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German Pages 102 [112] Year 2013
Vittorio Hösle
Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik
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In einer Ära der nicht mehr schönen Künste mag ein Rückblick auf die Geschichte der Ästhetik helfen zu verstehen, wie sich unser gegenwärtiges Verhältnis zur Kunst herausgebildet hat. So wird hier eine Geschichtsphilosophie der Ästhetik vorgelegt: Ausgehend von den Reflexionen der ältesten Hochkulturen zu einzelnen Künsten über die griechische Metaphysik der Kunst, die mittelalterliche Theologie der Schönheit und das Interesse der Neuzeit an der geschichtlichen Entwicklung der Kunst bildet sich im 18. Jahrhundert eine eigene Disziplin Ästhetik, die im deutschen Idealismus einen bewundernswerten Ausgleich zwischen systematischer und historischer Fragestellung erzielt. Schließlich werden die Gründe analysiert, die zum Zusammenbruch dieser Synthese führten. Unter allen Spezialästhetiken hat die Poetik eine Sonderstellung, da sie im selben Medium wie ihr Gegenstand erfolgt, nämlich in der Sprache. Daher ist es möglich, als Poetiker jene Normen selbst zu befolgen, die man aufstellt. Ein zweiter Schwerpunkt des Buches liegt in der Geschichte dieser poetischen Poetiken, von denen einige – Horaz’, Nicolas Boileau-Despréaux’ und Alexander Popes Werke – Lehrgedichte sind, andere (die Schriften von Pseu do-Longinos, Friedrich Schlegel und Theodor W. Adorno) sich unterschiedlicher literarischer Genres bedienen. In diesen Werken gelingt eine Synthese von Begriff und Anschauung.
Vittorio Hösle wurde 1960 in Mailand geboren und studierte Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Gräzistik und Indologie an den Universitäten Regensburg, Tübingen, Bochum und Freiburg. Nach Promotion (1982) und Habilitation (1986) in Tübingen im Fach Philosophie war er Professor an der New School for Social Research in New York, in Essen, Hannover und seit 1999 an der University of Notre Dame für deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft. Einschlägige Werke sind: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles, 1984; Woody Allen. Versuch über das Komische, 2001; Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker, 2009; Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013.
Vittorio Hösle
Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik
Schwabe Verlag Basel
Schwabe reflexe 28 Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Angela Zoller, Schwabe Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop, h.o.pinxit //editorial design, Basel Schrift: Quadraat Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz ISBN Printausgabe 978-3-7965-2921-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2922-1 [email protected] www.schwabeverlag.ch
Für meine Schwester Clara in Dankbarkeit für vieles, u.a. auch dafür, dass sie stets die Literatur gegen die Philosophie verteidigt
Inhalt Vorwort
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Die Hauptetappen der geschichtlichen Entwicklung ästhetischer Theorien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Poetische Poetiken in der Antike Horaz’ Ars poetica und Pseudo-Longinos’ Περὶ ὕψους Poetische Poetiken in der Neuzeit Boileau, Pope, Friedrich Schlegel und Adorno
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Vorwort Die epochalen Veränderungen des Begriffs der Kunst im 20. Jahrhundert waren zweifelsohne eine Bereicherung. Die enorme Erweiterung der Ausdrucksmittel durch neue technische Möglichkeiten, die Befreiung von der Tyrannei der Außenwelt, die Verletzung moralischer Tabus im Rahmen fiktiver Welten, die Emanzipation von den Einschränkungen standesbedingten Geschmacks haben einen Innovatiosschub ausgelöst, der einige der bedeutendsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte, ja, eine neue Kunstform, den Film, hervorgebracht hat. Und doch ist die Verlegenheit der Avantgarden ein nicht minder auffälliges Phänomen. Eric Hobsbawm, gewiss kein Konservativer, hat 1994 in seiner meisterhaften Geschichte des 20. Jahrhunderts The Age of Extremes von einer Folge von Manifesten der Verzweiflung gesprochen und von den Avantgarden geschrieben: «The future was no longer theirs, though nobody knew whose it was.» In den letzten knapp zwanzig Jahren ist die Zukunft der Kunst ähnlich unklar geblieben. Die Philosophie gibt zu einem guten Teil ihre Gegenwart wieder, und daher ist es naiv zu erwarten, in einer moralisch orientierungslosen Zeit könne man in Ethikhandbüchern, in einer Ära nicht mehr schöner Künste in Werken der Ästhetik jene Antworten finden, die die Wirklichkeit erster Stufe versagt. Und in der Tat leben wir nicht in einer Glanzzeit ästhetischer Theorie – vermutlich hat es seit Adornos postum erschienener Schrift gleichen Titels von 1970 kein anderes Werk gegeben, das plausibel Anspruch darauf erheben kann, ein Klassiker zu sein. In dieser Situation ist es vermutlich eine kluge Entscheidung, wenn wir versuchen zu verstehen, wie wir dorthin gekommen sind, wo wir uns heute befinden, d.h. wie die Geschichte der Ästhetik sich entwickelt hat. Natürlich ist eine solche historische Bestandsaufnahme nicht bloß eine Propädeutik zu sy stematischen Untersuchungen – sie ist, unweigerlich in der Auswahl und erst recht in der Bewertung des Materials, von systematischen Vorannahmen geleitet: Anders kann man keine Geschichtsschreibung betreiben. So ist das erste der hier vorgelegten Kapitel eine kurzgefasste Philosophie der Geschichte der Ästhetik, die von den ersten mutmaßlichen Ideen archaischer Menschen zum Wesen der Kunst über die ‹technischen› Schriften außergriechischer Hochkul9
Vorwort
turen zu den einzelnen Künsten, die Herausbildung eines allgemeinen Begriffes des Schönen bei den Griechen und schließlich die Entstehung einer eigenen philosophischen Disziplin Ästhetik im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert verfolgt.1 Innerhalb der Spezialästhetiken hat die Poetik nicht sosehr deswegen eine Sonderrolle, weil nach Überzeugung mancher Ästhetiker die Poesie die komplexeste Kunst ist (diese Ansicht scheint mir spätestens seit der Entwicklung des Films unzutreffend), sondern weil die Sprache das gemeinsame Medium von Dichtung und Poetik ist. Daher kann der Poetiker versuchen, bis zu einem gewissen Grad mit jenen Kunstwerken zu wetteifern, über die er theoretisiert. Indem ich im zweiten und dritten Kapitel die wichtigsten poetischen Poetiken von Antike und Neuzeit beschreibe, biete ich selber eine Ästhetik der Ästhetik.2 Ich analysiere also die Wege, die es einer ästhetischen Theorie ermöglichen, selbst ästhetische Normen zu befolgen. Die Analogie zur Ethik der Ethik, die ich in Kapitel 2.3. von Moral und Politik entwerfe, ist offenkundig. Anhand poetischer Poetiken aus knapp zweitausend Jahren und fünf verschiedenen Sprachen zeige ich, wie der Wunsch, das, was man vorschreibt, selbst auch vorzumachen, sich zwar in verschiedener Form und in verschiedenen literarischen Genres, aber doch analog manifestiert. Damit weise ich auf zumindest eine zentrale Inva riante ästhetischer Theorie hin, die in deren Begriff gegründet ist. Die in diesem Buch vorliegenden Aufsätze sind im Zusammenhang entstanden, ja, verstehen sich als Fortsetzung meines ebenfalls bei Schwabe publizierten Buches Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker von 2009. Habe ich dort versucht, an einem ma1 Das erste Kapitel erschien kürzlich im englischen Original in dem von mir herausgegebenen Sammelband The Many Faces of Beauty der University of Notre Dame Press; ich habe ihn selber für dieses deutsche Bändchen übersetzt. Wer an dem inneren Zusammenhang meiner Schriften interessiert ist, mag die hier entwickelte Geschichtsphilosophie der Ästhetik mit derjenigen der Naturphilosophie im zweiten Kapitel meiner Philosophie der ökologischen Krise sowie derjenigen des Verhältnisses von Sein und Sollen im ersten Kapitel von Moral und Politik vergleichen. 2 Diese beiden Kapitel sind als selbständige Aufsätze 2009 und 2010 in Poetica und der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erschienen; ich habe hier allerdings die Zitate aus den Originalsprachen, wo nicht schon im Kontext paraphrasiert, mit Übersetzungen versehen (mit Ausnahme der englischen, da heute jeder wissenschaftlich Interessierte die neue Weltsprache liest) und einiges ergänzt.
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Vorwort
terialen Problem, dem Begriff des Tragischen, die Entwicklung der abendländischen Poetik deutlich zu machen, wird Analoges hier an einem formalen Problem, der Selbstinstantiierung poetischer Normen, unternommen. Die Geschichte der Poetik kann aber nur dann zureichend begriffen werden, wenn sie im Rahmen einer umfassenderen Geschichtsphilosophie der Ästhetik ihren Platz findet, wie sie das erste Kapitel bietet, das im zweiten und dritten konkrete Anschaulichkeit gewinnt.
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Die Hauptetappen der geschichtlichen Entwicklung ästhetischer Theorien* Eine der wichtigsten Einsichten in der Geschichte der Ästhetik, die erst im 18. Jahrhundert errungen wurde, betrifft die Tatsache, dass sich die Standards der Schönheit, die die künstlerische Produktion inspirieren, im Laufe der Geschichte gewandelt haben. Diese Einsicht trifft freilich, gleichsam als Rache, die ästhetische Theorie selbst: Denn es ist nicht weniger wahr, dass die entscheidenden Kategorien der ästhetischen Theorie sich in der Geschichte dramatisch verändert haben. Der Wahrheitsanspruch, den jede philosophische Theorie erheben muss, macht sie der Wissenschaft ähnlicher als der Kunst: Während zwei sehr unterschiedliche Kunstwerke beide schön sein können, können zwei logisch unvereinbare Philosophien nicht beide gleichzeitig wahr sein. Dennoch erinnert die Geschichte der Philosophie mehr an die Geschichte der Kunst als an diejenige der Wissenschaft. Genauso wie große Kunst durch einen wiederholten Bruch früherer ästhetischer Regeln gekennzeichnet ist, so zeigt die Philosophie im Allgemeinen und die Ästhetik im Besonderen keineswegs ein kontinuierliches Wachstum allgemein anerkannter Einsichten, wie wir sie in der Geschichte der Wissenschaften finden. Zweifelsohne ist auch die Geschichte der Wissenschaft von gelegentlichen Paradigmenwechseln gekennzeichnet, aber die Geschichte der Philosophie und die der Kunst scheinen aus weit häufigeren, einige würden sogar sagen: aus fast ununterbrochenen Paradigmenwechseln zu bestehen. Das nährt einerseits den weit verbreiteten Verdacht, dass die Philosophie unfähig ist, gültige Antworten auf die Fragen zu finden, die sie stellt. Andererseits ist es unmöglich, philosophische Fragen aufzugeben, da sie, von aller anderen Forschung vorausgesetzt, diese durchdringen und der Skeptizismus hinsichtlich spezifisch philosophischer Fragen unvermeidlich selbst schon eine philosophische Position ist, die daher demselben Typus von Kritik unterworfen ist, den sie selbst darstellt. Daher wird sich die ästhetische * Ich danke Mark Roche für die kritische Lektüre dieses Textes und Eva-Maria Konrad und Angela Zoller für ihre Hilfe bei der Redaktion der deutschen Version.
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Theorie, trotz des Mangels an Konsens hinsichtlich grundlegender Fragen, unweigerlich halten. Denn nur die ununterbrochene S uche nach dem Wesen von Schönheit wird große Kunst ebenso wie jene Disziplinen inspirieren können, die mit der Kunst zu tun haben. Doch wird ästhetische Theorie nur dann vermeiden naiv zu sein, wenn sie ein Bewusstsein der verschiedenen Möglichkeiten zeigt, die im Laufe ihrer Geschichte diskutiert wurden, ja, erklären kann, aufgrund welcher Ursachen und Argumente die bisherigen Wandlungen erfolgt sind. Im Folgenden will ich erstens einige der wichtigsten Schritte in der Geschichte der Ästhetik besprechen, und zweitens kurz jene Faktoren analysieren, die dem Aufkommen ästhetischer Theorien zugrunde liegen. Dabei werde ich plausibel machen, warum einige der Veränderungen irreversibel sind, während andere, wie zum Beispiel der Wechsel von der Ästhetik als Lehre des Schönen zur Ästhetik als Lehre der Künste, im Prinzip wieder rückgängig gemacht werden können. Indem ich zwischen diesen beiden Arten von Wandel unterscheide, hoffe ich den Unterschied zwischen wahrem Fortschritt und bloßer Oszillation klar zumachen. Ihre Unterscheidung ist wesentlich, denn im zweiten Fall ist es nicht statthaft, die gegenwärtig herrschende Position als definitiv zu betrachten.
Sieben Schritte in der Geschichte der Ästhetik Angesichts der zentralen Position der Kunst in fast allen menschlichen Kulturen ist es überraschend, dass die Ästhetik eine relativ junge Disziplin ist. Begriffe und Termini sind nicht dasselbe, da Menschen sehr wohl spezifische Begriffe verstehen können, ohne sie terminologisch von anderen Begriffen zu unterscheiden. Aber wenigstens kann man sagen, dass die Schaffung eines besonderen Terminus für einen Begriff ein Zeichen dafür ist, dass dieser Begriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Der Terminus ‹Ästhetik› in seiner modernen Bedeutung wurde bekanntlich im 18. Jahrhundert durch Alexander Gottlieb Baumgarten geprägt, dessen unvollendete Aesthetica in zwei Bänden 1750 und 1758 erschien.1 Und in 1 In den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus von 1735 wird der Terminus schon benutzt, aber hier umfasst er nur Poetik und Rhetorik (§ 117),
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der Tat kann man nicht bestreiten, dass die Schöpfung des Terminus die Entwicklung der Disziplin enorm beschleunigte: Sie brachte im 19. Jahrhundert eine große Anzahl klassischer Werke hervor, die die Produktion aller früheren Jahrhunderte weit hinter sich ließ.2 Wesentlich wichtiger als das bloße Hinzufügen einer neuen philosophischen Disziplin, so wie sie etwa Baumgarten konzipierte, ist die Tatsache, dass von Kants Kritik der Urteilskraft (1790) an die Ästhetik ein integrierender Bestandteil der Idee eines philosophischen Systems wird. Schellings, Schopenhauers und Hegels Systeme sind die berühmtesten Beispiele dessen, was ich im Sinn habe. Während einige der größten Systematiker früherer Jahrhunderte, etwa Thomas von Aquin und Leibniz, nur beiläufig die zwei Phänomene von Schönheit und Kunst berühren, entwickelt sich um 1800 die Vorstellung, dass jeder Versuch, einen philosophischen Überblick über die Wirklichkeit zu gewinnen, der nicht Schönheit und Kunst in den Blick bekommt, zum Scheitern verurteilt ist, und zwar nicht nur weil er etwas Wesentliches verpasst, sondern weil gerade dieses Verpassen ihn daran hindert, systematische Geschlossenheit zu erzielen. Diese Vorstellung findet sich schon bei Kant, bei dem die dritte Kritik die Lücke zwischen den beiden ersten Kritiken überbrücken soll. Während aber bei Kant das ästhetische Urteil nur im ersten Teil der dritten Kritik behandelt wird, die ihren Schwerpunkt im zweiten Teil über das teleologische Urteil hat, gewinnt mit Schiller die Kunst eine wesentliche architektonische Position im Ganzen unseres Wissens. Wie gelangte die Ästhetik zu dieser prominenten Position? Vielleicht kann man fünf Hauptstadien unterscheiden, die die klassische Form der Ästhetik vorbereiten, die eine sechste Stufe bildet während Baumgarten im späteren Werk ausdrücklich erklärt, dass die Ästhetik breiter und nicht einfach mit Rhetorik und Poetik identisch ist (§ 5). Musik, Tanz und Malerei werden zum Beispiel in § 83 erwähnt. Siehe Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik. Lateinisch-deutsch, übers. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007, I 12, 66. 2 Das bedeutet nicht, dass die früheren ästhetischen Produktionen gering an Zahl gewesen wären; Wladysław Tatarkiewicz widmet die drei Bände seiner meisterhaften History of Aesthetics (The Hague, Paris, Warszawa 1970–1974) der Entwicklung vor 1700 (und zwar nur innerhalb der europäischen Tradition). Aber hätte er mit derselben Gründlichkeit fortgefahren, hätte er Dutzende weiterer Bände hinzufügen müssen. – Für die spätere Entwicklung ist immer noch nützlich der zweite Teil von Benedetto Croce, Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Bari 81945.
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und im späten 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts einem Prozess der Auflösung unterworfen wird, den wir als den siebten und letzten Schritt betrachten können. Unter jenen Zügen, die die Menschen von den anderen Tieren unterscheiden, ist das Ausmaß an künstlerischer Produktion seitens der Menschen einer der auffälligsten. Ich sage «das Ausmaß», weil das Phänomen sexueller Selektion beweist, dass auch andere Tiere Schönheit wahrnehmen und viel Energie darin investieren, sich selbst, ihre Stimmen oder Balztänze schön zu machen. Dennoch ist es hauptsächlich ihr eigener Körper, der verschönert wird, selten sind es äußere Objekte, die schön gemacht werden, wobei die Laubenvögel (Ptilonorhynchidae) eine berühmte Ausnahme darstellen. Während der Geschmack für Schönheit somit keine spezifisch menschliche Eigenschaft ist, ist das Ausmaß an Arbeit, das in Gegenstände investiert wird, die die Paarung überdauern, sicherlich eine solche, und es liegt nahe, diese Eigenschaft mit zwei anderen Zügen zu verbinden, die den Menschen von allen anderen uns bekannten Tieren unterscheiden. Erstens denke ich dabei an die menschliche Fähigkeit, Symbole zu schaffen: Die Menschen sind nicht damit zufrieden, Schönheit zu genießen, sie wollen auch ihre Schöpfer sein. Die Schöpfung nicht aller, aber einiger Kunstwerke hat mit der symbolischen Repräsentation der Wirklichkeit zu tun, die in der magischen Weltanschauung eine Kontrolle der Wirklichkeit bedeutet haben muss, wie die Höhlenmalereien gejagter Tiere aus der Altsteinzeit suggerieren. Dieser magische Glaube war nicht absurd, sondern hatte wohl Momente einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, da die Schulung der mimetischen Fähigkeiten auf lange Sicht die menschliche Kontrolle über die Natur gesteigert haben muss.3 Zweitens muss der künstlerische Drang früh mit der menschlichen Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit verbunden worden sein: Das Bestreben, Kunstwerke zu schaffen, die ihren Schöpfer überdauern, ist Ausdruck des Wunsches, im kollektiven Gedächtnis eine Form der Unsterblichkeit zu erreichen. Das brauchte nicht die Unsterblichkeit eines einzelnen Individuums zu sein, die in mündli3 Über das Herstellen von Bildern als den unterscheidenden Zug des Menschen siehe Hans Jonas’ klassischen Essay «Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens», in Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, 226 ff.
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chen Kulturen ohnehin schwer zu erreichen war: Eine Zivilisation als solche konnte sich viel späteren Epochen durch architektonische oder skulpturale Werke denkwürdig machen, denen schon einige frühe Hochkulturen einen enormen Anteil ihrer wirtschaftlichen Produktion widmeten und die wohl einer der Zwecke ihrer politischen Organisation waren.4 Die Suche nach Unsterblichkeit erklärt, warum die frühe Kunst mit der Religion verknüpft ist, jenem anderen Resultat der menschlichen Wahrnehmung des Todes. Die verschiedenen Künste wurden wahrscheinlich als besonders intensive Mittel empfunden, sich mit einer religiösen Kraft in Verbindung zu setzen, die die ganze Gruppe von innen zu motivieren schien und die in der Achsenzeit als transzendente Kraft interpretiert zu werden begann. Die Entdeckung, dass es gewisse ästhetische Lösungen gibt, die, wenn sie einmal gefunden worden sind, den hervorbringenden Künstler und sein Publikum mit einem Gefühl der Befriedigung durchdringen, muss die ästhetische Erfahrung mit der Reflexion verknüpft haben, dass die Kunst eine Sphäre berührt, die das Subjekt transzendiert – d.h. mit der Religion.5 Die meisten der uns bekannten menschlichen Sprachen haben Termini, die sich auf Schönheit in ihren verschiedenen Formen beziehen, auch wenn sie oft nicht auf das begrenzt sind, was wir heute ästhetischen Wert nennen: Das griechischen καλόν bezieht sich auf all das, was unmittelbar gefällt, einschließlich moralischer Eigenschaften, während ἀγαθόν Nützlichkeit impliziert. Somit könnten einige rudimentäre Reflexionen über Kunst und Schönheit schon früh den kreativen Prozess ebenso wie seine Bewertung durch Re4 Seit der hochbedeutsamen Entdeckung des großartigen Heiligtums am Göbekli Tepe wissen wir, dass schon beim Übergang von der Lebensform der Jäger und Sammler zu derjenigen der Ackerbauern im zehnten vorchristlichen Jahrtausend architektonische und skulpturelle Leistungen enormer Komplexität vollbracht worden sind. Vgl. Klaus Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger, München 2006. 5 Vgl. Hans Krämer, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst, Tübingen 1994, 22: «Wenn das Kunstprodukt mehr als der Autor ist, dann wird auch der scheinbar selbstmächtige kreative Künstler zum wenigsten partiell zum Medium herabgesetzt, durch das hindurch der Rezipient und Interpret an ein Transsubjektives rührt.» Krämers wichtiges Buch verbindet auf geschickte Weise Reflexionen Arnold Gehlens und Helmuth Plessners über die anthropologischen Grundlagen der Kunst mit Betrachtungen zur Ontologie des Kunstwerkes.
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zipienten begleitet haben. Da freilich ästhetische Regeln, wie diejenigen der Grammatik, vollkommen auch von jenen Menschen befolgt werden können, die nicht in der Lage sind, sie als solche zu formulieren, wäre es ein Trugschluss, aus der hohen Qualität vieler Kunstwerke mündlicher Kulturen zu schließen, dass sie eine ästhetische Theorie entsprechender Komplexität besessen haben müssen. Dennoch werden wohl einige mündliche Diskussionen erfolgt sein; diese müssen die erste, gewissermassen embryonische Stufe der Ästhetik gebildet haben. Ein zweiter Schritt erfolgt mit der Entwicklung der Schrift. Wenigstens einige der antiken Hochkulturen außerhalb Europas haben verschiedene theoretische Werke über die einzelnen Künste hervorgebracht, wobei China und besonders Indien die wichtigsten sind. Auffallende Ähnlichkeiten zwischen den ästhetischen Ideen dieser beiden Kulturen sind bemerkt worden, und es ist nicht immer leicht zu bestimmen, ob sie das Resultat unabhängiger Gedankenprozesse oder ein Beispiel für den Einfluss sind, den Indien auf China ausgeübt hat, zumal über die Vermittlung buddhistischer Mönche.6 Diese ästhetischen Essays und Abhandlungen wurden oft von aktiven Künstlern verfasst, etwa von Malern und Dichtern, was zwar eine bemerkenswerte Vertrautheit mit den technischen Details der spezifischen Künste garantierte, aber doch drei Mängel zur Folge hatte. Da sie in alten handwerklichen Traditionen gründeten, sind diese Handbücher vornehmlich Beschreibungen von Mustern, die in der eigenen Kultur befolgt wurden; sie betrachten keine denkbaren ästhetischen Alternativen, etwa aus anderen Kulturen, die oft aus dem einfachen Grund ignoriert werden, weil man sie für der eigenen Kultur unterlegen hält. Auch in 6 Angesichts der Analogie zwischen den chinesischen Sechs Gesetzen des Malers Xie He aus dem sechsten Jahrhundert und dem indischen Ṣadaṅga (Sechs Glieder) der Malerei, das erstmals in Yaśodharas Jayamaṅgalā aus dem 13. Jahrhundert erwähnt wird, aber viel älter ist, da die grundlegenden Begriffe schon im Citrasūtra des Viṣṇudharmottara präsent sind, der ältesten erhaltenen indischen Zusammenfassung der Theorie der Malerei, die möglicherweise auf das vierte Jahrhundert nach Christus zurückgeht, mag es einen frühen indischen Einfluss auf die chinesische Theorie der Malerei gegeben haben. Vgl. die Argumente bei Victor H. Mair, «Xie He’s ‹Six Laws› of Painting and Their Indian Parallels», in Chinese Aesthetics. The Ordering of Literature, the Arts, and the Universe in the Six Dynasties, hg. von Zong-qi Cai, Honolulu 2004, 81–122.
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der westlichen Welt wird diese Grenze erst sehr spät überwunden. Da es sehr selten ist, dass jemand in verschiedenen Künsten kompetent ist, behandeln die Handbücher gewöhnlich, und das ist ihr zweiter Mangel, nur eine einzelne Kunst. Texte über Poetik haben dabei den Vorteil, dass sie in Versen formuliert werden können und damit das exemplifizieren können, was sie lehren:7 Ich erwähne unter den Werken indischer Poetik und Rhetorik, die alaṅkāra śāstra heißen, besonders das Bhaṭṭikāvya (Bhaṭṭis Dichtung), ein śāstrakāvya, d.h. ein Werk, das Lehre und Dichtung verbindet und den Unterricht der Grammatik und Poetik in die eigene Erzählung einbezieht. Auch wenn man in diesen Texten gelegentlich Einsichten in die Verwandtschaften zwischen den verschiedenen Künsten findet, ist die Prozedur induktiv; der abstraktere Zugang der allgemeinen Ästhetik, der von Reflexionen auf die allen Künsten gemeinsamen Züge ausgeht, ist ihnen fremd. Es ist jedoch bemerkenswert, dass der berühmteste und älteste erhaltene indische Traktat über das Theater, das Nāṭyaśāstra, das Bharata zugeschrieben wird, sich der Tatsache vollkommen bewusst ist, dass das Theater eine synthetische Kunst ist, und daher neben vielen anderen Dingen auch Kapitel über Prosodie, Musik, Tanz und Bühnenbild enthält. In der Tat wird der Traktat am Anfang als fünfter Veda vorgestellt, der von Brahma den kanonischen vier Veden hinzugefügt worden sei und der sich aus ihnen Wörter, Musik, Nachahmung und Emotionen einverleibe (1.17). Während die Kenntnis der vier Veden den Śûdras nicht zugänglich sei, stehe dieser fünfte Veda allen Kasten offen (1.12). Der Traktat erzählt einen Mythos, nach dem einige Dämonen revoltierten, weil sie sich vom Theater ausgeschlossen fühlten, aber befriedet wurden, als Brahma ihnen erklärte, dass das Theater die dreifache Welt in ihrer Gänze enthalte, und zwar einschließlich dämonischer Kräfte (1.103 ff.); ja, es umfasse alle Wissenschaften (1.115). Theater ist nach dieser Theorie universal, und zwar nach drei Dimensionen: in den Mitteln der Aufführung, in den Gegenständen, die es darstellt, und im Publikum, an das es sich wendet. Aber natürlich ist das Anführen der verschiedenen Unterdisziplinen, die für den Erfolg des Theaters er7 Das gilt natürlich auch für westliche Poetiken; siehe die beiden folgenden Kapitel in diesem Band.
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forderlich sind, im Nāṭyaśāstra nicht dasselbe wie der Versuch, eine allgemeine ästhetische Theorie auszuarbeiten.8 Dennoch kommt die klassische indische Lehre der rasas, der emotionalen Qualitäten eines Dramas, wie sie im sechsten Kapitel des Nāṭyaśāstra vorgestellt und für die spätere Tradition entscheidend wird, einer allgemeinen ästhetischen Theorie nahe, da sie mit den verschiedenen Typen von Emotionen zu tun hat, die in Tanz, Theater, Musik und Dichtung präsent sind und durch sie verursacht werden. (Ursprünglich ist der rasa eine Eigenschaft der Charaktere des Dramas; erst später wird er eine Kategorie der Rezeptionsästhetik.) Während die ästhetischen Reflexionen dieser Kulturen relativ häufig moralische und politische Folgen der Künste ansprechen, wie zum Beispiel in Konfuzius’ Lunyu (Gespräche), berühren sie – und das ist der dritte Mangel – nur gelegentlich den Zusammenhang ästhetischer mit metaphysischen, epistemologischen oder semiotischen Fragestellungen. In Wang Weis Xu hua (Diskussion über die Malerei) aus dem fünften Jahrhundert wird zum Beispiel der Begriff des ling, des Numinosen, im Zusammenhang mit dem künstlerischen Prozess genannt,9 aber die Verknüpfung bleibt sehr lose. Die spätere indische Kultur ist dagegen recht explizit in der Verbindung der Ästhetik mit grundlegenderen philosophischen Disziplinen. Das gilt aber noch nicht für das Nāṭyaśāstra. Und während sich auch Bhāmahas und Daṇḍins Poetiken aus dem achten Jahrhundert hauptsächlich auf Redefiguren konzentrieren, bietet die berühmte Lehre des dhvani (oft mit «Suggerieren» oder «Evozieren» übersetzt),10 wie sie von kaschmirischen Gelehrten entwickelt und in klassischer Form in Ānandavardhanas Dhvanyāloka (Licht über das Suggerieren) aus dem neunten Jahrhundert aufgestellt wird, eine komplexe Philosophie der Bedeutung, die weit über die Sprachtheorie hinausgeht, die von der ritualistischen 8 The Nāṭyaśāstra, English Translation with Critical Notes by Adya Rangacharya, New Delhi 2007, 1 ff. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Übersetzung nicht vollständig ist, und habe andere Ausgaben benutzt, um die Verszahlen zu finden. 9 Der kurze Text ist übersetzt und analysiert von Susan Bush, «The Essay on Painting by Wang Wei (415–453) in Context», in Chinese Aesthetics, op. cit, 60–80. 10 Der zweite Terminus wird von Anand Amaladass S.J., Philosophical Implications of Dhvani. Experience of Symbol Language in Indian Aesthetics, Vienna 1984 vorgezogen.
