tönen hören wir nicht, wir hören bloß den einen und den zweiten Ton und machen uns ihre Verschiedenheit nur indirekt bewußt. Und wenn wir drei Dinge sehen: a/b/c, sehen wir jedes dieser drei Dinge, aber nicht deren „Dreiheit". Zu einer Dreiheit, zu dreien, werden sie nur dadurch, daß wir sie - nachdem wir sie erblickt haben - zu einem Ganzen zusammenfassen. Jedes der drei Dinge ist sinnlich wahrnehmbar, ihre Anzahl jedoch nicht. In diesem Sinne ist auch die Schönheit eine ideelle Eigenschaft - und ihre Existenz wird damit nicht bestritten. Wie ist dann aber diese Eigenschaft gegeben? Erste mögliche Annahme: absolut,
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Die Seiten 15-18 der Zählung Mukafovskys entsprechen nicht immer dem thematischen Zusammenhang; außerdem sind noch zwei nicht numerierte Seiten eingelegt. Die einzelnen Passagen müßten also thematisch geordnet werden.
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ohne Bezug zu irgendeinem wahrnehmenden Individuum oder Kollektiv. Derart sind viele Eigenschaften, z.B. die Farbe (nämlich als physikalisches Geschehen, welches die Grundlage der Farbwahmehmung ist). Oder die Anzahl: es ist niemals möglich, daß irgendwer, der zählen kann, behauptet, daß drei Objekte mehr oder weniger als drei seien. Würden wir eine solche Absolutheit bei der Schönheit voraussetzen, könnten wir sie aus den einzelnen Erscheinungen abstrahieren und zu einer Kategorie verbinden, die in der Welt der Dinge (vielleicht der idealen Dinge) existiert. Davon geht z.B. die platonische Idee der Schönheit aus. Ist aber die Schönheit wirklich so gegeben? Ist ein Objekt immer in der Weise schön, wie drei Objekte drei Dinge sind? Auf den ersten Blick offenbar nicht. Man kann nicht sagen, daß ein Objekt auch dann schön ist, wenn es überhaupt nicht wahrgenommen wird. Das Urteil: diese Sache ist schön, kann sich von Kollektiv zu Kollektiv, von Individuum zu Individuum ändern. Bedeutet das, daß die Schönheit notwendig etwas Zufälliges und eigentlich - als allgemeiner Begriff - nicht Existierendes ist? Keineswegs. Es bedeutet nur, daß die Schönheit eine Eigenschaft ist, die durch ein gewisses Verhältnis zwischen einem wahrnehmenden Individuum (bzw. einem Kollektiv) und einem Objekt gegeben ist. Auch wenn die Zuerkennung der Eigenschaft „Schönheit" in einzelnen Fällen schwankt, bleibt der Fakt bestehen, daß diese Eigenschaft jenen Objekten zugesprochen wird, die in uns einen gewissen Seelenzustand wecken oder eher eine gewisse Einstellung, die ein bestimmtes Verhältnis zu diesen Objekten hervorruft. An dieser Sache ändert auch die Tatsache nichts, daß die Schönheit jeweils einem anderen Objekt zugesprochen wird. Auch dann ändert sie sich noch nicht notwendig in etwas Zufälliges. Darum können und müssen wir die Schönheit behandeln: 1. außerhalb der Kunst 2. in der Kunst. Denn wie wir sehen werden, erfordert beides eine eigene Behandlung - die Funktion des Schönen (keinesfalls jedoch ihr Wesen) ist jeweils eine andere. *
Das letzte Mal habe ich Ihnen ein überblickhaftes Bild vom Umfang der Erscheinungen gegeben, die das Fach Ästhetik ausmachen. Jetzt stellt sich die Frage, von welchem Punkt aus wir an dieses Material herangehen. Es ist sehr umfangreich, besonders wenn wir gesagt haben, daß das ästhetische Verhältnis zu jeder beliebigen Sache eingenommen werden kann. Schauen wir noch einmal auf die drei Standpunkte, welche wir das letzte Mal mar-
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kiert haben, obgleich wir uns schon für einen von ihnen entschieden haben. Sie gewähren uns dreierlei verschiedene Sichtweisen auf die Sache. Vor allem der Standpunkt, den wir zuletzt am entschiedensten zurückgewiesen haben, welcher indes am geläufigsten, der ganz gewöhnlichen Anschauungsweise am nächsten ist: (...). *
Die Schönheit in der Kunst: Ist die Schönheit eine Norm, mit welcher wir Kunstwerke messen, und wenn ja, dann alle? Kann man über jedes Werk, dem wir einen ästhetischen Wert zuerkennen, sagen: es ist schön? Kaum, es sei denn, wir wollten mit dem Wort Schönheit ganz vage die Mächtigkeit des Eindrucks bezeichnen, durch den sie auf uns wirkt. Daß man nicht jedes Werk als schön bewerten kann, fühlten die Ästhetiker schon seit langem. Beweis dafür ist, daß neben dem „Schönen" seit jeher auch andere ästhetische Kategorien anerkannt werden, insbesondere die Kategorie des „Erhabenen". (Die Anzahl der Kategorien ist sonst schwankend - denn sie bedeuten eigentlich nichts wesentliches, sondern sind Ausdruck von Verlegenheit). Ein anderer Beleg: Schönheit, das ist eine bestimmte Norm; an dieser Norm messen wir die Erscheinung, die wir als schön erklären wollen - wenn wir aber unerwartet vor eine neue Kunstform gestellt werden, haben wir eher das Gefühl einer Störung der Norm als das einer Normerfüllung. Eine Anekdote: XY hört ein Werk von Mozart, [es sei] voller Fehler (d.h. Störung der Norm), aber schön (das Wort schön bedeutet hier nur die Mächtigkeit des Eindrucks, wie ich gerade gesagt habe). - Ist also die Schönheit überhaupt aus der Kunst ausgeschlossen? Keineswegs: es gibt Werke, die mit der uns geläufigen Norm gemessen werden können, Werke, die sie nicht stören, sondern erfüllen. Wenn wir von einem solchen Werk sagen, daß es schön ist, können wir auch sagen, warum es schön ist, unser Urteil gerade mit jener Norm begründen. Dabei wäre ein Urteil etwa folgender Art möglich: Ja, dieses Werk ist schön, es ist jedoch (obwohl es nicht so schön, so perfekt ist) stärker (d.h. wir erleben es ästhetisch intensiver). Weiter - wenn wir ein Werk als schön im Sinne einer Normentsprechung bezeichnen, wird sich zeigen, daß dieses Werk leicht in Elemente zerlegbar ist: ein Werk ist schön, weil es die oder die Komposition hat, die oder die Farbanordnung, die oder die Größenverhältnisse, die oder die poetischen Bilder, weil es einen melodischen Vers hat usw. Bei einem Werk, das auf neue Weise und zudem mächtig auf uns wirkt, ist der Eindruck fast undifferenziert. Wir
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schaffen es nicht zu sagen, weshalb es mächtig auf uns wirkt. Ein im normativen Sinne schönes Werk hat also die Eigenschaft, daß es leicht in Komponenten zerfällt, seine Komposition ist offensichtlich. Und diese Komponenten werten wir dann, eine jede messen wir an der dafür zuständigen konkreten Norm, die wir im Bewußtsein haben. Und was sagt eine solche Norm? Daß ein bestimmtes Verhältnis nebeneinander gesetzter Farben schön ist, ein bestimmtes Verhältnis gleichzeitig oder nacheinander erklingender Töne, eine bestimmte Auswahl und Kombination von Wörtern, ein bestimmte Art der Organisation von Höhen- oder Betonungsbeziehungen in der Sprache. Kurzum: es geht immer um ein bestimmtes (gerade dieses und kein anderes) wechselseitiges Verhältnis von verschiedenen Elementen, die wir zwar voneinander unterscheiden, jedoch auf der Grundlage einer Beziehung zu einer einzigen Einheit [utvar] - Gestalt zusammenfassen (solche Einheiten innerhalb des Kunstwerks sind z.B. Rhythmus, Melodie, Farbkomposition usw.) Entspricht ein solches Verhältnis der Norm, nennen wir es schön. Es geht also darum: wodurch ist die Norm gegeben? Und im Zusammenhang damit: welche Gültigkeit hat sie? Ist sie unveränderlich oder veränderbar? Unveränderlich kann sie nur dann sein, wenn sie gewissermaßen durch die Eigenart der Sache bedingt ist. Damit dies klar ist: Sie wissen aus der Akustik, daß die Konsonanz oft in Zusammenhang mit dem Verhältnis der Tonschwingungen gebracht wird: ein einfaches Schwingungsverhältnis - Konsonanz. Also objektive Bedingtheit und Unveränderlichkeit der Norm. Aber andererseits ist aus der Entwicklung der Musik bekannt, daß die Konsonanz zunahm; daß das, was einmal als Dissonanz gewertet worden war, in einigen Fällen mit der Zeit als Konsonanz gewertet worden ist. Auf der Voraussetzung der Unveränderlichkeit der Norm des Schönen basieren einige ästhetische Theorien - insbesondere die experimentelle Ästhetik Fechners und der Formalismus Herbarts. Fechners experimentelle Ästhetik: wenn die Norm unveränderlich ist - oder zumindest in bestimmten Grenzen unveränderlich ist (individuelle Abweichungen brauchen nichts auszumachen, man kann sie durch Häufung von Experimenten ausschließen), - dann läßt sich experimentell feststellen, was, welche Gruppierung von Elementen, schön ist. Auf diese Prämisse hat er seine Experimente gegründet. Anregung hatte er erhalten von Zeisings Entdeckung über den Goldenen Schnitt (Aufteilung einer Geraden in zwei Abschnitte, von denen der kleinere [sich] zum größeren [verhält] wie der größere zur ganzen Geraden); es schien so, daß hier eine konkrete Norm in flagranti als objektiv bedingt ertappt worden wäre, [daß] der Goldene Schnitt auf die Maße des menschlichen Körpers
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und viele andere Dinge angewendet werden könnte.* Und so begründete Fechner eine neue Wissenschaft, deren Aufgabe es war, konkrete Normen zu ermitteln; er begann einfach, mit den schlichtesten Elementen. Folgendermaßen: dem Probanden legte er zwei Papierstreifen, die im rechten Winkel aufeinander gelegt wurden, so daß sie ein Kreuz bildeten. Der Proband hatte die Aufgabe, den waagerechten Streifen unter auf dem senkrechten so zu verschieben, daß die Aufteilung des senkrechten erreicht werden sollte, die als die angenehmste, schönste, empfunden wurde. Oder die Wahl: eine Person erhält verschiedene Muster (z.B. Rechtecke aus Papier, woraus sie dasjenige auswählen soll, das ihrer Meinung nach das schönste sein sollte. Die Versuche wurden gehäuft, um individuelle Abweichungen auszuschließen; aus den Resultaten wurde der Durchschnitt errechnet. Die experimentelle Ästhetik ist nicht mit Fechner gestorben. Die Experimente wurden weitergeführt, die Technik vervollkommnet. Das Ergebnis der ganzen Arbeit: es zeigte sich, daß es unmöglich [ist], eine wirklich objektive Norm aufzustellen. [Die Urteile in den Experimenten] veränderten sich nicht nur von Person zu Person, sondern auch bei derselben Person in aufeinanderfolgenden Experimenten. Es ist hier keine Zeit, die experimentelle Ästhetik detailliert zu untersuchen. Wenn wir dies täten, würde sich zeigen, daß diese Methode in einigen Richtungen nicht ohne Nutzen ist, besonders dann, wenn der Forscher die Prämisse aufgibt, daß eine objektiv bedingte und unveränderliche Norm existiere, zu der man kommen müsse, und wenn er sich bewußt macht, daß man nur gewisse Direktiven [smérnice] in den vorherrschenden Wertungen fassen kann, Direktiven, die zwar unbestimmt und veränderlich sind, immerhin charakteristisch. Uns geht es nur darum: als Methode, die zu objektiv bedingten Normen kommen sollte, hat die experimentelle Ästhetik enttäuscht. Und nun Herbarts Formalismus. Ebenso, wie Fechner Zeising als Voraussetzung hatte, hatte auch dieser Formalismus seine Entwicklungsvoraussetzung. Diese Voraussetzung war die sog. Inhaltsästhetik der Vorgänger Herbarts, besonders Hegels. Hegel: das Werk als Verkörperung der Idee; je adäquater das Werk die Idee verkörpert, desto wertvoller. So wertete er
*
Adolf Zeising (*1810, fl876): Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, Leipzig 1854; Ästhetische Forschungen, Frankfurt a.M. 1855. Der Leipziger Experimentalpsychologe und Philosoph Gustav Theodor Fechner (*1801, f l 8 8 7 ) hat sich mit der Entdeckung Zeisings auseinandergesetzt in Zur experimentalen Ästhetik 1 (Abhandlungen der Kgl. Sachs. Ges. d. Wissenschaften, XIV Mathem.-phys. Classe), 1871: 554ff. Zu Zeisings Konzeption s. a. Hermann Lotze, Geschichte der Ästhetik, München 1868: 458. (Anm. d. Hg.)