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Schule der Mīmāṃsakas formuliert worden war: Die Lehre entdeckt eine neue Bedeutungsschicht, die poetischer Sprache eigentümlich ist. Abhinavagupta, der im zehnten und elften Jahrhundert dieses Werk kommentierte11 (ebenso wie das Nāṭyaśāstra), hat auch rein metaphysische und theologische Werke in der Shaiva-Tradition verfasst; wie in Griechenland haben wir es hier mit ästhetischen Werken zu tun, die von Menschen geschrieben sind, die nicht primär Künstler, sondern professionelle Philosophen waren. Es ist nicht einfach Eurozentrismus, wenn man der griechischen Kultur eine besondere Bedeutung in der Evolution nicht der Kunst, aber doch der ästhetischen Theorie zuschreibt, die damals eine dritte Stufe erklomm. Es versteht sich von selbst, dass auch in Griechenland die Handbuch-Tradition der verschiedenen Künste fortgesetzt wurde: Es genüge, Polyklets verlorenen Traktat Kanon über Skulptur, die vielen Werke zur griechischen Architektur, die Vitruvius, der einzige erhaltene antike Autor auf diesem Gebiet,12 zitiert, und die reiche musikologische Tradition zu erwähnen.13 Xenokrates von Athen oder von Sikyon (aus dem dritten Jahrhundert v. Chr.), der uns nur durch Plinius zugänglich ist, wird manchmal als Vater der Kunstgeschichte angesehen,14 denn dieser Bildhauer, der über Skulptur, Malerei und Zeichnung schrieb, mag versucht haben, eine plausible Geschichte der Entwicklung dieser Künste zu erzählen. Aber noch innovativer war die frühe Thematisierung der Kunst durch professionelle Philosophen wie Platon und Aristoteles. Platon war selbst poetisch begabt wie nur wenige andere große Schriftsteller, ja, seine Äußerungen über die Literatur werden oft auf geschickte Weise durch seine eigenen Werke exemplifiziert. Er bietet wichtige
11 Eine neuere englische Übersetzung beider Werke ist: The Dhvanyāloka of Ānanda vardhana with the Locana of Abhinavagupta, hg. von Daniel H.H. Ingalls, Cambridge, Mass. 1990. Ich verdanke viel Ingalls’ Einführung, die den historischen Hintergrund glänzend skizziert. 12 De architectura VII praef. 11 ff. 13 Die klassischen Texte sind zugänglich in Greek Musical Writings: II. Harmonic and Acoustic Theory, hg. von Andrew Barker, Cambridge 1989. 14 Vgl. Bernhard Schweitzer, Xenokrates von Athen. Beiträge zur Geschichte der antiken Kunstforschung und Kunstanschauung, Halle 1932, auch wenn Schweitzer viel zu optimistisch ist hinsichtlich der Möglichkeit einer detaillierteren Rekonstruktion.
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Einsichten in das Wesen poetischer Inspiration,15 die verschiedenen Genres der Literatur,16 die Möglichkeit von Dichtung ohne Vers17 oder die emotionale Reaktion des Publikums auf Tragödie und Komödie.18 Es ist hervorzuheben, dass manche dieser Einsichten in seinen zwei wichtigsten politischen Werken gefunden werden können, da Platon ein starkes Bewusstsein von der politischen Funktion der Künste hatte, die noch weit davon entfernt waren, autonom zu werden; in der Tat wird der ideale Staat in den Gesetzen (817b) als die schönste Tragödie bezeichnet.19 Platon verfasste keinen Dialog, der ausdrücklich den Künsten galt, und hat weder einen Namen für die Philosophie (oder die Philosophien) der Kunst und des Schönen, die beiden Zweige der Ästhetik, noch für die Künste und die Künstler im modernen Sinne, da τέχνη und δημιουργός auch alle Handwerke und Handwerksleute umfassten. Dennoch findet sich in seinem Korpus ein Dialog, der mit der Natur des Schönen zu tun hat – der Größere Hippias, dessen Authentizität leider zweifelhaft bleibt. Eine 15 Siehe Ion 532b ff., Phaidros 245a. Der scheinbare Widerspruch zwischen diesen beiden Passagen kann leicht überwunden werden, wenn man annimmt, dass Platon drei Typen von Dichtung anerkennt: einen traditionellen, einen enthusiastischen und einen philosophischen, wie er von seinen eigenen Dialogen dargestellt wird. Mit dem letzten Typus verglichen, ist enthusiastische Dichtung mangelhaft, aber sie ist der ersten Form überlegen. Siehe Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen, Basel 2000. 16 Vgl. Staat 392c ff. 17 Vgl. Staat 393d und meine Interpretation: Der philosophische Dialog, München 2006, 167 ff. Eine verwandte Einsicht spielt auch in der indischen Ästhetik eine wichtige Rolle: Verse sind keineswegs eine hinreichende Bedingung für ein kāvya (Dichtung). 18 Vgl. Staat 606a f., Philebos 47d ff., Gesetze 816d ff. 19 Sicherlich wurde die von Damon und Platon verteidigte Ansicht, dass verschiedene Typen von Musik verschiedene Tugenden formen, schon in der Antike kritisiert; man denke an den berühmten Hibeh-Papyrus und an Über Musik des Epikureers Philodemos von Gadara (beide Werke sind nur fragmentarisch erhalten). Aber die hedonistische Rechtfertigung der Künste durch Philodemos steht sehr weit ab vom modernen Begriff der Autonomie der Kunst. Der Terminus ‹Formalismus› ist irreführend, wenn man ihn auf Philodemos anwendet, sofern man gleichzeitig an Hanslicks Position denkt – auch wenn beide Theoretiker die Idee verwerfen, dass die Musik etwas nachahmt. Vgl. die neueste Ausgabe des am besten erhaltenen Buchs des Werkes, die das griechische Original mit einer deutschen Übersetzung bietet: Philodemus, Über die Musik IV. Buch, hg. von Annemarie Jeanette Neubecker, Neapel 1986, 40 und Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854, 91: «etwas nachzumusiciren gibt es in der Natur nicht.»
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Passage von Aristoteles (Topik 146a21 f.) macht es aber sehr wahrscheinlich, dass der Dialog innerhalb der Akademie geschrieben wurde, wenn nicht von Platon selbst, dann von einem seiner Schüler. Der Dialog endet aporetisch (die Aporie scheint ehrlicher als in anderen Fällen), und eine der wichtigsten diskutierten Fragen ist das epistemologische Problem, ob adjunktive Definitionen statthaft sind, da das Schöne sowohl optische als auch akustische Phänomene zu umfassen scheint. Wir sehen hier den Versuch, eine allgemeine Theorie des Schönen zu formulieren, die zwei verschiedene Sinne umfasst (die Schönheit von Tätigkeiten und Gesetzen wird dagegen nur kurz gestreift, Größerer Hippias 298b). Auch wenn die Griechen keinen allgemeinen Begriff hatten, der das, was man später schöne Künste nannte, von den Handwerken unterscheidet, umfasst die Lehre von der mimesis, die Platon am Ende des Staats entwickelt, sowohl die bildenden Künste als auch die Dichtung.20 Auch die ersten Kapitel von Aristoteles’ Poetik beharren auf einem natürlichen mimetischen Instinkt des Menschen (1448b20 ff.) und geben als Beispiele sowohl poetische Genres als auch «das meiste» in Flöten- und Harfenspiel (1447a13 ff.); zudem wird hier die Dichtung mit der Malerei verglichen, und zwar hinsichtlich der verschiedenen Typen von Menschen, deren Nachahmung sie sich vornimmt (1448a1 ff.). Sehr wahrscheinlich verwendet Platon bewusst den Goldenen Schnitt als Konstruktionsprinzip einiger seiner Dialoge;21 und falls er dazu dadurch motiviert wurde, dass er Goldene Schnitte in den Werken der zeitgenössischen bildenden Kunst erkannte (obgleich es keinen antiken Text gibt, der beweist, dass Architekten, Bildhauer oder Maler diesen Schnitt bewusst benutzt haben), könnte man sagen, dass Platon ein sehr konkretes ästhetisches Prinzip begriff, das auf verschiedene Künste angewendet werden kann. Ich bin nicht in der Lage zu entscheiden, ob Platon zwei der poetologischen Prinzipien, die er hervorhebt, als allgemeine ästhetische Prinzipien ansah, nämlich die organische Natur eines literarischen Werkes22 (die auch von Aristoteles 20 Der Vergleich von Malerei und Dichtung geht auf Simonides zurück (Plutarch, Bellone an pace clariores fuerint Athenienses 346 F). 21 Siehe meinen Aufsatz «Did the Greeks Deliberately Use the Golden Ratio in an Artwork? A Hermeneutical Reflection», in La Parola del Passato 63 (2008) 415–426. 22 Siehe Phaidros 264b f. und 268d.
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verteidigt wird)23 und die indirekte Form der Mitteilung, die der Dichtung eigentümlich ist.24 Natürlich ist Platons Lehre der mimesis nicht nur ein wichtiger Schritt in Richtung einer allgemeinen Theorie der Künste; sie kann sogar als ein Wendepunkt in der Geschichte der Ästhetik verstanden werden, weil sie den Künsten eine ontologische Grundlegung gibt, indem sie sie zunächst mit der Natur und dann mit dem metaphysischen Reich der Ideen verknüpft. Oberflächlich betrachtet will die Diskussion im zehnten Buch des Staats, die zum Gegenstand der Künste zurückkehrt, der schon im zweiten und dritten Buch analysiert worden war – nun freilich auf der Grundlage der Theorie der Ideen, die in der ersten Abhandlung noch abwesend war –, den doppelten Abstand der Artefakte von den Ideen zeigen, da sie physische Gegenstände nachahmen, die selbst die Ideen nachahmen (597e). Aber diese doppelte Entwertung birgt in sich das Potential, die Künste von der Natur abzukoppeln und sie als direkte Abbilder einer idealen Welt zu interpretieren. (Es mag hier offen bleiben, ob Platon dies auch selbst so gesehen hat oder nicht.) Wir werden zu diesem Thema zurückkehren. Aristoteles’ Poetik ist in Platons Entdeckungen viel tiefer verwurzelt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.25 Auffallend originell sind aber die Reflexionen des neunten Kapitels über die Unterschiede zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung, da sie Aristoteles’ Analyse der Modalbegriffe voraussetzen. Sie beginnen eine Diskussion, die in den letzten Jahrzehnten auch die Aufmerksamkeit analytischer Philosophen der Kunst auf sich gezogen hat,26 auch wenn die moderne Analyse der Natur der Fiktion selten die für Aristoteles zentrale Frage behandelt, warum bestimmte Typen von Fiktion mehr Licht auf unsere wirkliche Welt werfen können als nichtfiktionale Diskurse wie die Geschichtsschreibung. Neben der Poetik enthält 23 Poetik 1450b26 ff. 24 Vgl. Staat 332b, 393c, Lysis 214d ebenso wie den unechten Alkibiades II 147b. Man bemerke, dass die «änigmatische» Natur traditioneller Dichtung, die in drei der angegebenen Passagen erwähnt wird, nicht notwendig ein bewusstes Verstecken impliziert, wie es den Dichtern im Staat 393c unterstellt wird – und zwar in einer Passage, die auf Platons eigene reflexive Kunst anzuspielen scheint. 25 Vgl. mein Buch Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien, Basel 2009, 40 ff. 26 Vgl. David Lewis, «Truth in Fiction», in Philosophical Papers, Band I, New York 1983, 261–280.
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auch Aristoteles’ Rhetorik viele Einsichten, die zu dem gehören, was heute als ästhetisches Gebiet gilt. Es ist bemerkenswert, dass die beiden Disziplinen Poetik und Rhetorik bis zur Zeit um 1800, als die Poetik schließlich die Rhetorik absorbierte, voneinander unabhängig blieben. In den vorhergehenden mehr als zwei Jahrtausenden ist die Rhetorik die wichtigere Disziplin, da sie die bedeutenderen Aufgaben hat: Ihren Adel verdankt sie der Tatsache, dass sie Politik und Rechtsprechung dient. In der Tat enthält Aristoteles’ Werk, das sich nur im letzten Buch mit der Kunst des Redens (λέξις) befasst, viel Material, das zur Dialektik ebenso wie zur Ethik bzw. Politik gehört, zwischen denen Aristoteles seine eigene Disziplin situiert.27 Der spätere Verfall der Rhetorik hat mit der Entstehung des Ideals einer autonomen Kunst zu tun, dem wichtigsten Einzelereignis in der Geschichte der Ästhetik. Wie gelangte die Menschheit zu dieser Wende? Jeder Versuch, in der menschlichen Geistesgeschichte Sinn zu finden, ist wohlberaten, der Begriffsbildung des Mittelalters eine besondere Bedeutung zuzuschreiben – mag er auch dessen konkrete Ideen ablehnen. Ohne die Idee eines transzendenten Schöpfergottes wäre weder der Begriff möglicher Welten noch die Idee eines Sittengesetzes entstanden, das irreduzibel ist auf die faktischen Propensitäten der Menschen; und ohne das seltsame Gebilde der Angelologie wäre auch die Cartesische Wende zu einem endlichen Bewusstsein, das nicht verkörpert ist, schwerlich möglich gewesen. Worin liegt die Bedeutung der mittelalterlichen Ästhetik, des vierten Schrittes, für die spätere Entwicklung? Wie allgemein bekannt ist, gibt es nicht viele mittelalterliche Werke, die dem gelten, was wir heute ‹Künste› nennen. Sie werden nie unter einem allgemeinen Begriff zusammengefasst und gehören zum Teil mit den Handwerken zu den artes mechanicae, zum Teil mit den Wissenschaften zu den artes liberales. Die mittelalterliche Poetik setzt hauptsächlich die antike rhetorische Tradition fort, wie zum Beispiel Galfredus de Vino Salvo; eine Ausnahme ist der größte mittelalterliche Dichter, Dante, der auch der originellste Theoretiker der Dichtung 27 Rhetorik 1354a1, 1355a35, 1356a25 ff. – Eine wichtige Einsicht betrifft die Tatsache, dass rhetorische Mittel nicht als solche bemerkt werden dürfen (1404b18 f., 36 f., 1408b8 f., 1409a9, 1417b8).
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ist und unter anderem auf die allegorische Dimension seiner eigenen Dichtungen verweist. Origineller als das Studium der konkreten Künste ist die mittelalterliche Schönheitstheologie.28 Sie ist beeinflusst vom Neuplatonismus und seiner Lehre von einer intelligiblen Schönheit, die durch die empirisch sichtbare Schönheit gespiegelt wird. Plotin artikulierte diese Position auf kraftvolle Weise in seinen Abhandlungen Enneaden I 6 und V 8. Die erste, «Über das Schöne» (I 6), nach Porphyrios der erste Text, den Plotin verfasste und das Manifest des späteren ästhetischen Platonismus, erkennt Schönheit in der Sphäre optischer und akustischer Eindrücke, aber auch in Handlungen, Wissenschaften und Tugenden (1,1); Schönheit existiere sowohl in der Natur als auch in Artefakten (2,12). Indem er auf die Schönheit einzelner Elemente verweist, verwirft Plotin die Idee, dass Schönheit eine Qualität ausschließlich von Ganzheiten sei (1,5 ff.). Das ist verbunden mit der Konzeption einer ursprünglichen Einfachheit, des Einen, das das letzte Prinzip des Seins sei. Daher sei wahre Schönheit in einem nicht-sinnlichen Bereich angesiedelt (4,19 ff.), der Geist sei noch schöner als die Seele (6,30 ff.). Um die wirkliche Schönheit zu sehen, müsse die Seele selbst schön werden (9,43), dafür sei Autonomie erforderlich (9,42). Der zweite Aufsatz, «Über die intellektuelle Schönheit» (V 8), ist einer der wenigen Texte, in denen Plotin sich deutlich von seinem Lehrer Platon distanziert. Man solle die Künste nicht aufgrund der Annahme verschmähen, sie würden die Natur nachahmen, denn auch die Natur ahme andere Gegenstände nach. Zudem ahmten die Künste nicht einfach sichtbare Dinge nach, sie erhöben sich zu den rationalen Ideen, in denen die Natur selbst ihre Wurzel habe. Die Künste fügten etwas Neues hinzu, das in der Natur nicht gefunden werden könne; Phidias’ Zeus sei nicht nach einem sinnlichen Vorbild geschaffen worden, sondern so, wie Zeus sich selbst darstellen würde, wenn er sich dazu herabließe, vor uns zu erscheinen (1,7 f.). Die Sprengkraft dieser Verteidigung der Künste war enorm, denn sie verband die Künste direkt mit dem Reich der Ideen und gab ihnen damit die Möglichkeit, dem Grund des Seins näher zu stehen als die Natur. Aber natürlich ist das Hauptproblem die28 Eine gute Sammlung und Interpretation der wichtigsten Texte findet sich in Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1982.
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ser Theorie, zu erklären, wie denn eine Nachahmung des NichtSinnlichen durch das Sinnliche möglich sein soll: Was bedeutet es für Zeus, zu erscheinen, wenn er keinen Körper hat? In welchem Sinne ist eine Form angemessener als eine andere? Die Schwierigkeit dieser Frage hat freilich die mittelalterlichen Theoretiker der Schönheit nicht davon abgehalten, die neuplatonische Lehre zu akzeptieren. Nach Eriugenas Über die Einteilung der Natur genießt der weise Mensch schöne Gegenstände nur, insoweit sie auf Gott verweisen;29 und der christliche Neuplatoniker Pseudo-Dionysios Areopagites inspirierte die Schöpfung einer der größten künstlerischen Leistungen des Mittelalters, nämlich der gotischen Architektur. Da die Abtei von Saint Denis beanspruchte, die Reliquien des Heiligen Dionysios zu besitzen, der zu Unrecht mit dem Neuplatoniker identifiziert wurde, wurde dort der Prototyp der gotischen Kathedrale mit großen Glasfenstern gebaut, und zwar aufgrund der Ideen des Abtes Suger im Geist der Pseudo-Dionysischen LichtMetaphysik.30 Gewiss ist die Kunst im Mittelalter in der Religion gegründet und daher weit davon entfernt, autonom zu sein. Aber es ist diese Beziehung zu einer Religion, die sich nach einem transzendenten Gott ausrichtet, die schließlich die Entwicklung einer Religion der Kunst möglich machte. Es ist recht symptomatisch, dass sich bei Thomas von Aquin die expliziteste Diskussion der Schönheit im Kontext der Trinitätslehre findet. Er erwähnt, dass pulchritudo einer der Namen der zweiten Person der Trinität ist, und nennt drei notwendige Bedingungen von Schönheit: Integrität oder Vollkommenheit, deren Mangel Hässlichkeit ausmache; richtige Proportion oder Konsonanz; Klarheit, wie im Falle leuchtender Farben. Von besonderer Bedeutung ist seine Bemerkung, dass eine perfekte Nachahmung auch eines
29 De divisione naturae IV 16 (PL 22, 288 C): «Et sapiens quidem simpliciter ad laudem Creatoris naturarum pulchritudinem illius vasis … omnino refert.» 30 Siehe Scriptum consecrationis ecclesiae Sancti Dionysii (Abhandlung über die Konsekration der Kirche von Saint Denis), in Suger, Œuvres, Band I, hg. von Françoise Gasparri, Paris 1996, 26: «quo tota clarissimarum vitrearum luce mirabili et continua interiorem perlustrante pulchritudinem eniteret» sowie Otto von Simpson, The Gothic Cathedral. Origins of Gothic Architecture and the Medieval Concept of Order, New York 2 1962, besonders 91 ff. Auf S. 119 heißt es von Suger, er sei «infatuated with light».
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hässlichen Gegenstandes ein schönes Bild konstituiere;31 das Hässliche erhält somit den Status eines legitimen Gegenstandes der Kunst. Jedenfalls verweist Thomas’ rudimentäre Ästhetik viel eher auf die Metaphysik als auf eine Theorie der Künste. Schönheit und Güte werden als zwei Aspekte desselben betrachtet, wobei die Schönheit mit der Befriedigung eines Erkenntnisstrebens zu tun habe und daher auf Gesicht und Gehör als die Sinne beschränkt bleibe, die am ehesten mit Erkenntnis zu tun haben.32 Das Wiederaufleben antiker Werte und Sensibilitäten im Humanismus und der Renaissance, dem fünften Schritt in unserer Geschichte, führt wiederum zu einem Aufblühen von Handbüchern der verschiedenen Künste. Allmählich entsteht ein Konsens hinsichtlich der außerordentlichen Würde künstlerischer Aktivität, der der antiken Welt noch fehlte. Das ist verbunden mit einer neuen Wertschätzung menschlicher Kreativität im Allgemeinen, die sich auch im Erschaffen neuer Artefakte manifestiert. Nicolaus Cusanus’ Dialog Idiota de mente manifestiert diese Einstellung, die sich darin stark von der Metaphysik Thomas’ unterscheidet, der die Schöpfung auf Gott allein beschränkt hatte.33 Aber während für Cusanus alle Handwerke die Fähigkeit offenbaren, Dinge in die Welt zu bringen, die vorher nicht existierten, lösen sich im späten 16. Jahrhundert die ästhetisch ehrgeizigeren Künste von den übrigen Handwerken. Zunächst werden die drei bildenden Künste verbunden, wie zum Beispiel in der Einführung zu Giorgio Vasaris Vite. «The term Arti del disegno, upon which ‹Beaux Arts› was probably based, was coined by Vasari, who used it as the guiding concept for his famous collection of biographies. And this change in theory found its institutional expression in 1563 when in Florence, again under the personal influence of Vasari, the painters, sculptors and architects cut their pre vious connections with the craftsmen’s guilds and formed an Academy of Art (Accademia del Disegno), the first of its kind …»34 Es 31 32 33 34
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Summa theologica I q. 39 a. 2. Siehe schon Aristoteles, Poetik 1448b10 ff. Summa theologica I/II q. 27 a. 1 ad 3. Summa theologica I q. 45 a. 5. Paul O. Kristeller, «The Modern System of the Arts. A Study in the History of Aesthetics», in Journal of the History of Ideas 12 (1951) 496–527 und 13 (1952) 17–46; wiederabgedruckt in: Essays on the History of Aesthetics, hg. von Peter Kivy, Rochester 1992, 3–64, 21.
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dauerte noch über ein Jahrhundert, bis diese drei Künste mit der Musik und der Dichtung vereint wurden (gelegentlich auch mit Rhetorik und Tanz), und zwar unter einem gemeinsamen Titel, der gleichzeitig die Wissenschaften ausschloss (ein Ausschluss, der sicher durch die wissenschaftliche Revolution erleichtert wurde).35 Erst nachdem die Künste als ein einheitliches Phänomen begriffen worden waren, war eine Verteidigung der individuellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Künste sinnvoll, wie wir sie beispielsweise in Lessings Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie von 1776 finden. Die Ablösung der eigentlichen Künste von den Handwerken und Wissenschaften war Teil eines umfassenderen Prozesses: der Neubewertung des Platzes der Künste im Ganzen des Seins. Der Wunsch nach einem synchronischen System aller und nur derjenigen Künste, die sich dem Schönen widmen, wurde ergänzt durch ein zunehmendes Interesse am Reichtum des künstlerischen Ausdrucks, den die Menschheit in ihrer langen Geschichte erzeugt hatte. Für die Genese der Ästhetik des deutschen Idealismus nicht weniger wichtig als Baumgartens Werke war Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums von 1764. Was dieses Buch von allem früheren gelehrten Interesse an der antiken Kunst seit Flavio Biondo unterscheidet, sind die folgenden drei Aspekte: Erstens schließt Winckelmann auch die orientalische Kunst in seine Betrachtung ein. Zweitens versucht er, die Eigenart griechischer Kunst zu erfassen, und bietet zum ersten Mal einen intrinsisch sinnvollen Überblick über ihre Entwicklung, der zugleich den Phänomenen Gerechtigkeit erweist – eine Darstellung, die bis heute mehr oder weniger unangefochten Geltung genießt. Drittens interpretiert Winckelmann nicht nur die griechische Kunst als ein einzigartiges Vorbild für die Gegenwart, sondern erfährt auch eine religiöse Ekstase bei der Betrachtung des Apoll von Belvedere; seine eigene Beschreibung des Kunstwerks, so schreibt er, muss selbst Kunst werden, um es angemessen widerzuspiegeln. Man be35 Während Kristeller diesen Prozess erst im Laufe des 18. Jahrhunderts als beendet betrachtet, weist Wladysław Tatarkiewicz auf François Blondels Cours d’Architecture von 1675 hin, der die neue Klassifikation schon voraussetzt («A Note on the Modern System of the Arts», in Kivy, Essays, op. cit., 65).
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merke, dass Winckelmanns Enthusiasmus für die griechische Kunst, der durch seine Homosexualität offensichtlich verstärkt wurde, neuheidnische Konnotationen hat, die diesen Konvertiten zum Katholizismus von den Bewunderern der antiken Kultur in der Renaissance scharf unterscheiden; in seiner Ekstase fühlt er sich nach Delos, nicht nach Jerusalem versetzt.36 Da aber die heidnische Religion unwiederbringlich verloren ist, bedeutet die Begeisterung für sie unvermeidlich eine Loslösung der Kunst von der Religion. Daher kann man sagen, dass allein die Entdeckung des paradigmatischen Ranges einer vorchristlichen Kunst zur Emanzipation der Kunst von der Religion führen konnte. Winckelmanns philosophischer Zugang zur Kunstgeschichte wurde von Johann Gottfried Herder und später von Friedrich und August Wilhelm Schlegel auf die Dichtung angewandt. Aber schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts legte der italienische Philosoph Giambattista Vico in seiner Scienza nuova von 1725 eine neue Wissenschaft menschlicher Kultur vor, nach der die Dichtung nicht einfach eine der Künste ist, sondern eine geistige Einstellung, durch die die Menschheit notwendig schreiten musste; daher diskutiert er im zweiten Buch seines Werkes eine poetische Metaphysik, Logik, Moral, Ökonomie, Politik usw. Für die Allgegenwart der Dichtung in den Ursprüngen der Menschheit ist allerdings der Preis zu zahlen, dass unter den Bedingungen entwickelter Rationalität wahre Dichtung nicht mehr möglich sei. Für Vico war Homer der größte und unerreichbare Dichter, während Winckelmann noch die Hoffnung hegte, dass der Enthusiasmus für die Griechen die gegenwärtige Kunst verwandeln könne. Und auch wenn die theoretischen Grundlagen dieser Hoffnung recht naiv waren – bedenkt man die enorme geschichtliche Distanz zwischen den Griechen und dem 18. Jahrhundert – sollte Winckelmann doch recht behalten. Die Entstehung des Klassizismus und die verhältnismäßig schnelle Abkehr vom barocken Formsinn37 wurden in der Tat durch
36 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, hg. von Adolf H. Borbein u.a., Mainz 2002, 780 ff. 37 Über diese Wende als eine Rückkehr zum Renaissancestil vgl. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel, Stuttgart 171984, 91, 137, 145, 271 f.
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seine theoretischen Werke und die Bilder seines Freundes Raphael Mengs begünstigt. Die Intensivierung des Studiums der Geschichte der Kunst und die Bildung des Kanons der fünf Künste – die Grundlage des zweiten und des dritten Teils von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik – reichen nicht aus, um den Zuwachs an ästhetischen Theorien um 1800 zu erklären, unseren sechsten Schritt. Zwei weitere Faktoren müssen in Betracht gezogen werden. Der erste ist die Kantische Revolution, die Ethik und Ästhetik gleichermaßen betrifft. Vor Kant war die Ethik wesentlich eine Lehre davon, wie man glücklich wird. Kants Ablehnung des Eudämonismus war durch verschiedene Ideen der Geistesgeschichte vorbereitet worden; nicht zuletzt spielten Vorstellungen, die im Genre der Tragödie impliziert waren, eine wichtige Rolle. In der Tat machte der ästhetische Begriff des Erhabenen, der auf eine anonyme, vom Heroismus des griechischen Epos und der Tragödie faszinierte Abhandlung (wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert n. Chr.)38 zurückgeht, nach einem Schlummer von anderthalb Jahrtausenden eine spektakuläre Karriere im 18. Jahrhundert.39 Lange vor der neuen Wendung in der Ethik hatte Kant 1764 seine Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen veröffentlicht, und es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass diese frühen ästhetischen Reflexionen seine Ethik beeinflussten. Mit einer gewissen Vereinfachung kann man sagen, Kants Ethik erkenne an, dass jeder Mensch die Fähigkeit hat, sich wie ein tragischer Held zu verhalten, nämlich die eigene Glückseligkeit einem Gesetz zu opfern, das seine normalen Neigungen transzendiert, aber aus seinem innersten Kern fließt. Diese neue ethische Theorie liegt Kants definitiver Theorie der Ästhetik in der dritten Kritik zugrunde.40 Denn die Anerkennung, dass das Sitten38 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, Griechisch und Deutsch von Reinhard Brandt, Darmstadt 1983. 39 Vgl. James Kirwan, Sublimity. The Non-Rational and the Irrational in the History of Aesthetics, New York, London 2005. 40 Der Triumph von Kants Ethik ist vielleicht eine Ursache für den schnellen Verfall des Erhabenen als ästhetischen Begriffs: Sobald dieser Begriff den entscheidenden Wandel in der Ethik ausgelöst hatte, verlor er an Relevanz. Andere, damit zusammenhängende Ursachen sind der Kollaps des aristokratischen Wertsystems und der Verlust der Transzendenz.
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gesetz in einem Akt der Selbstgesetzgebung gegründet sein muss, wird von der Autonomie widergespiegelt, die die letzte Kritik der Ästhetik zuschreibt: Das Urteil der Schönheit entspringe einem freien Spiel der intellektuellen Fähigkeiten Einbildungskraft und Verstand, die nicht mehr der Aufgabe verpflichtet sind, Wahrheiten wiederzugeben, die zu einer geistigen Ordnung gehören; daher ist Kants Ästhetik eine formale, und keine Gehaltsästhetik. Paradoxerweise verbindet aber die Autonomie der Kunst, die mit dem grundlegenden Begriff der Ethik, nämlich der Freiheit, verknüpft ist, die beiden Disziplinen. Gerade in der Analyse des Erhabenen spielen moralische Ideen eine wichtige Rolle, und im Zusammenhang seiner Diskussion des Genies spricht Kant in § 49 von ästhetischen Ideen, die Vernunftideen versinnlichen, wie etwa das Reich der Seligen, die Hölle, die Ewigkeit, die Schöpfung. Es ist besonders Schillers Verdienst, diese Gedanken weiter entwickelt zu haben und in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen der Kunst eine außerordentliche Stellung gewährt zu haben, indem er sie mit der Aufgabe betraute, zwischen der sinnlichen Natur der Menschheit und unserer Unterwerfung unter das Sittengesetz zu vermitteln. Diese Vermittlung könne nicht durch eine moralisierende Kunst erreicht werden; vielmehr setze sie voraus, dass der Kunst gestattet sei, die Autonomie des menschlichen Geistes zu fördern. Langfristig werde nur ein sich autonom entwickelnder ästhetischer Sinn unsere sinnliche Natur in Harmonie mit dem bringen, was das Sittengesetz, das auf die sinnliche Natur irreduzibel sei, vorschreibe. Der Spielcharakter der Kunst entwickle unseren moralischen Sinn mehr als rhetorisch vollkommene Ansprachen. Wie in meinen Bemerkungen zu Winckelmann bereits angedeutet, war vermutlich der entscheidende Faktor in der Evolution klassischer ästhetischer Theorien die Tatsache, dass die Kunst zunehmend die Religion als zentralen Sinnlieferanten ablöste. Mit dem Niedergang der spezifisch christlichen sakramentalen Vision der Wirklichkeit verstanden die Künstler sich selbst als Schöpfer neuer Sinnwelten, und der Ästhetiker wurde ihr Prophet. So entstand eine Fülle ästhetischer Theorien, die früheren Epochen unbekannt gewesen war. Die frühe Romantik entwickelt sogar die Idee, die Dichtung sei der Philosophie überlegen und die Philosophie müsse, um ernst genommen zu werden, selbst poetisch wer32
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den.41 Dieser Wechsel wurde durch einen tiefgehenden Wandel im Selbstverständnis des Künstlers und seiner Kunst erleichtert, der in exemplarischer Weise in der Musik in den drei Generationen zwischen Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven erfolgte.42 Die musikalischen Veränderungen wurden unvermeidlich widergespiegelt durch die Innovationen in der Musikästhetik, wie sie in Carl Dahlhaus’ meisterhaftem Buch über die Idee der absoluten Musik rekonstruiert worden sind.43 Auch wenn dieser Terminus überraschenderweise von Richard Wagner stammt, wurzelt er in der frühromantischen Idee, wonach Kunst im Allgemeinen, und eine nicht-mimetische Musik im Besonderen, einen Zugang zum Absoluten eröffnen kann, den die Religion nicht länger anzubieten vermag. In Nietzsches Die Geburt der Tragödie führt die Kunstreligion sogar zu einer ästhetischen Version der Theodizee: Die Wirklichkeit der Welt wird nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt.44 Hegels und Schopenhauers Philosophien sind einander auf der Begründungsebene diametral entgegengesetzt: Hegel möchte in den christlichen Dogmen philosophischen Sinn finden, während Schopenhauer sie leidenschaftlich verwirft; Hegel entwickelt die extremste Form des Rationalismus, während Schopenhauer mit der Jahrtausende alten Tradition der Verpflichtung auf die Vernunft bricht; daher gewährt Hegel den höchsten Rang unter den Künsten der Dichtung, als der begrifflichsten Kunst, während Schopenhauer die Musik wegen der Unbestimmtheit ihrer Bedeutung als höchste Kunst ansieht. Aber in einem Punkt konvergieren die beiden Gegner: in der außerordentlichen Stellung, die sie der Ästhe41 Siehe Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München 1967, 162, 259. 42 Diese Veränderungen beeinflussten auch die soziale und rechtliche Stellung von Künstlern, etwa im Urheberrecht. Vgl. Martha Woodmansee, The Author, Art, and the Market. Rereading the History of Aesthetics, New York 1994. 43 Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978. 44 Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York, München 1980, I 17, 47, 152. In seiner populären Storia della bellezza (Milano 2004) schreibt Umberto Eco ein Kapitel über die Religion der Schönheit, die er als Revolte gegen die Hässlichkeit der industriellen Revolution interpretiert (329 ff.). Der Ersatz der traditionellen Religion durch die Kunst geht in Deutschland dieser Revolution aber deutlich voraus.