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nicht nur einzelne Werke, sondern die gesamte Kunstentwicklung (symbolische - klassische - romantische Kunst). Demgegenüber Herbart - die Schönheit des Werks in der Form: das Verhältnis der Elemente ... (eher empirisch - eine Abstraktion aus Werken - als experimentell). Nun also, wir sind der Meinung, daß diese beiden Versuche, die objektive Bedingtheit der Norm festzustellen, gescheitert sind; sollen wir daraus schließen, daß die Norm überhaupt nicht existiert? Keinesfalls, das kann man nicht folgern. *
Letztes Mal haben wir über die Schönheit nachgedacht. Es hat sich herausgestellt, daß das für einige Ästhetiker ein so grundlegender Begriff ist, daß sie ihre Wissenschaft durch ihn definieren, andere bestreiten die Schönheit ganz. Weder die einen noch die anderen haben Recht. 1. Schönheit existiert - allerdings nicht als metaphysisch Seiendes (platonische Idee), sondern als Norm (oder eher als ein Komplex von Normen). Sie haben gesehen, daß sie sowohl außerhalb, als auch innerhalb der Kunst existiert. Ihr Verhältnis zur Kunst ist jedoch ein besonderes. Man kann nicht sagen, daß jedes Kunstwerk schön wäre. Wir haben sogar gezeigt, daß gerade ein neues Kunstwerk, das, was wir ästhetisch vollständig erleben, nicht als schön bezeichnet werden kann. Daß es Schönheit erst dann gewinnt, wenn es altert. Dann erst kann es, oder besser, können seine einzelnen Elemente durch eine Norm gemessen werden. Solange ein Werk lebendig ist (allerdings - das werden wir sehen, wenn wir über die Kunst sprechen - auch ein älteres Werk kann jederzeit wieder lebendig werden), empfinden wir es als ein Ganzes, erleben wir es ästhetisch, ohne es zu analysieren. Sobald wir ein Werk mit Normen messen, zerfällt es in seine Elemente - also verlieren wir sogar das aus den Augen, was das Wesen eines lebendigen Werkes ausmacht: seine Einheit. Ein interessanter Beleg für das, was ich sage, ist die Meinung von Herbart: ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt, daß Herbart davon überzeugt war, daß Schönheit eine beständige Norm ist und daß man mit dieser Norm (bestimmte Verhältnisse der einzelnen Elemente) ein Kunstwerk messen kann. Und auf der Grundlage dieser Überzeugung kam er zu der Meinung, mußte er dazu kommen, daß die Einheit eines Kunstwerkes - ein grundlegendes Merkmal, was jedem empirisch klar ist, der Kunst wahrnimmt - etwas nicht Beständiges und im Grunde nicht Existierendes ist. Hören Sie folgendes Zitat:
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Jan Mukafovsky Der Stoff und das ihm eigene Interesse dient in der Regel zum Verbindungsmittel (gleichsam zum Gerüste) für ein sehr mannigfaltiges, daran gefügtes Schönes. Die Einheit eines Kunstwerks ist nur selten eine ästhetische Einheit; und man würde in sehr falsche Speculationen gerathen, wenn man sie allgemein dafür halten wollte. Ein Gemälde enthält ästhetische Verhältnisse der Farben: diese bestehen für sich. Es enthält ästhetische Verhältnisse der Gestalt, der Zeichnung; diese bestehen wieder für sich; sie hätten selbst ohne bunte Färbung, (in getuschter Manier, oder im schwarzen Kupferstich) erscheinen können. Es enthält endlich ästhetische Verhältnisse in dem dargestellten Gedanken; diese sind poetischer Art; vielleicht vom Dichter entlehnt, oder sie können doch durch Worte, abgesondert von dem begleitenden räumlichen Schönen, ausgesprochen werden. Nun beruht allerdings der Werth des Gemäldes nicht bloß auf der Summe jener verschiedenartigen Schönheiten, sondern auch auf deren schicklicher Verbindung. Z.B. dem tragischen Gedanken entspricht das düstere Colorit, und der kühne Wurf in der Zeichnung; dem heiteren, lachenden Gedanken schmiegt sich an die Helligkeit der Tinten, die zierliche Ausarbeitung aller Theile, vielleicht selbst die niedliche Kleinheit des Formats. Allein dies Schickliche ist dennoch, ästhetisch betrachtet, etwas Untergeordnetes, und welches vielmehr an der Beschaffenheit des Stoffes hängt, als an irgend einer Gattung des in ihm dargestellten mannigfaltigen Schönen. Die Farbe konnte nicht hinweisen auf die Zeichnung; die gefällige Form noch weniger auf den Gedanken; der Gedanke eben so wenig auf das Ebenmaß der Figuren; der vielseitig gebildete Geist des Künstlers war es, welcher alle diese Schönheiten an einer Stelle versammelte.5 (Deutsches Zitat von Herbart im tschechischen Text - d. Übers.)
Ein langes, doch lehrreiches Zitat. Herbart fällt das Gemälde, das er als B e i spiel anführt, auseinander (in Zeichnung - Farben - Gedanken). B e i l ä u f i g gesagt: das, was er ad oculos als Beweis anführt, nämlich, daß dasselbe Bild farblos reproduziert werden könnte, ist ein bedenklicher B e w e i s . Es ist wahr, daß bei einem Werk, in welchem die Struktur nicht direkt in den Farben besteht, eine farblose Reproduktion (die aber die Unterschiede in der Helligkeit bewahrt, also eigentlich einen Teil des Farbeindrucks) zwar nicht das vollständiges Werk, dem Werk jedoch in einem gewissen Maße adäquat ist. Es gibt aber Bilder, z.B. die impressionistischen, w o eine farblose R e produktion die Struktur des Werkes vernichtet. Das aber nur am Rande. Jetzt wieder zum Hauptgedanken: also das Werk, das sind nach der Anschauung Herbarts nur die einzelnen Elemente. Das, was die Elemente verbindet, ist ästhetisch „untergeordnet", das ist „der S t o f f . Herbart lebte natürlich in einer Zeit, in der es keine Kunst ohne Thema gab. Heute ist - und gerade in der Malerei - klar zu sehen, daß die Einheit eines Werkes anderswo liegt als im Stoff. U n d sofern es einen Stoff in einem Werk gibt, ist e s dann u m g e kehrt: auch dieser Stoff ist der Einheit, der strukturellen Einheit des Werkes untergeordnet. Über das W e s e n der Strukturalität sprechen wir bald, d o c h
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[J. F.] Herbarts Sämmtliche Werke, hg. v. G. Hartenstein, Leipzig 1850, Bd. 1,164.
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nicht an diesem Ort, sondern erst dann, wenn wir über die Kunst sprechen. Herbart fiel das Werk also auseinander. Das ist ein Nachteil, der dem Grundirrtum seiner Theorie entspringt. Ein zweiter Nachteil: er selbst erkannte und mußte anerkennen, daß das Wesen des Kunstwerks nicht allein in der Schönheit besteht, sondern daß es noch andere Dinge gibt, welche zur Wirkung des Werkes beitragen. Er äußert das sehr interessant: Wenigstens wo uns zur Betrachtung des Werkes eine länger anhaltende Aufmerksamkeit angemuthet wird, da fordern wir, im Aufmerken unterstützt zu werden durch Abwechslung; wir fordern Unterhaltung. Deshalb mischt sich in allen größeren Kunstwerken das Unterhaltende als ein beträchtlicher Zusatz zum Schönen (.. .) 6 [...].
Also: Bei Herbart finden wir ein in seine Elemente zerfallenes Kunstwerk, dessen Einheit nur durch den Inhalt gegeben ist, außerdem (zweites Zitat) reicht Schönheit für die Wirksamkeit eines Kunstwerkes nicht aus, außer ihr beinhaltet es noch andere Werte, welche die Schönheit weniger langweilig machen. Dafür ist die Schönheit beständig, ein Werk besitzt sie ein für allemal. Letzten Endes ist auch für Herbart Schönheit und Kunst nicht dasselbe. [...] *
Das vorige Mal haben wir den ästhetischen Wert außerhalb der Kunst behandelt. Wir sagten, daß er dort als Norm erscheint. Jetzt geht es um den ästhetischen Wert innerhalb der Kunst. Ich habe Ihnen schon angedeutet, daß das Problem des ästhetischen Wertes hier ein anderes ist. An die Stelle der schematischen Anwendung der Norm tritt hier ein komplizierter seelischer Prozeß - das ästhetische Erleben. Einen wesentlichen Unterschied gibt es hier allerdings nicht, Erleben und Normierung sind im Wesentlichen - von der funktionellen Seite her - dasselbe. Sowohl das Erleben als auch die Normierung bedeuten im Grunde das Einnehmen eines ästhetischen Verhältnisses zu einer Sache (das ästhetische Verhalten). Der Unterschied liegt nur in der allmählichen Automatisierung des Aktes; trotzdem verschwindet (psychologisch betrachtet) aus dem Akt der Normierung nie die Spur des ästhetischen Erlebens, und umgekehrt ist auch das ästhetische Erleben nie ohne Tendenz zur normativen Schematisierung. Bevor wir jedoch über die ästhetische Bewertung und den ästhetischen Wert in der Kunst sprechen, müssen wir uns bewußt machen, was hier bewertet wird. Mit anderen Worten - vor
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Ibid., 160.
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uns steht das schwierige Problem des ästhetischen Objekts, das Gegenstand der Wertung ist. Sie könnten fragen, warum ich nicht das Kunstwerk als Objekt der Wertung bezeichne. Aber ich habe Ihnen schon angedeutet, daß das Kunstwerk, das im Material als empirische Realität gegeben ist, nicht das eigentliche Objekt der ästhetischen Wertung ist. Bei der Analyse des Begriffs des ästhetischen Objekts ist das ganz klar zu sehen. Einstweilig ein vorläufiger Beweis: an ein und dasselbe Kunstwerk kann eine ganze Reihe ästhetischer Objekte geknüpft sein, die auf verschiedenen Elementen und verschiedenen Eigenschaften des Kunstwerks aufgebaut sind [...]. Und dann noch ein anderer Beweis, der eigentlich mit dem vorhergehenden zusammenhängt: nicht alle Eigenschaften und Elemente des Kunstwerks7 werden für das gegebene ästhetische Objekt genutzt, zu ästhetischer Wirkung erweckt, aktualisiert (das Wort als Bedeutungseinheit bei den Schriftstellern der LumirGruppe, die Umrißlinie bei den impressionistischen Malern). Die Illusion, daß das ästhetische Objekt dasselbe ist wie das Kunstwerk, daß es in ihm eindeutig enthalten und unabwendbar mit ihm verbunden ist, entsteht dadurch, daß das ästhetische Objekt in der Regel zugleich mit dem Werk gegeben ist und daß es, besonders in der neuen Kunst, mit dem Kunstwerk so verwachsen ist, daß man es nicht mehr von ihm unterscheiden kann. Dennoch gibt es aber Fälle, in denen das ästhetische Objekt - sei es auch nur vorübergehend - außerhalb des Werkes existieren kann. So ist es bei der sog. ästhetischen Wahrnehmung der Natur, über die ich Ihnen schon einiges dargelegt habe. Das ästhetische Objekt ist also etwas anderes als das Kunstwerk. Wenn das Kunstwerk im Material gegeben ist, als eine empirische Realität, die der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist, dann ist auch das ästhetische Objekt eine Realität, doch eine phänomenologische, die durch ihre Funktion gegeben ist, Objekt des ästhetischen Erlebens zu sein [...].* [...] Die Poesie ist also eine thematische Kunst. Trotzdem wäre es aber sehr schwer, Inhalt und Form in ihr nur ungefähr so genau zu unterscheiden wie in der Malerei. Was der „Inhalt" ist, ist klar; aber was ist die „Form"? Über einige ihrer Elemente würden wir uns ohne Widerspruch einigen. So gehören zur Form z.B. der Rhythmus und die Komposition. Aber jetzt die Sprache. Ist sie Form oder Material? Was Material in der Malerei ist, ist klar: das ist das Papier, die Holztafel, die Pigmente usw. Das Material der Dichtkunst ist - so sagt man - die Sprache. Aber ist Sprache nicht auch 7 8
Über diesen Wörtern hat Mukafovsky eingefügt: Verb am Satzende. [Mukafovsky verweist an dieser Stelle kurz auf] B. Christiansen, Philosophie Kunst [Hanau 1909],
der
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gleichzeitig Form? Sie könnten einwenden: das ist doch ganz einfach - die Sprache selbst ist das Material, während die Form die Art und Weise ist, in der die Sprache in einem poetischen Werk zum Erzielen einer ästhetischen Wirkung (zur Synthese des ästhetischen Objekts) verwendet wird. Das würde allerdings voraussetzen, daß die Sprache in ein poetisches Werk genauso unorganisiert eintritt wie Ton oder Stein in die Plastik, Leinwand oder Pigmente in die Malerei. Ist das so? Offensichtlich nicht. Sprache tritt in ein poetisches Werk bereits als ein organisiertes Phänomen ein, das seine eigenen, reich differenzierten Formen (morphologische, syntaktische, semantische) hat. Und die Art und Weise des Gebrauchs der Sprache in einem poetischen Werk liegt in der gerichteten Deformation dieser Formen. In der „gerichteten Deformation" [usmSrnSnä deformace] sage ich, das heißt, daß diese Deformation selbst eine neue, andere Form ist, die auf der Basis der grundlegenden sprachlichen Form wirksam wird. Und die Verhältnisse im Hinblick auf das Thema und den Inhalt sind genauso. Auch das Thema bringt sich in ein Werk durch eine gewisse eigene Organisation ein (z.B. bei einem epischen Thema die chronologische und kausale Gliederung); es hat also auch seine Form. Und diese Form unterliegt im Kunstwerk gleichfalls einer gerichteten Deformation. Wenn ich im kommenden Semester über die Komposition im dichterischen Werk lesen werde, kann ich zeigen, wie oft die chronologischen und kausalen Verknüpfungen innerhalb eines Themas zum Zwecke der ästhetischen Aktualisierung deformiert werden. Und hier also Form über Form. Wenn wir die Sprache im Sinne eines Substrats der ästhetischen Form als Material bezeichnen würden, müßten wir auch das Thema zum Material erklären. Dann würde allerdings der „Inhalt" wieder völlig verschwinden. In einem poetischen Werk ist es also besser, wenn wir uns genau ausdrücken wollen, nicht von einem Gegensatz zwischen Inhalt und Form zu sprechen. Es ist besser, wenn wir Sprache und Thema, sprachliche und thematische Elemente, sagen. Es ist auch notwendig, darauf hinzuweisen, daß nicht einmal diese Formulierung ohne Schwierigkeiten ist. Denn es ist sehr schwierig, eine eindeutige Grenze zwischen thematischen und sprachlichen Elementen zu ziehen. Das kleinste und nicht weiter teilbare inhaltliche Element pflegt ein Motiv zu sein. Nehmen wir z.B. den Satz: „Der Sohn tötete seinen Vater". Das ist ein Satz, also unstrittig eine sprachliche Erscheinung, eine syntaktische und semantische Einheit. Er kann aber auch, wenn wir ihn von der thematischen Seite her betrachten, als Motiv gelten, und zwar als ein Motiv mit sehr breiter Wirksamkeit - dieses Motiv ist eines der Hauptmotive des „Mäj" - wenn aber dieser Satz in dem Kontext eines
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Gedichtes erscheint, ist er kein Motiv, sondern ein Satz. Gut, wir könnten sagen, also der Satz, das ist die Grenzscheide: was weniger als ein Satz ist, ist Sprache, was mehr ist, ist Motiv; ein Satz ist beides zugleich (so etwa bei Zirmunskij). Nun, gehen wir weiter: Das Wort läska [Liebe]; daß das Wort eine sprachliche Erscheinung ist, daß auch seine Bedeutung ein Bestandteil der Sprache ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Zugleich ist es eine niedrigere Einheit als der Satz und zugleich die niedrigste Bedeutungseinheit der Sprache überhaupt. Nun - kann denn läska nicht Motiv des poetischen Werks sein? Ich erinnere wieder an Mächas Mäj: „Byl pozdni veöer - prvni mäj - / vecemy mäj - byl läsky öas. / Hrdliööin zval ku läsce hlas, / kde borovy zavänel häj. / O läsce Septal tichy mech; kvgtouci ström lhal läsky 2e 1, / svou läsku slavik rüzi pel, ( ...)" [Ein Abend spät - der erste Mai - / ein abendlicher Mai - es war der Liebe Zeit./ Des Täubchens Stimme rief zur Lieb herbei, / wo duftete der Föhren Hain./ Von Liebe flüsterte das stille Moos; der Blütenbaum log der Liebe Leid, / ihre Liebe sang die Nachtigall, (...).]* Liebe ist hier offensichtlich nicht mehr bloß Wort, eine Bedeutungseinheit innerhalb des Satzes, sondern auch - im ganzen Kontext - Motiv. Das alles heißt freilich nicht, daß es keine Grenze zwischen Thema und Sprache gäbe: es heißt lediglich, daß daß sie nicht als Grenze zwischen verschiedenen Erscheinungen gegeben ist, sondern daß es um eine Doppelfunktion der gleichen Erscheinung geht: Entweder fassen wir das Wort Liebe im gegebenen Fall im Satzkontext auf, dann trägt es eine sprachliche Funktion (es ist Subjekt, steht im Nominativ, im Singular, ist ein Substantiv) - oder wir beziehen es auf das Thema, dann trägt es eine thematische, eine „inhaltliche" Funktion und ist Motiv. Generell läßt sich nach dieser skeptischen Betrachtung sagen: im poetischen Werk gibt es thematische und sprachliche Elemente. Dasjenige, was wir, wenn wir über die Malerei gesprochen haben, mit dem gängigen Terminus „Inhalt" bezeichnet haben, ist das Thema, aber eine Form als einen Gegensatz zum Thema gibt es hier nicht. Und jetzt stellen wir an das Thema die Frage, die wir zuerst an den Inhalt gestellt haben. Hat das Thema irgendeinen Anteil bei der Synthese des ästhetischen Objektes? Aus dem, was wir weiter oben über die Deformation des Themas, wenn es in ein Kunstwerk eintritt, gesagt haben, geht hervor, daß das Thema eine ästhetische Funktion hat, daß es an der Synthese des ästhetischen Objekts teilnimmt. Aber jetzt - was ist das? Haben wir auch
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Nach der Übers, von Otto F. Babler adaptiert v. Hg. (K. H. Mächa 1983: Mäj, zweispr. Ausg., Köln u. Wien).
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nichts Seltsames, vielleicht Unrichtiges ausgesprochen? Ein deformiertes Thema! Das Thema, der „Inhalt" ist doch nach der landläufigen Auffassung die Wirklichkeit selbst. Und es ist die Aufgabe des Kunstwerks, wiederum nach der landläufigen Auffassung, diese Wirklichkeit zu artikulieren, und nicht, sie zu deformieren und umzuformen. Damit dieser (nur scheinbare) Widerspruch beseitigt wird, müssen wir ausführlich überlegen, was das Thema eigentlich ist. Ist es wirklich irgendeine „außersprachliche" Wirklichkeit, welche in das Kunstwerk eintritt? (Ich selbst habe das irgendwann einmal geschrieben, ich gestehe es reumütig.) Wenn es aber die Wirklichkeit wäre (oder wenigstens das sprachliche Äquivalent der empirischen Wirklichkeit, wie in der mitteilenden Rede), wäre dann hier eine wie auch immer geartete Deformation am Platze, welche die Klarheit der Mitteilung oder gar deren Präzision und Wahrhaftigkeit bedrohte? Ein Dichter geht mit einem Thema ganz anders um als mit der „Wirklichkeit" in der mitteilenden Rede umgegangen wird. [...] Wenn z.B. ein Zeitungsreporter die Realität so korrigieren würde, wie er sie gerade „braucht", würden wir seine Reportage unwahrhaftig nennen. In Bezug auf das Thema ist die Frage der Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit gänzlich irrelevant, solange wir das Thema als Bestandteil des ästhetischen Objekts beurteilen. (Die Literaturgeschichte befaßt sich zwar zuweilen damit, in welchem Maß z.B. bei einem autobiographischen Roman das Thema der Realität entspricht, doch sie tut dies in dem vollem Bewußtsein, daß für den ästhetischen Wert eines Werkes weder Übereinstimmung noch Nichtübereinstimmung mit der Realität etwas bedeutet. Solch eine Forschung hat eher zum Ziel, sich Kenntnisse über das Leben des Dichters, über die Art seines Schaffens zu verschaffen, also über Dinge, welche das poetische Werk als ästhetisches Phänomen nicht berühren.) Bleibt also nun die Frage, was ist das Thema im poetischen Werk, wenn es nicht die Realität ist. Die Antwort, die ich sogleich gebe, aber zuerst hinreichend zu begründen versuche, lautet: das Thema im poetischen Werk ist die Bedeutung, also ein semantisches Faktum (und im Grunde genommen ein sprachliches).9