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tik in ihrem System zuschreiben. Für Schopenhauer bildet die Ästhetik den dritten der vier Teile seines Systems; die künstlerische Erfahrung bietet den ersten, wenn auch nur flüchtigen Ausweg aus der Herrschaft des Willens durch die Betrachtung der Ideen, die den Phänomenen zugrunde liegen.45 Schopenhauer erkennt im moralischen Verhalten und der religiösen Entsagung zwei höhere Formen der Überwindung des Willens; daher ist Kunst, obgleich als kraftvolle Alternative zum Willen, dem Urgrund des Seins, konzipiert, nicht der Gipfel menschlicher Tätigkeit. Die Stellung der Kunst in Hegels System ist dagegen erhabener. Denn während Recht, Moralität und Sittlichkeit zum objektiven Geist gehören, ist die Kunst der erste Schritt der höchsten Form des Geistes, des absoluten Geistes, in dem der menschliche Geist sich mit dem Prinzip der Welt vereinigt, das Hegel «Idee» nennt. Religion und Philosophie sind zwar zwei höhere Formen des absoluten Geistes, aber die Kunst ist moralischem Verhalten und politischen Institutionen überlegen. Hegels metaphysischer Begriff der Kunst als des sinnlichen Scheinens der Idee setzt voraus, dass die Kunst in einer sinnlichen Form das Absolute auszudrücken sucht, dessen Natur nicht sinnlich ist, sondern eine organisch-begriffliche Struktur bildet. Wenn wir Kants und Hegels Zugänge – vermutlich die beiden einflussreichsten klassischen ästhetischen Theorien – vergleichen, fallen fünf Unterschiede sofort ins Auge: Erstens ist Hegels Ästhetik eine Philosophie der Kunst, die ihren Platz in der Philosophie des Geistes hat; das Naturschöne, das bei Kant eine wichtige Rolle spielt, wird von Hegel an den Rand gedrängt. Zweitens ist Hegels Ästhetik hauptsächlich Kunstwerkästhetik, während Kant sich auf den Rezeptionsprozess konzentriert, in dem nach ihm Schönheit erst konstituiert wird, und nebenbei einige Probleme der Produktionsästhetik anspricht. Drittens erklärt die Stellung der Kunstphilosophie innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes, warum Hegel eine Gehaltsästhetik verteidigt. Nicht, dass Hegel die Bedeutung der Form vernachlässigt; die Harmonie von Form und Gehalt ist eines seiner zentralen ästhetischen Kriterien. Aber Hegel be45 Vgl. den Beginn des 29. Kapitels des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung (Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, IV 431).
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harrt, in Übereinstimmung mit seinem Zeitgenossen Goethe, darauf, dass der Inhalt der Ausgangspunkt jedes legitimen Kunstwerks ist.46 So sieht Hegel eine Verbindung zwischen den generierenden Prinzipien eines Kunstwerks und den religiösen Hintergrundannahmen; das führt viertens zu einer Philosophie der Geschichte der Kunst, deren Fehlen bei Kant so offenkundig ist. Der Begriff des Erhabenen, bei Kant noch von gleichem Rang wie der Begriff des Schönen, wird von Hegel in ein Unterkapitel der Geschichte der Kunst verbannt. Fünftens bietet Hegel dank einer wenig überzeugenden Analogie zu den drei Kunstformen (der symbolischen, der klassischen und der romantischen) eine Rechtfertigung dessen, was das klassische System der fünf schönen Künste geworden war. Seine konkreten Interpretationen der griechischen Skulptur, der gotischen Architektur und des antiken und modernen Dramas sind großartig, dank seiner Fähigkeit, das, was phänomenologisch gegeben ist, begrifflich zu durchdringen. Mit großem Talent verfolgten Hegels Schüler die grundlegenden Ideen des Meisters in alle möglichen Details hinein; Karl Rosenkranz verfasste 1853 sogar das erste ausdrückliche Buch zur Ästhetik des Häßlichen. Hegels Einfluss auf die Geisteswissenschaften im Deutschland des 19. Jahrhunderts war enorm, und viele seiner Kategorien finden sich in der späteren Historie der Künste wieder. Was sind nun die Gründe dafür, dass seine Synthese kollabierte, und was sind die Hauptideen, die in der Geschichte der Ästhetik auf Hegel folgten und durch die der siebte und letzte Schritt vollzogen wurde? Die Auflösung des Begriffs des absoluten Geistes und der spezifisch deutsch-idealistischen Version der Ideen war sicher der wichtigste Faktor für den Verfall der idealistischen Ästhetik. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte einen hauptsächlich positivistischen Zugang zu den Künsten; und da kausale Verhältnisse nur im Produktions- und im Rezeptionsprozess anzutreffen sind, kann es schwerlich überraschen, dass die Kunstwerk ästhetik ihren Vorrang verliert. Aber so sehr auch die Erforschung der physiologischen, psychologischen und sozialen Bedingungen, die die Kunst hervorbringen und ihren Erfolg mitbestimmen, un46 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Mollen hauer und Karl Markus Michel, 20 Bde., Frankfurt 1969–1971, 11.213, 267, 14.242.
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ser Verständnis von Kunst vertieft hat, brauchen wir dennoch Kriterien, die uns erlauben, gute von schlechter Kunst zu unterscheiden. Es ist nicht klar, wie dies möglich ist ohne eine Theorie normativer Ansprüche hinsichtlich des Schönen, und normative Ansprüche sind notorisch schwer zu naturalisieren. Auch jene ästhetischen Theoretiker, die sich auf innere Eigenarten des Kunstwerks konzentriert haben, haben sich wegbewegt entweder von der Gehaltsästhetik oder wenigstens von der traditionellen Auffassung von Schönheit als Harmonie. Hinsichtlich des ersten Punktes ist der russische Formalismus ein ausgezeichnetes Beispiel. Roman Jakobsons meisterhafter Essay über «Linguistics and Poetics» von 196047 bleibt einer der gültigsten Beiträge zur Natur poetischer Sprache, die je verfasst wurden. Die Art und Weise, wie er die Natur poetischer Sprache aus einem der sechs Faktoren jedes Sprechaktes deduziert, seine These, dass «the poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination» (71), seine fortschreitende Analyse vom politischen Slogan «I like Ike» zu Antonius’ Bestattungsrede für Julius Caesar in Shakespeares gleichnamigem Drama, seine Erforschung der unterschiedlichen Formen des Versbaus, die sich in den verschiedenen Sprachen finden, der Oszillation zwischen Laut und Bedeutung, von Parallelismus und Wiederholung, von Ambiguität und Sprache innerhalb der Sprache sind schlicht großartig. Zweifellos hat Dichtung etwas zu tun mit der Freude an wiederholten phonetischen Strukturen, und diese Freude, die sich schon bei kleinen Kindern findet, ist eine anthropologische Konstante, die allen metaphysischen und religiösen Spekulationen vorausgeht. Aber es bleibt wahr, dass einige der größten Dichtungen in der Lage gewesen sind, diese formalen Strukturen dem Ausdruck einiger der tiefsten Einsichten dienstbar zu machen, und man entwertet die Dichtung, wenn man sie der Fähigkeit beraubt, letzte Fragen anzusprechen. Dichtung – und Kunst im Allgemeinen – hat Wurzeln, die dem vorausgehen, was Hegel absoluten Geist nennt, aber das bedeutet nicht, dass Kunst nicht zum absoluten Geist gehören kann. Ein analoger Kommentar kann hinsichtlich von Nelson 47 Language in Literature, hg. von Krystina Pomorska und Stephen Rudy, Cambridge Mass., London 1987, 62–94, 508–511.
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Goodmans Languages of Art vorgebracht werden.48 Während Jakobsons Essay in der allgemeinen Linguistik gründet, ist Goodmans Werk, wie der Untertitel erklärt, eine «Annäherung an eine Theorie der Symbole», und obzwar die bildenden Künste im Vordergrund stehen, wirft seine Theorie Licht auf alle Künste. Aber sosehr auch seine Studie wirklich neue Antworten auf allgemeine Fragen wie die nach Repräsentation, Exemplifikation, Authentizität und besonders auf das Problem der Notation von Kunstwerken gibt, sowenig behandelt er Wertfragen (XI, 109, 209, 261). Ohne sie fehlt aber der Ästhetik das, was ihren Kern ausmachen sollte: Es ist ebenso illusorisch, zu glauben, Ästhetik könne auf eine Theorie der Sprache oder der Symbole zurückgeführt werden, wie es hoffnungslos ist, Ethik durch Handlungstheorie ersetzen zu wollen.49 Man kann Theodor Adornos postum erschienenes Werk nicht einfach unter die formalen ästhetischen Theorien subsumieren, da es den Anspruch erhebt, dem Erbe sowohl Kants als auch Hegels verpflichtet zu sein.50 Zweifelsohne verwirft das Werk den Primat des Gehalts in Hegels Ästhetik als kunstfremd, aber Adornos Verteidigung des Kantischen Formalismus wird im Geiste Hegels vorgebracht. Wie Hegel behauptet Adorno, dass das Kunstwerk Wahrheit erfasst (526 f.).51 Auch das deutliche Bekenntnis zur Kunstwerkästhetik ist hegelsch. Doch Adorno geht über Hegel hinaus, indem er den Doppelcharakter des Kunstwerks lehrt, das sowohl in sozialen Fakten gegründet ist als auch eine ästhetische Autonomie ausdrückt (401). Und völlig unhegelsch ist Adornos Feindseligkeit gegenüber 48 Indianapolis 21976. 49 Ein analoger Einwand kann gegen die ansonsten nützlichen Versuche gemacht werden, eine mathematische Formel für ästhetischen Wert zu finden, wie bei George David Birkhoff, Aesthetic Measure, Cambridge, Mass. 1933 oder bei Max Bense, Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik, Baden-Baden 21982. 50 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt 21974, 524. 51 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960 verteidigt ebenfalls eine Verbindung zwischen dem Kunstwerk und der Wahrheit. Sein Misstrauen gegenüber der Metaphysik, die nach ihm die Grundlage der klassischen Ästhetik ist, teilt Adorno, der oberflächlich betrachtet zwar Heideggers Antipode zu sein scheint, aber ihm in Wahrheit nahekommt. Beide Denker verwerfen eine Selbstbegründung der Vernunft und eine positive Bewertung des Prozesses, der die moderne Wissenschaft und Technik hervorgebracht hat, auch wenn Adorno die Rhetorik des Ursprungs nicht schätzt (471, 480, 531).
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Geschichtliche Entwicklung ästhetischer Theorien
der Idee, dass Kunst in der Lage sein soll, eine Versöhnung anzubieten. Angesichts der Hoffnungslosigkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus und des ästhetischen Konsumismus, so lehrt Adorno, sind nur Dissonanz, Desintegration und die Weigerung, sich anzupassen, legitim (29, 66, 74, 93, 455). Man muss ernsthaft daran zweifeln, ob Adornos Theorie vormoderne Kunst zu erfassen vermag, aber man muss ihm zugestehen, dass seine Verteidigung der Dissonanz, zusammen mit dem Formalismus, der gegenwärtigen künstlerischen Produktion zu einem guten Teil Gerechtigkeit erweist.
Treibende Kräfte in der Entwicklung der Ästhetik Was sind die treibenden Kräfte hinter der Entwicklung, die ich gerade skizziert habe? Es ist nicht schwer zu sehen, dass die Entfaltung der Kunstphilosophie von der Entwicklung erstens der Kunst selbst, zweitens der nicht-philosophischen Disziplinen, die sich mit den Künsten befassen, wie zum Beispiel die Kunstgeschichte und die Kunstpsychologie, und drittens der Philosophie im engeren Sinne des Wortes beeinflusst ist. Um mit dem ersten zu beginnen, so reagiert die Ästhetik unvermeidlich auf die Kunst ihrer Zeit: Die Schaffung einer neuen Kunstform, nämlich des Films, hat zu einem neuen Gebiet der Ästhetik geführt. Hinsichtlich des Stils reichen ästhetische Theorien von bloßer Beschreibung bis zu normativen Bestimmungen. So besteht kaum ein Zweifel daran, dass zum Beispiel Adornos Ästhetik auf die Krise reagierte, die unter anderem die moderne Kunst erzeugt hat. Als ein Schüler Alban Bergs war Adorno in der modernen Musik wie wenig andere Philosophen ausgebildet, und das gibt seinen Analysen der Musik (manchmal auch der Literatur) eine seltene technische Präzision, auf die sich bekanntlich auch Thomas Mann stützte, als er den Doktor Faustus schrieb. Die Gefahr dieser Vertrautheit mit der modernen Kunst ist, deren paradigmatische Bedeutung für eine allgemeine Theorie der Künste entschieden zu überschätzen. Es ist vermutlich richtig, dass Dissonanz und Desintegration das Werk Arnold Schönbergs und Samuel Becketts charakterisieren, aber das bedeutet nicht, dass es auch wahr ist für Johann Sebastian Bach und Dante. Adornos ästhetische Theorie ist zu sehr von dem abhängig, was die Kunst gegenwärtig gerade tut, und mag dadurch die Chance eines möglichen Einflusses auf spä38
Treibende Kräfte in der Entwicklung der Ästhetik
tere Entwicklungen verpassen; trotz seiner Polemik gegen die Avantgarde ist er wesentlich weniger kritisch hinsichtlich der eigenen Zeit, als er zu sein beansprucht. Denn die ästhetischen Theorien der Vergangenheit haben durchaus nicht ausschließlich die gegenwärtige Kunst gespiegelt, sondern manchmal auch spätere Entwicklungen vorweggenommen. Ich sprach über den Einfluss der dionysischen Lichtmetaphysik auf die gotische Architektur. Das Beispiel Winckelmanns ist davon insofern zu unterscheiden, als seine ideale Kunst, obgleich sie eine schon existierende Kunst ist, doch eine Kunst der Vergangenheit, nämlich die Kunst der Griechen ist. Indem Winckelmann diese griechische Kunst unter veränderten Bedingungen wiederzubeleben vorschlug, beeinflusste er die weitere Entwicklung zum Neoklassizismus, etwa den Greek Revival: zweifelsohne ein innovativer Stil trotz seiner Rückkehr zu klassischen Modellen; denn allgemein scheint die Evolution der bildenden Künste eine spiralförmige Struktur aufzuweisen.52 Auch die Dichtung der deutschen Klassik kann schwerlich begriffen werden ohne Winckelmanns Neubewertung der griechischen Kunst, wie der Band beweist, den Goethe 1805 mit dem aufsehenerregenden Titel Winckelmann und sein Jahrhundert veröffentlichte. Das führt uns zum Einfluss der empirischen Erforschung der Künste auf die Ästhetik. Winckelmann beeinflusste nicht nur den Neoklassizismus, sondern auch die Entstehung der klassischen deutschen Ästhetik, die er zum Teil antizipierte, auch wenn er selbst kein ausgebildeter Philosoph war. Nach ihm, Herder und den Schlegels konnte der Ästhetiker nicht mehr provinziell sein und sich auf die Kunst der eigenen Zeit oder Kultur beschränken. Sicherlich hat die Vielfalt der Stile, die der moderne Ästhetiker betrachten muss, zu einem Niedergang des Glaubens an Kriterien geführt, nach denen gute von schlechter Kunst zu unterscheiden ist. Aber in Wahrheit ist die einzige Folgerung, die man aus den verschiedenen legitimen Stilen innerhalb einer einzelnen Kultur und der verschiedenen Kulturen insgesamt ziehen kann, nur die, dass die Kriterien allgemeiner geworden sind und die spezifischen Re52 Vgl. Ernst Buschor, Vom Sinn der griechischen Standbilder, Berlin 31978. Der Paral lelismus von antiker und moderner Kunstentwicklung geht auf Winckelmann und Wölfflin zurück.
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geln einer bestimmten Epoche keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Das Dogma von den drei Einheiten des Raums, der Zeit und der Handlung im klassischen französischen Drama gilt nicht für das elisabethanische Theater, dessen Größe auf der Hand liegt; daher kann es kein allgemeingültiges Prinzip sein. August Wilhelm Schlegel war fähig, sowohl in Sophokles als auch in Shakespeare, sowohl im Pantheon als auch in Westminster Abbey höchsten Wert zu erkennen, auch wenn sie sehr unterschiedliche Stile des Dramas und der Architektur repräsentieren. Aber er war keineswegs gewillt, allen Kunstwerken Größe zuzusprechen.53 Kognitive Inspiration dank des Zusammenwirkens unterschiedlicher Vermögen des Geistes, potentielle moralische Bedeutung,54 organische Einheit, Indirektheit der Mitteilung dank verschiedener Bedeutungsschichten, Verletzung von Regeln, die nur eine beschränkte Gültigkeit haben, durch die geschickte Fortsetzung einer künstlerischen Tradition scheinen die Kriterien zu sein, die für alle Künste und alle Epochen gelten, auch wenn sie nicht immer zusammen instanziiert sind. Es mag durchaus sein, dass die Kunstpsychologie einige konkretere Universalien finden wird, die den verschiedenen künstlerischen Manifestationen der einzelnen Kulturen zugrunde liegen, und dadurch die Resultate der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft teilweise korrigieren wird. Zweifelsohne haben die Kunstpsychologie und die Kunstsoziologie uns geholfen, den Produktions- und Rezeptionsprozess detaillierter zu verstehen; beide sind gleichermaßen faszinierend, weil in ihnen bewusste und unbewusste geistige Akte auf komplexe Weise zusammenwirken. Am relevantesten für die Entwicklung ästhetischer Theorien ist der allgemeine philosophische Hintergrund des Ästhetikers. Selbst in konkreten Kunstwerkinterpretationen entscheiden die Kategorien, die einem Philosophen zur Verfügung stehen, mit darüber, 53 Vgl. August Wilhelm von Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur, hg. von Eduard Böcking, 2 Bde., Leipzig 31846, I 11 f. 54 Die moralische Botschaft muss in einer indirekten Form vorgebracht werden, aber es bleibt wahr, dass ein explizites oder implizites Einverständnis mit dem, was moralisch schlecht ist, den ästhetischen Wert eines Werkes mindert, wie David Hume in Of the Standard of Taste betont (in Essays, Moral, Political, and Literary, hg. von Eugene F. Miller, Indianapolis 1987, 226–249, 246).
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was er in den Blick bekommen wird: Aristoteles’ Ethik erklärt, warum er unfähig ist, das Heroische der Hauptcharaktere in Sophokles’ Tragödien zu erkennen. Und natürlich trifft es noch mehr auf die grundlegenden Entscheidungen bei der Bildung einer ästhetischen Theorie zu, dass sie von Weichenstellungen auf metaphysischer, epistemologischer oder ethischer Ebene abhängen. Angesichts der sehr unterschiedlichen Erkenntnistheorien Kants und Hegels ist es nur folgerichtig, dass der erste eine formale, der zweite eine Gehaltsästhetik verteidigt: Denn nur Hegel glaubt an die Fähigkeit der autonomen Vernunft, a priori ein komplexes Gewebe von Inhalten zu erfassen. Hegels Theorie des Tragischen spiegelt zum Beispiel seine eigene Version der Dialektik. Adornos Ästhetik ist auf analoge Weise in seiner Negativen Dialektik gegründet, es gibt hier jedoch das Problem, dass dieses letztere Werk sich selbst mehr einem ästhetischen Geschmack für Desintegration verdankt, als durch strenge Argumente gerechtfertigt zu sein; angesichts von Adornos negativer Bewertung der Vernunft ist die Idee der Begründung wenig sinnvoll. Es gibt keinen Anlass zu glauben, dass die begründungstheoretische Unbestimmtheit, die im 20. Jahrhundert jene Philosophie charakterisiert, die sich am ernsthaftesten mit der Kunst auseinandersetzt, das letzte Wort in der Geschichte der Philosophie sein wird. Und daher sollte man sehr skeptisch sein hinsichtlich Ansprüchen wie dem, die Hässlichkeit habe Schönheit endgültig ersetzt oder nur formale Ästhetiken hätten in unserem Zeitalter eine Chance. Der Ersatz von Kunstwerkästhetiken durch Produktions- und Rezeptionsästhetiken im späten 19. Jahrhundert ist im 20. Jahrhundert von Adorno und Heidegger kraftvoll in Frage gestellt worden, und auch wenn der Aufstieg der Produktions- und Rezeptionsästhetik in einer Ära, die keine normative Instanz mehr anerkennt, nur folgerichtig ist, ist es in der Tat schwierig zu sehen, wie die Kunstwerkästhetik je ihren Vorrang verlieren könnte: Schließlich sind wir an den Details des Produktions- und Rezeptionsprozesses primär deswegen interessiert, weil das, was produziert und rezipiert wird, nämlich das Kunstwerk selbst, einen besonderen Status genießt. Es ist das Kunstwerk, das uns gestattet, Produktion und Rezeption zu bewerten. Ein Blick auf die Geschichte unserer Disziplin zeigt zudem, dass das Oszillieren der Ästhetik zwischen Theorie der Schönheit (einschließlich der 41
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Natur) und Theorie der Künste als menschlicher Schöpfungen nie zu einem definitiven Abschluss gekommen ist, und zwar trotz des starken Vorrangs in letzterer Richtung seit Hegel. Man könnte sagen, dass von den antiken Hochkulturen bis zum Mittelalter ein Aufstieg von einer Theorie der verschiedenen Künste zu einer Metaphysik der Schönheit stattfindet, dass die Renaissance die Kunsthandbücher wiederbelebt und der deutsche Idealismus das Studium der verschiedenen Künste und der Kunstgeschichte mit einer neuen metaphysischen Grundlegung der Schönheit in einer Theorie der Ideen verbindet. Aber bei Hegel geschieht dies um den Preis einer Verbannung der Schönheit aus der Natur. Doch teils hat die moderne Biologie den Sinn für Schönheit über die Menschen hinaus anerkannt; teils stützt eine theologische Interpretation der Welt als Kunstwerks eines göttlichen Schöpfers weiterhin die Auffassung, dass Schönheit mehr ist als ein menschliches Phänomen. Dennoch ist eine Tendenz in der Geschichte der Ästhetik offenkundig und irreversibel: die Tendenz zu zunehmender Abstraktion und Formalisierung, die den unausweichlichen Rahmen selbst für spezialisierte Forschung bietet. Zu Beginn haben wir Abhandlungen über die einzelnen Künste; die indische Theorie des rasa und die griechische Theorie der mimesis sind Schritte in Richtung einer allgemeineren Theorie (auch wenn «Nachahmung» nur geringe Teile dessen erfasst, worum es in der Kunst geht). In der frühen Neuzeit beginnen die Künste sich von den Handwerken und Wissenschaften zu emanzipieren und als Einheit begriffen zu werden. Die Grundlegung der Poetik in der Linguistik bei Jakobson und der Ästhetik in einer Theorie der Symbole bei Goodman sind weitere Schritte in Richtung einer Verallgemeinerung, nun sogar jenseits der Künste selbst. Sosehr auch diese verallgemeinernde Tendenz erhellend ist und wahren Fortschritt darstellt, sosehr läuft sie Gefahr, Züge zu beseitigen, die die spezifische Differenz der erforschten Gegenstände ausmachen. Wir haben gesehen, dass das Kunstwerk einen unauslöschlichen normativen Anspruch erhebt, und keine ästhetische Theorie, die diesen Anspruch verfehlt, kann als Fortschritt tout court in Bezug auf jene älteren Theorien angesehen werden, die sich dieser Frage stellen. Einer der Gründe, warum die Ästhetik des deutschen Idealismus ihre klassische Position bewahren konnte, ist, dass sie ein gründliches Interesse an den kon42
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kreten Künsten und ihrer Geschichte mit einer Metaphysik der Schönheit und einer Anerkennung der normativen Dimension der Kunst verbindet, die auf komplexe Weise mit menschlicher Autonomie zusammenhängt. Die Ästhetiker der Zukunft müssen von allen späteren Entwicklungen lernen, aber sie sind wohlberaten, sich nicht zu weit von dieser grundlegenden Einsicht zu entfernen.
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Poetische Poetiken in der Antike Horaz’ Ars poetica und Pseudo-Longinos’ Περὶ ὕψους Begriffseinteilungen sind manchmal haarsträubend willkürlich; manchmal dagegen erscheinen sie als zwingend. Warum? Sie sind sicher dann plausibler, wenn das Einteilungskriterium aus notwendigen Merkmalen des allgemeinen Begriffs entnommen wird, der unterteilt wird. Poetiken etwa sind Theorien der Dichtung, also ist das Verhältnis der poetischen Theorie zur Dichtung ein äußerst naheliegendes Einteilungskriterium. So gibt es Poetiken, die lehren, dass das Medium des Begriffs, in dem sich die poetische Theorie unvermeidlich selbst bewegt, der Anschauung, auf die der Dichter nicht verzichten kann, feindlich gesinnt sei; sie gehen daher von einer Entgegensetzung von Dichtung und Poetik aus. Giambattista Vico liefert in den Principj di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni ein klassisches Beispiel dieser Einstellung, aus der sich ergibt, dass alle Bemühungen der Poetiken den Dichtern nicht helfen, sondern nur schaden können und dass die unreflektierteste Dichtung, diejenige Homers, die beste sein muss: E per tutte le finora qui ragionate cose si rovescia tutto ciò che dell’origine della poesia si è detto prima da Platone, poi da Aristotile, infin a’ nostri Patrizi, Scaligeri, Castelvetri; ritruovatosi che per difetto d’umano raziocinio nacque la poesia tanto sublime che per filosofie le quali vennero appresso, per arti e poetiche e critiche, anzi per queste istesse non provenne altra pari nonché maggiore: ond’è il privilegio per lo qual Omero è ’l principe di tutti i sublimi poeti, che sono gli eroici, non meno per lo merito che per l’età.1 1 La Scienza nuova seconda giusta l’edizione del 1744 (= Opere, Bd. IV), hg. von Fausto Nicolini, Bari 41953.,Tlbd.1, 151 (= Absatz 384). In der deutschen Übersetzung von Christoph Jermann und mir lautet die Stelle: «Durch all das, was hier bisher gesagt wurde, wird alles umgestürzt, was über den Ursprung der Dichtung zunächst von Platon, dann von Aristoteles bis zu unseren Patrizi, Scaliger und Castelvetro geäußert worden ist; denn, so hat sich gezeigt, wegen des Mangels an menschlichem Denkvermögen entstand die Dichtung so erhaben, daß durch die Philosophien, die später kamen, durch die Poetiken und Kritiken, ja gerade wegen dieser, keine andere ebenbürtige, geschweige denn größere Dichtung hervorgebracht wurde; von daher rührt die Auszeichnung, aufgrund deren Homer der erste aller erhabenen, das heißt heroischen, Dichter ist, nicht weniger wegen seines Verdienstes als wegen seines Alters.» (Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 2 Bde., Hamburg 1990, II 177)
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Im deutschen Sprachraum kann Hegel mit seiner These vom Ende der Kunst2 dieser Gruppe ästhetischer Theorien zugeschlagen werden, allerdings mit Einschränkungen. Auch der Nietzsche der Geburt der Tragödie mit seiner Option für den irreflexiven Aischylos gehört in dieses Lager,3 das jedoch am reinsten Hegels weniger bekannte Zeitgenosse Carl Gustav Jochmann repräsentiert (der in seiner Abhandlung von 1828 zwar Herder, aber nie Vico zitiert). Je älter ein Volk, desto bedeutsamer seine Poesie, je älter seine Dichter, desto unerreichbarer ihre Werke. Ein einziger Blick auf die Gesänge der alten Welt und auf die geschriebene Dichterei der neueren Völker liefert uns den Beweis, daß die Schritte der letztern auf diesem Wege nichts weniger als Fortschritte waren, daß zu der eingelegten Arbeit unsrer geverselten Schriften ältere Fundgruben den Stoff hergaben, daß aus dem hohen Ernste der früheren Dichtkunst ein mehr oder minder offenbarer Spaß und aus dem Lehrer des Volkes der zeitvertreibende Gesellschafter einiger Leute von guter Erziehung geworden ist.4
Ihm entgegengesetzt ist das Lager, um das es hier geht: Nach ihm ist große Dichtung ein hochgradig reflexives Geschäft, und daher gelten Poetiken als etwas, das die Dichtung selbst beflügeln kann. Da jedoch die Wirkung des Poetologen auf andere Dichter oft lange auf sich warten lässt, ja, ungewiss ist, ist die Idee naheliegend, die poetologischen Überzeugungen in eigenen Dichtungen zu bewähren. Und in der Tat hat es einige Autoren gegeben, die sowohl als Dichter wie als Dichtungstheoretiker bedeutend waren – ich nenne nur Lessing und Schiller. Aber auch wenn man vielleicht in den Tragödien des späten Schiller Durchführungen des etwa in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen ausgearbeiteten Begriffs des Tragischen finden mag,5 ist doch der Essay selbst keine Tragödie. Dessen Reflexion inspiriert die Dichtung, aber er ist nicht selbstbezüglich, also reflexiv 2 Siehe dazu etwa die neuere Studie von Dae-Joong Kwon, Das Ende der Kunst. Analyse und Kritik der Voraussetzungen von Hegels These, Würzburg 2004. 3 Siehe meine Analyse der zum Teil implizit gelassenen Ästhetik der Geburt in: Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker, op. cit., 95 ff. 4 Die Rückschritte der Poesie, hg. von U. Kronauer, Hamburg 1982, 4. 5 Vgl. Ilse Graham, Schiller: A Master of the Tragic Form. His Theory in His Practice, Pittsburgh 1975. Siehe auch Hans Wagner, Aesthetik der Tragödie von Aristoteles bis Schiller, Würzburg 1987, der in dieser vorzüglichen Abhandlung, die zu Recht in Aristoteles und Schiller die beiden paradigmatischen Tragödientheoretiker sieht, allerdings
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im engeren Sinne des Wortes: Er spricht, anders als manche Gedankenlyrik Schillers, nirgends über sich selbst bzw. wendet nirgends seine Forderungen auf sich selbst an. Doch ist auch denkbar, dass der poetologische Text selbst Dichtung ist – gerade das Genre des Lehrgedichts ermöglicht es, dass die poetologischen Reflexionen selbst als Dichtung auftreten. Horaz’ Ars poetica, Boileaus L’Art Poétique und Popes An Essay on Criticism sind wohl die drei berühmtesten poetischen Poetiken der abendländischen Tradition. Nicht nur sind einige der zentralen Ideen des jeweiligen Werkes in der ganzen Schrift verwirklicht; manchmal sind sogar einzelne Verse direkte Instantiierungen dessen, was sie fordern. Man mag in jenem Fall von mittelbarer, in diesem von unmittelbarer Selbstinstantiierung sprechen. Beide Formen sind keineswegs auf Poetiken in Versform beschränkt; sie spielen etwa auch eine Rolle in der rhetorischen Tradition, die ich allerdings hier ausklammern werde. Doch da spätestens seit Aristoteles klar ist, dass Verse weder notwendige noch hinreichende Bedingung für Dichtung sind,6 kann es natürlich auch Poetiken in Prosa geben, die als Sprachkunstwerke ersten Ranges das exemplifizieren, was sie lehren. Aristoteles’ Poetik gehört schwerlich dazu, wohl aber die verstreuten poetologischen Anspielungen in den Platonischen Dialogen sowie, als eigene Schrift, die anonyme Abhandlung Περὶ ὕψους (Vom Erhabenen). In ganz anderer Weise sind auch Friedrich Schlegels Fragmente und das Gespräch über die Poesie sowie Theodor W. Adornos Äs thetische Theorie dank ihrer eigenwilligen Form ein Ausdruck des ästhetischen Programms, das sie entwerfen. Der Brennpunkt dieses Kapitels ist die Selbstinstantiierung bei Horaz und Pseudo-Longinos als antiken Beispielen; auf die modernen werde ich im nächsten Kapitel eingehen. Einleitend will ich den Begriff der Selbstinstantiierung philosophisch verorten und an einem klassischen Text Arthur Schopenhauers verdeutlichen. Soweit ich es überblicke, ist das Phänomen zwar immer wieder gestreift worden (u.a., m.W. erstmals, von Pope selbst), aber es ist nie erschöpfend behandelt, ja, in vielen Kommentaren ganz und gar ignoriert worden. Das ist der Grund, warum ich die Sekundärliteratur nur gelegentlich zitiere. darauf verweist, wie viel an der Maria Stuart sich nicht unter das Schiller’sche Schema subsumieren lässt (104 ff.). 6 Poetik 1447a28 ff., b17 ff.
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Das Problem der Selbstinstantiierung in der Ästhetik Bevor ich auf Selbstinstantiierungen in den genannten Werken eingehe (deren Fülle an sonstigen Einsichten ebenso wie an anderweitigen poetischen Qualitäten ich in diesem Aufsatz weitgehend ignorieren muss), ist es sinnvoll, die in Rede stehende ästhetische Reflexivität in einen größeren philosophischen Kontext zu rücken. Denn die Poetik ist keineswegs die einzige philosophische Disziplin, in der Reflexivität möglich, ja wünschenswert ist. Eine Erkenntnistheorie ist gut beraten, nicht nur über den epistemischen Status etwa wissenschaftlicher Aussagen zu reflektieren, sondern auch den ihrer eigenen, epistemologischen Äußerungen zu bedenken; eine Ethik ist unvollständig, die nicht erklärt, ob die Aktivität ethischer Reflexion selbst moralisch geboten oder wenigstens erlaubt ist; und eine großangelegte Geschichtsphilosophie sollte auch die Geschichte der Geschichtsphilosophie philosophisch erhellen. Zwar ist allein mit derartigen ‹Selbsteinholungen› eine Selbstbegründung nicht geleistet; denn es ist nicht auszuschließen, dass es vergleichbar erfolgreiche, aber ganz andersartige erkenntnistheoretische, ethische oder geschichtsphilosophische Theorien gibt. Doch immerhin zeigt eine derartige Theorie, dass sie wenigstens keine gefährliche Lücke aufweist, die das ganze Unternehmen in Frage stellen könnte. Im Falle der Ästhetik ist das Desiderat der Selbsteinholung keineswegs so dringlich, denn während der Erkenntnistheoretiker unweigerlich selbst epistemische Ansprüche erhebt und der Ethiker voraussetzen muss, dass seine Arbeit als Ethiker moralisch statthaft ist, braucht der Ästhetiker keinen Anspruch darauf zu erheben, selber ästhetisch ansprechend zu verfahren. Der Grund liegt offenbar darin, dass ästhetische Normen, anders als ethische und epistemologische, nicht kategorisch sind: Nicht alles, was man tut oder lehrt, steht unter Kunstvorbehalt. Und doch sind Selbstinstantiierungen in poetischen Poetiken aus drei unterschiedlichen Gründen äußerst faszinierend.7 7 Da die Poetik Sprachkunstwerke regelt, ist mit ‹Selbstinstantiierung› gemeint, dass der sprachliche Ausdruck eines ästhetischen Prinzips dieses Prinzip zur Geltung bringt. Es ist also, um genau zu sein, nicht das Prinzip, das sich selbst instantiiert, sondern seine sprachliche Gestalt, die es instantiiert – so wie ‹kurz› als kurzes Wort den Begriff des Kurzen instantiiert. Aber so wie man solche Wörter ‹autologisch›
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So gelingt erstens eine unmittelbare Veranschaulichung des abstrakten Begriffs. Zwar kann man auch so vorgehen, dass man, wie in vielen Handbüchern der Rhetorik, zunächst eine abstrakte Regel aufstellt und ihr dann ein Exempel folgen lässt. Aber es ist unvergleichlich eleganter, wenn das Exempel nicht äußerlich angehängt wird, sondern bei der Formulierung der Regel selbst zur Anwendung kommt. Das ist bei positiven wie bei negativen Regeln gleichermaßen möglich. So schreibt Schopenhauer in seinem meisterhaften Essay Über Schriftstellerei und Stil: Wenn es z.B. eine Impertinenz ist, Andere zu unterbrechen, so ist es nicht minder eine solche, sich selbst zu unterbrechen, wie es in einem Phrasenbau geschieht, den seit einigen Jahren alle schlechten, nachlässigen, eiligen, das liebe Brod vor Augen habenden Skribler auf jeder Seite sechs Mal anwenden und sich darin gefallen. Er besteht darin, daß – man soll, wo man kann, Regel und Beispiel zugleich geben – man eine Phrase zerbricht, um eine andere dazwischen zu leimen.8
Der zweite Satz ist deswegen meisterlich, weil der Einschub gleich doppelt reflexiv ist. Einerseits stellt er eine «Dazwischenleimung» einer Phrase dar, wie sie in dem Satz als Ganzem gerügt wird. Andererseits exemplifiziert er auf einer höheren Reflexionsebene genau das, was der Einschub, also er selbst, fordert: Er stellt eine Regel auf («man soll … Regel und Beispiel zugleich geben»), die er zugleich vorführt: Denn er veranschaulicht in seiner syntaktischen Eigenart die Regel, die davor warnt, eine Phrase zu zerbrechen. Was auf der ersten Betrachtungsebene als negatives Beispiel für schlechten Stil erschien, erweist sich auf der Metaebene als geniale Exemplifizierung einer positiven Regel. Bei einem so vorzüglichen und bewussten Stilisten wie Schopenhauer war es in der Tat kaum nennt (im Gegensatz zu heterologischen wie ‹lang›, deren Begriff zu der bekannten Grelling’schen Antinomie führt), mag man in unserem Fall von ‹Selbstinstantiierung› sprechen, sofern man sie nur von der reinen Selbstinstantiierung von Propositionen wie «Es gibt wahre Sätze» unterscheidet. – Manchmal ist es sogar nur die optische Schriftgestalt, die das instantiiert, was sie bedeutet: «When letters are in vulgar shapes, / ‘Tis ten to one the wit escapes: / But when in CAPITALS express’d, / The dullest reader smokes the jest.» (Jonathan Swift, On Poetry, V. 97 ff., in Major Works, hg. von Angus Ross und David Woolley, Oxford 2003, 535–548, 537) 8 Parerga und Paralipomena § 287, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, X 598 f.
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anders zu erwarten, als dass die scheinbare Stilwidrigkeit durch ein höheres stilistisches Prinzip gerechtfertigt war. Wenn am Ende des Absatzes Ausnahmen zu der gegebenen Regel zugelassen werden («In einzelnen, seltenen Fällen mag es zu entschuldigen seyn»), hat Schopenhauer sicher auch seine eigene Regelverletzung im Auge; dieser Satz ist also ebenfalls reflexiv zu lesen, zwar nicht in direkter Anwendung auf sich selbst, aber doch auf den Kontext, in dem er aufgestellt wird. Ja, schon der erste zitierte Satz bereitet das Thema der Reflexivität vor, indem er von der Unterbrechung anderer zur Unterbrechung der eigenen Gedanken schreitet, die beide negativ bewertet werden. Letztere ist einesteils das Thema des zweiten Satzes, andernteils fordert der Einschub Selbstinstantiierung und ist selbst eine solche, also reflexiv im höchsten Grad, und die Selbstunterbrechung, sosehr sie Schopenhauer auch vermieden haben möchte, ist gegenüber der Unterbrechung anderer immerhin eine reflexive Relation, also eine gewisse Annäherung an das im Einschub sowohl Geforderte als auch Geleistete.9 Aber Selbstinstantiierungen veranschaulichen nicht nur, was gemeint ist; sie beweisen, dass es sich bei den ästhetischen Regeln nicht nur um abstrakte Forderungen handelt. Auch in der Ethik genießt derjenige, der lebt, was er lehrt, ceteris paribus eine höhere Glaubwürdigkeit als derjenige, der es nicht tut. Auch wenn seine Ideen immer noch falsch sein können, zeigt er doch durch sein Beispiel, dass sie wenigstens erfüllbar sind. Das Gebot, performative Widersprüche zu vermeiden, gilt ja nicht nur für Erkenntnistheoretiker und Ethiker, sondern auch für Ästhetiker und Rhetoriker. Cicero etwa verspottet Hieronymus von Rhodos, der Isokrates’ besonderen Prosarhythmus in eben diesem Prosarhythmus kritisierte.10 Nochmals: Eine ästhetische Theorie braucht sich nicht um eine 9 Es versteht sich, dass meine Analyse nicht voraussetzt, Schopenhauer habe ein klares Bewusstsein der Logik seiner Sätze gehabt; denn jedes sprachliche Gebilde hat objektive Eigenschaften, die nicht notwendig als solche intendiert waren. Zwar hat Schopenhauer einige reflexive Witze durchaus gekannt, allerdings nicht ausreichend analysiert (vgl. die Anekdote zu Unzelmann, die ihre Pointe daraus bezieht, dass es sich um eine Improvisation zur ‹Improvisation› des Pferdes handelt: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 8, ed. cit., III 112). 10 Orator 56, 190. Isokrates selbst liebt es, performative Widersprüche in seinen Gegnern zu entdecken (Antidosis 14, 19).
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ästhetisch ansprechende Darstellung zu bemühen. Aber wenn der Theoretiker eine solche versucht, dann sollte er nicht den eigenen Forderungen zuwiderhandeln. Diese werden zwar dadurch noch nicht illegitim, aber er zeigt mit seiner eigenen Normverletzung, dass es naheliegend ist, sie zu übertreten, und er legt den Verdacht nahe, dass jene Normen vielleicht gar nicht erfüllbar sind. Wer dagegen seine eigenen Prinzipien befolgt, lädt leichter zur Nachahmung ein. Um zu Schopenhauers gerade erst zitierter Abhandlung zurückzukehren, so preist er zwei Paragraphen später die Verwendung von Gleichnissen. Nun gibt es bekanntlich keinen zweiten Philosophen, der so geschickt, anschaulich präzise und zugleich die abstrakte Erkenntnis fördernd Gleichnisse und Metaphern wie Schmuckstücke das Gewebe der eigenen Gedanken verzieren lässt, wie es Schopenhauer selbst tut, dessen Erkenntnistheorie die Anschauung vor dem Begriff begünstigt. Der Essay selbst bietet eine Fülle von Gleichnissen und Metaphern, ja, in dem entsprechenden Paragraphen lesen wir: «Eben weil Gleichnisse ein so mächtiger Hebel für die Erkenntniß sind, zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstande.»11 Das Wort «Hebel» wird in Bezug auf Gleichnisse natürlich metaphorisch gebraucht und belegt in der Tat, dass überraschende Gleichnisse treffend sein können: Denn so wie man mit Hilfe von Hebeln mühelos schwere Lasten heben kann, so können auch Gleichnisse uns dabei helfen, schwierige Einsichten leicht zu erwerben. Aber nicht nur dienen Selbstinstantiierungen der Veranschaulichung der eigenen Ideen und dem Nachweis, dass die eigenen ästhetischen Theorien in die Realität umgesetzt werden können. Ihr besonderer Reiz liegt drittens darin, dass sie zwei ästhetisch grundlegende Eigenschaften vereinen, die jedes Kunstwerk haben muss. Einerseits hat Kunst ganz offenbar mit der Versinnlichung geistiger Gehalte zu tun, und eben eine solche geschieht in einer Regel, deren sprachliche Formulierung zugleich ein Beispiel ihrer selbst ist. Denn diese bedeutet etwas Abstraktes, was sie in concreto zugleich selbst ist. Allgemeines und Konkretes sind auf diese Weise verschmolzen, während die Hinzufügung eines Beispiels nach der 11 Parerga und Paralipomena § 289, ed. cit., X 600.
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Aufstellung einer Regel ein wenig wirkt wie die Umkehrung jener Fabelerzählungen, bei denen am Ende ein fabula docet angehängt wird. Gleichzeitig ist großer Kunst die Indirektheit der Mitteilung wesentlich; und sicher haben Selbstinstantiierungen es an sich, dass man sie leicht überliest. Eben weil man auf das achtet, was sie sagen, vernachlässigt man nur zu leicht, was sie selbst sind. Ihre Unauffälligkeit ist gewiss einer der Gründe, warum sie in den meisten ästhetischen Theorien ignoriert werden (während in den Detailinterpretationen einschlägiger Texte immer wieder auf sie verwiesen wird, allerdings ohne einen Theoriehintergrund, wie er hier skizziert wird). Ein anderer Grund ist, dass seit der Entstehung der triadischen Gattungstheorie um 1800, also der Einteilung der Poesie in Epik, Lyrik und Dramatik,12 das Lehrgedicht seine ausgezeichnete Stellung verloren hat und daher die klassischen poetischen Poetiken, die zu diesem Genre gehören, weniger Interesse auf sich gezogen haben. Es lag nahe, im Namen der Genieästhetik über Regelästhetiken die Nase zu rümpfen; und als besonders albern galt es, wenn solche Poetiken selbst Kunstwerke zu sein prätendierten. Dabei wurde die poetische Raffinesse unterschätzt, die die größten unter ihnen erreicht haben – u.a. dank der intelligenten Verwendung der Selbstinstantiierung.
Horaz’ Ars poetica Ich schrieb erst, man wisse ‹spätestens› seit Aristoteles, dass Verse weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung von Dichtung seien. Denn m.E. geht diese Einsicht auf Platon zurück, der sie in ironischer Negation im Staat andeutet (393d8). Der Platonische 12 Dazu grundlegend Stefan Trappen, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 1998 (188 ff. zum Niedergang des Lehrgedichts). Historische Untersuchungen können freilich das sachliche Problem nicht lösen, ob eine Begriffseinteilung besser ist als eine andere. – Im 19. Jahrhundert wird das Lehrgedicht teils der Epik untergeordnet (wofür viel spricht), teils wird ihm sogar jeder Kunstwert abgesprochen (siehe etwa Hermann Baumgart, Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst [1887], Nachdruck Hildesheim, Zürich, New York 2003, 2 Bde., I 81 f.). Im 20. Jahrhundert hat Herbert Seidler, Die Dichtung. Wesen – Form – Dasein, Stuttgart 1959 die Irreduzibilität der Lehrdichtung und daher ein tetradisches Gattungssystem verteidigt (438 ff.).
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Sokrates beansprucht nämlich an anderen Stellen durchaus, dichterisch zu sein; also muss er sich im Staat lustig über jene machen, die meinen, die Versifikation sei es, die jemanden zum Dichter mache. Aber warum wird das nicht deutlicher mitgeteilt? Nun, weil das Verbergen einem bestimmten Dichtertypus gemäß ist, wie 393c11 ff. gesagt wird. Dass die Reflexivität der Stelle nicht unmittelbar auffällt, entspricht ihr genau – der Dichter Platon verbirgt sich eben selbst hinter dieser Stelle über Dichter, die sich verbergen.13 Mittelbar reflexiv ist auch Phaidros 264b f., wie schon die antiken Kommentatoren begriffen.14 Denn der Phaidros ist selbst ein organisches Ganzes, mit einem Vor- und einem Nachspiel (227a–230b, 278b–279c) und einer zentralen Episode (259b–d). Allerdings braucht man nur zu zählen, um festzustellen, dass der Zikadenmythos sich nicht genau in der Mitte befindet, um deren Einhaltung sich Platon in anderen Dialogen durchaus bemüht. In Wahrheit verbirgt sich hinter dem griechischen Text eine Anspielung auf den Goldenen Schnitt (ἄκρος καὶ μέσος λόγος), der die beiden Teile des Dialogs genau zerlegt.15 13 Ich fasse mich hier sehr kurz, weil ich auf meine Interpretation verweisen kann: Der philosophische Dialog, op. cit., 167 ff. 14 Vgl. Hermeias’ Kommentar zum Phaidros (Hermiae Alexandrini in Platonis Phaedrum scholia, hg. von Paul Couvreur, Paris 1901, 11) und Proklos’ Kommentar zum Parmenides (Procli Commentarium in Platonis Parmenidem, in Opera inedita, hg. von Victor Cousin, Paris 1864, 658 f.). 15 Vgl. meinen Aufsatz «Did the Greeks Deliberately Use the Golden Ratio in an Artwork? A Hermeneutical Reflection», in La Parola del Passato 63 (2008) 415–426. – Soweit ich sehe, ist diese Platonstelle die einzige in der ganzen Antike, die, wenn auch verdeckt, explizit auf den Goldenen Schnitt als ästhetisches Gliederungsprinzip Bezug nimmt, den man bekanntlich auch in anderen literarischen Werken (sowie Bauwerken, Skulpturen und Malereien) der Antike gefunden haben will. Von den für die hier vorliegenden Ausführungen einschlägigen Texten ist die Ars poetica so interpretiert worden, dass sie in zwei Teile zerfalle, deren zweiter in Vers 295 beginne, und daher nach dem Goldenen Schnitt geteilt sei (siehe z.B. George Eckel Duckworth, Structural Patterns and Proportions in Virgil’s Aeneid. A Study in Mathematical Composition, Ann Arbor 1962, 76 f., 109 f., 242 ff. zu diesem und auch anderen Werken Horazens; ihm folgen Jean G. Préaux in seiner Rezension zu Carl Becker, Das Spätwerk des Horaz, in Latomus 24 [1965] 673–674, 674, sowie Oswald Ashton Wentworth Dilke in seiner Besprechung desselben Buches in Gnomon 35 [1963], 579–588, 583). Da Phaidros 264b f. in V. 152 der Ars poetica weiterzuwirken scheint, ist es in der Tat möglich, dass Horaz Platons Gliederungsprinzip erkannt hat und ihm bewusst folgt. Immerhin ahmt ja auch Ciceros De oratore diesen Platonischen Dialog nach, und sehr wahrscheinlich hat Horaz den Ion in V. 100–105 und V. 309–316 der Ars poetica vor Augen gehabt (vgl. Hermann Funke, «Zur Ars
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In Aristoteles’ Poetik sind dagegen, zumindest im erhaltenen Zustand, keine reflexiven Stellen zu finden; die Schrift wird – anders vielleicht als der verlorene Dialog Über die Dichter – schwerlich poetische Ambitionen verfolgt haben.16 Dagegen ist Horaz’ Ars poetica (so will ich sie mit der Tradition nennen, obwohl der Titel nicht auf Horaz selbst zurückgeht) sowohl ein komplexer poetologischer Traktat als auch eine subtile Poetica des Horaz», in Hermes 104 [1976] 191–209, 195 ff.). Aber Vorsicht mit der These, Horaz habe den Goldenen Schnitt bewusst eingesetzt, ist aus drei Gründen geboten. Erstens enthält V. 152, anders als der Platonische Text, keineswegs eine Anspielung auf den Goldenen Schnitt. Zweitens konnte Platon bei seinen Schülern eine vollständige Vertrautheit mit dieser wohl als erste von den Griechen entdeckten irrationalen Größe voraussetzen; die ganze römische Kultur verfügte jedoch über keinen vergleichbaren mathematischen Hintergrund. (Immerhin mag man mit Näherungswerten wie unmittelbar aufeinanderfolgenden Fibonaccizahlen gearbeitet haben, auch ohne ein Bewusstsein von der irrationalen Natur des Schnittes.) Und drittens ist es nicht unumstritten, wie die Ars poetica zu gliedern ist (siehe den Überblick bei Ernst Doblhofer, Horaz in der Forschung nach 1957, Darmstadt 1992, 129–133). Auch wenn m.E. die Zäsur nach V. 294 die natürlichste ist – nach der «ars» (Kunst) wird der «artifex» (Künstler) thematisiert –, ist sie nicht in gleichem Maße evident wie die analoge im Phaidros. – Hat der Goldene Schnitt im Platonismus weitergewirkt? Dmitri Nikulin hat darauf hingewiesen, dass Plotins Enneade III 7 in 7.7 ihre inhaltliche Hauptzäsur hat und dort nach dem Goldenen Schnitt geteilt ist, allerdings mit dem kürzeren Teil an erster Stelle («Plotinus on Eternity», in Le Timée de Platon: Contributions à l’histoire de sa reception / Platos Timaios: Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte, hg. von Ada Neschke-Hentschke, Louvain, Paris 2000, 15–38, 16, Anm. 3). Doch handelt es sich um Zufall oder Absicht? 16 Die Rhetorik dagegen endet mit den Worten εἴρηκα, ἀκηκόατε, ἔχετε, κρίνατε (Ich habe gesprochen, ihr habt es gehört, ihr verfügt über die Fakten, urteilt) (1420a8). Das ist einerseits ein Zitat aus dem Schluss von Lysias’ Rede Gegen Eratosthenes (100), die Aristoteles als Beleg seiner These anführt, am Ende einer Rede seien Asyndeta passend. Aber er spricht, ähnlich wie Shakespeare am Ende von The Tempest, durch dieses Zitat indirekt selbst in erster Person – da auch er damit seine Vorlesung endet und sich wie ein Rhetor beifallsheischend an sein Publikum wendet. – Natürlich handelt es sich hier nicht um die Selbstinstantiierung einer allgemeinen Regel, sondern um die implizite Anwendung eines Zitats auf die eigene Situation (so wie 2. Samuel 12.7 um die explizite Anwendung einer fiktiven Geschichte auf den realen Zusammenhang, in dem sie vorgetragen wird). Es liegt somit eine andere Form von Reflexivität vor – denn dieser Begriff umfasst jede Form von Selbstbezugnahme, also keineswegs nur Selbstinstantiierungen. Doch eine vollständige Klassifikation der Formen reflexiver Strukturen in der Dichtung ist hier nicht beabsichtigt. Eine Analyse eines Beispiels von Reflexivität bei Goethe habe ich vorgelegt in «Erste und dritte Person bei Burchell und Goethe. Theorie und Performanz im zehnten Buch von Goethes ‹Dichtung und Wahrheit›», in Goethe-Jahrbuch 123 (2006) 115–134.
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poetische Leistung. Der rasche Verfall des Ansehens des Werkes, das bis zur Aufklärung kanonische Geltung genoss und früher ebenso überschätzt wurde, wie es heute von den meisten Ästhetikern unterschätzt wird, hat im wesentlichen drei Gründe gehabt.17 Erstens liegt Horaz jede Autonomieästhetik fern: Die Dichtung hat eine soziale Funktion (V. 400 ff.) und ist dem ‹wahren Leben› untergeordnet;18 ja, der Dichter wird sogar als Tempelwächter der Tugend bezeichnet.19 Der Verlust seelischer Gesundheit gilt als viel zu hoher Preis selbst für große Dichtung (V. 299 ff.). Zweitens ignoriert das Werk die unbewussten Anteile im dichterischen Schaffensprozess und beharrt zu stark auf dessen bewussten Momenten20 – im Namen einer Vernunft, die zwar keine normative Poetik verabschieden sollte, wenn sie wie Horaz Qualitätskriterien sucht und gute Dichter von aufdringlichen Scharlatanen unterscheiden 17 Symptomatisch lässt sich der Wandel an der Bewunderung Christoph Martin Wielands, der zwar den Briefcharakter der Ars poetica hervorhebt und davor warnt, in ihr ein Lehrbuch der Dichtkunst zu suchen, aber doch seine Hochschätzung des Werkes deutlich macht (Werke in zwölf Bänden, Bd. 9: Übersetzung des Horaz, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt 1986, 487–507), und dem kühlen Urteil des nicht einmal eine Generation jüngeren Goethe in Dichtung und Wahrheit deutlich machen: «Man wies uns zuletzt auf Horazens ‹Dichtkunst›; wir staunten einzelne Goldsprüche dieses unschätzbaren Werks mit Ehrfurcht an, wußten aber nicht im geringsten, was wir mit dem Ganzen machen, noch wie wir es nutzen sollten.» (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, München 1981, IX 262) 18 Vgl. Epistulae 2.2, V. 143 f.: «ac non verba sequi fidibus modulanda Latinis, / sed verae numerosque modosque ediscere vitae». Ich zitiere Horaz nach: Q. Horatii Flacci Opera, Vol. II, rec. D. Bo, Turin 1959. Von Wieland werden die Zeilen so übersetzt: «und, statt um die Worte, die zur röm’schen Leier / sich modulieren lassen, um den Rhythmus / und die Mensur der wahren Lebenskunst / sich zu bewerben.» Im Folgenden gebe ich bei längeren Textstellen Wielands klassische Übertragung an, auch wenn sie in Blankversen abgefasst ist und um der Verdeutlichung willen oft aus einem Vers mehrere macht. Die phonetischen Eigentümlichkeiten der lateinischen Verse gibt sie fast nie wieder. 19 Vgl. Epistulae 2.1, V. 229 ff. 20 Bezeichnend ist etwa die Abwertung von Träumen (V. 7), die den Romantikern eine wichtige Inspirationsquelle der Kunst waren. Doch kann man leicht entgegnen, erstens wende sich Horaz nur gegen die Träume Kranker («velut aegri somnia»), zweitens habe man damals noch nicht die verborgene Logik von Träumen erfasst. Denn Horaz’ Verwerfung der Träume hat mit deren Inkohärenz zu tun. – Natürlich weiß Horaz, dass Dichtung nicht auf Techniken reduzierbar ist: Die «ars» (Kunst) muss die «natura» (Natur) ergänzen (V. 408 ff.; vgl. V. 295 ff.).
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möchte, die aber dennoch nicht auf bewusste Vollzüge reduziert werden kann, wie besonders deutlich Schelling begriff. Drittens wurde der Ars poetica vorgehalten, dass sie Regeln wie die der fünf Akte und drei Personen für das Drama aufstellt (V. 189 ff.), von denen sich sowohl die Dichtung als auch die Poetik seit dem Sturm und Drang immer entschiedener lösten. Angesichts der Zeitgebundenheit derartiger Regeln, von denen Horaz viele von Neoptolemos von Parion übernahm,21 übersah man freilich oft, dass Horaz nicht allen seinen poetischen Vorschriften den gleichen Rang zuschreibt. Zweifelsohne hat für ihn das Bemühen um das, was man ästhetische Konsistenz nennen kann, die Stellung eines ersten Gebots der Poetik. Das gilt nicht nur, weil es gleich zu Anfang des Werkes aufgestellt wird (V. 1 ff.). Kein anderer Gedanke taucht so oft im Laufe des Briefes auf, der mit scheinbarer Nachlässigkeit seine Übergänge gestaltet (doch etwa vom Thema des Sprachwandels zu unserer eigenen Zeitlichkeit und Sterblichkeit verblüffend elegant überleitet, V. 60 ff.), kein anderer wird in so vielen Anwendungen durchgespielt. Sicher ist der organische Charakter des Kunstwerks, wie wir gesehen haben, schon von Platon und analog auch von Aristoteles hervorgehoben worden, aber kein erhaltener Autor hat vor Horaz so deutlich die innere Einheit des Kunstwerks gefordert. Dieses Gebot, und keineswegs die äußere Wirklichkeit,22 beschränkt die Freiheit des Künstlers 21 Wie stark auch immer man aufgrund der Angabe Porphyrios die Präsenz des Neoptolemos in der Ars poetica ansetzt, Horaz’ Polemik gegen das «servum pecus» der «imitatores», «das knechtische Vieh» der «Nachahmer» (Epistulae 1.19, V. 19) berechtigt zu der Annahme, Horaz habe etwas ganz Neues aus der Poetik seines Vorgängers gemacht. 22 Die Mimesistheorie spielt in der Ars poetica eine nur begrenzte Rolle; vgl. V. 318: «doctum imitatorem», «den gelehrten Nachahmer». Horaz’ Poetik bleibt aber eine Form der Gehaltsästhetik (V. 309), die einen moralischen Auftrag des Dichters lehrt (V. 312 ff.). Bloße Formspielereien – «versus inopes rerum nugaeque canorae» (V. 322; «schöne Verse, / an Schall und Wohlklang reich, an Sachen leer», bei Wieland V. 608 f.) – werden demgegenüber abgewertet. Horaz könnte damit vielleicht Ovid im Auge gehabt haben, den er dann aber unterschätzt hätte; denn dessen Vision der Wirklichkeit ist tiefer als die des Horaz, auch oder gerade weil ihr die heitere Lebensweisheit des Älteren abgeht. Nur Ovid, nicht Horaz hat den Abgrund des Autonomieverlustes ausgelotet, der in wirklicher Liebe erfolgt. Trotz seines Interesses am Psychopathologischen ist es Ovid, und nicht Horaz, der Vergils Sinn für das Tragische fortsetzt.