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Auf Seite 39 [der Handschrift] ist am Ende dieser Passage noch (offenbar nachträglich) angefügt: (Schließlich: auch in der Malerei ist dies der Fall - die Theorie Polivanovs über inklusive - exklusive, symbolische < Kommunikation, illustriert an der Malerei.) Weiter Christiansen, 73. realistische
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Mukarovskys Vorlesung aus den dreißiger Jahren Im literarischen Nachlaß Jan Mukarovskys, welcher in den Sammlungen des literarischen Archivs des Pamätnik närodniho pisemnictvi [Prag] untergebracht ist, sind unter anderem einige Vorlesungen aus der Zeit Ende der zwanziger und erste Hälfte der dreißiger Jahre aufbewahrt. Zu den ästhetischen Vorlesungen rechnen wir zumindest die folgenden: „Ästhetische Studien zur modernen tschechischen Lyrik", „Einführung in die Ästhetik", „Das Problem des ästhetischen Wertes", „Philosophie der Dichtersprache" sowie „Philosophie der poetischen Struktur". In der Zeitschrift Estetika (Jahrg. XVIII, 1981, Nr. 4) wurde bereits eine dieser Vorlesungen publiziert und zwar „Das Problem des ästhetischen Wertes" (Jan Mukafovsky hielt sie im Studienjahr 1932/33 in Bratislava). Auch die „Einführung in die Ästhetik", welche wir erstmals [in diesem Band erstmalig auf Deutsch] abdrucken, wurde in Bratislava im Studienjahr 1931/32 gelesen. Der Text der Vorlesung mit einem Umfang von 79 Seiten war, bis auf drei Seiten Schreibmaschinenskript, mit der Hand (Federhalter) auf Papier, etwa in DIN A 4 Format, geschrieben und nicht für die Publikation bestimmt. Wir haben die ursprüngliche Gliederung des Textes erhalten, vor allem im Rahmen der Absätze und Kapitel, nur zuweilen wurde die thematische Gliederung bearbeitet. Die Zitate wurden in der Mehrzahl der Fälle belegt, gegebenenfalls überarbeitet oder ergänzt. Sprachlich wurde der Text den heutigen editorischen Grundsätzen angepaßt. Kleine Ungenauigkeiten und Irrtümer wurden korrigiert. Mehr oder weniger zusammenhängend waren 68 Seiten des handschriftlichen Manuskriptes konzipiert; daran wurden am Ende die numerierten Seiten 1-4, 1-6 sowie ein nicht numeriertes Blatt angefügt; diese Seiten wurden, da sie den Charakter eines Konzeptes haben, in die Anmerkungen eingegliedert. Es braucht nicht besonders betont zu werden, welche Bedeutung diese Vorlesung für unser Verständnis der Geschichte des tschechischen und slowakischen Denkens über die Ästhetik und für die Beurteilung der Entwicklung der ästhetischen Anschauungen Mukarovskys hat. Unter anderem erlaubt uns die Form der Vorlesung (noch dazu einer Vorlesung, die nicht für die Publikation gedacht war), die Art und Weise von Problemsuche und Problemlösung in einer weit offeneren Form zu sehen, als dies bei einem Manuskript der Fall wäre, das für den Druck konzipiert wurde. Miroslav Prochäzka Aus dem Tschechischen von Peter Burg und Dorothea Müller
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Kommentierendes abstract Jan Mukarovsky entwickelt seine Konzeption der Ästhetik von einem kurzen Abriß der Geschichte der Ästhetik als Begriff und Disziplin aus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts emanzipiert sich die Ästhetik von der Philosophie und beginnt an konkretem Material zu arbeiten. Im Zentrum der klassischen Theorien des Ästhetischen steht die landläufige Definition der Ästhetik als Wissenschaft vom Schönen. Mukarovsky fragt nach dem ontologischen Status der Idee des Schönen, denn dieser ist keineswegs klar. Sofern für Mukarovsky die Idee des Schönen in der Ästhetik Sinn macht, ist diese relational aufzufassen, d.h. als ein Verhältnis zwischen Objektqualität und wahrnehmenden Subjekt. In ähnlicher Weise polemisiert er gegen die Idee der Kunst als Ausdruck der Persönlichkeit. Für ihn ist der Themenkreis Schöpfer und Werk letztlich ein psychologischer, der nicht unmittelbar in den Objektbereich der Ästhetik fällt. Es ist erkennbar, daß Mukarovsky schon in den frühen dreißiger Jahren werkästhetisch denkt und die Frage der Persönlichkeit des Schöpfers als Element der Werkstruktur postuliert, auch wenn dies in den Texten nur angedeutet ist. Letztlich will Mukarovsky die Kunst als evolutionären Prozeß, als Prozeß der Entfaltung der Struktur fassen. In der Frage nach der Reichweite von Kunst und Ästhetik verweist er darauf, daß das ästhetische Erleben in keiner Weise notwendig an die Kunst gebunden ist, daß es aber andererseits keine Kunst ohne den Faktor des ästhetischen Erlebens gibt. Somit ergibt sich für das Verhältnis Ästhetik zu Kunst das der Inklusion. Wie aus dem Mengendiagramm in seiner Vorlesung ersichtlich, ist der Bereich der Kunst in jenem des Ästhetischen enthalten. Anders verhält es sich mit der Idee des Schönen. Sie steht nur in kontingenter Relation zur Kunst, wenngleich sie eine historisch variable ästhetische Funktion unter anderen bilden mag. Eine Konstitutionsbedingung der Kunst ist sie nicht. Ästhetisches Erleben und somit ein ästhetisches Verhalten von Individuen zu etwas gilt quod libet, d.h. ist unabhängig von dem konkreten Objekt, spezifischen Eigenschaften des Objektes. Damit ist die Universalität dieser Aspekte ausgewiesen. Wo sie unabhängig von spezifischen Objektqualitäten ist, das Objekt nur als logische Stelle quod libet (gewissermaßen in der Form einer Individuenvariable) gefordert ist, dokumentieren beide auch den universalen Geltungs- und Referenzraum des Ästhetischen und der Wissenschaft der Ästhetik. Eine gewisse Ambiguität ergibt sich in Mukarovskys Überlegungen zum Wertproblem. Nach seiner Konzeption können außerästhetische Werte Elemente eines Kunstwerkes sein. Somit müßte aber Kunst auch in den außerästhetischen Bereich hineinragen. Dieser Widerspruch ist jedoch nur scheinbar, wenn man auf der anderen Seite die Universalität des Ästhetischen im Grundsätzlichen betrachtet. Die Integration
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außerästhetischer Werte in ein Kunstwerk erfolgt aber in concreto, d.h. sie ist jeweils nur kontextuell markierbar. Dies gilt dann vice versa auch für ästhetische Werte außerhalb der Kunst. Beide Möglichkeiten operieren implizit auf der Inklusion der Kunst in die Ästhetik. Objekt der Wertung im Kunstwerk ist das ästhetische Objekt, das jedoch nicht mit dem Kunstwerk identisch ist, denn nicht das Werk als solches wird bewertet, sondern der Bereich der Phänomene, über welches es spricht. Der Fokus des ästhetischen Objekts ist die Funktion, derjenige des Kunstwerks das Material, das sinnlich-empirisch zugänglich ist. Mukafovsky spricht hier ohne nähere Präzisierung von der „phänomenologischen Realität". Auch Thema und Inhalt des Werkes sind voneinander zu unterscheiden. Dem Thema entspricht im Unterschied zum Inhalt eine eigene Form, welche Deformationen unterliegt. Das Thema ist Material. Thema wie Inhalt sind an sprachliche Elemente gebunden, doch je nach Kontextspezifikation kann ein Inhalt thematisch variieren. Am klarsten werden Inhalt und Thema unterscheidbar, wenn wir die Differenz von mitteilend-denotativer Sprache (bzw. Funktion) und poetischer Sprache (bzw. Funktion) betrachten. In der Poesie geht es nicht um korrekte Abbildungen oder gar um wahrheitsfunktionale Betrachtungen eines Textes im Bezug zu einem ausgewählten Segment der empirischen Realität, sondern um eine spezifische Bedeutung. Das Thema ist, wie Mukafovsky am Ende seiner Ausführung sagen wird, ein semantisches und somit, genaugenommen, ein sprachliches Faktum. Peter Burg
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Einführung in die Ästhetik II Universitätsvorlesung, Bratislava 1931/32 [gekürzte Fassung]
Bis jetzt haben wir ganz allgemein einzelne Gruppen von Elementen des Kunstwerkes durchgenommen. Das sind alles verhältnismäßig einfache Dinge. Jetzt kommen wir zu dem komplexen Begriff der Struktur des Kunstwerkes. Damit keine Unklarheiten durch das Hinüberwechseln von einer Kunst in die andere entstehen, wie wir das bisher getan haben, will ich Ihnen den Begriff der Struktur am literarischen Werk ausführlich erklären. Doch zuerst einige Beispiele aus anderen Künsten. Und dies darum, weil es zum einen unmöglich ist, den Begriff der Struktur von den Mitteln zu trennen, mit denen er realisiert wird, und zum anderen, weil aber die Grundmerkmale des Begriffs der Struktur, die wir in der Dichtkunst feststellen, für jede beliebige ästhetische Struktur gelten. Beginnen wir ganz am Anfang, ohne uns von vornherein der Möglichkeit einer Definition zu berauben. Setzen wir nicht einmal den Begriff selbst voraus. Gehen wir der Reihe nach die Elemente des poetischen Werkes durch, die wir im ersten Semester aufgestellt haben: 1. Material - Sprache 2. „Inhalt" - Thema 3. Form, d.h. jene Prinzipien, durch welche sich die Elemente des Kunstwerkes in Gestalten [ütvary]* organisieren. Deren gibt es zwei: a) Der Rhythmus: er organisiert vor allem die sprachlichen Elemente (und zwar von der klanglichen Seite ausgehend; und dort wiederum speziell von einigen ihrer Bestandteile, dies ist je nach Sprache verschieden, er durchdringt aber sekundär das ganze Werk, all seine Elemente, die Bedeutung und sogar das Thema, s. Tynjanov 10 ); b) die Komposition-, sie organisiert vor allem die thematischen Elemente, durchdringt jedoch alle Elemente des Werkes, die sprachlichen, die Bedeutung, ja auch den Klang.
* 10
Der Begriff ,dtvar' vertritt bei Mukafovsky den deutschen Terminus .Gestalt' („Üvod do estetiky" [I], 33; dt. s.o.; Anm. d. Hg.). Tynjanov, J. 1924: Problema stichotvornogo jazyka, Leningrad.