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(V. 9 ff.). Das Kunstwerk muss einfach und einheitlich sein (V. 23, V. 29); Anfang, Mitte und Ende müssen zusammenstimmen (V. 152). Ordnung (V. 42), Reihenfolge und Zusammenfügung (V. 242) sind entscheidende ästhetische Kategorien. Das Ganze genießt Priorität vor den Teilen, die aus jenem ihre Rechtfertigung erhalten (V. 19, V. 32 ff.). Man ist nicht an die Gestalten der Tradition gebunden, sondern kann neue schaffen – doch nur sofern sie in sich konsistent sind («convenientia», V. 119; «constet», V. 127). In der Charakterzeichnung ist etwa darauf zu achten, dass das Verhalten einer Person ihrem Alter (V. 176 ff.), ihre Redeweise ihrer so zialen Rolle entspricht (V. 236 ff.). Zu bestimmten Themen passen zwangsläufig bestimmte Stile und Metren (V. 86 ff.). Derartige Regeln sind allesamt Ausprägungen des ersten Gebotes – so wie auch die Kritik an Intermezzos des Chores in der Tragödie, die sich verselbständigt haben und weder zur Handlung beitragen noch auf angemessene Weise mit dem Ganzen zusammenhängen (V. 193 ff.).23 Bekanntlich hat gerade der Verherrlicher der «aurea me diocritas»24 (der goldenen Mitte), der auch in seiner Ars poetica immer wieder zwischen Extremen einen mittleren Weg vorschlägt,25 ein klares Bewusstsein davon gehabt, dass der Dichter sich zwar als Privatmann, aber eben nicht als Dichter mit bloßem Mittelmaß zufriedengeben kann: «mediocribus esse poetis / non homines, non di, non concessere columnae.» (V. 372 f.; «den mittelmäß’gen Dichter / schützen weder Götter, Menschen, noch / Verleger vor dem Untergang!» in Wielands Übertragung, V. 695 ff.) Diese anderthalb Verse mit ihrer Anapher, dem dreifachen «non», das sich von den Menschen zu den Göttern und schließlich zur unpersönlichen In23 Man denkt an Aristoteles’ Kritik an der Verwendung des Chores bei Euripides und Agathon (Poetik 1456a25 ff.). Doch obgleich auch die Passage Poetik 1450b26 ff. in der Ars poetica (V. 152) zitiert sein könnte, haben wir schon gesehen, dass – unter anderen – auch Platon dafür aufkommen kann. Ein zwingendes Argument für eine direkte Kenntnis der Aristotelischen Schrift seitens Horazens gibt es nicht. «I know no evidence of any first-hand knowledge of Aristotle’s Poetics in Horace’s time. No new evidence accrues from the Ars. But there are many internal indications to the contrary.» (Charles Oscar Brink, Horace on Poetry. Prolegomena to the Literary Epistles, Cambridge 1963, 140 f.) 24 Carmina 2.10, V. 5. 25 Vgl. V. 46 ff.
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stanz des Buchmarktes erhebt, dem Isokolon und der Alliteration der beiden letzten Worte, sind sicher nicht medioker. Sie bestätigen, dass es möglich ist, nicht mittelmäßig zu sein; sie instantiieren das entsprechende Verbot. In anderen Versen der Ars poetica beobachten wir dieselbe Kunst. Man denke an V. 97, wo die Verwendung von «sesquipedalia verba» («anderthalb Fuß lange Worte») durch zerlumpte tragische Gestalten, zu denen sie nicht passen, kritisiert wird. Nun, das Wort «sesquipedalia» ist selbst sogar noch mehr als sesquipedale, also anderthalb Fuß einnehmend; denn es besetzt zwei ganze Daktylen des Hexameters. Da das Wort auch allgemein ‹ellenlang› bedeuten kann, ist es selbst, was es bedeutet, also «autologisch» (siehe oben Anm. 7) und damit eine Selbstinstantiierung. Horaz begnügt sich nicht damit, auf ellenlange Wörter zu referieren – er verwendet selbst eines (und zwar geschickterweise das, das ‹ellenlang› bedeutet) und erzeugt damit eine direkte emotionale Wirkung auf den Leser, die einem kurzen Wort für ‹ellenlang› versagt wäre. Das rechtfertigt m.E. den scheinbar abrupten Wechsel des Textes, der nun von der emotionalen Wirkung der Dichtung zu reden beginnt, von der kunstwerkästhetischen in die rezeptionsästhetische Dimension abbiegt: «Non satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto / et quocumque volent animum auditoris agunto.» (V. 99 f.; «Ein Dichterwerk sei schön, sei fehlerfrei, / dies ist sehr viel, allein noch nicht genug; / um zu gefallen, sei es lieblich auch, / und stehle sich ins Herz des Hörers ein, / um, was der Dichter will, aus ihm zu machen» bei Wieland, V. 185 ff.) Die poetische Kraft, die Horaz’ assoziativen Sprung auslöst, kann schwerlich die jener lächerlichen tragischen Helden sein – es muss die seiner eigenen poetischen Poetik sein, wie sie durch die bewusste Verwendung ellenlanger Wörter für ‹ellenlang› erzeugt wird. In der ganzen Ars poetica gibt es nur drei Verse ohne Zäsur in der Mitte – V.87, V. 263 und V. 377. Es kann kein Zufall sein, dass sie allesamt von schlechten Dichtern handeln – sie lassen erklingen, was von solchen zu erwarten ist, sie sind das, worum es in ihnen geht. Zu dem Vers V. 263 «Non quivis videt immodulata poemata iudex» («Zwar freilich hat nicht jeder Richter Ohren / für übel modulierte Verse» bei Wieland, V. 500f.) hat schon Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hervorgehoben, dass «Horaz … in necki58
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scher Absicht einen solchen Nichtvers gebaut hat».26 Es ist gerade das Wort «immodulata», das eine angemessene Modulation des Verses verhindert. Umgekehrt wird eine gültige poetologische Regel ganz so, wie sie es selbst verlangt, formuliert: Das Gebot, kurz zu sein, kommt mit vier Wörtern und vier Metren (Daktylen bzw. Spondeen) aus: «Quidquid praecipies, esto brevis» (V. 335; «Lehrt er, so sei er kurz!» bei Wieland, V. 634) – denen allerdings dann eine etwas längere Begründung angehängt wird. Ein komplexerer Fall von Selbstinstantiierung liegt dort vor, wo das Ausgesagte metaphorisch gedeutet werden muss, um auf die sprachliche Form der Aussage angewendet werden zu können. Was macht die berühmte Versifikation eines griechischen Sprichworts «Parturient montes, nascetur ridiculus mus» (V. 139; «Es kreißte, wie die Fabel sagt, ein Berg, / und er gebar, zu großer Lustbarkeit / der Nachbarschaft, ein winzigkleines Mäuschen» bei Wieland, V. 262 ff.) poetisch so reizvoll? Offenbar dass er gewissermaßen das vorführt, was er besagt. Sicher will Horaz jenen Epiker kritisieren, der großmundig Dinge ankündigt, denen er nicht gerecht wird – aber eben ein solcher Widerspruch zwischen Beginn und Ende (der in V. 152 getadelt wird) kennzeichnet unseren Vers. Denn seine auffallendste Eigenschaft ist, dass er mit einem einsilbigen Substantiv endet, also mit etwas, das auf der sprachlichen Ebene ähnlich klein ist wie die Maus, auf die das Wort referiert. Von den vorangehenden Versen der Ars poetica enden nur zehn (V. 12, V. 40, V. 48, V. 52, V. 78, V. 89, V. 102, V. 131, V. 135), also weniger als acht Prozent, mit einem einsilbigen Wort, und dieses ist nur in zwei Fällen ein Substantiv wie «mus» (V. 40, V. 135). Doch Größe und Kleinheit sind relative Termini – mit einer Fliege verglichen ist eine Maus groß, aber es war ja ein Berg, der sie gebar. Diese begriffliche Relation wird auf der sprachlichen Ebene genau abgebildet: Denn der Vers enthält zwei viersilbige, ein dreisilbiges und ein zweisilbiges Wort neben «mus», das damit wirklich sehr klein wirkt. Der Vers führt das Verpuffen einer vollmundigen Ankündigung in seiner eigenen Lautgestalt vor – die sprachliche Form spiegelt den Inhalt.27 26 Griechische Verskunst, Berlin 1921, 9. 27 In seinem ausgezeichneten Kommentar geht Charles Oscar Brink überhaupt nicht auf diese so naheliegende Deutung ein, sondern verweist auf Vergil, Georgica 1.181,
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Angesichts dieser reflexiven Verse versteht es sich, dass Horaz das entscheidende Prinzip seiner Poetik, die ästhetische Kohärenz, in der Ars poetica selbst angestrebt haben muss – denn sonst wäre er wahrlich ein mittelmäßiger Dichter. Aber eben die Einheitlichkeit des Werkes ist angesichts seiner Sprunghaftigkeit oft bestritten worden. Doch zumindest im ersten Teil des Werkes ist, wie wir gesehen haben, bei allen mannigfachen Exkursen und Gedankensprüngen ein Thema dominant – dasjenige der ästhetischen Einheit. Und das heißt: Das Prinzip der ästhetischen Konsistenz ist das Band, das dem Werk Einheit schenkt. Als poetisches Werk hat die Ars poetica Kohärenz dank der Variationen des Hauptthemas – der poetologischen Forderung nach Kohärenz. Das erste Gebot der Ästhetik instantiiert sich selbst in dieser poetischen Poetik. Unstrittig streift das Werk auch noch manch anderes Thema, diese bleiben aber doch auf dasjenige großer und damit einheit licher Dichtung, wenn auch manchmal durch den Gegensatz, zurückbezogen. So wird im zweiten, mehr produktions- und rezeptionsästhetischen Teil zum Dichter und seinem Publikum die Kontrastfigur des Dichterlings eingeführt, der wir komische Effekte und eine Auflockerung des strengen Lehrgedichtcharakters schulden. Dass mit dieser satirischen Zeichnung das Werk endet, entspricht übrigens in vollkommener Symmetrie dem Anfang des Gedichtes, das ebenfalls mit einer Kontrastfigur beginnt – und zwar, angesichts der werkästhetischen Ausrichtung des ersten Teils, mit einem inkonsistenten Gemälde, womit das Kohärenzprinzip als nicht bloß poetologische, sondern allgemein ästhetische Norm aufgestellt wird und das «Ut pictura poesis» (V. 361; «Gedichte sind … den Malereien gleich» bei Wieland, V. 677) des zweiten Teils schon in den ersten Versen implizite vorausgesetzt wird. Was das Genre des Werkes angeht, so ist die Ars poetica nicht einfach ein Lehrgedicht wie Boileaus und Popes ungleich systematischere Schriften, sondern vielmehr eine Mischung aus LehrgeAeneis 8.83 und Servius’ Kommentar dazu, nach dem Monosyllaba am Ende eines Verses nur dann statthaft seien, wenn sie Tiere bezeichneten (Horace on Poetry. The ‹Ars Poetica›, Cambridge 1971, 215). Auch Boileau scheint den Grund der Schönheit des Verses nicht begriffen zu haben; denn seine Übertragung in L’Art Poétique ist, wie diejenige Wielands, nur semantisch, nicht phonetisch adäquat: «La montagne en travail enfante une souris.» (III 274)
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dicht und Versepistel.28 Gattungstheoretisch geht ihr Reflexivität ab, denn das Genre, das in ihrem Zentrum steht, ist das Drama, und zwar sowohl die Tragödie als auch das Satyrspiel (V. 179– 250).29 Auch der Brief an Augustus konzentriert sich wie die Aristotelische Poetik auf Epos und Drama, streift aber wenigstens die Lyrik.30 Doch die Ars poetica geht nicht auf diejenigen Genres ein, die sie selber darstellt. Nur die Kritik am kalten Empedokles am Ende (V. 464 f.) soll darauf hinweisen, dass Horaz bewusst eine andere Version des Lehrgedichtes vorgelegt hat als sein Vorläufer, dem Aristoteles sogar das Dichtertum absprach.31 Auch wenn die Ars poetica die Versepistel nicht erörtert, erkennt der Leser durch die Widmung an die Pisonen sofort, dass hier ein Brief vorliegt, und seine Vertrautheit mit den anderen Briefen des Horaz lässt ihn ein Abweichen von der strengen Systematizität des Lehrgedichtes erwarten. Wann genau Horaz die Ars poetica geschrieben hat, ist kontrovers geblieben, aber es besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass es ein Alterswerk, sehr wahrscheinlich aus seinem letzten Jahrzehnt ist. Indem Horaz den Plauderton der Sermones beibehielt, erreichte er vielleicht weniger Einheit, als man in einem Lehrgedicht erwartet , aber er bewahrte die Einheit der Schrift mit seinem sonstigen Œuvre. Er sprach ja nicht nur als Theoretiker über Dichtung, sondern als Dichter mit einer großen Vergangenheit, an der er gemessen zu werden hoffte. Wenn er in der Ars poetica bei Charakteren Kohärenz forderte, konnte er nicht vergessen, dass auch er, der Verfasser der Schrift, der in seiner Lyrik und in den Sermones sich selbst in mannigfachen Facetten zu erkennen gegeben hatte, inzwischen ein poetischer Charakter war, der seinem eigenen Wesen nicht untreu werden durfte. Die Spannung zwi28 Vgl. Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – «Longin». Eine Einführung, Darmstadt 21992, 126. 29 Diese Form von Irreflexität erklärt die Verse 304 ff.: Horaz hat nie Dramen geschrieben und hat nun auch seine Oden- und Epodendichtung abgeschlossen. Aber es wäre absurd, das «nil scribens ipse» («selber nichts schreibend») dahingehend zu deuten, Horaz sei sich des poetischen Wertes der Ars poetica nicht bewusst gewesen. Es handelt sich um ein offenkundig performativ widersprüchliches Understatement, das nur die irrsinnigsten Egomanen unter den Dichterlingen, gegen die er sich wendet, wörtlich verstanden haben können. 30 Epistulae II 1, 132 ff. 31 Poetik 1447b17 ff.
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schen der ästhetischen Kohärenz als durchgehendem Thema der Schrift und der Einheit des Œuvres ihres Dichters ist es, der wir das Schillernde und doch stets erneut in den Bann Schlagende der Ars poetica verdanken. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Manifestationen desselben Prinzips der ästhetischen Konsistenz, das viel flexibler ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Es ist wohl wirklich das erste Gebot einer jeden vernünftigen Ästhetik.32
Pseudo-Longinos’ Vom Erhabenen Zu zeigen, wie die Rezeption von Περὶ ὕψους (Vom Erhabenen) 33 die Geschichte der Poetik und allgemein der Ästhetik, ja, sogar der Ethik auf einschneidende Weise verändert und in eine neue Richtung gedrängt hat – denn ohne die Erfahrung des Erhabenen lässt sich die Wendung vom Eudämonismus zu einer Ethik der unbedingten Verpflichtung bei Kant nicht ausreichend erklären –, ist nicht Thema dieses Buches. Ebenso wenig kann es hier darum gehen, im einzelnen zu belegen, wie das Werk die strenge antike Unterscheidung zwischen Rhetorik und Poetik untergräbt (denn das Erhabene gibt es nach Pseudo-Longinos bei Homer, Pindar und Sophokles wie bei Thukydides, Platon und Demosthenes) und dadurch die Absorption der rhetorischen Tradition in die neue Wissenschaft der Literatur vorbereitet, die um 1800 entsteht und beide antike Disziplinen beerbt (während bis zum 18. Jahrhundert die Rhetorik aufgrund ihrer praktischen Bedeutung einen Vorrang vor
32 Manfred Fuhrmann hat mit Verweis auf die Rechtshistorie zu Recht hervorgehoben, dass die Erschließung der antiken Poetiken moderne Begriffe verwenden darf und nicht an deren eigenes Begriffsnetz gebunden ist («Komposition oder Schema? Zur Ars poetica des Horaz», in Horace. L’œuvre et les imitations. Un siècle d’interprétation, hg. von Walther Ludwig und Hermann Tränkle, Genève 1993, 171–198, 198). Dies ist in der Tat in der vorangegangenen Interpretation des Horaz geschehen; denn ‹Selbstinstantiierung› ist nicht sein eigener Begriff: Er beherrscht sie poetisch, aber thematisiert sie nicht poetologisch. Doch die Befriedigung bei der Beschäftigung mit einem klassischen Text ist größer, wenn man gleichzeitig feststellen kann, dass einige seiner Kategorien durchaus auch noch zwei Jahrtausende später Geltung beanspruchen können. 33 Ich zitiere nach: Dionysii vel Longini de sublimitate libellus, post Ottonem Iahn quartum edidit Ioannes Vahlen, Stuttgart 1967.
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der Poetik genoss).34 Zweifelsohne vertritt der Autor einen Klassizismus, den er etwa mit Dionysios von Halikarnassos teilt: Gegenüber den hellenistischen Autoren bevorzugt er die griechische Klassik (33.4 f.), auch wenn er, wie das Schlusskapitel deutlich zeigt (44), sich keinen Illusionen darüber hingibt, in der Gegenwart erhabene Literatur wieder aufblühen zu sehen. «So scheint die Schrift Vom Erhabenen mit dem Eingeständnis ihrer eigenen Ohnmacht zu enden. Sie hat sich indes durch diese Wendung, eine Art Aufhebung ihrer selbst, die Stelle angewiesen, die ihr innerhalb des antiken Klassizismus tatsächlich zukam. Denn sie war damals nicht so sehr, was sie ausdrücklich zu sein behauptet: eine Empfehlung für die literarische Produktion; sie war vielmehr zuallererst, was sich in ihrer rigorosen Rückwendung zu den Klassikern allenthalben bekundet: eine Anleitung zum Nachvollzug von vorhandenen, einer längst vergangenen Epoche entstammenden Literaturwerken.»35 Und doch ist Fuhrmanns Urteil einseitig. Sicher, der Autor blickt auf keine nachwachsende Generation erhabener Dichter und Schriftsteller – daher zitiert er die Klassiker. Aber deren Zitate üben zwei ganz unterschiedliche Funktionen aus. Einerseits handelt es sich um Texte, die bewundernd analysiert werden. Andererseits werden Klassikerstellen auch angeeignet – d.h. der Verfasser spricht durch sie in erster Person, etwa über Euripides mit Hilfe eines Ho merzitates (15.3 mit Bezug auf Ilias 20.170 f.) oder über Platons künstlerische Größe mittels eines Platonzitates (36.2 mit Bezug auf Phaidros 264c). Das deutet darauf hin, dass Pseudo-Longinos in der Gegenwart durchaus einen erhabenen Schriftsteller am Werke sieht – nämlich sich selbst. In der Tat beruht die neuzeitliche Wirkung der Schrift nicht nur auf ihren poetologischen Einsichten: Der Autor schreibt bewusst in einem Stil, der mit den Texten wetteifert, die er normativ auszeichnet. Zu Recht schreibt Pope in An Essay on Crit34 Das ist vereinbar mit des Verfassers Zuschreibung unterschiedlicher Ziele an Poetik und Rhetorik, nämlich ἔκπληξις (Verblüffung) und ἐνάργεια (Deutlichkeit) (15.2). 35 Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, op. cit., 202. Reinhard Brandt schreibt treffend: «Mimesis heißt: Schaffen aus eigener Natur – nach fremdem Vorbild. Die eigentümliche Dialektik, die hierin liegt, kennzeichnet das Werk im ganzen.» (Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, op. cit., 22)
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icism zu Longinos: «Whose own Example strengthens all his Laws, / And Is himself that great Sublime he draws.» (679 f.)36 Der anonyme Autor erklärt ausdrücklich, der Weg zum Erhabenen bestehe in der Nachahmung der großen Schriftsteller und Dichter, und fordert den Adressaten der Schrift, Postumius Terentianus, auf, sich zusammen mit ihm nachdrücklich um dieses Ziel zu bemühen (13.2). Man solle sich an den größten Autoren orientieren, ja, sich bei der Abfassung eigener Schriften fragen, wie Homer und Demosthenes auf deren Vortrag reagiert hätten. Ja, noch anspornender sei es, wenn man sich frage, wie die Nachwelt den eigenen Text aufnehmen werde (14.1 ff.). Es ist nahezu unmöglich, zumal den Schlusssatz des Kapitels nicht reflexiv zu lesen, in dem der Autor herabblickt auf diejenigen, die Angst haben, etwas zu äußern, was den eigenen Lebenskreis und die eigene Ära transzendiere, und deren Vorstellungen daher wie nicht zu Ende geformte Embryos37 keine Chance auf Nachwirkung hätten. Diese ist, wie vorher gesagt wurde (7.4), eines der Wesensmerkmale des Erhabenen. Nicht nur der gesuchte Wortschatz (ὑπερήμερον / sich selbst überlebend, ὑστηροφημίας / postumer Ruhm) und die gewagte Metaphorik, die hier wie auch sonst in der ganzen Schrift38 kunstvoll eingesetzt werden – zwei der drei Teile der γενναία φράσις, der vornehmen Diktion, die die vierte der fünf Quellen des Erhabenen ausmacht39 – weisen darauf hin, dass der 36 Kein Geringerer als Edward Gibbon hat diese Stelle aus Pope zitiert, um eine Passage aus Longinos zu kommentieren; er teilt also Popes Interpretation (The Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde., New York, London, Toronto 1993, I 67). Eine Rückübertragung auf die Politik findet statt, wenn es von Julian heißt: «that his own example might strengthen his laws …» (II 465). Gibbon identifiziert den Autor der Schrift irrtümlicherweise noch mit dem Philosophen des dritten Jahrhunderts nach Christus; dessen Kritik an den politischen Zuständen wird als Gibbons eigenem Liberalismus kongenial empfunden. 37 ἀτελῆ καὶ τυφλὰ ὥσπερ ἀμβλοῦσθαι (14.3). Das ὥσπερ (gleichsam) mit darauffolgendem Verb gibt dem Passus eine Zwischenstellung zwischen Metapher und Vergleich. 38 Ich nenne nur θεσμοθέτης, den Titel eines attischen Beamten (9.9). Winfried Bühler betrachtet diese « – fast preziöse – Übertragung des athenischen Amtstitels … auf Moses» als eine eigene Neuerung des Pseudo-Longinos (Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen, Göttingen 1964, 35). 39 8,1. Vgl. auch 1.3 zum Beitrag des Wortschatzes zum Erhabenen und 31 f. zu den Metaphern.
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Autor selbst erhaben zu schreiben beansprucht. Die fiktiven Fragen, die man sich selbst stellen solle, sind eine der im Text (18) behandelten Figuren, entspringen also der dritten Quelle. Insbesondere aber sind die beiden ersten Quellen, große Gedanken und Pathos, im Schlusssatz präsent: Er manifestiert jene μεγαλοφροσύνη, jene Geistesgröße, die serviler Kleinlichkeit entgegengesetzt wird (9.2 f.) und die der Ausgangspunkt der fast ganz verlorenen Behandlung der ersten Quelle war. Der anschließende Abschnitt über das Pathos schildert Aias, der das eigene Leben nicht achtet (9.10); und es fällt nicht schwer, in der Aufforderung, die eigene Zeit zu transzendieren, etwas Analoges zu erkennen. Der Verfasser will nicht nur andere dazu ermuntern, um des Nachruhms willen die eigenen Zeitgenossen nicht allzu ernst zu nehmen; seine Aufforderung ist ganz bewusst in jenem Stil abgefasst, der seines Erachtens am ehesten Nachruhm garantiert. Und er hat sich nicht geirrt. Vermutlich hätte es ihn überrascht, dass dieser erst im 16. Jahrhundert, also wahrscheinlich erst anderthalb Jahrtausende nach der Abfassung seines Werkes, einsetzte. Doch da er seitdem ununterbrochen angedauert hat, würde er in der langen Anlaufzeit wohl nur etwas erblicken, das zu seiner erhabenen Theorie des Erhabenen bestens passt. Gibt es andere Exemplifizierungen des Erhabenen? Unter den besprochenen Figuren spielt das Asyndeton eine wichtige Rolle (19 ff.), und Asyndeta charakterisieren immer wieder den Stil unseres Autors. Ich nenne nur οἶκτοι, λῦπαι, φόβοι («Mitleid, Trauer, Furcht», 8.2), τραύματα θεῶν, στάσεις, τιμωρίας, δάκρυα, δεσμά, πάθη («Verwundungen der Götter, Streitigkeiten, Rachemaßnahmen, Tränen, Fesseln, Leidenschaften», 9.7) oder τάς λέξεις, τὰς νοήσεις («die Ausdrücke, die Gedanken», 22.1) im Kapitel unmittelbar nach der Diskussion der Asyndeta.40 Dieses zweiundzwanzigste Kapitel gilt den Hyperbata, die der wahrste Ausdruck leidenschaftlichen Pathos seien (22.1) und den Eindruck erweckten, eine Rede sei nicht vorausgeplant, sondern werde gleichsam von der Situation erzwungen (22.2). Mehr noch als Herodot, aus dem die Rede des Phokaiers Dionysios (6.11) angeführt wird, sei Thukydides ein Meister des Hyperbaton. Dieser aber werde darin noch von 40 Andere Beispiele finden sich 30.1 und 34.4.
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Demosthenes übertroffen, dessen stilistische Eigenart in einer der längsten Perioden des Werkes (22.3 f.) der Verfasser nicht sosehr beschreibt als vorführt oder besser: in selbstinstantiierender Weise erörtert, indem, und zwar nach nur einem Relativsatz aus bloß drei Wörtern sowie einer Kaskade von sieben das Subjekt des Satzes qualifizierenden Partizipien und ebensoviel infiniten Verbformen, die einander fast regelmäßig alternieren, das finite Verb des Hauptsatzes als letztes Wort geäußert wird, wobei er, wenn er von Demosthenes schreibt, er reiße seine Zuhörer mit hinein in die Gefahren seiner langen Hyperbata und zwinge sie, dank der erregten Atmosphäre die Risiken mit dem Sprecher zu teilen, seinem Leser augenzwinkernd zu verstehen gibt, er setze sie demselben anstrengenden Genuss aus (der übrigens nicht in jeder Sprache wiederzugeben ist, etwa in dem an Hypotaxen so viel ärmeren Englischen selbst in der besten Übersetzung verpufft). Vermutlich sind diese Stelle und das analog mit dem gepriesenen Redner wetteifernde Lob des Demosthenes (34.4) die grandio sesten Beispiele für Selbstinstantiierung. Doch sind sie nicht die einzigen. Ich hoffe, der Leser werde nicht bezweifeln, dass es sich um ein bewusst eingesetztes Kunstmittel handle, wenn er sieht, wie der Verfasser den Wechsel der Person, zumal den Übergang zur direkten Anrede, erst an Stellen aus Homer (Ilias 15.697), Aratos (Phainomena 287) und Herodot (Historien 2.29) veranschaulicht und dann mit einem Verb in der zweiten Person Singular 41 und einem Vokativ fortfährt: «ὁρᾷς ὦ ἑταῖρε, ὡς παραλαβών σου τὴν ψυχὴν διὰ τῶν τόπων ἄγει τὴν ἀκοὴν ὄψιν ποιῶν;» / «Siehst du, Freund, wie er [sc. Herodot] deine Seele mitnimmt und durch die Gegenden führt, indem er Hören in Sehen verwandelt?» (26.2) Die letzten vier Worte entziehen sich freilich der Selbstinstantiierung. Denn der Autor will sagen, dass Herodot durch die direkte Anrede einen Veranschaulichungseffekt seiner Reisebeschreibung erreicht, der über das Hören hinausgeht: Denn man vergesse nicht, dass antike Leser sich ihren Text vorsprachen, also hörten. Anders als Herodot erreicht Pseudo-Longinos seine Wirkung, indem er im akustischen Medium verbleibt, jedoch die Anrede der zweiten Person nun in
41 So auch zweimal 22.3.
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erster statt in der dritten Person vorbringt: Er wechselt von der Personen- zur Autorensprache. Im dreißigsten Kapitel zur Wortwahl werden ganz bewusst gesuchte Vokabeln wie κατακηλεῖ (bezaubert), εὐπίνειαν (Patina) und γάνωσιν (Glanz aufgrund von Polierung) eingesetzt (30.1), und wenn es am Ende heißt, große und würdige Worte auf kleine Dinge anzuwenden, sei, wie wenn man einem schlichten Kind eine große tragische Maske umhänge, wird angesichts der Erlesenheit des eigenen Vokabulars unterstellt, der Gegenstand der eigenen Schrift sei bedeutend. Dieser ist sprachlicher Natur – es handelt sich um erhabene Dichtung, die großartige Gegenstände gestaltet, aber eben dadurch selbst erhaben wird. Da der Text nach einem Verweis auf Dichtung und Historie abbricht (denn nur sie kann mit dem Wort gemeint sein, von dem allein ein ἱ überliefert ist), können wir nicht wissen, ob der Autor auch die Literaturkritik eigens angeführt hat. Ich halte das für unwahrscheinlich, aber zweifelhaft kann es nicht sein, dass Erhabenes für ihn nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Literaturkritik erreicht werden kann. Doch wenn Selbstinstantiierungen vom Autor bewusst eingesetzt werden,42 warum spricht er dann nicht deutlicher darüber? Angesichts der vielen Lücken ist nicht auszuschließen, dass er das in dem vollständigen Text getan hat. Die Bedeutung der Entsprechung zwischen dargestelltem Inhalt und lautlicher Gestalt in Dichtung und Prosa ist ihm durchaus geläufig. So betont er mit Bezug auf Ilias 15.624 ff., bei der Darstellung schrecklicher Vorgänge habe Homer zu Recht «die Sprache entsprechend gefoltert» (τὸ ἔπος ὁμοίως ἐβασάνισεν) und «der Sprechweise die Eigenart der Gefahr eingeprägt» (ἐνετύπωσεν τῇ λέξει τοῦ κινδύνου τὸ ἰδίωμα) (10.6), oder Demosthenes habe in Gegen Meidias in seiner eigenen Redeweise gleichsam die Schläge ausgeteilt, die er beschreibt (20.2). Aber insofern es sich hier um Beschreibungen des Zusam42 Wir verstehen nicht genau, was bei der Besprechung des Euripidesfragments aus der Antiope gemeint ist (40.4); vermutlich geht es um den Zusammenstoß bestimmter Konsonanten, wie er vielleicht auch im kommentierenden Satz vorliegt. Im Kommentar zu ihrer Übersetzung der Stelle verweisen James A. Arieti und John M. Crossett auf selbstinstantiierende Verse Popes, ohne freilich diese Eigenart hervorzuheben und möglicherweise auch nur wahrzunehmen (Longinus, On the Sublime, New York, Toronto 1985, 206).
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menhangs von Form und Inhalt in anderen Texten handelt, liegt keine Selbstinstantiierung vor – wenigstens solange man nicht in der gewaltsamen Metapher «Sprachfolter» selbst eine Form von Sprachfolter erkennen möchte. Aber auch dann läge noch keine ausgearbeitete Theorie der Selbstinstantiierung vor. Der Hauptgrund, warum nur wenig dafür spricht, sie sei in den verlorenen Passagen zumindest angedeutet gewesen, ist der, dass eines der am häufigsten ausgesprochenen Prinzipien unseres Autors dasjenige ist, nach dem wahre Kunst im Verbergen der eigenen Kunstfertigkeit besteht.43 Dieses letztere Prinzip wird freilich gerade dadurch instantiiert, dass Longinos nirgends ausdrücklich auf seine Technik der Selbstinstantiierungen eingeht. Sein Schweigen dürfte Programm sein.
43 15.11, 17.1, 18.2, 22.1, 23.4, 38.3. Das Prinzip wird auch bei Horaz angedeutet (Epistulae 2.2, 124) und wird in Ciceros De oratore mehrfach ausgesprochen (2.35.148 f., 2.36.153, 2.37.156, 2.41.177, 2.50.203, 2.77.310, 3.50.193).
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Poetische Poetiken in der Neuzeit Boileau, Pope, Friedrich Schlegel und Adorno Der Ästhetiker blickt auf die Kunst mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge. Mit einem lachenden, weil er sich sagen kann, dass er die oft nur unbewusst ablaufenden Produktionsprozesse des Künstlers in die Bewusstseinshelle hebt und auf den Begriff bringt. Mit einem weinenden, weil er sich nicht verhehlen kann – gerade wenn er ein guter Ästhetiker ist, der die Macht der Kunst an sich erfahren hat –, dass ihm die besonderen Gestaltungsund Wirkungsmöglichkeiten versagt sind, die große Kunst kennzeichnen. Aber sind sie ihm wirklich stets versagt? Im Falle der Spezialästhetiken der bildenden Künste und der Musik ist in der Tat nicht zu sehen, wie der Ästhetiker mit der Kunst wetteifern kann, die er deutet: Denn das Material der Ästhetik ist nicht Bronze, Farbe oder Ton, sondern Sprache. Aber gerade deswegen gibt es eine Spezialästhetik, die in demselben Medium arbeitet wie die ihr zugeordnete Kunst – die Poetik. Die Mehrzahl der Poetiken unserer Tradition erhebt freilich keinen künstlerischen, speziell poetischen Anspruch. Weder Aristoteles’ Poetik noch die poetologischen Teile von Kants Kritik der Urteilskraft oder von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik sind selbst poetische Texte. Doch hat schon die Antike Texte hervorgebracht, die selber das zu instantiieren versuchen, was sie lehren. Insbesondere sind, wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe, Horaz’ Ars poetica und Pseudo-Longinos’ Schrift Vom Erhabenen zwei großartige poetische Poetiken, die eine in Versen, die andere in Prosa. Im ersten Fall ist es zwar ein Dichter, der sich zu poetologischer Reflexion erhebt, im zweiten ein Theoretiker, der das literarisch vorführt, was er fordert, aber bei beiden entsprechen Theorie und Performanz einander. Eine derartige Entsprechung ist nie hinreichend zum Beweis der Geltung der eigenen ästhetischen Normen. Aber sie zeigt, dass ihre Erfüllung möglich ist. Daher haben sich ganz unterschiedliche Poetiken einen literarischen Ausdruck gegeben, der ihren Ideen entspricht. Im Folgenden will ich die Poetiken von vier Autoren behandeln, die für drei unterschiedliche Epochen der neuzeitlichen Ästhetik stehen: Boileau und Pope für die französische und engli69
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sche Klassik, Friedrich Schlegel für die frühromantische Konzeption einer Autonomieästhetik, Adorno für die klassische Moderne. Den unterschiedlichen ästhetischen Ideen entsprechen unterschiedliche literarische Genres, in denen diese artikuliert werden. Da gemäß der älteren Vorstellung Poesie in Versen besteht, sind die poetischen Poetiken Boileaus und Popes Lehrgedichte wie bei Horaz. Schlegel dagegen bricht nicht nur mit den Inhalten der traditionellen Ästhetik, sondern auch mit ihren Formen: Er schreibt Aphorismen und einen Dialog. Während jene das Fragmentarische hervorheben, das im neuen Denken und in der neuen Kunst eine wichtige Rolle spielt, ist der Dialog eine uralte Form theoretischer Auseinandersetzung, von Plato, Cicero und Dryden schon zur Abhandlung ästhetischer Fragestellungen benutzt. Doch wird sich zeigen, wie atypisch und ‹romantisch› Schlegels besondere Gestaltungsweise des Dialogs ist. Adorno schließlich scheint zwar mit dem Traktat eine denkbar prosaische literarische Gattung gewählt zu haben, aber die formalen Abweichungen von diesem Genre sind gewollt und entsprechen der Aussage des Werkes. Dass die Ästhetische Theorie, die nicht nur, aber auch eine Theorie der Dichtung ist, selbst jenes Kunstverständnis ausdrückt, das sie theoretisch reflektiert, ist eines ihrer Erfolgsgeheimnisse. – Selbstredend geht es hier nicht darum, auch nur die wichtigsten Ideen der entsprechenden Poetiken zu erörtern. Ich konzentriere mich vielmehr auf die Fälle von Selbstinstantiierung, in denen eine Regel sowohl ausgesprochen als auch befolgt wird.
Nicolas Boileau-Despréaux’ L’Art Poétique Nicolas Boileau-Despréaux ist sowohl Herold als auch Vertreter der französischen Klassik.1 Von keinen anderen Poetiken ist er mehr beeinflusst worden als von der des Pseudo-Longinos, die er übersetzte,2 und zumal der des Horaz, mit dessen Werk in Hexametern sein ganzes Œuvre wetteifert. Am Ende des vierten Buches von 1 Die Herausbildung der ästhetischen Normen der französischen Klassik aus italienischen Vorläufern ist nachgezeichnet bei René Bray, La formation de la doctrine classique en France, Paris 1951. Boileaus theoretische Originalität ist gering, eindrucksvoll jedoch die Einkleidung jener Ideen. 2 Vgl. Jules Brody, Boileau and Longinus, Genève 1958.
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L’Art Poétique (1674) bekennt er sich zu seinem Vorbild (IV, V. 223 ff.).3 Man spürt jedoch bei diesen Versen, dass Boileau nicht dasselbe poetische Selbstbewusstsein hat wie sein römischer Vorgänger, von dessen Ars poetica er ein gutes Fünftel übernimmt. Wenn Horaz sich darin mit dem Schleifstein vergleicht, «acutum / reddere quae ferrum valet exsors ipsa secandi» (304 f.; «der selber zwar nicht schneidet, aber doch / das Eisen schneidend macht», Wieland, V. 581 f.), so ist das ein ironisches Understatement, das sich ein gealterter Dichter leisten konnte, der zwar keine Epen und Dramen verfasst, aber doch einige der besten Gedichte der Welt literatur vorgelegt hatte und sich dessen durchaus bewusst war. Boileau dagegen hatte nur Satiren aufzuweisen, und er wusste wohl, trotz seines «encor», dass ihm nicht nur die epische Trompete, sondern selbst die Leier versagt war. Der achte Brief an Ludwig XIV., einige Jahre später gedichtet, bekennt, dass seine Träume, ein Epos oder eine Ode zu verfassen, sich nicht verwirklichen ließen (Epîtres VIII, V. 1 ff.). Er bleibe bloßer Satiriker (V. 34 ff.) und höre, wenn er sich in anderen Genres versuche, den Leser ihm zurufen, er solle aufhören, denn Horaz habe hundert Talente gehabt; aber die geizige Natur habe ihm nur ein wenig bizarren Humor verliehen: «Arrestez: / Horace eut cent talens: mais la Nature avare / Ne vous a rien donné qu’un peu d’humeur bizarre.» (V. 100 ff.) Das elegische Gefühl, die poetische Inspiration der Jugend verloren zu haben, das den zehnten Brief «à mes vers», «an meine Verse», von 1694/95 eingegeben hat, ist, anders als bei Horaz, aufrichtig – auch wenn es dem Brief eine lyrische Intensität gibt, die vielen früheren Werken Boileaus abgeht. Aber schon in L’Art Poétique deuten die beiden Schlussverse darauf hin, dass der Autor sich selbst für kein poetisches Genie hält: «Censeur un peu fâcheux, mais souvent necessaire, / Plus enclin à blâmer, que sçavant à bien faire.» (IV, V. 235 f.; «Zwar bin ich als Kritiker ein wenig unangenehm, aber häufig notwendig, mehr geneigt zu tadeln, als fähig, es selbst gut zu ma3 Ich zitiere Boileaus Lehrgedicht (und seine Briefe) nach: Nicolas Boileau-Despréaux, Épîtres. Art Poétique. Lutrin, texte établi et présenté par Charles-H. Boudhord, Paris 3 1967. (Die beigefügte Übersetzung in Prosa stammt, mit einer einzigen Ausnahme, von Ute und Heinz Ludwig Arnold: Nicolas Boileau-Despréaux, L’Art Poétique / Die Dichtkunst, Stuttgart 1967.) Horaz’ Satiren werden in II, V. 151 ff. behandelt. Zur Bedeutung des Horazstudiums in seiner Entwicklung siehe Epîtres X, V. 101.
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chen») Umgekehrt freilich hebt er hervor, dass ein ausgezeichneter Dichter nicht notwendig über kritisches Urteil verfüge (IV, V. 82). Das legt die Vermutung nahe, dass sich bei Boileau die Einheit von Theorie und Dichtung in etwas geringerem Maße finden wird als bei seinen antiken Vorbildern: Denn eine solche Einheit setzt entweder, wie bei Horaz, den Rückblick auf eine bedeutende Dichterkarriere voraus oder aber, wie bei Pseudo-Longinos, den stolzen Wunsch, sich mit den Autoren zu messen, die er analysiert. Die geringere Reflexivität ist auch durch eine Eigenschaft bedingt, die L’Art Poétique mit der Ars poetica teilt – dass in ihrem Zentrum die ‹großen› Gattungen stehen, so im längsten dritten Buch das Drama und das Epos. Immerhin werden im zweiten Buch die kleineren Formen behandelt, hauptsächlich lyrische, aber auch die Satire – das Lehrgedicht freilich fehlt, obwohl es durch klassische Autoren wie Hesiod, Lukrez und Vergil hohes Prestige gewonnen hatte, ja, das Genre von Boileaus eigener Schrift ist. In seinem vorzüglichen Buch zu Boileau hat Gordon Pocock diese Abwesenheit teils mit der barocken Natur, teils mit der letztlichen Überflüssigkeit einer solchen Behandlung zu erklären versucht: «To write about the Didactic Poem in a didactic poem is to set up a baroque play-withina-play tension which is at odds with the aesthetic Boileau is propounding. Second, it would expose a sensitive and central issue, which Boileau found difficulty in handling. According to neoclassical doctrine, all poetry is didactic, or ought to be.»4 Dennoch bemüht sich Boileau darum, im Ganzen seines aus 1100 Alexandrinern bestehenden Lehrgedichtes selber jene Regeln zu befolgen, deren Einhaltung er auch von anderen fordert. Das ist früh empfunden und ausgesprochen worden; Voltaire dichtet über Boileau, «Qui, donnant le précepte et l’exemple à la fois, / Établit d’Apollon les rigoureuses lois» («der, indem er zugleich Vorschrift und Beispiel gibt, die strengen Gesetze Apolls befestigt»).5 Dichtung und Dichtungstheorie sind bei Boileau verwoben, so wie er auch in seiner Schilderung der Dichtung anderer immer wieder aus 4 Boileau and the Nature of Neo-Classicism, Cambridge 1980, 138 f. 5 Le Temple du Goût, Genève 1953, 141. Siehe auch John Orr, «Pour le commentaire linguistique de l’Art Poétique», in Essais d’étymologie et de philologie françaises, Paris 1963, 173–191, besonders 180 zu I, V. 105 f.: «où exemple et précept se confondent» («wo sich Beispiel und Vorschrift vermengen»).
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der kunstwerkimmanenten Ebene, also aus der durch das Dichtwerk konstituierten möglichen Welt, mit zauberhafter Wendigkeit in die wirkliche Welt, in der das Kunstwerk rezipiert wird, und wieder in jene zurückschlüpft, also das begeht, was ich «modale Promiskuität» nennen will.6 Er beklagt sich, dass Georges de Scudéry in seinem Alarich zu detailversessen bei der Beschreibung eines Palastes sei: «Je saute vingt feüillets pour en trouver la fin, / Et je me sauve à peine au travers du jardin.» (I, V. 57 f.; «Ich überschlage, um zum Ende zu kommen, zwanzig Seiten und rette mich schließlich mit Mühe quer durch den Park»)7 Oder er beschwert sich über einen pompösen Dichter, der in einer Ekloge die Trompete spiele, also einen Genrebruch begehe: «De peur de l’écoûter, Pan fuit dans les roseaux, / Et les Nymphes d’effroi se cachent sous les eaux.» (II, V. 15 f.; «Aus Furcht vor seinem Getöse flüchtet Pan ins Schilf, und die Nymphen verstecken sich erschreckt im Wasser») Das Verhalten des Dichters wirkt auf die mögliche Welt, die er konstruiert, und diese wiederum beeinflusst die Reaktionen des Rezipienten. Die meisten Selbstinstantiierungen der Schrift sind indirekter Natur, d.h. es sind, anders als bei Pope, selten einzelne Verse, die selbst das sind, was sie verlangen. Doch finden sich auch solche direkte Selbstinstantiierungen. Ein gutes Beispiel für letzteres sind I, V. 104 ff.: «Ayez pour la cadence une oreille severe. / Que toûjours dans vos vers, le sens coupant les mots, / Suspende l’hemistiche, en marque le repos.» («Richtet euer Augenmerk auf den Rhythmus: immer muss der Sinneinschnitt am Ende des Halbverses liegen und solcherart die Pause bezeichnen») Zweifelsohne stellen auch in diesen Versen die Halbverse Sinneinheiten dar; sie instantiieren die für Boileau im Allgemeinen typische Kadenz.8 Aber eben darauf kommt es an: Sie sind nicht die einzigen Instantiierungen der Regel, die vielmehr fast überall gewahrt wird. Dasselbe gilt für die unmittelbar folgenden Verse mit dem Hiatverbot (V. 107 f.) oder das Lob Malherbes, der das Enjambement abgeschafft habe: «Et le vers 6 In II, V. 154 f. liegt keine solche modale Promiskuität vor, da von dem Namen, und nicht dem Namensträger, gesagt wird, er passe in einen Vers. 7 Das wirkt weiter bei Pope, Essay on Criticism, V. 352 f.: «If Chrystal Streams with pleasing Murmurs creep, / The Reader’s threaten’d (not in vain) with Sleep.» 8 Allerdings weist Boudhord in seinen Anmerkungen (269) darauf hin, dass Boileau sich nicht stets an diese Regel hält: Vgl. Epîtres IX, V. 49–52.
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sur le vers n’osa plus enjamber.» (I, V. 138; «kein Vers wagte es mehr, in den ihm folgenden überzugreifen») Es wäre in der Tat eigenwillig, wenn eine solche Feststellung im Rahmen eines Enjambements erfolgte. Die meisten Verse stellen jedoch Regeln auf, die sich nicht auf die Abfassung einzelner Verse, sondern eines ganzen poetischen Werkes beziehen, und der Leser empfindet, während er sie liest, dass sie auch auf Boileaus Dichtkunst zutreffen: Auch diese vermeidet etwa die verpönte Obszönität.9 Sicher ist L’Art Poétique nicht so sprunghaft wie die Horazische Versepistel, aber sie vermeidet bewusst die ausdrücklichen Gliederungen und Ankündigungen dessen, was folgen wird, die manches Lehrgedicht so schwerfällig machen. Das Lob der Anmut Homers, die nicht gewollt wirke,10 ist auch ein verstecktes Selbstlob Boileaus: Sans garder dans ses vers un ordre methodique, Son sujet de soi-mesme et s’arrange et s’explique: Tout, sans faire d’apprests, s’y prépare aisément. Chaque vers, chaque mot court à l’évenement. Aimez donc ses écrits, mais d’une amour sincere: C’est avoir profité que de sçavoir s’y plaire. (III, V. 303 ff.)11
Dass der Selbstbezug gewollt ist – aber nicht ohne weiteres als gewollt erkennbar –, ergibt sich aus dem letzten Vers. Denn einerseits erinnert er an die berühmten Verse der Ars poetica «Aut prodesse volunt aut delectare poetae / Aut simul et iucunda et idonea dicere vitae» (V. 333 f.; «Des Dichters Zweck ist zu belust’gen, oder / zu unter 9 II, V. 171 ff. Die Stelle ist bemerkenswert, weil sie eine der wenigen ist, an denen Boileau ein Bewusstsein von geschichtlichem Wandel nicht nur der Dichtung und faktischer Sitten (III, V. 113 ff.), sondern auch legitimer ästhetischer Normen zeigt: Die Franzosen hätten auf diesem Gebiete eine andere Sensibilität als die Römer. Hier nähert sich Boileau, in der querelle Galionsfigur der anciens, den modernes. 10 Ganz ähnlich II, V. 72 zur Ode: «Chez elle un beau desordre est un effet de l’art.» («bei ihr ist eine schöne Unordnung eine Wirkung der Kunst») Dass die Unordnung kunstvoll ist, unterscheidet sie von schlechter Unordnung (II, V. 129). 11 «Wie von selbst, gleichsam ohne Ordnungsprinzip verläuft und entfaltet sich sein Stoff; alles ereignet sich ohne Schwerfälligkeit, ohne angestrengte Künstelei. Jeder Vers, jedes Wort ist unabdingbar mit der Entwicklung der Ereignisse verknüpft. Darum liebt seine Werke; bringt ihnen eine ernste und strenge Liebe entgegen: sich an ihnen zu erfreuen ist allein schon Gewinn.»
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richten, oder beides zu verbinden, / und unter einer angenehmen Hülle / uns Dinge, die im Leben brauchbar sind, zu sagen», bei Wieland V. 630 ff.), die von Boileau selbst variiert werden (IV, V. 87 f.). Andererseits stellt sich angesichts der dreigliedrigen Alternative bei Horaz die Frage: Wie kann der Genuss als solcher nützlich sein? Die Antwort kann nur lauten: Weil er einen befähigt, selbst Ähnliches hervorzubringen. Denn sosehr Boileau gleich in den Anfangsversen angeborene Begabung zu einer unerlässlichen Bedingung des Dichters erklärt, sosehr betont er wie Horaz, dass sie durch harte Arbeit ergänzt werden muss. Und zu dieser gehört das Studium der Klassiker: «Que leurs tendres écrits par les Graces dictez / Ne quittent point vos mains jour et nuit feüilletez.» (II, V. 27 f.; «Legt ihre Werke nie aus der Hand, blättert Tag und Nacht darin; denn die Grazien selbst haben ihnen ihre anmutigen Dichtungen eingegeben»)12 Wenige Zeilen nach dem in Rede stehenden Vers wird der «Poëte sans art», der «Dichter ohne Kunst», kritisiert, dessen Feuer bald erlischt, weil es nicht durch Verstand und Lektüre genährt wird (III, V. 319 f.). Boileau aber hat seinen Homer studiert; deswegen sind die Übergänge auch seines Lehrgedichtes so elegant: zur Komödie etwa über die komische Figur des sich für genial haltenden Dichterlings (III, V. 321 ff.). Diese Anmut ist der Nutzen, den er aus seinem Genuss Homers gezogen hat. Eine weitere Selbstinstantiierung ergibt sich, wenn Boileau den Dichter davor warnt, niedrige Begebenheiten zur Schau zu stellen (III, V. 260). Denn auch er deutet nur von weitem auf die Witzbolde vom Pont-neuf (I, V. 97) und auf die von ihm als vulgär empfundenen Momente in manchen Komödien Molières (III, V. 395 ff.), ja, der sprachgewaltigste französische Dichter, Rabelais, wird von ihm gar nicht erwähnt. Aber verwickelt er sich nicht in einen performativen Widerspruch, wenn er nach jener Warnung aus dem von ihm abgelehnten Idyll Moïse sauvé von Marc-Antoine de Girard, Sieur de
12 Vgl. Ars poetica V. 268 f.: «Vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna.» («Dies zu begreifen, Freunde, leset, leset / bei Tag und Nacht der Griechen Meisterstücke!», Wieland, V. 511 f.) Auch Boileau erkennt die Überlegenheit der griechischen Dichtung vor der lateinischen an (III, V. 79 f.). – Neben der Nachahmung der Klassiker lehrt Boileau eine Nachahmung der Natur (III, V. 359, V. 414).
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Saint-Amant, zitiert?13 Keineswegs, denn was bei diesem acht Verse sind,14 wird bei Boileau auf zwei konzentriert: «Peint le petit Enfant qui va, saute, revient, / Et joyeux à sa mère offre un caillou qu’il tient.» (III, V. 265 f.; «der ein Kind beschreibt, das geht, springt, sich umdreht und seiner Mutter glücklich einen Kiesel schenkt, den es in der Hand hält») Er macht auf diese Weise vor, wie man mit Unbedeutendem umzugehen hat, und erfüllt damit die Norm, die unmittelbar folgt: «Donnez à vostre ouvrage une juste étenduë.» (III, V. 268; «Gebt eurem Werk einen seinem Stoff angemessenen Umfang») Selbstinstantiierungen sind keine Selbstbegründungen. Die Tatsache, dass Boileau seinen eigenen Normen gemäß zu dichten vermag, beweist nicht, dass er in seinen ästhetischen Urteilen recht hat. Und seit dem großen Umbruch in der Ästhetik, der Ende des 18. Jahrhunderts erfolgt und die Idee der Weltliteratur hervorbringt, ist die Provinzialität dieses Höflings sprichwörtlich geworden, der weniger als Horaz zwischen zeitlosen und zeitgebun denen ästhetischen Normen zu unterscheiden vermag.15 Sein Beharren auf der Vernunft16 mag cartesisch klingen, aber in Wahrheit sind es erst der Sturm und Drang und die Frühromantik, die – so paradox es klingen mag – die cartesische Wende auf das Gebiet der Ästhetik übertragen, so wie sie Kant im Bereich der Ethik vollzogen hatte.17 Aber auch wenn es gute Gründe dafür gibt, dass der Sturz von Boileaus Poetik im 19. Jahrhundert noch jäher war als derjenige der Horazischen, sollten wir nachromantische Literaturwissenschaftler, die mit einer Fülle unterschiedlicher legitimer dichterischer Ausdrucksformen rechnen, anerkennen, dass eine solche Form die der französischen Klassik war, und uns an ihrem 13 Vgl. I, V. 21 ff. Dem Dichter wird mangelnde Selbsterkenntnis vorgeworfen (I, V. 20). 14 Vgl. Boudhords Anmerkung, in der das Original angeführt wird (291 f.). 15 Immerhin erkennt er die Notwendigkeit von Regelverletzungen an (IV, V. 77 ff.). Das für Horaz zentrale Kohärenzgebot findet sich jedoch bei ihm nur in reduzierter Form I, V. 176 ff. und III, V. 125 f. 16 I, V. 33 f., V. 37, V. 48, V. 147 ff.; II, V. 123 ff.; III, V. 122, V. 214, V. 407, V. 423; IV, V. 59 f., V. 71 f., V. 133. 17 Siehe schon Victor Delaporte, L’Art Poétique de Boileau commenté par Boileau et par ses contemporains, Lille 1888, Nachdruck Genève 1970, 105 zu den radikalen Unterschieden zwischen Descartes und Boileau. Nur Descartes will mit der Tradition brechen, Boileau setzt sie fort.
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ästhetischen Absolutheitsanspruch, der uns, anders als die Romantiker, nicht mehr bedroht, ebenso wenig stoßen wie an dem reli giösen Dantes.18 Pocock hat in seiner klugen Verteidigung Boileaus als Dichter und als Theoretiker das System an ästhetischen und geistigen Werten, das in L’Art Poétique wirkt, sowohl mit der Gegenreformation als auch dem Jansenismus in Verbindung gebracht und darauf hingewiesen, dass etwa Bossuets Vertrauen in eine Grundordnung der Welt ihn trotz aller Unterschiede paradoxerweise eher mit Voltaire verbindet als mit dem skeptischen Montai gne.19 Eine Kritik an Boileaus Ästhetik kommt kaum umhin, auf Rationalität Anspruch zu erheben, und daher sollte man eher die Grenzen von Boileaus Vernunftbegriff aufdecken als daran denken, sich von Vernunftmaßstäben bei der Bewertung von Kunst zu verabschieden. Der Vergleich von Boileaus ästhetischem Absolutheitsanspruch mit Dantes religiösem provoziert den Einwand, Dante nehme doch trotz seiner religiösen Grenzen einen höheren ästhetischen Rang ein. Das zu bestreiten liegt mir fern, auch wenn es nicht leicht ist, komparative Werturteile zu Epochen mit unterschiedlichen ästhetischen Normen zu rechtfertigen, wenn man den Glauben an einen einheitlichen normativen Horizont aufgegeben hat. Aber auch wenn kein Werk der französischen Klassik der Divina Commedia gleichkommt, heißt das nicht, dass das Convivio, das in Gedichte und deren Kommentare auseinanderfällt, eine bessere poetologische Schrift ist als L’Art Poétique. In der Verschränkung von Form und Inhalt hat Boileau Beachtliches geleistet, und dass er die Dichtung der Moral unterordnet (IV, V. 91 ff.) und einem esprit ohne cœur, einem Geist ohne Herz, keine poetische Kraft zutraut (IV, V. 109 f.), ist, wenn es denn eine Schranke ist, eine, die er mit Horaz und Dante teilt. 18 Es war die Abwehr des metaphysischen Wahrheitsanspruches Dantes, der in der Frühromantik seine ästhetische Entdeckung ermöglichte: Dante gilt Schlegel im Gespräch über die Poesie als Erfinder einer Art von Mythologie; er solle inspirieren zu einem philosophischen Lehrgedicht über den Spinozismus (Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], hg. und eingeleitet von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, 327). Man kann sich vorstellen, wie Dante auf derartige Urteile reagiert hätte. 19 Pocock, Boileau and the Nature of Neo-Classicism, op. cit., 134.
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Alexander Popes An Essay on Criticism Das, was man in der englischen Literaturhistorie Augustan Age nennt, liegt der heutigen literarischen Sensibilität nicht weniger fern als die französische Klassik. Popes Stern steht daher nicht höher als derjenige Boileaus, auch wenn der Essay on Man nach Lu krez’ De rerum natura wohl das beste philosophische Lehrgedicht ist, das je geschrieben wurde. Die das Werk kennzeichnende Verbindung von rationalistischem Deismus mit dem katholischen Sinn für Formen und Unterordnung unter das Ganze, die eigenwillige Kombination von metaphysischem Optimismus und psychologisch scharfsichtigem Wissen um die Gebrechlichkeit des Menschen haben keinen Geringeren als Kant begeistert: Außer Vergil und Horaz, die er als jemand, der selbst ein vorzügliches Latein schrieb, besonders liebte, zitiert er keinen Dichter so häufig wie Pope (in Brockes’ Übersetzung), öfter noch als Albrecht von Haller.20 Aber es ist Popes anderes Lehrgedicht, um das es hier geht, An Essay on Criticism von 1711. Pope war bekanntlich noch nicht 23, als er es veröffentlichte, und er hatte schon als Teenager an ihm zu arbeiten begonnen. Dennoch verblüffen die 744 gereimten jambischen Fünftakter,21 also die 372 heroic couplets des Essay, durch die enorme Reife und Reflexivität. Ein Pedant könnte sogar bestreiten, das Werk sei eine poetische Poetik. Denn während Poetiken die Metaebene zur Dichtung einnehmen, besteigt Popes Essay die Metaebene zu den Poetiken: Der Titel kündigt einen Versuch über die Literaturkritik an. Die Kontrastfigur ist daher nicht sosehr der Dichterling (V. 600–609) als der Kritikaster (V. 610–630), und der geschichtliche Abriss am Ende (V. 643 ff.) behandelt nicht wie Ho20 Meine Aussage basiert auf dem Register der Ausgabe von Weischedel, die einige kleinere naturwissenschaftliche Aufsätze Kants nicht aufgenommen hat. In Kants «Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels» sind nicht nur die Mottos zu den drei Teilen Pope entnommen; er wird auch A 121, 188, 196, also insgesamt sechsmal zitiert. – Im zwanzigsten Jahrhundert hat Thomas S. Eliot den Stil der englischen Sprache in Pope zur höchsten Vollkommenheit reifen sehen (What is a Classic?, in Selected Prose, ed. by Frank Kermode, London 1975, 115–131, 119). 21 Ich vermeide den im Englischen üblichen Terminus «pentameter», da es in der griechischen Metrik bekanntlich zwei Jamben sind, die ein Metrum ausmachen, und sich daher im Deutschen, wenn auch von antiken Autoren die Rede ist, Verwechslungen ergeben können.
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raz oder Boileau die Geschichte der Dichtung, sondern die der Literaturkritik. In ihm finden wir, neben anderen, Horaz, dem das Motto entnommen ist, (Pseudo-)Longinos und Boileau.22 Ja, Pope behandelt, soweit ich sehe als erster Literaturkritiker, das Phänomen der Selbstinstantiierung: Thee, bold Longinus! all the Nine inspire, And bless their Critick with a Poet’s Fire. An Ardent Judge, who Zealous in his Trust, With Warmth gives Sentence, yet is always Just; Whose own Example strengthens all his Laws, And Is himself that great Sublime he draws. (V. 675 ff.)23
Das Erhebende an den Versen besteht nicht einfach in der literaturwissenschaftlichen Großtat, ein Prinzip, das seit mehr als zweitausend Jahren, von den wenigsten Lesern verstanden, in der abendländischen Poetik am Werk war, deutlich ausgesprochen und auf den Begriff gebracht zu haben: Pope hätte es nicht wirklich begriffen, wenn er nicht selbst jenes Erhabene instantiiert hätte, das er in Longinos ausgesprochen und manifestiert fand. Denn wahrhaft begreifen kann man das Gute nur, das man sich zu eigen macht – was jene trockenen gelehrten Kommentatoren gar nicht versuchen, die Pope den Motten vergleicht (V. 112 f.). Schon Longinos deutet den Wechsel zur zweiten Person als Mittel des Erhabenen und setzt es gleichzeitig selbst ein, wo er es behandelt (26.2). Ganz analog un22 Pope las Boileau in der von Dryden revidierten Übersetzung von William Soames. Viele Verse Boileaus wirken bei ihm weiter, etwa I, V. 13 f. und V. 37 f. in V. 52 f. und V. 72 f. des Essay. Eine erschöpfende Liste der Parallelstellen findet sich bei Émile Audra, L’influence française dans l’œuvre de Pope, Paris 1931, 209 ff. Der zeitliche Abstand zwischen Horaz’ und Pseudo-Longinos’ Poetiken ist vermutlich nicht viel größer als derjenige zwischen den Poetiken Boileaus und Popes. – Die Gegenwart des Petronius unter den großen Kritikern (V. 667 f.) hat viele verblüfft. Sie ist überzeugend begründet bei Edward H. Kelly, «Pope and Petronius: A Corrective», in Comparative Literature 31 (1979) 24–31. 23 Ich zitiere Popes Lehrgedicht nach: A. Pope, Pastoral Poetry and An Essay on Criticism, ed. by Émile Audra and Aubrey Williams, London, New Haven 1961. – Ganz analog heißt es zu Horaz: «His Precepts teach but what his Works inspire.» (V. 660) Doch ist die Stelle nicht so deutlich, weil die Ars poetica nicht explizit unter die «Works» subsumiert wird. – Um Selbstanwendung, nicht um Selbstinstantiierung handelt es sich, wenn Quintilian mit Metaphern gepriesen wird (V. 671 ff.), die aus der Institutio oratoria (2.1.12, 7.10.14) stammen.