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Das also sind die Elemente des poetischen Werkes. Schauen wir uns ihre Existenz außerhalb des poetischen Werkes an. Vor allem das Material, die Sprache. Das sind, verzeihen Sie die trockene Aufzählung: 1. der Klang (Anordnung der Laute, Intonation, Exspiration) 2. die Morphologie (Flexion, Wortbildung) 3. die Syntax (z.B. Gebrauch der Zeitformen, Satztypen, Wortfolge) 4. die Bedeutung (z.B. das lexikalische System, lexikalische Beziehungen, Satzsemantik) 5. die Funktion (intellektuelle, emotionale u.ä.; Monolog und Dialog ...») So z.B. der Klang: die Anordnung und Auswahl von Lauten. Wodurch ist das in der nichtdichterischen Sprache bedingt? Immer durch etwas Außersprachliches, ich habe darüber, glaube ich, einmal in irgendeiner Vorlesung gesprochen. Schriebe ich z.B. eine Abhandlung oder einen Vortrag über Milch [tschechisch: mleko], wäre es natürlich, daß dort nicht nur die Laute m/l/k sehr oft vorkämen, sondern auch die gesamte Gruppe /ml/, weil sich das Wort „Milch" oft wiederholen würde. Und dieses Wort würde sich aus außersprachlichen Gründen einfach darum wiederholen, weil von einer gewissen außersprachlichen Wirklichkeit die Rede ist. Nehmen wir nun ein Beispiel aus der Dichtersprache: den jungen Mai besingt froh alle Kreatur* [tschechisch: VeSkery zivy tvor / m/adistvy s/avi mäj]. Sie sehen die besondere Anordnung der Laute und fühlen deren besondere Wirkung. Sind diese Laute nur darum so angeordnet und ausgewählt, weil dies irgendeine außersprachliche Wirklichkeit so erforderte? Wenn wir sagen würden: Die gesamte Schöpfung freut sich über den Mai [tschechisch: Veskere tvorstvo raduje se mdje], könnten sich diese Worte auf dieselbe außersprachliche Realität beziehen. Die Mitteilung wäre dadurch nicht verkürzt. Fassen wir diese Worte aber als Bestandteil eines künstlerischen Werkes auf, fühlen wir, daß dieser Wandel sehr viel an ihnen verändert. Also entsteht die Frage: wodurch und wo ist diese bestimmte Gruppierung von Lauten bedingt? [...] Und nun? Was ist das Thema? Vor allem in der mitteilenden Rede: das Thema ist das, worüber wir reden. Also etwas Außersprachliches? Ja, wenn wir berücksichtigen, daß dasselbe Thema durch verschiedene Worte ausgedrückt werden kann. Ich erzähle z.B. in einem Gespräch etwas, das mir pas11
*
Nach Seite 42 der Handschrift ist ein Blatt ohne Seitennummerierung eingelegt, auf dem grob und abrißhaft einige Gedanken skizziert sind, die in dieser Passage der Vorlesung behandelt werden. Mächa 1983: 45 (Mäj. Übersetzung O. F. Babler)
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siert ist, in einer gewissen Weise, mit bestimmten Worten und Sätzen. Würde ich dieselbe Begebenheit nach einer Weile nochmals erzählen, könnte ich andere Worte, andere Sätze gebrauchen und doch bliebe das Thema unverändert. Es bleibt sogar im Grunde gleich, wenn ich mich an neue Umstände erinnere und umgekehrt einige aus dem vorhergehenden Bericht auslasse. Wenn das Thema etwas Außersprachliches ist, ist es vielleicht die Wirklichkeit selbst, über welche ich berichte? Keineswegs ist es die Wirklichkeit selbst. Schon darum nicht, weil ich, wie ich sagte, einige Umstände beim erneuten Erzählen auslassen, andere hinzufügen kann, die Realität, das reale äußere Geschehen unterliegt meinem Willen nicht auf diese Weise. Sobald es sich abgespielt hat, ist es ein Fakt, an dem ich nichts mehr ändern kann. Doch noch weiter. Das reale äußere Geschehen ist zeitlich wie räumlich ununterbrochen, unbegrenzt. Das Thema beleuchtet nur einen gewissen Ausschnitt dieses Geschehens. Aber dieser Ausschnitt ist nicht zufällig, sondern wird mit Blick auf irgend etwas ausgewählt, z.B. auf die Person, die das Geschehen erlebt hat, auf die Wichtigkeit, welche gerade dieser Geschehensausschnitt für sie hatte. Das Thema ist nicht unbegrenzt. Ich kann z.B. zwei Begebenheiten erzählen, welche zeitlich eng beieinander liegen, und doch kann ich das genaue Gefühl haben, daß es um zwei Begebenheiten geht, um zwei Themata. Ich spüre eine Änderung des Themas im Gespräch, so z.B. kennen Sie gewiß Leute, welche im Gespräch unerwartet das Thema wechseln. In solch einem Fall, wenn wir nicht auf den Wechsel vorbereitet sind, empfinden wir ihn als unangenehm, wir sagen, daß solche Personen Gedankensprünge machen. Der Wechsel des Themas ist für uns unangenehm, weil wir im ersten Moment womöglich nicht verstehen, worum es geht, weil wir den gehörten Worten einen anderen Sinn geben als die Person, welche sie ausspricht. Und zwar deshalb, weil wir diese Worte irrtümlich auf ein anderes Thema beziehen als die sprechende Person. Das verleiht ihnen eine andere Bedeutung. Es zeigt uns auch, was das Thema eigentlich ist. Daß es nicht die Realität ist, sondern eine Bedeutungseinheit, ein Bedeutungsbündel, welches zwar nicht direkt sprachlich ist (dasselbe Thema kann in verschiedenen Worten geäußert werden), aber dennoch auf die Bedeutung in der Sprache (auf die Wort- und Satzbedeutung) einwirkt. Der Weg von der Sprache zur Realität ist also, wie Sie sehen, weiter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Sie könnten mir jedoch entgegnen: „Gut, das Thema ist nicht die Realität. Das ist doch aber klar. Das Thema ist meine Vorstellung von der Realität." Nun denn, das Thema ist nicht meine Vorstellung von der Realität und auch kein Komplex solcher Vorstellungen. Vor allem ist eine
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Vorstellung nicht notwendig mit einem Ausdruck verbunden. Ich kann mir eine Begebenheit lebhaft vorstellen, ohne daß dabei in meinem Geist die Möglichkeit einer Äußerung vorkommt. Aber über das Thema ohne Bezug zu irgendeiner Äußerung zu sprechen, hätte überhaupt keinen Sinn. Zum zweiten: die Vorstellung zeigt ihrem psychologischen Charakter nach eine Neigung zur Assoziation; eine Vorstellung ruft eine weitere Vorstellung hervor. Also ist eine Vorstellungsreihe immer potentiell unabgeschlossen, eine ununterbrochene Kette, nach einer Vorstellung tauchen weitere auf. Wenn ich mir eine Begebenheit vorstelle, können meine Vorstellungen ohne irgendeine erkennbare Grenze weitergehen, zu einer Sache, die auf die jeweilige Begebenheit folgt. Das Thema aber ist in seinem Wesen abgeschlossen. Ohne das Merkmal der Abgeschlossenheit gibt es kein Thema. (Das Gefühl des Übergangs von einem Ganzen zu einem anderen Ganzen, das Gefühl eines wirklichen Bruches bei einem Themenwechsel.) Sie könnten indes weiter zu mir sagen: „Auch wenn wir zugeben, daß das Thema keine Vorstellung ist, sind wir noch nicht gezwungen anzuerkennen, daß das Thema die Bedeutung ist. Das Thema kann ein Gedanke über ein Thema sein. Wir denken z.B. über eine Begebenheit nach und durch dieses Nachdenken fassen wir sie zu einem Ganzen zusammen." Nun, man kann zeigen, daß das Thema nicht identisch mit dem Gedanken ist. Gehen wir zum Zwecke dieses Beweises von einem Thema, das auf der empirischen Realität basiert, zu einem Thema über, das auf einem reinen Gedanken, auf der logischen Realität basiert. Stellen Sie sich bitte folgendes vor: wir denken über ein gewisses Problem nach. Dieses Problem ist dabei unser ganzheitliches und abgeschlossenes Thema. Es ist gleichgültig, ob wir dabei unseren Gedanken aussprechen oder nicht. Wir denken in Begriffen, und diese Begriffe zielen auf eine sprachliche Äußerung. Ich bestreite zwar nicht die Tatsache, daß ein Begriff gebildet werden kann, ehe wir ein Wort für ihn haben. Aber sobald sich ein neuer Begriff abzuzeichnen beginnt, suchen wir sofort ein Wort für ihn. Wenn wir dieses Wort nicht suchten und fänden, würde der Begriff wieder zerfallen, würde sich annullieren. Ein Begriff kann vor dem Wort gebildet werden, doch ohne das Wort kann er nicht existieren. Auch wenn wir also ohne Artikulation unserer Gedanken denken, sind wir nicht außerhalb des Gebietes der Sprache. Auch hier ist das Thema völlig dasselbe wie in einer sprachlichen Äußerung. Und es hat die gleichen Eigenschaften. Vor allem die Ganzheitlichkeit. Ist diese seine Ganzheitlichkeit ein logisches Faktum? Keineswegs, es ist ein Faktum des Ausdrucks, der Artikulation. Denn die logischen Beziehungen existieren nicht nur inmitten des Themas,
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sondern gehen notwendig über dasselbe hinaus. Wenn wir über irgendein Problem, das für uns in einem gegebenen Augenblick das Thema ist, nachdenken oder uns dazu äußern, wissen wir oder - wenn wir nicht einen größeren Zusammenhang im Sinn haben - setzen wir wenigstens voraus, daß sich unsere Gedanken logisch notwendig aus einem größeren Zusammenhang entfalten, als es das Problem selbst ist, und daß sie wieder zu logisch notwendigen Schlußfolgerungen führen, welche über das Gebiet unseres Problems hinausgehen. Mit anderen Worten: Die logischen Verknüpfungen überschreiten die Grenze unseres Problems - des Themas - und geben also kein Prinzip seiner Einheit ab. Die Einheit des Themas kann also nicht anders als durch die Beziehung des Themas zu einer Äußerung, zu einem Ausdruck, dessen Bedeutung es ist, begriffen werden. Die Einheit des Themas ist also eine Bedeutungseinheit. Von der rein sprachlichen Bedeutung unterscheidet sich das Thema dadurch, daß es von seinem Wesen her nicht mit bestimmten sprachlichen Mitteln (dasselbe Thema kann auf verschiedene Art versprachlicht werden) oder gar überhaupt mit einem sprachlichen Ausdruck verbunden ist. Denn dasselbe Thema kann z.B. sowohl durch Sprache, als auch durch räumliche Elemente ausgedrückt werden (gleichermaßen Thema eines Bildes wie eines Gedichtes sein; Transposition aus einer Kunst in eine andere). Wir können also das Thema als Bedeutungseinheit definieren, d.h. als eine notwendig am Ausdruck ausgerichtete und notwendig mit diesem zusammenhängende Einheit, doch als eine Einheit, die von der Irrelevanz der Ausdrucksmittel begleitet ist (es besteht die Möglichkeit der freien Wahl unterschiedlicher Ausdrucksmittel für dasselbe Thema). Und jetzt, wo wir wissen, was ein Thema ist, betrachten wir das Thema im poetischen Werk und vergleichen es mit dem Thema in der mitteilenden, nicht poetischen Sprache. *
Wir sagten zuletzt, daß das Thema eine Bedeutungseinheit ist, deren Merkmal eine sprachliche Äußerung als Ganzes ist. In einer sprachlich mitteilenden Äußerung geht uns natürlich der Bedeutungscharakter des Themas verloren. Es entsteht der Anschein, daß das Thema der Sprache die außersprachliche Realität selbst ist (sei es die empirische, psychische oder logische). Die Enthüllung des Themas als Bedeutungseinheit geschieht im poetischen Werk. Auf welche Weise? An dieser Stelle muß erläutert werden, was eine Sachbeziehung ist und was für verschiedene Möglichkeiten von Sach-
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beziehungen es gibt. Jede Bedeutung beinhaltet eine Beziehung zu irgendeiner Realität, einen Hinweis auf eine Realität, eine Sachbeziehung. Gehen wir vom Wort aus. Das Wort als lexikalische Einheit hat eine Vielzahl von potentiellen Sachbeziehungen. Erst wenn es in einen Satz eintritt, werden einige seiner Sachbeziehungen realisiert. Dadurch gewinnt das Wort semantische Konkretheit. Wodurch? Dadurch, daß es in Beziehung zu einer höheren Bedeutungseinheit, dem Satzthema, gebracht wird. Wir sind nun beim Satzthema. Ist das Satzthema selbständig? Das heißt: hat es eine eindeutige, unabhängige, in sich selbst bestimmte Sachbeziehung? Keineswegs. Ein Satz, der aus dem Kontext gerissen, d.h. aus seiner Beziehung zum Gesamtthema der sprachlichen Äußerung herausgelöst wurde, ist vieldeutig. Vgl. hierzu das „Herausreißen von Sätzen aus dem Kontext" als bösartiges polemisches Mittel. Nehmen wir übrigens den Satz: „Er ging aus dem Zimmer, ohne sich umzusehen." War irgendjemand in dem Raum oder nicht? Das verändert die Satzbedeutung. Wenn nicht, bedeutet „ohne sich umzusehen" Gleichgültigkeit. Wenn ja, kann das Abscheu oder Schuldbewußtsein usw. bedeuten. Also ist das Satzthema semantisch nicht selbständig. Es benötigt zu seiner vollen Realisierung ein Gesamtthema. Das Gesamtthema braucht, wie wir gesehen haben, wiederum eine Bedeutungseinheit. Ist auch das Gesamtthema durch seine Sachbeziehungen von etwas abhängig? Keineswegs, das Gesamtthema hat einen direkten Sachbezug. Der Sachbezug ist hier direkt durch die Intention des sprechenden Subjekts bestimmt. Das ist ex definitione klar. Ein Thema, das keinen direkten Sachbezug hätte, sondern von einem anderen und höheren Thema abhängig wäre, wäre kein Gesamtthema. Parallel dazu können wir noch eine andere Erscheinung beobachten: eine immer größere Abhängigkeit der Bedeutung vom Sachbezug und in Zusammenhang damit eine immer größere Verhüllung der Bedeutung durch den Sachbezug. Daß ein Wort eine Bedeutung hat, ist jedem klar, denn die Bedeutung eines Wortes ist weitgehend unabhängig von seinem konkreten Sachbezug. Ein Wort kann ohne einen bestimmten Sachbezug, mit einer Menge nichtrealisierter, nur potentieller Sachbezüge als eine lexikalische Einheit gegeben sein. Z.B. die Worte „Stuhl", „Pferd" völlig außerhalb jeden Kontextes, z.B. in einem Wörterbuch. In diesem Augenblick können wir uns die Frage stellen, was ein Wort „bedeutet" - ohne Rücksicht auf seinen aktuellen Gebrauch. In diesem Augenblick ist die Bedeutung des Wortes ganz offensichtlich. Aber mit der Satzbedeutung ist das nicht so. Ein Satz wird einmalig formuliert, schon mit Blick auf eine gewisse Sachbeziehung. Und so kann schon der Anschein entstehen, daß ein Satz keine Gesamtbe-
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deutung hat, sondern ein einfaches einmaliges Äquivalent einer gewissen Realität ist, daß sein Thema eine bestimmte Realität ist. Der Sachbezug (Verweis auf die außersprachliche Wirklichkeit) beginnt Übermacht über die Bedeutung zu erlangen. Aber in Wirklichkeit ist das Thema eines Satzes die Bedeutung. Zwei Beweise: 1. Es gibt gewisse Sätze, die, ähnlich wie ein einzelnes Wort, eine klare allgemeine Bedeutung haben, die unabhängig vom konkreten Gebrauch ist. Das sind Sätze mit „allgemeiner Bedeutung", also z.B. Sentenzen, Sprichwörter u.ä. Sie haben eine klare Bedeutung, nach der man fragen kann. Es ist möglich, Wörterbücher dieser Sentenzen mit Erklärungen ihrer Bedeutung zu erstellen (Larousse), und solche Wörterbücher gibt es auch. Also liegt hier die Bedeutung offensichtlich beim Wort. 2. Noch ein wichtigerer Beweis der Satzbedeutung besteht darin - wir haben ihn schon erwähnt - daß ein Satz, und gleich welcher Satz, semantisch nicht bestimmt ist und sich mit der Veränderung des Kontextes, d.h. mit der Veränderung des Gesamtthemas, auf das er bezogen ist, semantisch verändern kann. Sobald ein Satz diese Möglichkeit hat, ist klar, daß er etwas anderes ist als ein bloßes Äquivalent, als ein Signal einer bestimmten Wirklichkeit, also daß er eine Bedeutung hat, etwas, das allen verschiedenen Arten seines Gebrauchs gemeinsam ist. 3. Und nun die gesamte sprachliche Äußerung. Hat diese eine Bedeutung? Es scheint, daß hier einfach keine Bedeutung vorhanden ist, daß es nur den Sachbezug gibt. Mit der gesamten sprachlichen Äußerung ist nur eine gewisse konkrete Realität gemeint, z.B. beim Erzählen, irgendeine Begebenheit, und es ist gänzlich unmöglich, dieselbe Äußerung auf irgendeine andere Begebenheit zu beziehen. Das Thema, das Gesamtthema der Äußerung scheint also nur der Sachbezug zu sein, und es scheint, daß die sprachliche Äußerung als Ganzes keine Bedeutung hat, sondern nur ein sprachliches Äquivalent ist, Signal irgendeiner einzigen und einzigartigen konkreten Realität. War also unser Beweis, daß das Thema im Grunde die Bedeutung ist, falsch? Keinesfalls. Der Beleg dafür ist die Existenz solcher Themen, die sich auf viele mögliche konkrete Realitäten beziehen können. Das sind Themen, wie wir sie in Fabeln oder Gleichnissen finden. (Ich denke hier an die Fabel und das Gleichnis nicht in ästhetischer Funktion; Fabeln philosophisch, Gleichnisse biblisch). Beide Themen haben wirklich eine Bedeutung, die sogar oft erklärt wird (die Moral in der Fabel, die Erklärung des Gleichnisses), ähnlich, wie die Bedeutung von Wörtern in Wörterbüchern erklärt wird. Also ist die Möglichkeit einer allgemeinen Bedeutung gegeben.
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Das ist ein Beweis. Doch auch dann, wenn eine solche wirklich allgemein definierbare Bedeutung nicht gegeben ist, gibt es eine zweite Möglichkeit: und zwar die, daß das Thema imstande ist, Sachbeziehungen zu verschieben - und das ist gerade in der Dichtkunst der Fall. Machen wir uns z.B. folgendes bewußt: wir lesen einen Roman. Sein Thema ist eine bestimmte Handlung, die sich außerhalb unserer Erfahrung zutrug und die Personen betrifft, welche uns fremd sind. Und trotzdem entsteht in uns das Gefühl, daß diese Handlung irgendwo in unserer Erfahrung spielt, daß wir sie erlebt haben. Ein anderes Beispiel: die Person eines Romans - wir legen Teile unserer Erfahrung in sie hinein, entweder innere (Identifikation mit der handelnden Person, die zuweilen lebenswichtige Bedeutung erlangen kann - die Romane Dostoevskijs), oder äußere (Identifikation von bekannten Personen mit den Personen des Romans). Ein anderes Beispiel ist die Schilderung (Lokalisierung - verschieden, kann sich ändern - Herben, Hostiäov). Darin liegt die Symbolhaftigkeit, das Typische eines Kunstwerks. Jetzt erst wird klar, warum das Merkmal Wirklichkeit - NichtWirklichkeit in bezug auf ein Kunstwerk irrelevant ist. Gleichzeitig mit der Hervorhebung des Bedeutungscharakters des Themas wird in der Poesie das Subjekt als Wollen betont, das die Einheit des Themas als Bedeutungseinheit vorgibt, d.h. den Charakter seiner inneren Organisation bestimmt. Und dadurch tritt auch die innere Organisation des Themas selbst hervor. Ein Beispiel aus der Epik (Störung der Beziehungen zwischen den gegebenen Realitäten, der kausalen und zeitlichen Beziehung.) [...] *
Aktualisierung ist Emporhebung aus dem Zustand der Automatisierung durch irgendeine Deformation, sei es durch sprachliche Elemente, sei es durch den Rhythmus (das Ausatmen) oder durch thematische Elemente. Auf ein aktualisiertes Element aufmerksam machen heißt, es in den Vordergrund zu stellen (deshalb ist eine lOOprozentige Aktualisierung unmöglich). Die Aktualisierung ist ästhetisch selbstzweckhaft, sie dient nicht der Mitteilung. Ich sagte auch, daß aus der Aktualisierung differenzierte Empfindungen hervorgehen, die in manchen Zeiten stärker, in manchen schwächer zur Geltung kommen. Das ist also eine Seite der Struktur. Sie sehen hier schon, die Struktur, das sind nicht die Elemente selbst, sondern ihre semantischen Beziehungen. Und Sie sehen auch: diese reziproken Beziehungen der Elemente sind keine konstante Größe, so, daß wir z.B. ohne Berücksichtigung der gesamten Struktur des Werkes sagen könnten: Dieses Element und ein
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zweites Element stehen im Verhältnis eines aktualisierten Elements zu einem nicht aktualisierten. Oder anders: Dieses Element gehört schon durch seinen Charakter zu den nicht aktualisierten Elementen, jenes zu den aktualisierten. Die Aktualisierung der Elemente verändert sich von Schule zu Schule, von Zeit zu Zeit. Es gibt keine Elemente, die durch ihren Charakter zur Aktualisierung bestimmt wären und keine Elemente, welchen die Möglichkeit der Aktualisierung a priori versagt wäre. Zudem kann die Aktualisierung desselben Elements ein Vielfaches sein, je nach der Struktur, in welcher es sich befindet, und je nach dem Verhältnis zu den übrigen Elementen. So kann z.B. der lautliche Aufbau eines poetischen Werkes euphonisch unterschiedlich aktualisiert sein (Mácha: Zusammenhang mit dem Rhythmus, gleichmäßige Geltung aller Laute, Theer: Zusammenhang mit der Intonation [...]) In der Malerei: die Farbe bei den romantischen Malern (Delacroix) als selbständiger Wert, bei den Realisten (Courbet) als Charakteristikum des Objekts, bei den Impressionisten (Monet) als Lichtwert. [...]. Jeder Wechsel in der Gesamtheit der nicht aktualisierten Elemente würde die Struktur genauso verändern wie eine Veränderung in der Gesamtheit der aktualisierten Elemente. Denn die Struktur, das betone und zeige ich später noch detailliert, das sind nicht die Elemente, sondern es ist die Gesamtheit - die sehr komplexe Gesamtheit - ihrer gegenseitigen Beziehungen. [...] Eine wahrhafte Erklärung kann man nur in der Struktur selbst finden: in den Beziehungen der Elemente. Bislang haben wir die Struktur eher partiell betrachtet, jetzt geht es darum, sie als Ganzes zu betrachten. Die Voraussetzungen haben wir schon: die Elemente sind nicht nur koordiniert, sie sind auch - komplex - subordiniert. Durch allmähliche Subordination gelangen wir dann zu jenem - einzigen - Element, das die wechselseitigen Beziehungen aller übrigen Elemente steuert. Wie erfolgt diese Steuerung? Folgendermaßen: die wechselseitigen Beziehungen sind nicht erst im Werk gegeben, sondern existieren schon im Material selbst. So z.B. finden sich in jeder sprachlichen Äußerung, nicht nur im poetischen Werk, Bindungen zwischen der Intonation auf der einen Seite und der Syntax, der Wortfolge, der Bedeutung, der Organisation des Lautmaterials auf der anderen. Doch im poetischen Werk sind diese Beziehungen planmäßig, also zielgerichtet organisiert. Einige treten hervor, andere verbleiben im Halbschatten, wieder andere völlig im Dunkeln. Dasselbe gilt auch für Elementgruppen. Damit das alles eintritt, reicht es aus, daß an einer Stelle das gewohnte Gleichgewicht dieser Beziehungen gestört wird. Bei einer vielfachen Verbindung aller Elemente bedeutet dieser eine Eingriff eine Störung des Gleichgewichts im
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ganzen System der potentiellen Beziehungen, die im Material enthalten sind. Sofern eine Dominante gegeben ist, ein Punkt, von dem aus die Intentionalität (das Wollen) [zämernost] auf das Material einwirkt, ist damit auch schon der Charakter der ganzen Struktur vorbestimmt. Zur Veranschaulichung ein sehr naives, aber vielleicht anschauliches Bild: Stellen Sie sich ein Netz vor, das frei auf dem Boden liegt; wenn wir es in einer Richtung spannen, würde dadurch das Bild aller seiner Maschen deformiert. Jeweils anders, je nachdem, welche Stelle als Punkt der Krafteinwirkung gewählt wird. Das Material bietet natürlich ein viel komplexeres System von Beziehungen. Doch im Grunde ist es wie mit dem gespannten Netz: alles liegt an dem einem Punkt, von dem aus die Kraft einwirkt. Und dieser Punkt ist die Dominante. Sie gibt der Einheit des Werkes die Richtung vor, in welcher die Beziehungen aller Elemente „gespannt" sind (wechselseitig und vielfach). Deshalb ist die Struktur durch ihre Dominante charakterisiert. So kann man auch begreifen, warum die Struktur bei all ihrer Komplexität vom Standpunkt des Urhebers als einheitlicher Akt, als eine einheitliche Geste erscheint, mit welcher sich der Künstler seines Materials bemächtigt. Sie sehen auch, daß das Verfahren, durch welches man sich theoretisch oder zumindest sekundär (epigonal) die Struktur aneignen kann, das genaue Gegenteil vom Verfahren des Urhebers ist. Epigone und Theoretiker gehen vom Material zur Dominante, wohingegen der Urheber von der Dominante zum Material geht. [...] Jetzt ein Beispiel: die Intonation im poetischen Werk; sie kann wie jedes andere beliebige Element Dominante werden. Doch die Intonation hängt sehr eng mit der Bedeutung (sie charakterisiert den Satz als Bedeutungseinheit - Karcevskij), der Syntax [...] usw. zusammen. Es gibt natürlich auch Elemente, mit denen sie nicht primär zusammenhängt, z.B. die Morphologie; doch die Morphologie hängt mit der Bedeutung zusammen und so ist die Morphologie auch dann, wenn die Intonation Dominante ist, mit der Struktur verbunden und unterliegt der Wirkung der Dominante. So kommen z.B. in der fließenden Intonation, die bei Vrchlicky dominant ist, keine auffallenden Neologismen vor, weil diese durch Unterbrechung der Intonationslinie auch klanglich zur Geltung kämen. Es gibt aber in der Struktur auch solche Elemente, welche in einem gegebenen Fall von der Dominante unberührt bleiben. Das sind die nicht aktualisierten Elemente. Von diesen haben wir aber gesagt, daß sie gerade angesichts ihrer Nichtaktualisiertheit als Elemente der Struktur bewertet werden; sie stehen also auch in Beziehung zur Dominante, selbstverständlich in einer indirekten.
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Und nun wieder eine gewisse Einschränkung dessen, was ich der Anschaulichkeit der Erklärung halber ein wenig zu apodiktisch formuliert habe: man kann nicht behaupten, daß nur die Dominante auf die untergeordneten Elemente wirkt und die Elemente nicht auf die Dominante. Wenn wir uns die Sache so buchstäblich vorstellen würden, würden wir den Begriff der Dominante mechanisieren. Das hieße, daß wir das Kunstwerk wie die Lösung einer mathematischen Aufgabe auffassen würden: gäbe es eine Dominante, dann wäre mit mathematischer Notwendigkeit und Eindeutigkeit auch die Struktur bestimmt. Das wäre ein Irrtum; die Struktur ist bei all ihrer Einheitlichkeit nicht voraussagbar und kann nicht mechanisch aus der gegebenen Dominante deduziert werden. Gerade deshalb ist es eine Struktur andernfalls wäre es ein logisches System. Die Wirkung zwischen der Dominante und den übrigen Elementen ist also reziprok, die Struktur ist eine unteilbare Einheit, und die Priorität der Dominante gegenüber den Elementen ist nur eine konstruktive, keineswegs eine genetische. Soviel über die Struktur als ein einmaliges Phänomen ohne Betrachtung der Entwicklung. Das ist jedoch eine Abstraktion. Der Entwicklungscharakter ist bei der Struktur schon durch ihre Dynamik gegeben. Wir empfinden die Beziehungen zwischen den Elementen als Spannung zwischen ihnen. Weil diese wechselseitig sind, sind sie labil. Stabil könnten sie nur dann sein, wenn sie einseitig wären. Die Spannung, die man zwischen den Elementen empfindet, wird mit der Zeit stumpf. Es entsteht das Bedürfnis nach Veränderung der Struktur, d.h. nach Umgruppierung der Elemente. Die Struktur verliert ihre Dynamik. Vgl. hierzu Saida: Je mehr das Werk in der Vergangenheit untergeht, desto ruhiger, einfacher, einhelliger und angenehmer scheint es uns, und umso schwerer fallt es uns, uns in seine ehemalige Komplexität, Pathologizität, sein Chaos und seine Vulkanizität hineinzudenken [...]. 12
Dieses Zitat zeigt die Dynamik der Struktur sehr schön, es ist nur notwendig, es aus seiner psychologischen Terminologie, die durch die Zeit bedingt war, in der es geschrieben wurde, in eine strukturalistische Terminologie zu transportieren. Saida zeigt auch, wie sich die Dynamik aus dem Werk verflüchtigt. Das aber ist die Voraussetzung für Entwicklung. Entwicklung in der Kunst ist kein abgeschlossener Fortschritt, sondern ständige Veränderung und Erneuerung. Vgl. hierzu Saida:
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Saida, F.X.: „Novä kräsa, jeji geneze a Charakter", Abdr. in ders. 1950: Boje o zitrek, Praha, 96f.
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Jan Mukaiovsky (...) ein großer künstlerischer Schöpfer setzt das Werk seiner Vorgänger nicht fort, sondern er zerstört - und je größer er ist, desto radikaler - die Abhängigkeit von ihnen und kämpft gegen sie. 13
Was Saida sagt, ist völlig präzis. Dennoch aber dürfen wir die Entwicklung der Kunst nicht als eine Reihe zufälliger Sprünge ohne Zusammenhang auffassen. Wenn ein Künstler (oder eher eine ganze Schule) danach strebt, sich von seinen Vorgängern zu unterscheiden, und das radikal, stellt er es so an, daß er das Gegenteil davon macht, was diese gemacht haben. Aber das ist wiederum Abhängigkeit: dazu, daß sich zwei Dinge im Gegensatz zueinander befinden, sind neben Verschiedenheit auch klare Übereinstimmungen nötig; sonst würden sie nicht als gegensätzlich empfunden, sondern einfach als verschieden, ohne Beziehung zueinander. Die Entwicklung der Geschichte der Kunst ist, obwohl sie sich in einer Reihe von Revolutionen neuer Schulen gegen alte vollzieht, nicht zufällig: Sie hat ihre Ordnung, und es ist möglich und notwendig, diese Ordnung herauszufinden. Mit anderen Worten: diejenigen, welche die Geschichte der Kunst als eine überholte Sache über Bord geworfen haben, sind nicht im Recht. Ja mehr noch: das korrekte theoretische Erfassen jedweder Kunst ist generell unmöglich ohne Berücksichtigung dessen, was davor in der Entwicklung stattgefunden hat. Diesen Fehler begehen z.B. jene Kunsthistoriker, welche die ältere Kunst nach dem Kanon der gegenwärtigen Kunst beurteilen. Wenn wir die Entwicklung der Kunst von diesem Standpunkt aus betrachten, erscheint uns Entwicklung als ein ständiger Austausch der Dominanten und eine permanente Umgruppierung der Elemente. Beispiel: Die Autoren der Lumir-Gruppe und die Symbolisten in der tschechischen Literatur (die Dichter der Lumir-Gruppe - Intonation als Dominante, Abschwächung der semantischen Autonomie des Wortes, Autonomie des Rhythmus; die Symbolisten - Betonung der semantischen Beziehungen der Wörter im Satz, reiche rhythmische Differenzierung). Also: auch eine negative Beziehung zwischen Strukturen, die aufeinander folgen, bedeutet die Bedingtheit der nachfolgenden Schule durch die ihr vorausgegangene Schule. Doch nicht nur das: man kann auch sagen: die Struktur ist niemals in einem Zustand der Ruhe. Die Vergangenheit ist auch bei einer gänzlich synchronen Wahrnehmung eines Werkes als eine Art aktuelle Tradition im Bewußtsein gegeben. Aus dem Tschechischen von Peter Burg und Dorothea Müller 13
Saida, F.X.: „Umölecky paradox", Abdr. in ders. 1950: Boje o zitrek, Praha, 152.
Einführung in die Ästhetik II
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Kommentierendes abstract Am Ende des ersten Teils der Einführung in die Ästhetik stand die Frage nach der Beziehung von Thema und Inhalt. Hierbei führte Mukarovsky auch den Begriff des „semantischen Faktums" ein. Teil II der Einführung in die Ästhetik beginnt mit Überlegungen zum Begriff der Struktur des Kunstwerkes. Mukafovsky bietet jedoch keine Definition a priori an, sondern versucht schrittweise über die Rekonstruktion der Grundbegriffe, Inhalt, Thema und Form zu einer Definition der Strukturidee zu gelangen. Ich sage hier ausdrücklich „Strukturidee" und nicht „Struktur", denn wir reden hier nicht über das Kunstwerk, sondern im Modus eines metasprachlichen Kommentars der Denk- und Argumentationsmuster Mukafovskys. Im Zuge der Rekonstruktion der Grundbegriffe gibt Mukarovsky propädeutische Definitionen der Form als jenem Katalog von Prinzipien an, welche die Elemente des Kunstwerks in .Gestalten' [Terminus: „ütvar - Gestalt", d. Hg.] organisieren, wie auch der Komposition, welche die thematischen Elemente organisiert. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß mit .Gestalt' ein organisierter Komplex von sprachlichen und thematischen Elementen gemeint ist. Damit ist eine gewisse semantische Nähe zur Idee der Struktur gegeben.* Sprachliche und thematische Elemente bilden die nuklearen Aspekte einer jeden Struktur. Hierbei gilt das bekannte Axiom, daß beide Elementgruppen nicht koinzidieren, da wir über ein Thema in verschiedenen Mustern sprechen können. Die verschiedenen Muster des Sprechens sind ihrerseits bedeutungserzeugend und bedeutungsdifferenzierend. Das Thema selbst muß keine Vorstellung über die Realität sein. Vorstellungen bilden nach Mukarovsky eine infinite assoziative Kette, was der thematischen Geschlossenheit widerspricht. Das Thema ist auch nicht der Gedanke. Denken bezieht sich materialiter stets auf einen Begriff, der als Wort existieren, d.h. expressis verbis präsentiert sein muß. Nicht so beim Thema, das sich durch die sprachlichen Elemente hindurch variabel entfalten kann. Die logischen Verknüpfungen gehen über den Problembereich des Themas hinaus, da sie zugleich die interne Beziehung der sprachlichen Elemente als auch die Beziehungsebene Sprache - Welt und letztlich die Realitätsebene selbst um*
Mukafovsky hat den Begriff schon seiner Vorlesung „Üvod do estetiky [I]" (S. 33) eingeführt. Er versteht demnach unter „Einheit [ütvar] - Gestalt" ein „wechselseitiges Verhältnis von verschiedenen Elementen, die wir zwar voneinander unterscheiden, jedoch auf der Grundlage einer Beziehung zu einer einzigen Einheit - Gestalt zusammenfassen". Als solche Einheiten nennt er „Rhythmus, Melodie, Farbkomposition usw." (Ibid., dt. s.o.). Der Gestalt-Begriff findet sich bei Herbart („ästhetische Verhältnisse der Gestalt"); s. o. Mukafovskys ausführliches Herbart-Zitat in „Einführung in die Ästhetik [I]" im vorliegenden Band (Anm. d. Hg.).
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fassen. Das Thema jedoch ist eine sprachimmanente Einheit, durch welche weder der Bezug zu einem außersprachlichen Objekt noch ontologische Suppositionen gemacht werden. Die Einheit des Themas ist nicht durch die logischen Beziehungen zu einer konkreten Äußerung gegeben, sondern eine davon unabhängige semantische Einheit. Die Idee der semantischen Einheit wird hierbei nicht weiter expliziert. Die Mittel des Ausdrucks des Themas sind irrelevant. Das Thematische kennt verschiedene Niveaus der Ganzheitlichkeit und pflanzt sich von dem Satzthema zu höheren Einheiten fort. Der Sachbezug ist darin präsupponiert, doch er erschöpft nicht den Bereich des Themas. Am nächsten sind Thema und Sachbezug in der mitteilenden Rede (Bühlers denotative Funktion). Im poetischen Werk, in welchem die denotative Funktion in den Hintergrund tritt, verlieren die Sachbezüge ihre tragende Funktion und die immanente semantische Organisation wird vorrangig. Will man die Problematik des Themas erhellen, so muß man in der Struktur selbst suchen, in den Relationen der Elemente des Werkes. Mukarovsky bringt an dieser Stelle das Konzept der Intentionalität ein, die eine Steuerungsfunktion für die Strukturierung des Materials gewinnt. Die Intention bildet einen Punkt, von welchem aus die Entfaltung der Bedeutungseinheiten gesteuert wird. Diesen Punkt nennt Mukarovsky „Dominante". Gleichwohl wird jedoch schon an dieser Stelle klar, daß die Intentionalität alleine nicht die spezifische Bedeutungsorganisation des dichterischen Werkes erklären kann. Peter Burg
Jan Mukarovsky
Die Komposition des poetischen Werkes Universitätsvorlesung, Bratislava 1931/32 [Auszug]*
Der landläufige Begriff Komposition (die Schule; die Kritik, welche die Komposition mitunter als Bewertungsmaßstab nimmt, lehnt ein Werk als schlecht komponiert ab): eine schematische Gliederung der Stoffelemente im Werk. So z.B. im lyrischen Gedicht Symmetrie, Parallelismus, stufenförmige Gliederung des „Gedankens"; oder das epische, gelegentlich auch das dramatische Werk - fünf Teile: Exposition, Kollision, Krise, Peripetie, Katastrophe. In diesem Spiegel erscheint die Frage der Komposition als sehr einfach, die Kompositionsanalyse erscheint als bloßes Zusammensetzen von Mustern. Doch so einfach ist es nicht, die Komposition ist ein komplexes Problem. Vor allem gibt es hier weit mannigfaltigere Möglichkeiten als man gemeinhin meint. Beispiele: Der Erzähler im epischen Werk, spürt man ihn oder spürt man ihn nicht; [ist er] vom Autor [bäsnik] ununterschieden oder unterschieden, [wird er] nicht charakterisiert oder charakterisiert; [ist er] in der Handlung anwesend oder hat er von ihr erzählen gehört; wenn er anwesend ist, dann entweder als Beobachter oder als handelnde Person; erzählt er das Geschehen direkt oder präsentiert er seine Betrachtungen, in denen sich die Handlung indirekt spiegelt usw. Oder die Personen des epischen Werks, deren Hierarchie (das, was man gewöhnlich den „Helden" nennt, oder [das, was man als] „Nebenfigur" [bezeichnet], in Wirklichkeit ist dies jedoch weit komplexer): Alle Personen bedingen sich in der Regel irgendwie wechselseitig; diejenige von ihnen, welche am wenigsten bedingt ist, aber am meisten selbst bedingt, ist der Hauptheld; eine Veränderung der Hierarchie würde den ganzen Charakter des Werkes verändern. Das bedeutet natürlich keine Norm, keine Forderung, daß es im Werk eine Hierarchie der Personen geben müsse; es kann auch Werke ohne Hierarchie geben, und es gibt sie auch; doch die Hierarchie, so*
Ergänzungen des Herausgebers (Miroslav Prochäzka) des tschechischen Originals und ein Verzeichnis der von Mukafovsky zitierten Literatur folgen im Anschluß an den Teil Das Wesen der Epik. Numerierte Anmerkungen sind inhaltlich identisch mit denen der tschechischen Ausgabe von Prochäzka (Anm. d. Hg.).
Jan Mukafovsky
fern gegeben, ist ein Kompositionsfaktum und hat nichts mit einer sozialen und ethischen Hierarchie gemein. Sie kann im Hinblick auf diese völlig umgekehrt sein: Personen, welche sozial oder moralisch am niedrigsten stehen, können in der Kompositionshierarchie den höchsten Rang haben; es ist also wiederum deutlich ersichtlich, daß die Hierarchie der Personen auch zur Theorie der Komposition gehört. Die Reihenfolge der einzelnen Handlungsmomente im epischen Werk. So z.B. der Punkt, von dem aus das Erzählen einsetzt. Beginnt der Autor ein Ereignis von Anfang an, ab ovo, zu erzählen, oder beginnt er mittendrin, eventuell erst ganz am Ende? Und wie macht er den Leser in diesem Falle damit bekannt, was vorausging? Durch eine kurze Zusammenfassung am Werkanfang (Exposition) oder erst irgendwo innerhalb des Werks, und in diesem Fall, in welcher Form (in Form von Erinnerungen, eines Traums oder nur durch einfaches unmotiviertes Umstellen der Chronologie)? Das alles ist natürlich in außerordentlichem Maße entscheidend für den Charakter des Werks (so kann z.B. dasselbe Ereignis Stoff einer Novelle oder eines Romans sein, je nachdem, von wo aus der Autor die Handlung zu erzählen beginnt). Oder ein anderer Fall: falls es im epischen Roman zwei Handlungsfäden gibt, zwei Ereignisse, wie stellt sie der Autor dar? So, daß sie sich fortwährend überschneiden, daß die Illusion eines simultanen Geschehens entsteht oder so, daß sie ihre Selbständigkeit bewahren (größere Kapitel, die jeweils einem von ihnen gewidmet sind). Oder die deskriptiven und narrativen Elemente im epischen Werk. Wie ist deren wechselseitiges Verhältnis? Sind die deskriptiven Elemente selbständig (eine autotelische Schilderung) oder dienen sie irgendwie dem Geschehen, indem sie dessen Peripetie herausheben? Wie Rybnikova (1924) zeigt, haben die deskriptiven Elemente in Tolstojs Krieg und Frieden eine dienende Funktion, tauchen nur zuweilen, in einem schwierigen Moment der Handlung auf: den Himmel, den Fürst Andrej über sich bei Austerlitz sieht. Oder eine andere Frage: Sind die Deskriptionen als solche des Dichters gegeben (ohne Rücksicht auf die handelnde Person) oder als das, was die handelnde Person sieht? Und noch eine andere Frage: Stehen die deskriptiven Elemente zur Handlung im Verhältnis der Übereinstimmung (eine blutige Szene, durch einen Sturm unterstrichen - bei Romantikern) oder im Verhältnis des Gegensatzes (eine traurige oder entsetzliche Szene bei schönem Wetter in der Natur - bei Realisten). Oder die ideologischen (gedanklichen) Elemente im Werk. [Sind sie] als Ideologie des Dichters oder als Ideologie einer handelnden Person gegeben?
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Diese Frage läßt sich erweitern: Erscheint irgendeine, erscheinen eventuell sogar alle handelnden Personen als bestimmte Metapher(n)* des Dichters selbst (Vil6m in [Mächas] Mdj) oder sind sie selbständig, klar vom Dichter unterschieden? Hier sind sehr viele Nuancen möglich ( M d j , Häleks Alfred: wenn der Dichter auch mit Alfred sympathisiert, so ist Alfred doch nicht mit ihm identisch). Desweiteren: die Frage der Zyklisierung, d.h. der Verknüpfung der kleineren selbständigen Teile zu einem Ganzen. So z.B. Erzählungen. Frage: Worauf gründet sich die Zyklisierung? Auf die stoffliche Verwandtschaft? Oder auf irgendeine Koalition der Erzähler? Oder auf irgendein Ziel, das die Erzählungen erreichen sollen (Scheherezade in Tausendundeiner Nacht) usw.? Bei einer lyrischen Sammlung [gibt es] ähnliche Fragen: ist sie überhaupt irgendwie zyklisiert (einige Dichterschulen zyklisieren, andere gar nicht)? Und nach welchem Prinzip? Sie sehen also, daß die Problematik der Wissenschaft von der Komposition des dichterischen Werkes sehr reichhaltig ist, und die Fragen sehr bunt sind. Es geht aber nicht nur darum, es geht noch um eine andere Sache. Der geläufige Begriff der Komposition, so wie Sie ihn alle bereits von der Schule her kennen und wie ich ihn zu Beginn kurz skizziert habe, ist sehr eng. Und eben darum, weil er ungerechtfertigterweise nur die stofflichen Elemente in Betracht zieht. Die Komposition betrifft nämlich auch sprachliche Elemente. So kann z.B. in einem lyrischen Gedicht das Kompositionsschema durch die Gliederung der Metren, der Reime, der syntaktischen Einheiten, durch die Bedeutungselemente (z.B. die Wiederholung irgendeines Wortes an einer gewissen Stelle des Gedichts), durch Euphonie (bei Theer e/u im Gedicht über die Seele der Frau)14 gegeben sein. Diejenigen unter Ihnen, welche mir länger zugehört haben, haben schon Beispiele dazu mitbekommen und wissen auch, daß als Konsequenz dieser Vielheit von Kompositionsprinzipien eine ganze Kompositionspolyphonie im Gedicht vorhanden sein kann; es ist ein zwei- oder dreifaches Kompositionsprinzip gegeben, und diese Schemata müssen sich nicht decken, sondern können divergieren, sich überlagern. Auch im epischen Werk, in dem dies weniger naheliegend als im lyrischen Werk ist, können dennoch sprachliche Elemente eine kompositorische Rolle spielen. Stellen Sie sich z.B. ein Werk vor, in dem der Schriftsteller sich absichtlich und auffällig einer gefühls*
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Im Orig. „metafory" (pl.) Aus syntaktischen Gründen hier dt. geklammert (d. Übers.). Eine Ausarbeitung dieses Beispiels kann man in Mukafovskys Studie zur Euphonie bei Theer finden. Mukafovsky, J. 1948: Kapitoly z ieski poetiky II, Praha, v.a. 247.
Jan Mukaiovsky
mäßigen (emotionalen) Stilfärbung enthält - selbst wenn die handelnden Personen sprechen - und plötzlich, an einigen wenigen Stellen verwendet er den emotionalen Stil bis hin zur Rhetorik. Es ist ersichtlich, wie diese Stellen kompositorisch hervorstechen müssen, wie sie direkt zu Höhepunkten der Gesamtkonstruktion werden. Das Werk, an das ich denke, ist Flauberts Salambo (das Gebet Salambos an Tanita). Oder die Anhäufung eines Wortes an einer anderen Stelle des Romans oder der Erzählung - ein Kompositionselement, das die Szene vereinheitlicht - markiert einen Höhepunkt; z.B. Rybnikova (1924: 12) führt ein Beispiel aus Tolstojs Krieg und Frieden an: Kinder, kindlich. Auch die sprachlichen Elemente sind also wichtige Kompositionsfaktoren. Aber nicht nur das; auch dort, wo es um eine Komposition geht, die auf stofflichen Elementen beruht, geht es oftmals eigentlich (bei näherem Hinsehen) im wesentlichen um sprachliche Elemente. So z.B. der Erzähler: die Grenze zwischen ihm und dem Autor kann durch eine sprachliche Charakterisierung markiert sein (er spricht eine andere Sprache, in einem anderen Stil [oder] Dialekt als der Autor). Ähnlich kann die sprachliche Charakteristik in die Personenhierarchie reichen (eine bedeutende Person spricht anders als die übrigen, die neutral reden). Das Ineinanderübergehen von Autor und handelnder Person (die Person spricht für den Autor, in dessen Namen, oder wieder umgekehrt spricht der Autor für die Person, gibt z.B. eine Schilderung von ihrem Standpunkt aus, wie beide es sehen). All dies kann mit Hilfe verschiedener Nuancen von indirekter und erlebter Rede geschehen (Haller 1929). Es ist also aus allem, was ich gesagt habe, klar, daß zum ersten die Komposition nicht nur die stofflichen Elemente betrifft und daß zum zweiten das Verhältnis zwischen stofflichen und sprachlichen Elementen im dichterischen Werk nicht dergestalt ist, daß zwischen ihnen ein Unterschied im Wesen selbst wäre, daß die stofflichen Elemente eine eigene Achse wären, das Mark des Werks, hingegen die sprachlichen Elemente bloße Form, bloß äußeres Gewand des Stoffes. Denn wir sehen, daß der Stoff sich unter dem Einfluß der sprachlichen Präsentation bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Es ist für alles, was wir weiter über die Komposition sagen, wichtig, daß das Verhältnis zwischen sprachlichen und stofflich Elementen klar bestimmt ist. Darüber das nächste Mal. Es ist also unvermeidbar, über das Verhältnis zwischen Stoff [lätka] und Sprache [reC]*, zwischen den „inhaltlichen" [obsahove prvky] und „sprachli*
Mukaiovsky verwendet hier, in den folgenden Formeln und der zugehörigen Argumentation den tschech. Begriff ,feö' (Sprache i.S.v. Gebrauch der Sprache, Rede) und kommt damit Saussures Auffassung von .parole' sehr nahe. Wo er allgemeiner von
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chen" Elementen [jazykove prvky] zu sprechen. Die übliche Auffassung ihres Verhältnisses ist die: der Stoff, der Inhalt bedingt, die Sprache [reö] wird bedingt und durch die Bedürfnisse des Inhalts bestimmt. Also die Formel: Inhalt
> Sprache
Unsere Auffassung, die ich vorläufig als eine bloße Behauptung äußere, welche ich erst noch beweisen will, ist folgende: Inhalt und sprachliche Elemente stehen zueinander im Verhältnis der Wechselwirkung. Keines dieser Elemente ist auf Kosten des anderen privilegiert. Also die Formel: > Inhalt