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terbricht auch Pope hier die Berichterstattung über die Geschichte der Literaturkritik und redet mit Wärme direkt jenen Mann an, der nicht mehr kühl wie Horaz urteile, der nur als Dichter mit Feuer sang (V. 659), sondern der auch als Kritiker poetische Leidenschaft offenbare. Dabei sei er gerecht, weil er das Gesetz lebe, das er erlasse – so wie Pope gerecht ist, der diesen Aufschwung seiner Leidenschaft nur jenem Kritiker zuteil werden lässt, der in Theorie und Performanz einen Sinn für das Erhabene hatte.24 Damit ist der Skrupel jenes Mäklers erledigt. Popes Essay on Crit icism ist eine poetische Poetik, weil es selbst Dichtung ist, weil man über Literaturkritik gar nicht reden kann, ohne auch auf deren Gegenstand, die Dichtung, einzugehen, an der sich Kritiker und Dichter schulen (V. 124 ff.), und weil zahlreiche der von Pope besprochenen Poetiken selbst poetischer Natur waren, wenn auch, wie bei Pseudo-Longinos, in Prosa abgefasst. Die Ehre des «thou» wird in dem historischen Abriss nur ihm zuteil, aber die zweite und letzte Apostrophe gilt dem Renaissancedichter Marco Girolamo Vida, dessen Ars poetica in Versen gedichtet war. «Immortal Vida! on whose honour’d Brow / The Poet’s Bays and Critick’s Ivy grow: / Cremona now shall ever boast thy Name …» (V. 705 ff.) Audra und Williams schreiben in ihren Anmerkungen zum zweiten Vers: «Pope seems to have been the first to crown a critic with ivy …» (V. 320). Das entspricht seiner am Anfang ausgesprochenen Auffassung, dass schlechte Kritik gefährlicher und weiter verbreitet sei als schlechte Poesie, dass guter Geschmack bei Kritikern ebenso selten sei wie Genie bei Dichtern, ja, dass die beste Literaturkritik unvermeidlich von guten Dichtern kommen müsse (V. 1 ff.), weil kompensatorische Kritik, die aus Ressentiment wegen des eigenen dichterischen Unvermögens entspringt, selten zu bewundern sei (V. 30 f., V. 36 f., V. 105 ff.). Zwar betont Pope, jeder müsse sich begrenzen, da unterschiedliche Disziplinen verschiedene Talente erforderten (V. 52 ff.), doch offenbar hält er Poesie und Kritik für vereinbar. Der Essay ist erstrangige Dichtung, Poetik und Theorie der Poetik zur gleichen Zeit, ja, dank seiner Reflexionshöhe hat er die Möglichkeiten der Gattung «poetisches Lehrgedicht» künstlerisch fast erschöpft. Ein 24 Man kontrastiere die bekannten Verse 255 ff. in Jonathan Swifts On Poetry (Major Works, hg. von Angus Ross und David Woolley, Oxford 2003, 541 f.).
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radikaler Neubeginn in der Ästhetik war erforderlich, um neue Formen literarischer Literaturkritik hervorzubringen. Sicher ist der Essay in den Werten der Aufklärung gegründet: Selbsterkenntnis ist das erste Gebot (V. 48, V. 213 f.), die Urteilskraft muss die Erfindungsgabe kontrollieren (V. 80 ff.), die Literaturkritik will zu einer Bewunderung erziehen, die den Maßstäben der Vernunft Genüge leistet: «The gen’rous Critick fanned the Poet’s Fire, / And taught the World, with Reason to Admire.» (V. 100 f.)25 Der Gehalt genießt wie bei Horaz Vorrang vor der Form (V. 305 ff., V. 337 ff., V. 365). Wie bei Boileau spielt die Vernunft eine wichtige Rolle, aber als letzter Standard gilt die Natur.26 Und doch klingen schon einige Themen an, die in der neuen Ästhetik seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dominieren werden.27 Energischer noch als Boileau betont Pope das Recht des Dichters zur Regelverletzung (V. 141 f., V. 145 ff., V. 163 ff.), um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Pope ist, so könnte man in Analogie zu der Begriffsbildung in der Ethik sagen, Vertreter einer teleologischen, nicht einer deontologischen Ästhetik. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Anspielung auf außerordentliche und bedrohliche Naturgegenstände (V. 158 ff.; vgl. V. 225 ff.), wie sie das ästhetische Empfinden des 18. Jahrhundert zu genießen lernt und bei Burke und Kant unter den Begriff des Erhabenen subsumiert.28 Ein gerechtes Urteil setzt nach Pope ein geschichtliches Verständnis des Dichters nach den Werten seiner eigenen Zeit voraus (V. 118 ff.); er darf nicht mit externen Texten, sondern muss mit sich selbst verglichen werden (V. 128). Die Geschichte tritt somit als eigene Dimension zur Natur. Si25 Vgl. auch V. 391 die Opposition «admire» – «approve» sowie V. 211 und besonders V. 642, wo das feinsinnige Lob des idealen Kritikers in der Eigenschaft gipfelt «with Reason on his Side». 26 V. 21, V. 27, V. 68, V. 70, V. 89 f., V. 133, V. 135, V. 140, V. 243, V. 294, V. 297, V. 313, V. 487, V. 652, V. 724. In den Klassikern ahmen wir die Natur nach: «Learn hence for Ancient Rules a just Esteem; / To copy Nature is to copy Them.» (V. 139 f.) 27 Vgl. Netta Murray Goldsmith, Alexander Pope. The Evolution of a Poet, Aldershot, Burlington, VT 2003, 66: «Lines in the Essay which advocate a temperate view of life are written by a man who struggled against the grain to be a dispassionate onlooker and, when they are applied to art, are designed to reassure readers who distrusted enthusiasm and had read the rationalist philosophers. Even so, the writer of them knew that passion is the life’s breath of poetry.» 28 Schon Pseudo-Longinos hat einen Sinn für derartige Aspekte der Natur (Vom Erhabenen 12.4, 35.4).
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cher ist Pope Platoniker, was die ästhetischen Regeln betrifft (V. 88), aber ohne sich zu widersprechen, hebt er das Schöpferische hervor, das ein Kunstwerk kennzeichnet: «Where a new World leaps out at his command …» (V. 486).29 Und sein melancholisches Bewusstsein davon, dass die hohe Geistesgabe des «wit» dessen Besitzer keineswegs glücklich macht (V. 494 ff.), antizipiert das romantische Leiden am Fluch, zum Dichter bestimmt zu sein. Einige der Regeln für den Kritiker sollte dieser bei der Lektüre des Essay auf diesen selbst anwenden – etwa die Aufforderung, unaufdringlich zu lehren. Denn was eher als ein spielerisches Lehrgedicht kann das Gebot erfüllen: «Men must be taught as if you taught them not» (V. 574)? Man kann auch die holistische Maxime, scheinbare Fehler im Kontext des Ganzen zu interpretieren (V. 169 ff., V. 235, V. 245 ff.), oder den Ratschlag, mit einem bewussten Verbergen der Kunst zu rechnen (V. 178), anführen. So ist die Kunst der Selbstinstantiierung bei Pope nicht immer leicht erkennbar. Aber wer denkt, es handle sich bei einzelnen der noch anzuführenden Beispiele um das Resultat von Zufall, erinnere sich an den Vers «True Ease in Writing comes from Art, not Chance» (V. 362). So dient das Lob des verstorbenen Freundes William Walsh (V. 729 ff.) dazu, am Ende Popes eigene Muse einzuführen und damit das Werk reflexiv zu beenden, ja, sich selbst als abschließenden Dichter-Kritiker vorzustellen. Der scheinbare Bescheidenheitstopos über die eigene Muse «But in low Numbers short Excursions tries» (V. 738) greift in Wahrheit V. 627 auf, wo «short Excursions» als Eigenart des «Sense» gepriesen wurden: Damit gibt Pope zu erkennen, dass er gerade diese Eigenschaft besitzt und dass er seine eigenen Forderungen zu instantiieren versteht. Der Leser entdeckt die komplexe Einheit seines Werkes, die gleichzeitig verhüllt wird. Wesentlich subtiler als das triviale Beispiel in V. 187 sind die zahlreichen Selbstinstantiierungen in dem Abschnitt über die Verslehre (V. 337 ff.). Der Vers gegen den Hiatus «Tho’ oft the Ear the open Vowels tire …» (V. 345) beginnt mit einem solchen Hiatus und ermüdet das Ohr, indem er davon redet. Gleichzeitig zeigt er, dass es legitime Ausnahmen zu Regeln gibt, wie eben ihn selbst, der zu 29 Das wird gespiegelt in der Leistung des genialen Kritikers: «See Dionysius Homer’s Thoughts refine, / And call new Beauties forth from ev’ry Line.» (V. 665 f.)
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Recht das instantiiert, was er kritisiert. Ist man einmal auf das Prinzip aufmerksam geworden, braucht man im übernächsten Vers «And ten low Words oft creep in one dull Line» die Worte im Vers noch gar nicht gezählt zu haben, um den Verdacht zu hegen, es seien zehn. Pope übernimmt die Stelle aus John Dryden’s Dialog Of Dramatick Poesie, An Essay; ziemlich zu Beginn sagt Crites: «He is a very Leveller in poetry: he creeps along with ten little words in every line, …»,30 aber da der Satz weitergeht und in Prosa vorgebracht wird, übt die Selbstinstantiierung nicht die gleiche Wirkung aus wie bei Pope. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie intendiert ist, auch wenn ich es für wahrscheinlich halte. Auf jeden Fall hat Pope an dem Satz gefeilt; denn nur bei ihm sind alle zehn Wörter einsilbig. «A needless Alexandrine ends the Song, / That like a wounded Snake, drags its slow length along» (V. 356 f.) ist ein meisterhaftes Verspaar. Das Bild von der Schlange geht ebenfalls auf Dryden zurück, der im 123. Quatrain des Annus mirabilis schreibt «So glides some trodden Serpent on the grass, / And long behind his wounded vollume trails»;31 aber die Übertragung des Bildes auf den Vers ist erst Popes Leistung, dem damit eine Selbstinstantiierung gelingt. Denn die Pointe ist natürlich, dass der zweite Vers selbst ein Alexandriner ist. Warum nur der zweite Vers? Nun, er steht für die langsame Länge, die die Schlange mit sich schleppt. Ein Alexan driner, dem Englischen weniger kongenial als dem Französischen, hat nur eine Hebung mehr als der jambische Fünftakter, aber Pope hat auf einen relativ kurzen ersten Vers einen aufgrund der vielen Konsonanten nur langsam auszusprechenden Vers folgen lassen, der durch den Kontrast den Eindruck der Langsamkeit noch verstärkt. Aber nicht nur kontrastiert dieser Alexandriner mit dem unmittelbar vorangehenden Vers; er kontrastiert auch mit dem anderen isolierten Alexandriner, der nach fünfzehn Versen folgt und der ein Verspaar mit fast demselben Tempo abschließt, von dem es singt: «Not so, when swift Camilla scours the Plain, / Flies o’er th’unbending Corn, and skims along the Main.» (V. 372 f.)
30 John Dryden, Essays, selected and edited by W. P. Ker, Vol. I, Oxford 1900, 21–108, 31. 31 John Dryden, The Poems and Fables, ed. by J. Kinsley, London 1962, 42–105, 74.
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Dieses Verspaar ist nur der Schluss einer Serie von heroic couplets, in denen die phonetischen Qualitäten der Sprache eine genaue Umsetzung der Inhalte sind, auf die sie referieren. Nun ist dies nichts Neues – es ist das Wesen jeder Kunst, dass das sinnliche Moment das geistige, das Bedeutungsmoment auszudrücken sucht, und jenes ist in der Dichtung, zumal der Lyrik, primär akustischer Natur (gelegentlich auch optischer – man denke an Technopaignia und carmina figurata). Der rein daktylische Vers 11.598 der Odyssee etwa macht klanglich das Rollen des Steines vor, von dem er redet. In den Worten Popes: «The Sound must seem an Eccho to the Sense.» (V. 365) Diese Regel wird indirekt immer wieder im Essay instantiiert. Berühmt sind die Verse 9 f.: «’Tis with our Judgments as our Watches, none / Go just alike, yet each believes his own.» Die ungewöhnliche Divergenz zwischen Satz- und Versende ist selbstredend gewollt: Pope macht uns sprachlich vor, was Mangel an Harmonie ist.32 Doch instantiiert dieses heroic couplet nicht sich selbst – denn es spricht über Urteilskraft und Uhren, nicht über Verse. Das Großartige an V. 366–371 ist dagegen, dass der jeweils zweite Vers des couplet die Metaebene zum ersten betritt und die phonetischen Eigenschaften beschreibt, die der vorangehende, die Natur sprachlich angemessen beschreibende Vers sowie er selbst haben: Soft is the Strain when Zephyr gently blows, And the smooth Stream in smoother Numbers flows; But when loud Surges lash the sounding Shore, The hoarse, rough Verse shou’d like the Torrent roar. When Ajax strives, some Rock’s vast Weight to throw, The Line too labours, and the Words move slow …
In den folgenden, schon zitierten Versen bezieht sich nur das «Not so» auf die Versebene: Der Parallelismus wird damit unterbrochen, und der Leser versteht, dass diese konzentrierte Selbstinstantiierung nicht fortgeführt werden soll. Denn dass der zweite, vierte bzw. sechste Vers nicht nur von sanften und glatten, heiseren bzw. angestrengt langsamen Versen handeln, sondern selbst genau das sind, was sie beschwören, drängt sich jedem Leser auf, der Ohren 32 Siehe John A. Jones, Pope’s Couplet Art, Athens, OH 1969, 49.
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Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie
hat zu hören. Aus dieser Einsicht in die Harmonie des intendierten Inhalts und der Lautgestalt, ja, in die unmittelbare Subsumierbarkeit dieser unter jenen, entspringt der hohe ästhetische und intellektuelle Genuss des Werks.
Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie Dass Goethe mit seinem Plan eines großen Lehrgedichtes über die Natur scheiterte – zu dem wohl die hexametrische Metamorphose der Tiere ursprünglich gehörte –, ist symptomatisch für die Krise des Genres. Die Freude an einem einheitlichen Versmaß, der Glaube an die Vermittelbarkeit philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis an den gebildeten Laien, die Bereitschaft des Publikums, sich von einem Dichter ausdrücklich belehren zu lassen, sind Voraussetzungen des Genres Lehrgedicht, die um 1800 erodieren. Die Metamorphose der Pflanzen von Goethe, in Distichen verfasst und voller subjektiver Einsprengsel, zeigt, wie selbst beim ‹objektivsten› Dichter der deutschen Klassik das Bedürfnis nach individuellem Ausdruck in ein Gedicht eindringt, das thematisch Züge eines Lehrgedichts hat, aber formal das Genre sprengt. Insofern kann es nicht wundernehmen, dass nach Pope keine bedeutende Poetik mehr als Lehrgedicht verfasst worden ist – das wäre auch dann nicht mehr geschehen, wenn Pope das Genre nicht zur Vollendung gebracht hätte. Doch das bedeutet nicht, dass das Bedürfnis nach Selbstinstantiierung nicht mehr gespürt wurde. Einerseits artikulierten manche Dichter wie etwa Hölderlin, Rilke oder George im Rahmen ihrer Lyrik Dichtungstheorien, andererseits versuchten Ästhetiker ihre abstrakten Theorien in einer Weise vorzutragen, die auch literarischen Kriterien Genüge leistete. Zwar führt das unerbittliche Gesetz der Spezialisierung es mit sich, dass es kaum einen bedeutenden Dichtungstheoretiker mehr gibt, der gleichzeitig ein erstrangiger Dichter wäre. (Gerard Manley Hopkins ist vielleicht eine Ausnahme, doch seine poetologischen Einsichten wurden zumindest nicht in literarisch ambitionierter Form artikuliert.) Aber gleichzeitig ist die ästhetische Revolution der Frühromantik in doppeltem Sinne eine solche: Sie verändert die ästhetischen Kategorien auf der Inhaltsebene genauso, wie sie die ästhetische Sensibilität dafür wandelt, welche Form einem Werk der Ästhetik angemessen 85
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ist; sie bricht mit den inhaltlichen Normen der französischen Klassik ebenso wie mit der Idee, solche Normen seien in Lehrgedichten zu artikulieren. Aber sie verzichtet nicht auf die Suche nach einer Entsprechung von Form und Aussage. Zumal Friedrich Schlegels poetologische und kritische Schriften bestechen durch ihre Form nicht minder als durch ihren Inhalt, und insbesondere fesseln sie durch den Zusammenhang zwischen den beiden, den sie allerdings erst allmählich gewinnen. Die frühe Schrift Über das Studium der griechischen Poesie 33 ist eher material als formal originell, wie ihr Verfasser bald spürte: «Das Schlechteste daran scheint mir der gänzliche Mangel der unentbehrlichen Ironie …»34 Die Selbstgesetzlichkeit der Poesie (155, 207), die Schlegel in Weiterführung der philosophischen Revolution Kants und Fichtes und mit Blick auf die Französische Revolution (198, 314, 366) lehrt, muss auch für die Poetik gelten, die sich eine neue Form zu geben hat. Die Lyceum- und Athenäum-Fragmente bieten eine solche neue Form, die sie reflexiv rechtfertigen: «Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.» (169) Zu den Werken der Neueren, die Schlegel im Auge hat, gehört auch sein eigenes, das, wie der Titel sagt, das für sich ist, was andere moderne Werke nur an sich sind.35 «Witz ist unbedingt geselliger Geist, oder fragmentarische Genialität.» (148) Die Fragmente exemplifizieren primär die zweite, fragmentarische Form des Witzes. Die erste, gesellige wird in einem begrenzten Maße durch die «Symphilosophie» (177, 185, 210) veranschaulicht, welche die verschiedenen Autoren der Athenäum-Fragmente verknüpft. Darin liegt bekanntlich ein Fortschritt gegenüber den
33 Franz Norbert Mennemeier hat in seiner vorzüglichen Studie Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften (München 1971) zu Recht darauf hingewiesen, wie viele Ideen aus Über das Studium der griechischen Poesie im Gespräch weiterwirken: Die erste Abhandlung des Dialoges tendiere wie das frühere Werk dahin, «die nachantike Geschichte als gewaltige Zwischenzeit und die Gegenwart als eine Epoche möglicher Wiederherstellung echter Kunst zu deuten» (321). 34 Kritische Fragmente, in Charakteristiken und Kritiken I, op. cit., 147 f. Das Gespräch zitiere ich stets nach der ersten Auflage von 1800. 35 Ein weiteres reflexives Fragment über Fragmente, die mit Igeln verglichen werden, findet sich 197.
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Kritischen Fragmenten des Lyceum, die noch ein Werk des einzigen Friedrich waren, während die im Athenäum publizierten Fragmente von vier Autoren stammen, ohne dass ausdrücklich gesagt wird, welches von wem herrührt. Einen poetisch einheitlicheren Ausdruck findet der unbedingt gesellige Geist im Gespräch über die Poesie, wobei auch der Dialog im Fragment wurzle (176). Die Genres des Aphorismus und des Dialogs versuchen beide, jene Einheit von Poesie und Philosophie wiederherzustellen, ohne die eine vollendete Ästhetik undenkbar ist und die dem Traktat versagt ist. «In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.» (148) Und im letzten Athenäum-Fragment lesen wir: «Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poesie und der Philosophie.» (255; vgl. 161, 182, 303) Ja, die wahre Philosophie ist zugleich Philologie (179, 241 f.), ganz so wie in die große Poesie von Wilhelm Meisters Lehrjahren (dessen Rezension durch Friedrich Schlegel als der eigentliche Beginn moderner deutscher Literaturkritik angesehen werden kann)36 ebenfalls Dichtungstheorie integriert ist (140). Denn große Dichtung sollte «überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein» (204; vgl. 206, 208 f.), wie umgekehrt eine Theorie des Romans selbst als Roman auftreten sollte (337). Damit sind zwei unterschiedliche, aber komplementäre Forderungen aufgestellt: Einerseits muss die Dichtung über sich selbst reflektieren und damit philosophisch werden, andererseits muss die ästhetische Reflexion selbst poetische Gestalt annehmen (und daneben über sich selbst reflektieren, also Philosophie der Philosophie werden: 160, 165, 211, 213). Besonders deutlich wird dabei in den Ideen des Athenäum, umgekehrt zu der später von Hegel verteidigten Rangordnung, der Vorrang der Poesie vertreten, der die Philosophie als Mittel dienen müsse: «Wer Religion hat, wird Poesie reden. Aber um sie zu suchen und zu entde-
36 Die epochale Bedeutung Schlegels in der Geschichte der Literaturkritik hat Ernst Robert Curtius im Anschluss an Hofmannsthals Urteil zu Goethe folgendermaßen auf den Begriff gebracht: «Dafür haben wir in Deutschland Friedrich Schlegel – und Ansätze.» (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 24)
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cken, ist Philosophie das Werkzeug.» (259) «Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen.»37 Eine unpoetische Theorie der Poesie sei zum Scheitern verurteilt: «Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.» (162) Analog heißt es zu Beginn des Gesprächs: «So läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.» (285) Die Stelle ist reflexiv zu lesen, denn wie schon Aristoteles38 hält auch Schlegel Verse nicht für eine notwendige Bedingung der Poesie (293, 304); sein eigener Dialog ist Poesie,39 und eine bessere als das komische Gedicht in Versen, das Ludoviko über das System der falschen Poesie zu schreiben plant, das besonders bei Engländern und Franzosen grassiere (290) – offenbar eine Anspielung auf den Niedergang des Lehrgedichtes, zu dem sich das geplante Werk ebenso verhält wie ein komisches Epos zu einem heroischen. Das Gespräch soll selbst jene «poetische Poetik» sein, die nach den Fragmenten zusammen mit einer materialen Logik, einer positiven Politik, einer systematischen Ethik und einer praktischen Historie «die wichtigsten Desiderata der Philosophie» bilde (170). In der Schlussdiskussion, in der die Wissenschaft als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Kunsturteils verteidigt wird, bekennt Lothario, an die Möglichkeit von «Prinzipien der Poesie» zu glauben, die der «Dichtkunst ein Fundament» gäben. Doch Marcus fügt hinzu: «Vergessen Sie nicht das Vorbild, welches so wesentlich ist, uns in der Gegenwart zu orientieren.» (350) Das Gespräch bietet beides – sowohl Prinzipien (etwa die For-
37 Auch die Religion wird beim frühen Schlegel der Kunst untergeordnet. So heißt es in der Besprechung von Wilhelm Meister: «daß auch die Religion … sich … stufenweise zur Kunst vollendet» (142). 38 Poetik 1447a28 ff., b17 ff. 39 Heinrich Henel («Friedrich Schlegel und die Grundlagen der modernen literarischen Kritik» [1945], jetzt in Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, hg. von Helmut Schanze, Darmstadt 1985, 95–111) verfehlt dies vollständig, wenn er, offenbar Poesie mit Texten in Versen identifizierend, zu diesen Stellen schreibt: «Es bedeutet weder, daß eine Kritik ein Gedicht sein soll, noch daß der Kritiker selbst Dichter sein muß, wie Pope verlangte.» (108) Schlegel ändert den Poesiebegriff und kann auf diese Weise als durchaus in Kontinuität mit Popes Forderung stehend gelesen werden.
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derung, «nach Ideen zu dichten»)40 als auch ein konkretes Vorbild, das sie instantiiert. Jedoch war Schlegel sich kaum dessen bewusst, dass dieses Desiderat seit Jahrtausenden gespürt worden war und dass nicht nur der von ihm verehrte Platon (255, 325), sondern auch der weniger geachtete Pope (289), wenn auch in anderer Form, an seiner Erfüllung gearbeitet hatten: Was bei Schlegel oft nur programmatisch ist, war beim jungen Pope Gestalt geworden. Denn die Forderung nach Reflexivität und Selbstinstantiierung gehört nicht zu den originellen Leistungen Schlegels. Er setzt in Wahrheit eine viel ältere Tradition fort, die mit Platon beginnt und in der Dichtung und Dichtungstheorie des Ancien Régime einen ihrer Höhepunkte hatte. Die Moderne überschätzt sich, wenn sie glaubt, sie habe diese Tradition geschaffen. Sie ist uralt, denn sie gründet in der reflexiven Natur des menschlichen Selbstbewusstseins. Doch hat Schlegel dieser uralten Forderung eine neue Antwort gegeben, teils durch die intersubjektive Verfasserschaft der Fragmente, deren innere Einheit hier nicht untersucht werden kann, teils durch die besondere Form des Gesprächs über die Poesie. Der Dialog ist dadurch ungewöhnlich, dass in das Gesprächsgeschehen die Lektüre von vier nicht-dialogischen Texten einbezogen ist, von denen der zweite als «Rede», der dritte als «Brief» gekennzeichnet wird. Die vier Texte, zum Teil unabhängig vom Gespräch verfasst und dann in dieses eingegliedert, geben ihm auf den ersten Blick ein uneinheitliches, ‹romantisches› Aussehen. In Wahrheit aber folgen sie aufeinander gemäß einer plausiblen L ogik – vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen. Der erste Vortrag entwirft mit den «Epochen der Dichtkunst» eine knappe Geschichte der abendländischen Literatur, wie es sie an Weite der Perspektive, in der Konzentration auf das Wesentliche und in der Sicherheit des Urteils vorher nie gegeben hat und wie sie auch später kaum je erreicht wurde.41 Die «Rede über die Mythologie» skizziert ein Programm für die Dichtung der Zukunft, setzt also 40 344, 347, 350. 41 Schlegels späteres Ausgreifen auf den Orient wird in der «Rede» vorweggenommen (319; beachtlich die Anerkennung für das «Genie der Übersetzung»; vgl. auch 303, 308).
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die allgemeine Betrachtungsweise für den Zeitmodus fort, der der Vergangenheit entgegengesetzt ist. Der «Brief über den Roman» geht auf ein besonderes Genre ein (wenn es denn ein Genre ist) und erörtert den Wesensgegensatz zwischen dem Antiken und dem Modernen, während der «Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken» die Charakteristik eines einzelnen Dichters, und zwar aus der Gegenwart, ist, dem eine Synthese von antiker und moderner Poesie geglückt sei (346 ff.) und dessen individuelle Entwicklung wie diejenige der W eltliteratur einer eigenen Entwicklungslogik folge. Trotz der Verschiedenheit der Denkstile und literarischen Sensibilitäten der vier Autoren wird also eine beeindruckende Einheit des Dialogs erreicht, wie sie nach ihm (327) große Dichtung kennzeichnet. Man fühlt sich an die Komplementarität der sieben Reden des Platonischen Symposion erinnert. Jedoch werden diese bei Platon – und analog im Phaidros zwei der drei Reden – improvisiert, während bei Schlegel alles vor Beginn des Gespräches abgefasst wurde und nun vorge lesen wird. Das deutet auf die Richtigkeit jener These, die in der Romantik eine Gefährdung des Genres Dialog sieht, das zum letzten Mal in der Aufklärung aufgeblüht war.42 Doch stellt die Integration von Essay, Rede, Brief und Dialog in ein eigenes Kunstwerk genretheoretisch eine Neuerung dar, die zudem mit einem der Themen des Dialogs in enger Verbindung steht. Denn das Gattungsproblem wird zweimal angesprochen, erstmals nach Andreas Essay «Epochen der Dichtkunst». Nachdem Lothario bemerkt hat, Geschichtsschreibung und Wissenschaft könnten poetische Gestalt annehmen, bedauert Marcus, Andrea habe nicht «noch mehr Rücksicht auf die Dichtarten genommen» (304). Allerdings verteidigt ihn Ludoviko, da die Entgegensetzung von epischer und jambischer Dichtungsart in der Geschichte der griechischen Poesie den ursprünglichen Gegensatz der Poesie erfasse. Zwar erklärt Amalia, sie schaudere es, «wenn ich ein Buch aufschlage, wo die Fantasie und ihre Werke rubrikenweise klassifiziert werden» (305), aber Marcus macht klar, dass die Klassifikation, die er anstrebe und die durchaus benötigt werde, «zugleich 42 Vgl. Jürgen Wertheimer, «Der Güter Gefährlichstes, die Sprache». Zur Krise des Dialogs zwischen Aufklärung und Romantik, München 1990.
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Geschichte und Theorie der Dichtkunst» sein müsse. Damit wird die erste der zwei Neuerungen in der Gattungstheorie genannt, die wir der romantischen und idealistischen Ästhetik verdanken: Von Schlegels Über das Studium der griechischen Poesie bis zu Hegels Vorlesungen über die Ästhetik wird die Gattungstheorie so entwickelt, dass sie zugleich die als paradigmatisch verstandene Geschichte der griechischen Literatur erhellt.43 Die zweite Neuerung besteht in der auf Fichte zurückgehenden Form der Begriffsbildung, die das Selbstbewusstsein aus Entgegensetzungen hervorgehen lässt (vgl. 305). Bezeichnend an der Diskussion ist, dass sich die Freunde keineswegs einig werden: Amalia, von Camilla unterstützt, betont, es sei eine Unart, wolle man «immer sondern und teilen, wo doch nur das Ganze in ungeteilter Kraft wirken und befriedigen kann» (310). Doch Lothario sieht in den Dichtungsarten das eigentliche Wesen der Poesie, während sie die Diktion mit der Rhetorik teile (306 f.). Das Gattungsproblem taucht ein zweites Mal in Antonios «Brief über den Roman» auf. Antonio weigert sich, den Roman der epischen Gattung zuzuschlagen, einerseits weil er wesentlich zur romantischen und nicht zur antiken Welt gehöre, also kein zeitloses Genre sei – «ein Roman ist ein romantisches Buch» (335) –, andererseits weil er selber verschiedene Gattungen integriere und dem objektiven Wesen des Epischen entgegengesetzt sei: Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen. … Es ist dem epischen Stil nichts entgegengesetzter als wenn die Einflüsse der eignen Stimmung im geringsten sichtbar werden; geschweige denn, daß er sich seinem Humor so überlassen, so mit ihm spielen dürfte, wie es in den vortrefflichsten Romanen geschieht. (336)
Als bedeutendste Romanciers gelten dementsprechend Swift, Sterne, Diderot und Jean Paul. Sicherlich seien die Romane des 43 Wieweit Schlegel Hegel beeinflusst hat, ist nicht genau auszumachen; doch sicher ging der Einfluss weiter, als Hegel in seinen Vorlesungen anerkennt, auch wenn Hegels Systemwille ihn grundsätzlich von Schlegel unterscheidet. Zum Thema immer noch wichtig: Ernst Behler, «Friedrich Schlegel und Hegel», in Hegel-Studien 2 (1963) 203–250. Bei allen Vorzügen von Hegels philosophischer Geschlossenheit muss man anerkennen, dass Schlegels auf Platon zurückgehende Idee einer poetischen Gestaltung der Philosophie bei Hegel nicht ‹aufgehoben› ist.
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letzteren «ein buntes Allerlei von kränklichem Witz» (329), aber solche «Grotesken und Bekenntnisse» seien «noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters» (330).44 In der «Rede über die Mythologie» heißt es entsprechend: «Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten.» (313) Es ist nahezu unvermeidlich, diese Passagen reflexiv zu lesen. Denn auch das Gespräch ist ein buntes Allerlei, gemischt aus diversen Formen, die zwar unterschieden werden, aber doch in ihrer Vereinigung darauf hinweisen, dass das Ganze nicht geteilt werden darf. Die Ordnung in seinem Chaos ergibt sich aus den liebevollen Interaktionen der Gesprächsteilnehmer. Das Gespräch über die Poesie ist der romantische Dialog par excellence, der sich zu einem Platonischen ähnlich verhält wie der Tristram Shandy zum Don Quixote.45 Das gilt auch für die Art der Gesprächsführung. Der Dialog soll zum Teil reale Gespräche widerspiegeln (286), und sicher haben die fünf männlichen und die zwei weiblichen Gesprächspartner Züge der Mitglieder des frühromantischen Kreises, in dem bekanntlich mit Caroline Schlegel und Dorothea Veit auch zwei Frauen eine wichtige Rolle spielten.46 Denn eine zentrale Idee der 44 Zu Schlegels komplexer Theorie des Romans vgl. etwa Helmut Schanze, «Friedrich Schlegels Theorie des Romans», in Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, op. cit., 370–396. 45 Trotz der offenkundigen Bedeutung Platons für Schlegel unterschätzt May Mergenthaler (Zwischen Eros und Mitteilung. Die Frühromantik im Symposion der ‹Athenäumsfragmente›, Paderborn 2012) bei aller Kenntnis die Unterschiede beider Autoren, weil sie Platons Symposion romantisch liest. Vgl. dagegen meine Interpretation: Der philosophische Dialog, op. cit., 432 ff. Platon konzipiert seine Dialoge, anders als Schlegel, wesentlich asymmetrisch. 46 Allerdings ist eine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen realen und fiktiven Personen nicht gegeben. Zu Recht schreiben Ernst Behler und Roman Struc: «On this surface, certain resemblances between the partners of the Dialogue and the actual members of the School can be detected. However, the more deeply we penetrate the problems of the work, the less convincing these similarities become.» («Introduction», in Friedrich Schlegel, Dialogue on Poetry and Literary Aphorisms, University Park, London 1968, 1–50, 9 f., Anm. 2) – Ich will hier nicht auf die umstrittene Frage eingehen, inwieweit Schlegels Dialog wirklich eine Emanzipation der Frau darstellt: Immerhin lesen Amalia und Camilla keine eigenen Texte vor. Sie teilen zwar dieses Schicksal mit Lothario (der allerdings in
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Frühromantik war, auch das Leben als Kunstwerk zu gestalten – in der Wilhelm Meister-Rezension erwähnt Schlegel «die Kunst aller Künste, die Kunst zu leben» (143), und spricht von einer «Höhe, auf der vielleicht die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein wird» (128). Gerade das Gespräch könne ein Kunstwerk sein, und sein Abbild im Dialog setze besondere Sprachfertigkeiten voraus, weil dieser «die Nachhülfe der mitsprechenden Gebärde, Stimme und Augen entbehrt» (97). Zwar ist es notorisch schwierig, das reale Leben ästhetischen Normen zu unterwerfen, weil ein Grundprinzip jeder Kunst Abstraktion ist und das Leben es nicht gestattet, von bestimmten unpoetischen Dingen wie dem Begleichen von Rechnungen und dem Wickeln der eigenen Kleinkinder zu abstrahieren. Die Ästhetisierung der Existenz ist, wo immer man sie versucht hat, mittelfristig gescheitert, und das Ideal von Intersubjektivität, das die Frühromantiker inspirierte, hat sich in der Wirklichkeit nicht lange gehalten – unvergleichlich kürzer als die institutionalisierte Lebensgemeinschaft antiker Philosophenschulen oder religiöser Orden. Dennoch liegt ein Reiz des Gesprächs darin, dass es nicht nur ästhetische Theorien debattiert, sondern eine Lebensform vorführt, die auf komplexe Weise mit der verteidigten Theorie zusammenhängt. Inwiefern? Sicher ist die Vorrede des Dialogs bemerkenswert durch die metaphysische Aufwertung des Poesiebegriffs.47 Poesie ist nicht nur eine Eigenart sprachlicher Gebilde, sondern diese «Poesie der Worte» gründet in einer bewusstlosen «Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht» (285).48 Die menschliche Kunst setzt gleichsam das innere Prinzip der Welt fort. Dabei ist eine Vervielfältigung des einheitlichen Vernunftprinder zweiten Auflage von 1823 eine abschließende freie Rede hält), aber anders als bei diesem beschränkt sich ihre Rolle darauf, anzuregen und zu kritisieren. 47 Schlegel ist sich dessen bewusst, dass Vorreden (wie sie kein Platonischer Dialog kennt) ästhetisch problematisch sein können. «Das goldne Zeitalter der Literatur würde dann sein, wenn keine Vorreden mehr nötig wären.» (404) Doch angesichts seines Spottes über das Goldene Zeitalter (289 f., 295, 302) ist jener Satz aus den Eisenfeilen mit Vorsicht zu genießen. 48 Vgl. 324 und in den Ideen des Athenäum: «Die Poesie der Dichter bedürfen die Frauen weniger, weil ihr eigenstes Wesen Poesie ist.» (269)
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zips unvermeidlich: «Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich.» (284) Diese metaphysische Position bestimmt die Natur von Schlegels Dialog. Unter den sehr verschiedenen geschichtlich verwirklichten Dialogen kann man solche unterscheiden, deren Ziel darin besteht, einen Konsens zu erreichen, manchmal etwa einen Schüler von den Ansichten des Lehrers zu überzeugen, und solche Dialoge, die mit der Anerkennung der letztlichen Irreduzibilität unterschiedlicher Ansichten enden. Schlegels Gespräch gehört zur zweiten Gruppe, ja, seine Deutung des Gesprächs ist Ausdruck einer Metaphysik, nach der nur die Einheit von Gegensätzen wahr im vollen Sinne sein kann: Wer Sinn fürs Unendliche hat …, sieht in ihm das Produkt sich ewig scheidender und mischender Kräfte, denkt sich seine Ideale wenigstens chemisch, und sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche. So weit scheint die Philosophie des Zeitalters gekommen zu sein; nicht aber die Philosophie der Philosophie. (243)
Symphilosophie setzt einen Gegensatz voraus, sonst ist nur Sympathie möglich (181), also gemeinsames Empfinden, aber nicht gemeinsames Suchen. Analog betont Antonio mit Nachdruck die Bedeutung gegensätzlicher Ansichten: «So können wir dann eine Ansicht und eine Kraft als Hebel für die andre gebrauchen, und über beide desto freier und eingreifender disputieren.» (311) Es liegt auf der Hand, die Pluralität der poetologischen Ansichten mit der zentralen Idee der frühromantischen Ästhetik zu verbinden, die eben nicht mehr wie die französische Klassik eine einzige Menge von gültigen Regeln annahm, sondern eine Pluralität unterschiedlicher Normen, die in verschiedenen Epochen realisiert sind und doch gleichermaßen in Antike und Mittelalter erstrangige Dichtung ermöglichen.49 Die Erfahrung der Pluralität legitimer poetischer Normen und poetologischer Ansichten wirkt befreiend, und wegen dieser Freiheit ist Camillas Versuch, sich «zur 49 Allerdings ist auch bei Schlegel das Bedürfnis nach einer Synthese von Antike und Moderne evident (man denke an die Interpretation Goethes), und es ist genau dieser synthetische Drang, der in Hegels Dialektik das dialogische Moment zum Verschwinden bringt.
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Präsidentin zu konstituieren und Ordnung im Gespräch zu schaffen», überflüssig (nur «im Notfalle» sei darauf zurückzugreifen) – statt dessen fühlt Ludoviko «den geistigen Hauch wehen in der Mitte der Freunde» (310). Aber dieser geistige Hauch weht nicht nur kunstwerkintern. Indem Schlegel das Gespräch in dem Gemeinschaftswerk des Athenäum publizierte, zeigte er, dass auch in kunstwerkexterner Perspektive seine poetische Poetik vom Geist der Freundschaft beseelt war.
Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie Jede Interpretation von Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie, wohl der letzten bisher allgemein als klassisch anerkannten Ästhetik, muss mit der Tatsache kämpfen, dass der Zustand, in dem das Werk vorliegt, Resultat des plötzlichen Todes Adornos ist, der noch einen dritten Arbeitsgang geplant hatte. Die genaue Anordnung des Textes ebenso wie die «Übersicht» am Anfang gehen auf die Herausgeber Gretel Adorno und Rolf Tiedemann zurück, die freilich bei letzterer «oft auf ‹headings›, kurze Inhaltsstichworte sich stützen konnten».50 Das Werk ist also ein Fragment geblieben. Allerdings deutet das als Motto geplante,51 oben zitierte Fragment Schlegels «In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst» auf eine Wesensverwandtschaft zwischen Adornos und Schlegels Denkstil.52 Auch die vollendete Negative Dialektik hat ja etwas gewollt Fragmentarisches, um von dem offen aphoristischen Charakter der Minima Moralia zu schweigen. Auch wenn der letzte Arbeitsgang geglückt wäre, wäre die Ästhetische Theorie kaum systematisch klarer strukturiert worden. Die Formstrenge Kants und Hegels, der auch von Adorno anerkannten Klassiker der Ästhetik, die er verbinden möchte (495, 524 ff.), wäre einem Werk nicht an50 Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Ralf Tiedemann, Frankfurt 21974, 535–544: «Editorisches Nachwort», 544. Auf dieses Werk beziehen sich im Folgenden, wo nicht anders angegeben, alle Seitenverweise. 51 Ebd., 544. 52 Zu den Ähnlichkeiten zwischen der Frühromantik und Adorno vgl. Christine Eichel, Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste – Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos, Frankfurt 1993, 148 ff.
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gemessen, das sich als Hohes Lied auf die moderne Kunst und ihre Dissonanzen versteht. Im Folgenden sollen einige der zentralen Ideen des Werkes erörtert und mit ihrer formalen Darstellung in Verbindung gebracht werden. Wenn man ästhetische Theorien danach einteilt, ob sie schwerpunktmäßig produktions-, kunstwerk- oder rezeptionsästhetisch ausgerichtet sind, so besteht kein Zweifel, dass Adornos Theorie zu den Kunstwerkästhetiken gehört (und dabei Gehalts- und formale Ästhetik verknüpft). Bekannt ist die Polemik gegen eine Ästhetik der subjektiven Empfindung: Ihre Deskriptionen waren unweigerlich fast banausisch; darum vielleicht, weil der subjektive Ansatz vorweg dagegen verblendet, daß über künstlerische Erfahrung nur im Verhältnis zur Sache etwas Triftiges sich ausmachen läßt, nicht am Gaudium des Liebhabers. (28)53
Auch Untersuchungen zur Genese des Kunstwerkes könnten die Frage seines Ranges nicht entscheiden. Ja, selbst die Autorintention sei nicht der Maßstab der Richtigkeit einer Interpretation.54 Die Ausrichtung auf das Kunstwerk teilt Adorno mit Hegel und Heidegger.55 Allerdings wendet er sich sowohl gegen Heideggers Bevorzugung der Ursprünge (471, 480 und 531), weil er mit Hegel davon ausgeht, dass Kunst erst in ihrer geschichtlichen Entwick53 Siehe auch 20, 33, 166 f., 206, 244 ff., 249, 255 ff., 267 f., 400, 479, 513, 517. Natürlich weist die Wendung vom «Vorrang des Objekts» (166, 479) zurück auf die Negative Dialektik (Frankfurt 21980, 184 ff., besonders 187). Von den beiden anderen Zugängen zieht Adorno, gegen Gadamer, den produktions- dem rezeptionsästhetischen vor (338 f., 527). 54 54, 63, 135, 139, 150, 159, 175 f., 194 f., 219, 226 f., 250, 253 f., 272, 286, 345 ff., 381, 406, 407, 411, 421 f., 423, 463, 467, 473, 507, 513, 515. In der Polemik gegen den intentionalistischen Trugschluss stimmt Adorno mit Hans-Georg Gadamer überein (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 4 1975, 355). 55 Einen Vergleich der drei Positionen bietet der großartige Aufsatz von Dieter Wandschneider, «Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst: Hegel, Heidegger, Adorno», in Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst, hg. von Dieter Wandschneider, Würzburg 2005, 123–137, der auch die Aufwertung des Hässlichen bei Adorno aus dem klassischen Begriff der Kunst begreiflich werden lässt (ebd., 132 ff.). Trefflich sind in demselben Sammelband auch Manfred Wetzels knappe Bemerkungen zu Adorno («Das ästhetisch-tätige Subjekt, sein Gegenstand und das sinnliche Scheinen der Idee», ebd., 139–177, 168 f.).
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lung zu ihrer Wahrheit gelange, als auch gegen die Versöhnungsleistung, die Hegel den bedeutendsten Kunstwerken zuspricht: Darin liegt vermutlich die provokativste These des Buches. Sie ist eine Folge einerseits der Kulturkritik, die das Zentrum von Adornos soziologischer Arbeit bildet, andererseits seiner spezifisch ästhetischen These vom Doppelcharakter der Kunst «als autonom und als fait social» (16; vgl. 401). Mit dieser These kann Adorno sowohl am eigentlich ästhetischen Charakter des Kunstwerkes festhalten, den die Autonomie-Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert verteidigt hatte, und doch gleichzeitig Einsichten der Kunstsoziologie in seinen ästhetischen Ansatz integrieren. Denn Adorno wendet sich sowohl gegen die Funktionalisierung der Kunst für soziale und politische Zwecke (475) als auch gegen ihre Ablösung von der Aufgabe, die Wahrheit über die eigene Epoche zu sagen, also gegen das Prinzip l’art pour l’art (250, 351 ff.). Kunst muss zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Adorno als heillos deutet, Stellung beziehen und gleichzeitig jede Anpassung an sie verweigern: «Denn wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt.» (93) Das Wesen der modernen Kunst, die er mit Baudelaire und Wagners Tristan beginnen lässt, bestehe in der Dissonanz (29, 66, 74, 168, 512). «Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne.» (41) «Desintegration ist die Wahrheit der integralen Kunst.» (455) Gegen diese These sind nun zwei grundsätzliche Einwände möglich.56 Einerseits kann man entgegnen, Adorno erfasse nur eine Epoche der Kunstgeschichte – diese zwar, wenn auch mit Ausblendungen, im Ganzen zutreffend, aber er verallgemeinere zu Unrecht seine an ihr gewonnenen Einsichten, auch wenn er immer wieder vor gehaltvollen Invarianten in der Ästhetik warne (12, 42, 494). In der Tat fällt jedem Leser von Adornos Buch, aber auch seiner konkreten Musik- und Literaturinterpretationen auf, wie gut Adorno die Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts kennt – und wie beschränkt seine Kenntnisse der vorangegangenen Epochen sind. Die Schülerschaft bei Alban Berg57 hat Adorno eine technische Vertrautheit mit der modernen Kunst, zumal Musik, gegeben, mit der 56 Vgl. Kai Hammermeister, The German Aesthetic Tradition, Cambridge 2002, 194 ff. 57 Dazu vgl. Rolf Wiggershaus, Theodor W. Adorno, München 1987, 16 f. Adorno errang 1925 in Wien nur die Anerkennung Bergs, nicht jedoch Schönbergs.
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kein anderer moderner Ästhetiker konkurrieren kann und die er der bloßen Avantgarde absprach – aber sie hat ihn auch die eigene Epoche überschätzen lassen. Darin steht er Boileau und Pope näher als Schlegel mit seinem wirklich universalen Blick auf die Weltliteratur, ja, er ist sogar provinzieller als Boileau und Pope, die wenigstens die antike Literatur vorzüglich kannten (doch vgl. 241 ff.). Allerdings wird jede universalästhetische Theorie, die nach den Schlegels, Schelling und Hegel noch versucht werden mag, eine Theorie der Eigenart moderner Kunst vorlegen müssen, und dazu wird sie auch dann von Adorno lernen müssen, wenn sie in der Moderne nicht nur einen Fortschritt erblickt. Auf diesen Einwand könnte Adorno erwidern, die moderne Kunst sei zwar nur eine einzelne Epoche in der Geschichte der Kunst, aber sie bringe die Kunst in ihre Wahrheit. Aber wie sollte man eine solche Aussage begründen? Sich auf bloße Kunsterfahrungen zu berufen hätte auch Adorno abgelehnt; und konkrete interpretatorische Arbeit wird auch bei einem Autor wie etwa Dante eine formale Durchdringung des Stoffes anerkennen, die derjenigen der modernen Dichter nicht nachsteht. Es ist nicht so, dass die Kunsterfahrung der Moderne zu einer philosophischen Überzeugung davon führt, dass Desintegration besser sei als Integration: Es ist vielmehr diese theoretische Ansicht, wie sie etwa in der Negativen Dialektik artikuliert ist, die eine Bevorzugung des Erlebnisses moderner Kunst gegenüber demjenigen vormoderner zur Folge hat. Damit aber verschiebt sich der Streit zwischen Hegels und Adornos Ästhetik andererseits auf die metaphysische Ebene: Je nachdem ob es gute Argumente dafür gibt, die Welt als sinnvolles Ganzes zu deuten, oder nicht, wird eine eher Hegel’sche oder eher Adorno’sche Ästhetik angemessen sein.58 Es ist nicht Aufgabe dieses Buches, Metaphysik zu betreiben. Ich begnüge mich mit der Versicherung, dass Hegels System dank eines differenzierten Vernunftbegriffs sowohl begründungstheoretisch als auch in der Konkretheit seiner Erkenntnis der Welt
58 Vgl. zu den Unterschieden beider Denker Mauro Bozzetti, Hegel und Adorno, Freiburg, München 1996.
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des objektiven und absoluten Geistes bedeutende Vorzüge hat.59 Adorno muss sich dagegen mit der leidenden Geste begnügen, die wahre Kunst halte die Hoffnung offen, es könne noch ganz anders kommen (40). Statt Argumente zu bieten, an die Adorno selbst nicht glaubt, drückt die Negative Dialektik eine subjektive metaphysische Befindlichkeit aus, die eine naheliegende Reaktion auf die schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts seitens einer trotz allem privilegierten und sich deswegen mitschuldig fühlenden Person ist. Und eben dieser Expressionismus zeichnet sein ästhetisches Hauptwerk aus, das in doppeltem Sinne eine ästhetische Theorie ist,60 wegen seines Gegenstandes und weil es jene Dissonanz vorführt, die es an der modernen Kunst verteidigt: Man denke nur an Adornos Hyperbata und die häufige Einflechtung von französischen und englischen Wörtern, die den Duktus des Deutschen bewusst sprengen. Da ist zunächst einmal der assoziative Stil, der nicht nur Resultat von Adornos Tod ist. Im «Editorischen Nachwort» sind erhellende Stellen aus Briefen zitiert, z. B.: «Interessant ist, daß sich mir bei der Arbeit aus dem Inhalt der Gedanken gewisse Konsequenzen für die Form aufdrängen, die ich längst erwartete, aber die mich nun doch überraschen.» (541) Stefan Müller-Dohm61 zitiert aus einem Brief an Herbert Marcuse vom 24.1.1969: «Offensichtlich kann ich, als Konsequenz der Kritik an der prima philosophia, überhaupt nicht mehr in der traditionellen Form des Erst – Nachher schreiben, sondern in gewisser Weise nur noch parataktisch; das reicht bis in die Mikrostruktur der Sprache hinein.» Das erinnert an den Aphorismus «Für Nach-Sokratiker», besonders an den Satz: 59 Zu Recht schreibt Albrecht Wellmer, «daß vom Ansatzpunkt der Kritik her eine andere als eine ‹schlechte› Vernunft eigentlich nicht mehr sich denken läßt; in dieser Schwierigkeit sind alle Paradoxien und Aporien von Adornos Philosophie beschlossen.» (Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt 1985, 155 f.) Adorno wusste zwar um die Widersprüchlichkeit des Kampfes gegen das Allgemeine (521), aber das bedeutet nicht, dass er das Konsistenzproblem seiner Theorie gelöst hat. Bezeichnend sind seine schwankenden Äußerungen zum Gattungsproblem (296 ff.). 60 So zu Recht Elisabeth Lenk, «Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt», in Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung, hg. von Frithjof Hager und Hermann Pfütze, Lüneburg 1990, 10–27, 18. 61 Stefan Müller-Dohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt 2003, 715.
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«In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen.»62 Denn nach Adorno spiegelt der Ordnungszusammenhang einer Argumentation Herrschaft wider; deswegen lehnt er geschlossene Kunstwerke ab (236; vgl. 296 zum Erhabenen). Selbst der Humor, «der abstoßender ist als alles Abstoßende» (79), wird wegen seines Versöhnungswillens verworfen (79) – und so findet sich in Adornos Buch von Humor keine Spur. Adorno betont immer wieder die indirekte Natur der Mitteilung durch das Kunstwerk: «Nur durch Enthaltung vom Urteil urteilt Kunst.» (188) – analog vermeidet auch er Explizitheit und deutet nur an. Ein Satz wie «Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbestimmten» (188) instantiiert, was er lehrt, weil er selbst unbestimmt und rätselhaft, paradox, wenn nicht gar widersprüchlich ist. Ohne Zweifel sind einige Abschnitte der Ästhetischen Theorie hohe Literatur, etwa in der kunstvollen Verwendung von Vergleichen und Metaphern. Es ist die Kunst, die sieht, nicht deren Interpret: «Was Natur vergebens möchte, vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf.» (104) «Wer bloß verständnisvoll in der Kunst sich bewegt, macht sie zu einem Selbstverständlichen, und das ist sie am letzten. Sucht einer dem Regenbogen ganz nahezukommen, so verschwindet dieser.» (185) Eindrucksvoll ist etwa die Verwendung des Wortes «beizen» in folgendem Satz: «Ihre tiefste Resistenzkraft aber dürfte die Kulturlandschaft dadurch erlangen, daß der Ausdruck von Geschichte, der ästhetisch an ihr ergreift, gebeizt ist von vergangenem realen Leiden.» (102) Beizen besteht im Anätzen aggressiver Chemikalien, und dass dies ausgesagt wird von dem subjektiven Phänomen des Leidens ist einerseits ein Brückenschlag zwischen Physischem und Psychischem, wie er in jedem Kunstwerk geschieht, andererseits wird damit insinuiert, dass Leiden nicht einfach etwas Passives ist, sondern sich in die Geschichte einfrisst. Ohne diese Aggression gäbe es allerdings kein ästhetisches Ergriffenwerden. Gerade dort, wo Adorno die lebensweltlichen Grundlagen der Kunsterfahrung in der Welt des Zirkus und zumal der Clowns schildert, erreicht
62 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frank furt 1980, 78.
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Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie
sein Text eine Poesie, die derjenigen von Ingmar Bergmans Film Gycklarnas afton (Abend der Gaukler) nahekommt. Das Einverständnis der Kinder mit den Clowns ist eines mit der Kunst, das die Erwachsenen ihnen austreiben, nicht weniger als das mit den Tieren. Nicht so durchaus ist der Gattung Mensch die Verdrängung ihrer Tierähnlichkeit gelungen, daß sie diese nicht jäh wiedererkennen könnte und dabei vom Glück überflutet wird; die Sprache der kleinen Kinder und der Tiere scheint eine. (181 f.)
Worin besteht die hohe literarische Qualität dieser zwei Sätze? Entscheidend ist, dass im ersten Satz zunächst von der Kunst die Rede ist. Indem sich an das Wort unmittelbar ein Relativsatz anschließt, wird der Erziehungseingriff der Erwachsenen als kunstfeindlich dargestellt, und da von den Tieren erst ganz am Ende die Rede ist, bekommt der Leser die Möglichkeit gar nicht in den Blick, dass jener Eingriff vielleicht, und nicht ganz zu Unrecht, auch die Unterscheidung des Menschen vom Tier im Auge hat. Damit kann die Erkenntnis der Tierähnlichkeit als Glückserfahrung eingeführt werden, was erleichtert wird durch die negative Wendung gegen die Verdrängung – der zweite Satz beginnt mit einem «Nicht». Die Metapher «Überfluten» lässt die anorganische Sphäre des Wassers auftauchen, und zwar dort, wo es um die größte Sehnsucht des Menschen, die nach Glück, geht; das bereitet die anscheinende Identifikation der Sprache von Kindern und Tieren vor, die mit dem der metaphysischen Tradition entnommenen Wort «eine» ausgedrückt wird. Indem freilich kurz darauf (187 f.) Mörikes MausfallenSprüchlein zitiert wird, schafft es Adorno, selbst in Kindersprache zu reden und doch die Grausamkeit des Kindes gegenüber den Tieren nicht auszublenden, auch wenn er dann das Gedicht gegen den Strich liest und auf «das unwillentlich freundliche Bild eines gemeinsamen Tanzes von Kind, Katze und Maus» abhebt (188). Die rhetorisch-poetischen Mittel der Ästhetischen Theorie beweisen keineswegs die Konsistenz von Adornos Unternehmen. Aber sie zeigen, dass Adorno einen Sinn für die Poetisierung der Poetik hatte. Dieses Anliegen muss man im Blick haben, wenn man ein ausgeglichenes Urteil über sein letztes großes Werk abgeben will. Zwar hat dieses Buch gezeigt, dass er bei weitem der Erste nicht war, der dieser Forderung gerecht zu werden vermochte. Aber er 101
Poetische Poetiken in der Neuzeit
war vermutlich der Letzte, weil er der letzte Ästhetiker war, der auch selbst Ehrgeiz als Künstler hatte. Mit der Entsprechung von Theorie und Performanz erkennt freilich auch Adorno an, dass man die Forderung nach Organizität und Harmonie für die Kunst, in welch reduzierter Form auch immer, nicht loswird.63
63 Adorno war sich dessen bewusst: Trotz der Ablehnung allgemeiner ästhetischer Normen verteidigt er «die immanente Stimmigkeit» des Kunstwerks (74). – In der analytischen Philosophie der Kunst finden sich Selbstinstantiierungen seltener, aber es ist sicherlich gewollt, dass Nelson Goodman, dessen Unterscheidung von samples und labels kategoriales Licht auf unser Thema wirft, seine Metapherntheorie mit vielen Metaphern ausarbeitet: «Briefly, a metaphor is an affair between a predicate with a past and an object that yields while protesting.» «Indeed, a metaphor might be regarded as a calculated category-mistake – or rather as a happy and revitalizing, even if bigamous, second marriage.» (Languages of Art, Indianapolis 61988, 69 und 73) Spielerisch betont er, wie Metaphern auch normale Rede durchwalten: «Metaphor permeates all discourse, ordinary and special, and we should have a hard time finding a purely literal paragraph anywhere. In that last prosaic enough sentence, I count five sure or possible – even if tired – metaphors.» (ebd., 80)
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Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen Vittorio Hösle Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien 2009. JB-Gespräche 24 121 Seiten. Broschiert. ISBN 978-3-7965-2619-0 Aus der Einleitung Der Titel meiner Abhandlung mag befremden: Wie soll das spezifische Problem der literarischen Bewertung dreier Dichter Licht werfen auf die Tiefenstruktur einer ästhetischen Theorie? Und doch sind in der Ästhetik, ganz ähnlich wie in der Ethik und in der politischen Philosophie, Urteile über konkrete Gebilde teils Ausdruck grundsätzlicher Entscheidungen, teils jedoch haben sie immer wieder Revisionen auf der Grundlagenebene erzwungen. Denn sosehr das Gefühl, ästhetischer Vollkommenheit gegenüberzustehen, eine eigene durchaus süsse Gewalt ausübt, ist uns doch als denkenden Wesen die blosse Faktizität des Kunstgenusses zu brutal; wir wollen verstehen, warum wir so empfinden, wie wir es tun, und wir wollen auch begreifen, warum Menschen, die anders empfinden als wir, mit unseren Kunsturteilen nicht übereinstimmen.
reflexe 13 Johannes Hohlenberg Søren Kierkegaard Eine Biographie Aus dem Dänischen übersetzt von Maria Bachmann-Isler Herausgegeben von Theodor Wilhelm Bätscher Mit einem Nachwort von Annemarie Pieper 2011. 465 Seiten. ISBN 978-3-7965-2740-1 reflexe 14 Karl Jaspers Die Chiffern der Transzendenz Mit zwei Nachworten herausgegeben von Anton Hügli und Hans Saner 2011. 143 Seiten. ISBN 978-3-7965-2767-8 reflexe 15 Arnold Künzli Tradition und Revolution Plädoyer für einen nachmarxistischen Sozialismus Mit einem Nachwort von Ueli Mäder 2011. 202 Seiten. ISBN 978-3-7965-2768-5 reflexe 16 Ludger Lütkehaus Das Schlimmste kommt zuletzt Philosophische Bonsais 2011. 116 Seiten. ISBN 978-3-7965-2769-2 reflexe 17 Jürg Berthold Stimmen Aus dem beschädigten Selbstverständnis der Philosophie 2011. 143 Seiten. ISBN 978-3-7965-2770-8 reflexe 18 Emil Angehrn Geschichtsphilosophie Eine Einführung 2012. 200 Seiten. ISBN 978-3-7965-2825-5
reflexe 19 Karl Pestalozzi Bergschluchten Die Schluss-Szene von Goethes Faust 2012. 173 Seiten. ISBN 978-3-7965-2814-9 reflexe 20 Rolf Wiggershaus Wittgenstein und Adorno Zwei Spielarten modernen Philosophierens 2012. 148 Seiten. ISBN 978-3-7965-2819-4 reflexe 21 Thomas Weibel Takeaway 100 x 100 Sekunden Wissen 2012. 144 Seiten. 22 Grafiken. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2842-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2886-6 reflexe 22 Barbara Handwerker Küchenhoff, Doris Lier (Hrsg.) Stadt der Seelenkunde Psychoanalyse in Zürich 2012. 162 Seiten. ISBN 978-3-7965-2843-9 reflexe 23 Barbara Naumann Bilderdämmerung Bildkritik im Roman 2012. 164 Seiten, 23 Abbildungen, davon 14 in Farbe. ISBN 978-3-7965-2861-3 reflexe 24 Eduard Kaeser Multikulturalismus revisited Ein philosophischer Essay 2012. 137 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2873-6 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2885-9
reflexe 25 Martin R. von Ostheim Selbsterlösung durch Erkenntnis Die Gnosis im 2. Jahrhundert n. Chr. 2013. 98 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2894-1 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2925-2 reflexe 26 Nora Eckert Wegschauen geht nicht Georg Büchner auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts 2013. 148 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2897-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2927-6 reflexe 27 Daniel Hell Krankheit als seelische Herausforderung 2013. Ca. 220 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2896-5 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2919-1 reflexe 28 Vittorio Hösle Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik 2013. 102 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2921-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2922-1 reflexe 29 Rüdiger Görner Hörgedanken Musikliterarische Bagatellen und Etüden 2013. 134 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2929-0 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2930-6
Das Signet des 1488 gegründeten Druck- und Verlagshauses Schwabe reicht zurück in die Anfänge der Buchdruckerkunst und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es ist die Druckermarke der Petri; sie illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?»
So sehr auch die Erforschung der physiologischen, psycholo gischen und sozialen Bedingungen, die die Kunst hervor bringen und ihren Erfolg mitbestimmen, unser Verständnis von Kunst vertieft hat, brauchen wir dennoch Kriterien, die uns erlauben, gute von schlechter Kunst zu unterscheiden. Vittorio Hösle
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Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch