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German Pages 103 [112] Year 2017
Vittorio Hösle
Russland 1917–2017 Kultur, Selbstbild und Gefahr
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Ein Vierteljahrhundert nach der Auflösung der Sowjetunion ist Russland wieder ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit gerückt. Das gegenwärtige Verhalten des Landes empfinden viele als rätselhaft, wenn nicht gar als bedrohlich. Vittorio Hösle geht in drei Kapiteln auf Kontinuitäten zwischen dem vorsowjetischen Russland, der durch die bolschewistische Revolution von 1917 geschaffenen Sowjetunion und dem postsowjetischen Streben nach einer neuen Rolle in der Welt ein. Was seine Essays auszeichnet ist der Versuch, die russische und sowjetische Kultur in verschiedenen Facetten auszuleuchten: Die russische Literatur, ohne Zweifel einer der großartigsten und komplexesten Beiträge zur Weltliteratur, und der sowjetische Film, dessen außerordentliche ästhetische Qualität den Enthusiasmus für den erhofften weltgeschichtlichen Neubeginn ausdrückt, werden ebenso erörtert wie entscheidende sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche Veränderungen im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig wird eine geschichtsphilosophische Einordnung der sowjetischen Revolution versucht, die markant abweicht von deren Selbstinterpretation im Rahmen der marxistischen Geschichtsphilosophie: Der sowjetische Kommunismus war ein Versuch, in einem wirtschaftlich und politisch rückständigen Land die Industrialisierung nachzuholen und es gleichzeitig mit dem Gefühl zu beseelen, die Avantgarde der Welt zu sein. Das abschließende Kapitel über Russlands gegenwärtiges Machtstreben diskutiert schonungslos die Gefahren, die der durch eine nationale Demütigung gespeiste revanchistische Nationalismus und die neue Monokratie Wladimir Putins für den Frieden in Europa darstellen.
Vittorio Hösle wurde 1960 in Mailand geboren und studierte Philo sophie, Wissenschaftsgeschichte, Gräzistik sowie Indologie an den Universitäten Regensburg, Tübingen, Bochum und Freiburg. Nach Promotion (1982) und Habilitation (1986) in Tübingen im Fach Philosophie war er Professor an der New School for Social Research in New York, in Essen, Hannover und seit 1999 an der University of Notre Dame für deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft.
Vittorio Hösle
Russland 1917–2017 Kultur, Selbstbild und Gefahr
Schwabe Verlag Basel
Schwabe reflexe 51 Copyright © 2017 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz ISBN Printausgabe 978-3-7965-3636-6 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3681-6 [email protected] www.schwabeverlag.ch
Für Horst und Eva Köhler in Dankbarkeit und Bewunderung für die vorbildliche und natürliche Weise, in der sie Deutschland repräsentiert haben.
Was kann man von dem Menschen, als von einem mit so sonderbaren Eigenschaften begabten Wesen, erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen irdischen Gütern, versenken Sie ihn in Glück bis über den Kopf, so dass, wie im Wasser, nur Blasen an die Oberfläche des Glückes hinaufsteigen; stellen Sie ihn in materieller Hinsicht so günstig, dass er weiter nichts mehr zu tun hat als zu schlafen, Pfefferkuchen zu essen und dafür zu sorgen, dass die Weltgeschichte nicht vor der Zeit aufhört – so wird er, der Mensch, Ihnen auch dann, auch dann lediglich aus Undankbarkeit, lediglich aus Bosheit irgendeine Gemeinheit begehen. Er wird sogar die Pfefferkuchen aufs Spiel setzen und sich absichtlich den verderblichsten Unsinn, den materiell nachteiligsten Blödsinn wünschen, einzig und allein um dieser ganzen positiven Vernünftigkeit sein eigenes verderbliches phantastisches Element beizumischen. Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, I 8
Inhalt Vorwort: Über einen Untoten in der heutigen Weltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Woher rührt der ausserordentliche literarische Wert der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Geistiger Hintergrund und Besonderheit der sowjetischen Revolution: Eine g eschichtsphilosophische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Warum das heutige Russland gefährlicher ist als die Sowjetunion der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Vorwort: Über einen Untoten in der heutigen Weltpolitik Es gibt Jubiläen, die rein historischer Art sind: Man erinnert sich pietätvoll einer endgültig vergangenen Institution, ist vielleicht etwas wehmütig gestimmt, im Grunde aber meist froh, dass das Erinnerte endgültig zur Ruhe gelegt worden ist. Andere Jubiläen feiern hingegen den Beginn einer noch bestehenden, durch die Erinnerung an diesen Anfang zusätzlich Kraft gewinnenden Institution. Der hundertste Jahrestag der sowjetischen Revolution ist nicht leicht in dieses Schema einzuordnen, denn einerseits ist das sowje tische Experiment mit dem Ende der Sowjetunion 1991 für alle sichtbar gescheitert. Gewiss, es gibt noch fünf sich kommunistisch nennende Staaten, aber der bei weitem bedeutendste unter ihnen, China, hat sich von den Idealen von 1917 in der Realität seiner Wirtschaft weitgehend gelöst, und von den fünfzehn ehemaligen Sowjetrepubliken bezeichnet sich keine mehr als kommunistisch. Andererseits wäre es verfehlt, die sowjetische Epoche einfach zur Vergangenheit zu schlagen, wie etwa das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Dazu liegt der Zusammenbruch der Sowjetunion geschichtlich zu wenig weit zurück, nämlich nur ein gutes Vierteljahrhundert. Viel wichtiger ist freilich die Tatsache, dass ihr Ende keineswegs ein allgemein akzeptiertes und verdautes Faktum ist. Während sich in den 1990er Jahren Russland auf massive eigene Probleme konzentrieren musste, wird es immer deutlicher, dass die sowjetische Zeit wie ein Wiedergänger die politischen Ideen der heutigen russischen Eliten bestimmt. Die einzelnen Glieder der Sowjetunion mögen zwar abgehackt worden sein, aber die Phantomschmerzen der russischen Eliten sind nichtsdestoweniger real. Man kann die gegenwärtige weltpolitische Situation überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht die zunehmende russische Weigerung, sich mit den territorialen Verlusten und den massiven Einbußen an weltpolitischer Bedeutung der letzten zwei Jahrzehnte abzufinden, als einen der wichtigsten politischen Faktoren der Gegenwart anerkennt. Dieser Faktor ist nicht nur wichtig, er ist
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hochgradig gefährlich und hat das Potential, die Welt in Chaos, ja, sogar in die kaum auszumalende Katastrophe eines nuklearen Krieges zu stürzen. Anfang der 1990er Jahre äußerte Francis Fukuyama die Hoffnung, das 21. Jahrhundert werde das Ende der Geschichte erleben, weil sich alle Kulturen des Planeten für Marktgesellschaften mit demokratischem staatlichem Rahmen entscheiden würden. Diese Hoffnung hat sich keineswegs erfüllt. Die damalige Erwartung, der zunehmende Welthandel werde die schlimmsten Formen absoluter Armut weltweit mildern und durch die immer weitergehende wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Staaten Kriege wirtschaftlich so unsinnig werden lassen, dass sich keiner mehr auf sie einlassen werde, hat sich zwar für die wirtschaftlichen Entwicklungen bewahrheitet, ist bezüglich der Konsequenzen dieser Entwicklungen einer wesentlich düstereren Perspektive gewichen. Keineswegs nur in Russland nehmen antiuniversalistische Kräfte, die die Globalisierung wesentlich als Bedrohung empfinden, überhand: Es soll hier genügen, die Präsidentschaft Donald Trumps in den USA, den Erfolg des Front National in Frankreich und der Alternative für Deutschland in der Bundesrepublik sowie die BrexitEntscheidung von 2016 zu nennen – Phänomene, die sämtlich von einer tiefsitzenden Entfremdung zwischen weiten Teilen der Bevölkerungen der westlichen Demokratien und ihren Eliten zeugen. In kaum einem anderen Land ist aber die Opposition gegen eine universalistische Ethik so eng mit der Bereitschaft – und der Fähigkeit – zum Einsatz militärischer Gewalt verbunden wie in Russland. Gewiss richtet sich die gegenwärtige russische Politik nicht auf die Wiederbelebung kommunistischer Ideale, von denen das postsowjetische Russland viel weiter entfernt ist als die westeuropäischen Sozialstaaten. Aber insofern es die bolschewistische Ideologie war, die Russland den Aufstieg zu einer von nur zwei Weltmächten ermöglichte, ist die Nostalgie nach der Weltmachtstellung eine Folge der sowjetischen Revolution von 1917, die deshalb keineswegs ad acta gelegt werden kann. Ich selbst habe das Privileg genossen, 1990 vier Monate lang in der Sowjetunion zu unterrichten und die weltgeschichtlichen Veränderungen unter Michail Gorbatschows Perestroika gleichsam als Zeitzeuge mitzuerleben. Mein damaliger Enthusiasmus wich 12
jedoch schon Mitte der 1990er Jahre zunehmendem Pessimismus. Eine der verschiedenen inzwischen erfüllten Prognosen meines Buches Moral und Politik lautet, dass die Auflösung der Sowjetunion «Kompensationsversuche freisetzen» muss, «wie man sie aus Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg kennt, obwohl damals die Fallhöhe viel geringer war … Mafiose Strukturen, wie sie sich überall dort ausbilden, wo die Bereicherungschancen, die der moderne Kapitalismus bietet, ohne entsprechende rechtliche und moralische Infrastruktur ausgenutzt werden, üben die reale Macht aus. Kein Land gibt mehr Anlaß zur Sorge als Rußland, weil das Mißverhältnis zwischen der verbliebenen militärischen, der zusammengebrochenen ideologischen Macht und der wirtschaftlichen Ohnmacht nicht stabil sein kann». Und ich warnte: Russlands «temporäre Schwäche darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es durch Größe, Bevölkerungszahl, wissenschaftliches Niveau und militärische Macht eine Großmacht bleibt und daß eine Mißachtung des Landes auf internationalem Parkett in Anbetracht der entsetzlichen Demütigung, die das Scheitern des kommunistischen Experiments für Rußland bedeutet, innenpolitische Entwicklungen auslösen kann, die den Weltfrieden gefährden. Sicher ist die Sorge der westlichen Nachbarn vor dem verwundeten Koloß nur zu verständlich, aber es wäre schrecklich, wenn die Angst vor Rußland dadurch zu einer sich selbst erfüllenden Erwartung würde, daß sie zu Kettenreaktionen Anlaß gäbe, die das Land in noch ganz anderem Maße fürchterlich werden ließen, als es jetzt schon ist».1 Zwar wird auch Chinas Aufstieg zu einer Weltmacht die internationale Arena Turbulenzen unterwerfen. Aber es gibt einen einfachen und guten Grund zu hoffen, dass dies nicht mit einem katastrophalen Krieg einhergehen wird: Die chinesische Regierung hat ein viel zu starkes Interesse an Wohlstand. Mag der intrinsische Wert des Strebens nach Wohlstand auch gering sein, es hat die höchst erfreuliche Konsequenz, dass es friedfertig macht – zwar nicht aus moralischem Prinzip, aber aus Egoismus. Doch wenn dies dem Frieden dient, kann, ja soll man diesen Egoismus nur willkommen heißen und – um mit dem alten Begriffspaar Werner Sombarts gegen dessen Intention zu arbeiten – die «Händler» den «Helden» durchaus vorziehen. Russlands außerordentliche 13
Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine auf den Weltmärkten erfolgreiche Wirtschaft aufzubauen, die sich nicht auf den Export von Ressourcen beschränkt, lassen es dagegen weniger absurd erscheinen, dass das Land mit dem Risiko eines großen Krieges spielen könnte: Nicht nur hätte es viel weniger zu verlieren als seine Gegner, es könnte sich ein Gefühl der Überlegenheit, das ihm auf wirtschaftlichem Gebiete versagt ist, in einem Bereich verschaffen, in dem die Schwäche der Europäischen Union evident ist. Deren Unfähigkeit, etwa in der Flüchtlingsfrage eine gemeinsame Politik zu verfolgen, ist nicht dazu angetan, Russland davon zu überzeugen, dass die EU in kritischen Fragen entscheidungs- und handlungsfähig ist. Nur die NATO und die US-amerikanische Sicherheitsgarantie können derzeit Europa schützen, das vor nichts mehr Angst haben sollte als vor einem neuen Isolationismus der USA. Freilich beruhen Entscheidungen zum Kriegseintritt keineswegs immer auf einer nüchternen Kosten-Nutzen-Abschätzung – der Wunsch nach Anerkennung der eigenen nationalen Besonderheit und nach Kompensation vermeinten Unrechts sind weitere mächtige Motive. Wer die Propaganda der russischen Staatsmedien in den letzten zwei Jahren verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bevölkerung auf einen großen Krieg vorbereitet werden soll. In dieser Perspektive wäre der Einsatz in Syrien der deutschen Intervention im Spanischen Bürgerkrieg vergleichbar. Zumindest liegt es auf der Hand, dass die Brutalität der Kriegsführung auch deswegen bewusst gewollt und nicht nur in Kauf genommen ist, weil Europa ausdrücklich in Angst versetzt werden soll. Größere Klarheit über die Faktoren, die Russlands Entscheidungen bestimmen werden, kann man nur erhalten, wenn man die Besonderheiten der russischen Mentalität studiert, die markant von der westeuropäischen abweicht, ohne doch deswegen unverständlich zu sein, wie Fjodor Tjuttschew in seinen so oft zitierten Versen unterstellt, die den Stolz auf die eigene Andersartigkeit brillant ausdrücken. Die drei folgenden Essays behandeln erstens das vorsowjetische Russland vermittels seiner Literatur, zweitens die Vorgeschichte der sowjetischen Revolution, ihr Wesen und ihre Folgen sowie drittens das gegenwärtige Russland.2 Zwei Züge kennzeichnen meinen Zugang zu Russland. Erstens verweise ich mit Nachdruck auf die Kontinuitäten in der russischen Geschichte. 14
Zwischen dem zaristischen und dem sowjetischen sowie dem so wjetischen und dem postsowjetischen Russland (und damit auch zwischen dem vor- und dem nachsowjetischen Russland) erkenne ich wesentlich mehr Ähnlichkeiten als Differenzen. Eine der Konstanten des russischen «Volksgeistes» ist die Ablehnung der besitz individualistischen bürgerlichen Werte – eine A blehnung, die der totalitären Barbarei ebenso zugrunde liegt wie einer außerordentlichen Hellsichtigkeit gegenüber den heuchlerischen Momenten, die die sich in der Neuzeit in Westeuropa bildende bürgerliche Moral charakterisieren. Keine Kultur hat die Gefahr moralischer Verkümmerung durch einen individualistischen und hedonistischen Kapitalismus klarer in den Blick bekommen als Russland, und zwar schon im 19. Jahrhundert. Es ist diese Hellsichtigkeit, die der tiefste Grund ist für die Großartigkeit der klassischen russischen Literatur; sie begründet die eigentümliche Berufung der russischen Kultur und ihres Widerstandes gegen den Triumphzug westeuropäischer und amerikanischer Werte über den ganzen Globus. So sehr der russische Messianismus für katastrophale Entwicklungen verantwortlich gewesen ist und so sehr er heute nur eine Fratze ist, hinter der sich zynisches Machtstreben verbirgt, so wenig kann man bestreiten, dass die russische Kultur eine der faszinierendsten Kulturen der Menschheit gewesen ist und dass auch die sowjetische Epoche, anders als die nationalsozialistische, bedeutsame Kulturleistungen erbracht hat. Ein Schwanken zwischen Faszination und Ablehnung, das in der Natur des Gegenstandes selbst begründet liegt, ist das zweite Kennzeichen dieser Aufsätze. Zu danken habe ich für mannigfache Anregungen und Korrekturen den Teilnehmenden des Workshops «A Century After Russian Revolution: Its Legacy in International Law» vom Mai 2016 am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, insbesondere Matthias Hartwig, sowie Dirk Uffelmann, Karla Cruise und Anton Leist. Am allermeisten ist mein Bild von Russland von meinem Freund, dem großen Künstler Maxim Kantor, geprägt, dessen Werk wohl die bedeutendste Interpretation der jüngsten russischen Geschichte darstellt.3
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Woher rührt der ausserordentliche literarische Wert der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts? Die Titelfrage dieses Essays hat sich, denke ich, jedem literarisch Interessierten schon einmal – oder mehrmals – gestellt. Es ist nicht Aufgabe dieses kurzen Textes, eine Kriteriologie poetischen Wertes zu begründen oder auch nur zu entwickeln; es möge hier einfach als durch einen weiten Konsens hinreichend gestützte Ausgangsthese akzeptiert werden, dass die russische Literatur, die sich seit dem Wunder des Puschkinschen Werkes im 19. Jahrhundert entfaltet, eines der staunenswertesten Gebilde der Weltliteratur ist: Innerhalb weniger Jahrzehnte entsteht eine Fülle von Werken, die man ohne Zögern zu den glanzvollsten der Weltliteratur rechnen darf. Ich will mich hierbei auf die epischen Werke konzentrieren, also im Wesentlichen auf Romane und Erzählungen, und zwar nicht weil ich bestreiten wollte, dass die russische Lyrik und das russische Drama poetisch erstrangig seien (eine Komödie vom Range von Nikolai Gogols Revisor kennt m.E. die ganze deutsche Literatur nicht), sondern weil die Antwort, die ich vorschlage, für die Epik besonders plausibel gemacht werden kann. In der Tat stellt sich angesichts dieser Werke notwendig die Frage: Warum ist gerade Russland, dessen Beitrag zur Weltliteratur bis zum 18. Jahrhundert eher bescheiden ist und wenigstens nicht mit demjenigen der anderen großen europäischen Kulturnationen verglichen werden kann, zu einer solchen literarischen Leistung befähigt gewesen? Eine Antwort, die man häufig liest,1 ist zwar richtig, kann aber offenkundig nicht vollständig sein – nämlich, dass das Ausmaß der politischen und kulturellen Unterdrückung Russlands intellektuell ehrgeizigen und fähigen Menschen wenig andere Verwirklichungs möglichkeiten ließ als die Literatur: In den USA drängten begabte Intellektuelle in die Politik, in die Jurisprudenz, in den Journalismus, in Deutschland etwa in die Philosophie – in Russland waren wenige andere Felder frei als das literarische. Aber es ist unschwer
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zu sehen, warum diese Antwort unvollständig sein muss: Es gab manche politisch unterdrückte Kulturen in der Geschichte der Menschheit im Allgemeinen und im 19. Jahrhundert im Besonderen, und nur sehr wenige, wenn überhaupt eine, haben derjenigen Russlands vergleichbare literarische Leistungen vollbracht. Offenbar ist jene Ursache allerhöchstens eine notwendige, aber sicher keine hinreichende Bedingung für literarische Produktivität; und auch wenn in diesem Essay natürlich nicht der Anspruch erhoben wird, alle Ursachen eines so komplexen und multikausalen Phänomens wie der Qualität einer Nationalliteratur anzuführen, will ich einige weitere Faktoren nennen, die vielleicht unser Phänomen besser zu verstehen gestatten. Meines Erachtens ist der entscheidende Punkt, auf den es bei einer befriedigenden Antwort auf unsere Frage ankommt, der geschichtliche Ort, den Russland im vorletzten Jahrhundert in seiner geistigen Entwicklung eingenommen hat. Zwar spricht einiges dafür, dass es so etwas wie einen die Jahrhunderte übergreifenden Nationalcharakter gibt (so mag man erfolgreich Kontinuitäten zwischen Iwan IV. und Stalin aufdecken); aber mindestens ebenso wichtig wie derartige transhistorische Konstanten sind die Eigentümlichkeiten einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Vorwegnehmend sei meine These so skizziert: Russland hat im 19. Jahrhundert den Übergang von der Vormoderne zur Moderne versucht und teilweise geleistet, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem die Länder, die es, wenn auch mit Widerstreben, als Vorbild empfand, den Zenit der Moderne schon erreicht, ja überschritten hatten. Es ist diese ganz eigenartige Situation, die die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ermöglicht hat. Im Folgenden will ich zunächst einige Wesensmerkmale der geistigen Situation Russlands im vorletzten Jahrhundert, auch und gerade der Philosophie, erörtern, wenn auch nur in gröbster Vereinfachung (I), und mich dann der Literatur zuwenden (II).
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I. Russland unterscheidet sich von Westeuropa dadurch, dass es keine Renaissance, keine Reformation, keine umgreifende, auch die Mittelschicht erfassende Aufklärung kennt – allesamt innere Voraussetzungen des «Projekts der Moderne». Ja, schon im Mittelalter fanden in den beiden Kulturkreisen unterschiedliche Weichenstellungen statt, die auf Jahrhunderte hin folgenreich blieben: Das orthodoxe Christentum kennt weder eine argumentative Verteidigung des Glaubens nach Art der Scholastik noch eine der Kanonistik vergleichbare Ausarbeitung und wissenschaftliche Durchdringung des Kirchenrechts.2 Vermutlich wäre einer Kultur wie der russischen, für die die Kategorie des Rechts immer marginal geblieben ist, der katholische Gedanke geradezu blasphemisch erschienen, dass auch und gerade in der Kirche, bei der Vermittlung des gottgewollten Heils, Rechtsbeziehungen von zentraler Bedeutung sind. Der Aufstieg Russlands zu einer europäischen Großmacht hatte im Wesentlichen geopolitische (man denke an die Expansionsmöglichkeiten nach Osten) und militärische Gründe; und so sehr Peters des Großen Öffnung nach Westen das Land in seiner außenpolitischen Machtentfaltung den anderen europäischen Mächten gleichstellte, so wenig gelang in der Innenpolitik eine Anpassung an das westliche Niveau. Nach Russlands bedeutendem, vielleicht sogar entscheidendem Beitrag zur Überwindung der Napoleonischen Hegemonialbestrebungen stellt sich die identitätsmäßige Situation für die russische Oberschicht folgendermaßen dar: Man gehört zum Konzert der europäischen Mächte, ist sogar einer der mächtigsten Staaten der Alten Welt, die noch nahezu den ganzen Planeten beherrscht. Gleichzeitig spürt man die Andersartigkeit der eigenen Kultur, insbesondere der unteren Schichten, denen die bürgerlichen Werte Westeuropas noch völlig fremd sind, aber letztlich auch die eigene Andersartigkeit, die sich weder im eigenen Land noch im Ausland wirklich zu Hause fühlt: In Russland spricht man französisch, im Ausland sehnt man sich nach der Heimat. Daraus ergibt sich nahezu zwangsläufig einer der merkwürdigsten Züge der russischen Philosophie – das geradezu obsessive 19
Nachdenken über den eigenen Nationalcharakter. Es lohnt, über diesen Sachverhalt eine Weile zu staunen; denn weder die französische noch die englische Philosophie haben je die besonderen Eigentümlichkeiten Frankreichs oder Englands thematisiert: Der einzelne Philosoph mag als Franzose oder Engländer sich zwar darüber seine Gedanken gemacht haben, aber doch nicht als Philosoph. Zwar kann man Fichtes Reden an die deutsche Nation als Gegeninstanz anführen (die nicht zufällig während der Napoleonischen Besetzung Preußens entstanden sind); aber es handelt sich doch dabei um ein beiläufiges Werk, keineswegs um das Zentrum der Fichte’schen Produktion oder gar der deutschen Philosophie. Im Falle der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts lässt sich aber durchaus sagen, dass der Gegensatz zwischen Westlern und Slawophilen deren Mittelpunkt ausmacht – oder zumindest eine ihrer wichtigsten und originellsten Fragestellungen. Originell ist diese Fragestellung, weil sie aus einer existenziellen Betroffenheit entspringt: Russland konnte (und kann vermutlich auch heute noch) kein normales Selbstverhältnis haben, solange es nicht sein Verhältnis zum Westen geklärt hatte (bzw. hat). Einerseits ein europäisches, weil christliches Land, andererseits eben nicht zu Westeuropa gehörig, verwirrt und gleichzeitig fasziniert von den Veränderungen, die die Moderne in den anderen christlichen Staaten hervorgebracht hat, ist Russland durch den Erfolg des westlichen Weges deswegen so herausgefordert worden, weil es von allen anderen Kulturen am ehesten der westeuropäischen verwandt ist, ohne doch zu ihr zu gehören. Bei diesem eigentümlichen Grad der Verwandtschaft ist eine stabile Identitäts bestimmung besonders schwierig, und die Extreme der Selbst unterschätzung und der Selbstüberschätzung liegen gleichermaßen nahe. Bis zur Selbstdemütigung gehende Anpassung an den Westen, schroffes Zurückweisen der westlichen Errungenschaften als «dekadent» sind in einer solchen Situation gleichermaßen naheliegende Optionen. Ja, man kann gute Argumente für die These anführen, die russischen Slawophilen seien die Vorläufer der Fundamentalisten des 20. Jahrhunderts – denn der Fundamentalismus, wie es ihn heute keineswegs alleine, aber besonders heftig in der islamischen Welt gibt, die der westeuropäischen Kultur näherkommt als alle anderen Kulturen außerhalb Osteuropas, 20
ist seinem Wesen nach die Reaktion vormoderner Kulturen auf den Triumphzug der Moderne, und zwar, was seine innere Widersprüchlichkeit begründet, eine Reaktion, die sich durchaus moderner Ausdrucksformen bedient. Eine weitere Gefahr der russischen Diskussion über das Verhältnis zu Westeuropa ist das Abgleiten in Rhetorik, weil es wirklich nicht einfach ist, auf die russische Identitätsfrage eine plausible Antwort zu finden. Liest man über die begeisterten Reaktionen auf Fjodor Dostojewskis Puschkinrede vom 8. Juni 1880, ist man zunächst einmal überrascht – denn eine konkrete Lösung des Dilemmas des russischen Weges enthält jene vage Beschwörung einer Synthese gerade nicht. Aber man versteht auch, wieso eine derartig unpräzise Ankündigung einer Synthese die Menschen zu exaltierten Reaktionen hinreißen konnte – wäre die Synthese gangbar gewesen, hätte Russland seine Identitätsprobleme wirklich lösen können. (Im Übrigen war der Leninismus ebenfalls der Versuch einer Synthese, was seine intellektuelle Anziehungskraft erklärt: Im Rückgriff auf eine westliche Ideologie, den Marxismus, wurde Russland eine eschatologische Rolle im Gang der Geschichte versprochen, und alte kollektivistische Traditionen konnten unter dem Vorwand, sie seien eine Überwindung des westlichen Kapitalismus, mit einer zukunftsorientierten Legitimation weitergeführt werden.) Eine unmittelbare Folge der zentralen Stellung des Identitätsproblems für die russische Philosophie ist ihr ungewöhnlicher Sinn für kulturphilosophische Fragen. Probleme des Kulturvergleichs ebenso wie der inneren Logik einer einzelnen Kultur sind von der russischen Philosophie und von den russischen Geisteswissenschaften (spätestens von Nikolai Danilewskij an bis in die Gegenwart) mit besonderer Sensibilität behandelt worden. Dagegen kann man nicht behaupten, dass sich die russische Philosophie durch besondere begründungstheoretische Anstrengungen auszeichne. Argumente vom Abstraktionsniveau der Kantischen Kategoriendeduktion wird man in ihr nicht finden, weil ein grundsätzlicher erkenntnistheoretischer Zweifel nach der Art Descartes’ oder Humes in der russischen Kultur aufgrund ihrer Vorgeschichte nicht möglich war: Hume ist ein prototypischer Aufklärungsphilosoph, und Descartes ist unverständlich ohne die crise pyrrhonienne, die ein 21
Resultat u.a. der konfessionellen Spaltung Westeuropas war, die Russland erspart bzw. versagt blieb. Ein Projekt wie dasjenige der Kantischen Transzendentalphilosophie setzt einen bürgerlichen, ja, protestantischen Hintergrund voraus, wie es ihn in Russland nicht einmal ansatzweise gab. Was die russische Philosophie kennzeichnet, ist vielmehr ein Pendeln zwischen zwei Extremen: einerseits einem Weiterführen der in einem christlichen Platonismus wurzelnden Tradition des objektiven Idealismus, die allerdings nicht, wie im deutschen Idealismus, durch neue und eigene begründungstheoretische Ideen angereichert wird, andererseits einem heftigen und daher oft primitiven Atheismus. Paradoxerweise lässt sich sagen, dass dieser Atheismus selber religiösen Charakter hat – der russische Nihilismus, der sich u.a. aus einer spezifischen Rezeption und Umformung der Philosophie Hegels nährt, entspringt einer Alles-oderNichts-Mentalität, die an die Überwindung der Religion geradezu eschatologische Hoffnungen knüpft. Nichts zeigt den grundsätzlichen Unterschied zwischen der westlichen und der russischen Philosophie deutlicher als Dostojewskis bekannter Satz, wenn Gott nicht existiere, sei alles erlaubt. Die westeuropäische Philosophie hatte sich seit der konfessionellen Spaltung um «natürliche» Ethiken und Rechtsphilosophien bemüht, die ohne Gott auskamen – Hobbes’, Humes und Kants Ansätze sind allesamt Versuche in diese Richtung, auch wenn sie von sehr unterschiedlichen Prämissen ausgehen und daher auch zu recht verschiedenen Ergebnissen gelangen. Aber sie kommen in dem Bestreben überein, eine nichtnihilistische Ethik zu konzipieren, die auch nach dem Verlust der Evidenz der christlichen Dogmen und des Glaubens an Gott konsensfähig sein kann. Es geht hier nicht um die Frage, ob ein derartiger Versuch gelingen kann oder nicht – vielleicht ist an der russischen Skepsis gegenüber derartigen Bestrebungen mehr Vernunft, als die westeuropäische Philosophie gemeinhin denkt, und man versteht die Begeisterung auch und gerade der religiösen Philosophen Russlands für Nietzsche, wenn man bedenkt, dass auch er die Alternative Dostojewskis akzeptiert, sich allerdings für das andere Glied der Alternative entscheidet. Wissenssoziologisch wird man jene Alles-oder-Nichts-Mentalität mit dem Fehlen eines Bürgertums in Verbindung bringen – denn dieses ist vom Geist des Kom22
promisses getragen und insbesondere von einer Verbindung von abstrakter Gerechtigkeit und kühl kalkulierendem Eigeninteresse, die der vormodernen Welt fremd war, welche an extremen Lastern wie an extremen Tugenden gleich fruchtbar war.
II. Wie schon gesagt, ist eine der gleichsam negativen Ursachen der Attraktivität des literarischen Feldes für die russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts die geringe Zahl anderweitiger Optionen gewesen. Man erfasst einen Wesenszug der russischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts (und in anderer noch furchtbarerer Form auch des 20. Jahrhunderts), wenn man auf das Gefühl der politischen Ohnmacht verweist, das die meisten von ihnen beherrschte. Bei einigen der aus dem Adel stammenden Dichter ist dieses Gefühl verbunden mit Schuldgefühlen wegen der eigenen privilegierten sozialen und wirtschaftlichen Position, die eine Lebensform ermöglichte, welche die ungestörte Entfaltung der eigenen Kreativität gestattete, die aber gerade bei den Sensibleren und Intelligenteren den Verdacht nährte, man sei im Grunde ein Parasit, der von fremder Arbeit lebe und von gesellschaftlichen Institutionen profitiere, um deren Ungerechtigkeit man genau wisse. Diese Ohnmachts-und Schuldgefühle können sich zu einem Gefühl der Überflüssigkeit, ja der Verzweiflung steigern oder aber auch durch Allmachtsfantasien nach Art derjenigen Kowrins in Anton Tschechows Der schwarze Mönch kompensiert werden. Ein weiterer Faktor ist die meines Erachtens geringere Leistungsfähigkeit der russischen Philosophie im Vergleich mit der westlichen: Da es noch keine von den restlichen kulturellen Tätigkeiten emanzipierte, an den Universitäten institutionalisierte Philosophie gab, musste das philosophische Bedürfnis, ähnlich dem politischen, durch die Literatur befriedigt werden, und man kann durchaus sagen, dass eine Figur wie Dostojewski ein originellerer Philosoph ist als die meisten der russischen Philosophen im engeren Sinne des Wortes. Zwar wird man bei Dostojewski eine genaue logische Analyse der Voraussetzungen seiner Argumente vergeblich suchen; aber er erfasst als erster Phänomene, die für die Ethik 23
zentral sind, und er stellt Fragen, deren philosophische Sprengkraft die der fachphilosophischen Problemstellungen eindeutig übertrifft. Die entscheidende positive Ursache aber ist in den obigen Ausführungen zur russischen Identitätssuche impliziert. Russland wird erst Ende des 18. und besonders Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer den anderen europäischen Ländern vergleichbaren Kulturnation; in seinem Entwicklungsgrad entspricht es in dieser späten Zeit dem Entwicklungsstand, den die westeuropäischen Nationen im 16. und 17. Jahrhundert einnahmen. Und nicht zufällig ist diese Zeit eine der fruchtbarsten für die Weltliteratur: Rabelais, Camões, Cervantes und Shakespeare besitzen eine literarische Vitalität und Erfindungsgabe, die man bei ihren Nachfahren vermisst. Das ist nicht allein mit einer geschichtsphilosophisch inspirierten Poetik à la Vico und Jochmann zu erklären, nach der der Zivilisationsprozess im Allgemeinen und der Modernisierungsprozess im Besonderen den emotionalen Reichtum und damit auch eine zentrale lnspirationsquelle der Poesie versiegen lassen – denn diese Theorie ist insofern einseitig, als sie übersieht, dass die Zunahme an Reflexivität der Differenziertheit einer Dichtung durchaus zuträglich sein kann. Das gilt für die Erzähltechniken ebenso wie für die Wiedergabe der Wirklichkeit: Seelische Vorgänge so differenziert zu analysieren, wie es etwa Goethe in den Wahlverwandtschaften gelingt, wäre im 16. und 17. Jahrhundert noch unmöglich gewesen. Mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass der poetische Wert eines literarischen Textes nicht gelöst werden kann von der in ihm präsenten Differenziertheit der Wahrnehmung, auch und gerade komplexer moralischer Situationen; und man kann schwerlich bestreiten, dass Umbruchzeiten moralische Differenziertheit in einem besonderen Maße herausfordern, weil die tradierten Werte und Tugenden fragwürdig werden. Kein moralischer Umbruch in den letzten tausend Jahren ist aber so grundsätzlich und tiefgehend gewesen wie derjenige, der zur Entstehung der Moderne geführt hat. Um die poetische Bedeutung dieses Umbruchs deutlich zu machen, sei an den Don Quixote erinnert, der zudem für die russische Literatur deswegen wichtig ist, weil trotz des tragischen Ausgangs Dostojewskis Idiot ihm wesensverwandt ist. Wie hier nur angedeutet werden kann, beruht die unendliche vis comica 24
von Cervantes’ Roman auf der Ungleichzeitigkeit des vormodernen Wertsystems des Titelhelden mit den inzwischen in der Gesellschaft herrschenden Werten: In der Phantasiewelt von jenem bezahlen fahrende Ritter nicht für ihre Übernachtung, in der realen Welt aber erwarten Wirte durchaus Geld für ihre Dienste. Einerseits akzeptiert Cervantes die schmerzliche, aber zentrale Einsicht der praktischen Philosophie der Moderne, dass gute Absichten zu desaströsen Folgen führen können, und zeigt dies an den ersten Abenteuern seines Helden auf; andererseits hebt er sie insofern wieder auf, als über komplizierte Vermittlungen, die der göttlichen Vorsehung zu danken sind, die guten Absichten seines guten Helden im Großen eben auch zu guten Konsequenzen führen. Wir werden noch sehen, dass die Größe der russischen Literatur u.a. daher rührt, dass in ihr der Übergang vom Wertsystem der Vor moderne zu demjenigen der Moderne das zentrale Hintergrundthema ist, während er in der zeitgenössischen westeuropäischen Literatur kaum eine Rolle mehr spielt, weil er schon seit längerem bewältigt war. Die moralische Substantialität der Anna Karenina Lew Tolstois wird man in Gustave Flauberts Madame Bovary vergeblich suchen; ein Pendant zu Lewin und Kitty gibt es bei Flaubert nicht. Umgekehrt kann man aber gerne einräumen, dass die erzähltechnischen und seelenanalytischen Kompetenzen Flauberts diejenigen Cervantes’ übertreffen, und es liegt auf der Hand, dass Flauberts kalter Erzählstil literarisch der Sentimentalität Victor Hugos überlegen ist. Aber zwischen Gefühlskälte und Kitsch gibt es einen Mittelweg; und damit wird schlaglichtartig deutlich, weshalb die russische Literatur eine so einzigartige Sonderstellung innerhalb der Weltliteratur einnimmt: Sie kämpft noch um eines der faszinierendsten und gehaltvollsten moralisch-politischen Probleme der Menschheit, beherrscht aber, aufgrund der Vertrautheit mit der westeuropäischen Literatur, schon jene formalen Darstellungsmittel, die etwa einem Cervantes noch unbekannt sein mussten. Größe des Themas und Differenziertheit der Form kommen zusammen – etwa in Gogols Toten Seelen, die mit dem Reichtum des romantischen Stils eine in manchen Zügen noch archaische Welt schildern. Es ist schwer, bei der Analyse der Sprache Gogols nicht an Kierkegaard zu denken; aber bei dem Dänen geht es um hochmoderne Liebes25
verwicklungen, bei Gogol um den Ankauf toter Bauern. Paradoxerweise ist es gerade die Tatsache, dass Russland politisch und kulturell ein Spätentwickler war, die seine Literatur zu Höchst leistungen befähigt hat. Als Kompensation der entsetzlichsten, weil moralischen Schmerzen, die mit einem solchen verspäteten Umbruch unweigerlich verbunden sind, ist die russische Literatur entsprungen. lm Folgenden will ich einige Merkmale der russischen Literatur erörtern, die aus der eben gezeichneten Grundstruktur folgen. So ist zunächst daran festzuhalten, dass der Übergang von der auf Leibeigenschaft basierenden Wirtschaftsform zum Kapitalismus den Hintergrund zahlreicher russischer Werke des 19. Jahrhunderts bildet. Wichtiger als die rechtlichen und wirtschaftlichen Veränderungen sind dabei die Umbrüche im Wertsystem und damit unvermeidlicher Weise auch in der Weise des zwischenmenschlichen Umgangs. Iwan Gontscharows Oblomow ist vielleicht das vollkommenste Werk zu diesem Thema. Natürlich ist der Titelheld eine groteske, eine gescheiterte Existenz, ein Symbol für die – bis heute andauernden – Schwierigkeiten Russlands beim Modernisierungsprozess. Gewiss wäre Oblomow am liebsten in seiner Kindheit verblieben – zwischen seiner Weigerung, erwachsen zu werden, und den russischen Problemen mit der Modernisierung bestehen deutliche Parallelen. Aber es kann nicht bestritten werden, dass Oblomow über eine große Würde verfügt. Diese ergibt sich einerseits aus seiner kindlichen Güte, andererseits sogar aus einer der wichtigsten Wurzeln seiner Trägheit, die ihn doch so lächerlich erscheinen lässt – nämlich aus seinem Ekel an einer Gesellschaft, die aus hyperaktiven Leichnamen besteht, d.h. aus Wesen, die keine innere Aufgabe haben, aber sich trotzdem in lächerlicher Geschäftigkeit verlieren. Mit den Augen von heute betrachtet, kann man in der Figur des Oblomow den Protest gegen einen sinnentleerten Produktionsprozess erkennen, dem zentrale menschliche Werte zum Opfer gefallen sind. Auch Oblomows Diener Sachar ist eine gewisse Würde nicht abzusprechen. Sicher ist er schmutzig, faul, betrügerisch – er ist ein Parasit ebenso wie sein Herr und die ganze alt russische Gesellschaft, die auf der Ausbeutung von Leibeigenen beruhte. Aber er besitzt eine Tugend, die alle seine Laster überstrahlt – eine unbedingte Treue zu seinem Herrn (die damit verein26
bar ist, dass er ihn bestiehlt), die, als Pietät, auch dessen Tod überdauert. Mit der Überwindung von Faulheit und Parasitismus in der modernen Welt verschwinden alle nicht funktionalen Tugenden, und man kann nicht umhin, ex post in der Güte, Ruhe und Gelassenheit, mit der Agafja und Oblomow alles hinnehmen, Werte zu erkennen, die der vormodernen Ordnung eigentümlich sind. In der Tat wäre es einseitig, in Oblomows deutschstämmigem dynamischem Freund Stolz, der den Übergang zum Kapitalismus erfolgreich bewältigt, die ideale Gegenfigur zu sehen. Zwar gebietet er Achtung, weil er gerecht und zupackend ist; aber er erweckt nicht unmittelbare Sympathie, weil er sich zu selbstbewusst das nimmt, worauf er einen Anspruch zu haben glaubt. Dass er sich in Oblomow keinen erotischen Rivalen vorstellen kann, ist gewiss verständlich, aber die Szene, in der er auf Olgas Bekenntnis reagiert, zeigt, dass er, wie die ganze Moderne, zu sehr von der eigenen Überlegenheit überzeugt ist. Die eigenen Mängel, um die Oblomow sehr wohl weiß, erkennt Stolz nicht; seine Freundschaft zu Oblomow ist herablassend-schulterklopfend. Immerhin ist er nichtsdestoweniger ein hilfsbereiter Freund, und er hat die Kraft zu lieben – und zwar Olga, die durch die Anmut ihres Umgangs mit Oblomow, durch die ihr fast das Wunder gelingt, ihn zu einem reifen Menschen aufblühen zu lassen, und durch ihre Befangenheit Stolz gegenüber, weil sie ja schon einmal geliebt hat und man nur einmal lieben könne, zu den zauberhaftesten Figuren der Weltliteratur gehört. Aber so sehr sie als Stolzens Frau glücklicher geworden ist, als sie es je mit Oblomow hätte werden können, so sehr deutet ihre unerklärliche Melancholie nach ihrer Heirat darauf hin, dass sie sich irgendwie nach der Wärme der vormodernen Welt sehnt. Mit dem Charakter Agafjas ist Sehnsucht unvereinbar; sie ist, was sie ist. Olga mag glücklicher als Agafja sein, weil sie in sich Empfindungen und Gedanken ausbilden kann, die jener versagt bleiben; aber sie hat nicht mehr den inneren Halt, den die vor moderne Welt vermittelte. Immerhin ist die Nervosität Olgas im Grunde nur eine Bereicherung ihres liebenswürdigen Wesens; eine Zerrissenheit nach Art Emma Bovarys ist ihr noch fremd. Sie nimmt eine Mittelstellung zwischen den vormodernen Hausfrauen und den unruhigen Seelen der späteren Moderne ein. Es ist diese ihre 27
Mittelstellung, die dem Roman eine Poesie verleiht, die man Flauberts grausamer Vivisektion einer bemitleidenswerten, aber eben nicht anmutigen Seele absprechen muss. Denn Poesie hat nicht nur mit der Art der Gestaltung, sondern auch mit dem gestalteten Gegenstand zu tun. Die Größe von Gontscharows Roman besteht darin, dass er die moralische Ambivalenz des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne nicht zu überspielen versucht: Oblomow ist ein lächerlicher Held, aber man kann nicht umhin, ihn zu lieben. Ähnlich ausgewogen im Urteil ist Tschechows Kirschgarten. Auch hier geht es darum, dass Kindheitserinnerungen dem wirtschaftlichen Fortschritt geopfert werden – das Fällen der Kirschbäume ist ein eindrucksvolles Symbol für die Wucht der Moderne. Aber sosehr bei diesem Werk zunächst einmal die Eigentümerin des Gartens Ljubov’ Andreevna Ranevskaja, wie ihr Name schon andeutet, liebenswürdig erscheint, sowenig verurteilt Tschechow ihren Gegenspieler Lopachin. Dieser hat nicht den Charme Stolzens, aber auch er ist kein schlechter Mensch – er versucht, uneigennützig der Ranevskaja zu raten, wie sie ihren Besitz retten könne, und erwirbt ihn selbst erst, als sie sich unfähig erweist, seinen Rat umzusetzen. Man kann schwerlich umhin, in seinem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg einen gesellschaftlichen Fortschritt zu erkennen, auch wenn klar ist, dass der Preis für größere wirtschaftliche Ratio nalität und institutionelle Gerechtigkeit eine Auflösung jener Emotionen ist, in denen die Ranevskaja schwelgt. Ich habe schon erwähnt, dass die russische Kultur des 19. Jahrhunderts den bürgerlichen Werten gegenüber ein tiefes Misstrauen hegt. Gerade weil sie sich noch aus vormodernen Tugenden speist, kann sie den moralischen Preis, den die Durchsetzung der M oderne bedeutet, richtiger einschätzen als Westeuropa, das im 19. Jahrhundert nicht mehr den nötigen Abstand zur Moderne hat (den es im 20. Jahrhundert wiedergewinnt, allerdings nunmehr auf einer Grundlage, die sich vom letzten Bezugspunkt der alteuropäischen Kultur, von Gott, gelöst hat). Wenn man Tolstoi und Dostojewski einander entgegensetzt und ihren Kontrast mit demjenigen zwischen Goethe und Schiller innerhalb der deutschen Literatur vergleicht, sagt man etwas Wesentliches: Die Freude an der Schilderung des äußeren Details, die so kennzeichnend für Goethe und 28
Tolstoi ist, fehlt ihren Gegenspielern, die einen besonderen Sinn für die inneren Konflikte der menschlichen Seele haben. Kaum ein Werk des 19. Jahrhunderts kommt einem Epos so nahe wie Krieg und Frieden – die Dostojewskischen Romane haben nichts Episches, sondern etwas Dramatisches an sich. Und dennoch ist jener Vergleich deswegen irreführend, weil Tolstoi anders als Goethe von einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber äußerlichem Erfolg, Macht und Wohlstand bestimmt wird. Goethe war seiner Herkunft nach ein Bürger, Tolstois Weltanschauung dagegen ist nicht weniger antibürgerlich als diejenige Dostojewskis (auch wenn er sich zugegebenermaßen nicht gleichermaßen für abartige Individuen interessiert – eine durch ihre Unterwürfigkeit so widerwärtige Figur wie Lebedew im Idioten oder eine bei all ihrer Ausstrahlung menschlich so monströse Gestalt wie Stawrogin in den Dämonen wäre Tolstoi nie eingefallen). Die Lebensweise des alten Tolstoi, mag man sie als lächerlich, man mag sie als erhaben deuten – mit der des alten Goethe kann man sie schwerlich vergleichen. Vielleicht kein Werk zersetzt auf grausamere Weise die bürgerliche Selbstsicherheit als Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch. Erstens ist der Tod an sich schon eine unheimliche Kränkung der auf ihre Autonomie stolzen neuzeitlichen Subjektivität, die sie gerne verdrängt; im Falle des besonderen Todes Iwan Iljitschs kommt aber zweitens der peinvolle und demütigende Verlauf hinzu. Die größte Pein besteht in den Augen Tolstois nicht in den physischen Schmerzen; sie besteht in der allmählichen Anerkennung der Tatsache, dass das eigene Leben, trotz oder gerade wegen aller äußerlichen Erfolge, falsch war. Die unendliche Einsamkeit Iwans wird schon im ersten Kapitel an der Art und Weise deutlich, wie die Nachricht von seinem Tode aufgenommen wurde; die Kollegen interessieren sich hauptsächlich für die Beförderungsaussichten, die sich durch das Freiwerden seines Platzes ergeben, die Witwe primär für das, was ihr nun finanziell vom Staate zusteht. Im Rückblick erkennen wir, wie sowohl die berufliche Karriere Iwans als auch seine Ehe mit Praskowja Fjodorowna auf mangelnder Wahrhaftigkeit beruhten; und es ist diese implizite Verlogenheit, die nach dem Ausbruch von Iwans Krankheit expliziert wird: Weder seine Umgebung noch lange Zeit er selbst (um von den Ärzten zu schweigen) wollen oder 29
können offen über den bevorstehenden Tod sprechen, auch wenn dieser allgegenwärtig ist. Die Sterblichkeit, von deren Allgemeinheit man nach einem abstrakten Syllogismus durchaus weiß, auf sich selbst zu beziehen – das ist der Schritt, der Iwan so schwer fällt. Es ist erst die Anerkennung der Falschheit des eigenen Lebens, die es Iwan gestattet, mit einem Gefühl der Versöhntheit und nicht ohne Hoffnung zu sterben. Bezeichnend an der Erzählung ist, dass Iwan kein Bösewicht ist, der irgendetwas Schlimmes angestellt hat, nach Art so mancher Figur Dostojewskis; er ist ein völlig durchschnittlicher Richter, nicht besser und nicht schlechter als seine Kollegen. Aber dass seine Krankheit mit einem Sturz beginnt, den er beim Einrichten der neuen, großen Wohnung für seine banale Frau und Tochter erleidet, deutet darauf hin, dass es der Interessenkreis der bürgerlichen Welt ist, der die Falschheit seines Lebens begründete. Neben einer kurzen Begegnung mit seinem Sohne ist der Kontakt mit dem Diener Gerasim die einzige Wohltat, die Iwan während seiner qualvollen Krankheit zum Tode vergönnt ist – denn Gerasim, der an den Segnungen der bürgerlichen Welt nicht teilhat, ist existenziell wahrhaftig, weil er ein unverkrampftes Verhältnis zum Tode und damit auch zum sterbenden Mitmenschen unterhält. In letzterem liegt im übrigen der entscheidende Unterschied zu Heideggers Sein und Zeit. So sehr Heideggers Auffassung von unserem Verhältnis zum Tode, demjenigen der anderen und dem eigenen, von Tolstoi beeinflusst ist,3 so wenig findet sich bei ihm eine ethische Konsequenz, die über den Appell hinausginge, das Sein-zum-Tode bewusst anzunehmen. Sicher ist dies auch eine der Botschaften des Textes Tolstois, aber darüber hinaus lehrt Tolstoi eine Empathie, ein wahrhaftes Mitleid mit dem Sterbenden, während Heidegger das Sein-zum-Tode letztlich solipsistisch fasst. Noch deutlicher ist die moralische, auf den Mitmenschen bezogene Dimension der Anerkennung des bevorstehenden eigenen Todes in Tolstois Herr und Knecht. Wie in Der Tod des Iwan Iljitsch Gerasim, so vertritt in dieser Erzählung der Knecht Nikita das unbefangene, natürliche Verhältnis zum Tod, der unser aller normales Schicksal ist (wie die letzten Worte der Erzählung in einer meisterhaften Wendung an den Leser andeuten). Auch angesichts der sehr konkreten Gefahr des eigenen Todes verfällt er nicht in Panik, 30
sondern bleibt gelassen, während sein Herr, der aufstrebende Unternehmer Wasilij Andrejitsch Brechunow, der aus Habsucht die gefährliche Lage verschuldet hat, in die beide geraten sind, von der Todesangst gepeinigt wird und sogar Nikita allein dem Untergang zu überlassen willens ist, nur um die eigene Haut zu retten. Es ist das Scheitern dieses Versuches, das seine innere Wandlung auslöst: Brechunow nimmt nicht nur den eigenen Tod an, sondern tut sogar alles ihm Mögliche, um Nikita zu retten, was ihm auch gelingt. Das Ende des neunten Kapitels, als Brechunow in seinem Wesen gleichsam mit Nikita verschmilzt, gibt seinem Tod, der mit einem Selbstopfer verbunden ist, eine besondere Würde. Paradoxerweise ist mit dem Opfer des eigenen Lebens, mit der Aufgabe der die eigene Individualität privilegierenden Klassenunterschiede eine besondere Erweiterung des Selbst verbunden. Es sind nicht nur die unreflektierten Vertreter der ärmeren Schichten, die bei Tolstoi den wirtschaftlichen Aufsteigern überlegen erscheinen; im Leinwandmesser geht Tolstois Rousseauismus so weit, dass er am Schluss sogar das für andere Lebewesen nützliche Ende des Leichnams eines Wallachs mit der langsamen Verwesung der Leiche seines abstoßenden Besitzers Sepuchowskoj kontrastiert. Die Kritik an der Logik des Privateigentums im sechsten Kapitel des Werkes hat philosophischen Charakter, der umso mehr verblüfft, als sie aus dem Munde eines Tieres kommt. Zwar ist eine Kritik am menschlichen Verhalten durch Tiere in Gestalt der Fabelliteratur weltweit verbreitet; aber Tolstois Text ist keine Fabel, weil das Tier nicht grundsätzlich anthropomorphisiert ist – Tolstoi beweist eine große Fähigkeit, sich in die Stimmung eines Pferdes hineinzuversetzen. (Vielleicht ist es kein Zufall, dass in der russischen Grammatik die Kategorien «belebt» – «unbelebt» eine große Rolle spielen. Während im Englischen bei der Verwendung z.B. von «who» und «which» die Zäsur zwischen dem Menschen und dem restlichen Seienden verläuft, nimmt das Russische Pflanzen, Tiere und Menschen zusammen und setzt sie von Artefakten ab. In Drei Tode kann Tolstoi daher mit dem Fällen einer jungen Esche enden, dem dritten Tod nach demjenigen der Gutsherrin und des alten Kutschers.) Der Bedeutung moralisch vorbildlicher schlichter Menschen in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts entspricht kontra31
punktisch diejenige wilder Triebmenschen oder gar ausgeprägter Schurken. Besonders im Werk Dostojewskis ist die moralische Spannweite unvergleichlich größer als in demjenigen der gleichzeitigen westeuropäischen Literatur. Die berechnende, an der Maximierung des Eigennutzens interessierte Mentalität des modernen Menschen zwingt zur Bändigung der Leidenschaften – der guten wie der bösen; Lheureux und Homais in Madame Bovary sind abstoßend, bleiben aber im Rahmen der Legalität. Begegnungen zwischen Heiligen und Verbrechern sind dagegen aus den großen Dostojewski-Romanen vertraut: Man denke nur an die merkwürdige Freundschaft zwischen Myschkin und Rogoschin. Die Brutalität und animalische Sinnlichkeit des letzteren schließt eine tiefe Zuneigung zu Myschkin nicht aus, die wiederum mit der Bereitschaft, den Freund und Rivalen zu töten, vereinbar ist. Dabei kann man bei Rogoschin nicht von reflexiver Bosheit sprechen. Gerade Dostojewski hat aber einen besonderen Sinn für Menschen, die aus intellektuellen Gründen Verbrechen begehen. Schon Raskolnikow tötet nicht so sehr um des Geldes willen, als um sich zu beweisen, dass er sich das Geld eines als unterlegen empfundenen Menschen auch um den Preis eines Mordes aneignen darf; und Die Dämonen ebenso wie Die Brüder Karamasow zeigen die moralischen Konsequenzen nihilistischer intellektueller Abenteuer. Manchmal sind die philosophischen Diskussionen bei Dostojewski dem poetischen Wert seiner Texte abträglich (so wie auch Schiller Goethe u.a. deswegen unterlegen ist, weil er der bessere Philosoph ist); aber das, was an Dostojewski erstrangig bleibt, ist nicht nur seine Erzähltechnik, sondern seine Fähigkeit, den Zusammenhang zwischen theoretischen Gedanken und Taten deutlich zu machen. Das Problem des Nihilismus hatte schon Iwan Turgenjew in Väter und Söhne deutlich gemacht, und er hatte in besonderem Maße auf den Kontrast abgehoben zwischen der Generation der Väter und derjenigen der Söhne. Besonders Basarows Mutter Arina Wlasjewna, so wie sie im zwanzigsten Kapitel des Romans geschildert wird, ist in ihrer Denk- und Empfindungsweise von ihrem Sohn so weit entfernt, wie kaum eine westeuropäische Mutter der gleichen Zeit; man erkennt daran, wie schnell die intellektuelle Modernisierung Russland erfasst hatte. Umso ergreifender ist die Liebe der Eltern zu Jewgenii Basarow, eine Liebe, die alle 32
Wertungsunterschiede übergreift. Turgenjew empfindet für seinen Helden wegen seiner Konsistenz auch angesichts des Todes offenkundig Achtung; und in der Tat verdient Basarow aufgrund seiner Verletzlichkeit, die er in seiner unglücklichen Liebe zu Anna Sergejewna Odinzowa offenbart, darüber hinaus sogar Sympathie. Anders stellt sich die Lage in den Dämonen dar, die die Problematik von Väter und Söhne radikalisierend weiterführen (woran die Tatsache nichts ändert, dass in dem Werk eine Turgenjew-Karikatur vorkommt). Stawrogin ist zur Liebe unfähig und sein Nihilismus wie derjenige seiner Verehrer in ganz anderer Weise als derjenige Basarows praktisch gefährlich. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Dostojewski die These vertritt, dass der Liberalismus der Vätergeneration den Keim zum Nihilismus in sich birgt – Stepan Werchowenskij trägt eine geistige Mitverantwortung für die Geschehnisse, auch wenn er sich schließlich reuevoll von ihnen distanziert. Man kann für die Ansicht Argumente anführen, dass Turgenjews Werk poetischer ist als dasjenige Dostojewskis, eben weil es, auch angesichts eines anderen Gegenstandes, nicht so eindeutig wertet und verurteilt; die moralische Stellungnahme ist differenzierter und bleibt gleichsam in der Schwebe, ähnlich wie in Gontscharows Oblomow; daher auch der elegische Ton dieser beiden Werke. Dostojewski ist direkter und in seiner plumpen Kritik schon am Liberalismus der Väter im selben Grad mitverantwortlich für die Schwierigkeiten Russlands, liberale Institutionen einzuführen, wie Stepan Werchowenskij für die Untaten seines Sohnes. Und dennoch kann Dostojewski beanspruchen, Abgründe des Bösen durchschaut zu haben, in die vor ihm keiner zu blicken gewagt hatte; damit hat er die Weltliteratur in nicht geringerer Weise bereichert als sein Gegner Turgenjew. So beeindruckend Dostojewski auch als Analytiker des Bösen ist, so vage bleiben seine positiven Visionen. (Das gilt schon für Gogol, der bei der Arbeit an den Toten Seelen die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass das «Inferno» sich leichter gestalten lässt als das «Purgatorio» oder gar das «Paradiso», das in den Kategorien der russischen, auf Leibeigenschaft gegründeten sozialen Ordnung ganz sicher nicht zu fassen ist.) Die Lehren des Starez Z osima sind schwerlich eine Lösung für die Probleme der Welt, ebenso wenig wie Myschkin unter realen Bedingungen eine Chance hat, sich 33
durchzusetzen oder auch nur zu überleben. Im Grunde ist es der Zustand der Kindheit, den Dostojewski verklärt und in dem Myschkin und Aljoscha verbleiben, weswegen sie auch so anziehend für die Kinder ihrer Umgebung sind. Gewiss hat die Ansicht Zosimas, dass alle an allem schuld seien, einen tiefen Sinn – die Pointe der Brüder Karamasow ist gerade der unterschiedliche Grad der Schuld der Brüder am Tod des Vaters. Und dennoch ist d ie Individualisierung von Verantwortung für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich, noch wichtiger als die Zuordnung von Privateigentum an die einzelnen, für das sie selber das Risiko t ragen. Besonders gefährlich sind ferner Dostojewskis panslawistische Neigungen. Zwar muss man sich davor hüten, alle in diese Richtung gehenden Ansichten, die seine Helden äußern, Dostojewski selber zuzuschreiben; Schatow etwa in den Dämonen ist kein Sprachrohr Dostojewskis.4 Aber wenn Myschkin im ldioten (IV 7) vom russischen Christus spricht, dann ist das von Dostojewski durchaus ernst gemeint, so sehr auch der Kontext der Rede die Erfolgsaussichten von Myschkins Vision – nicht allerdings ihren Wahrheitsgehalt – relativiert; Dostojewski zweifelte nicht daran, dass das russische Volk eine besondere religiöse Sendung hatte. Allerdings ist Dostojewski intelligent genug, die ideologische Funktion des Glaubens an die besondere Sendung des russischen Volkes zu durchschauen. Einer seiner am ehesten bürgerlichen Integritätskriterien gerecht werdenden, freilich auch entsprechend beschränkten Figuren, der Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch, zitiert in seiner Gerichtsrede den berühmten Schluss des ersten Bandes der Toten Seelen Gogols, in der die rasende Fahrt der rus sischen Troika geschildert wird, vor der die anderen Nationen neidisch ausweichen, und betont zu Recht, dass dieses Ende mit dem Plot und den Gestalten des Romans nicht ohne weiteres übereinstimme. Wie komme Gogol dazu, einem Volk eine große Zukunft vorherzusagen, das aus Menschen wie Tschitschikow und seinen Geschäftspartnern bestehe? Nur Schönträumerei oder Furcht vor der Zensur könne ihn zu diesem Schluss bewogen haben.5 Gegen Ende der Rede wird Angst statt Neid als die eigentliche Ursache jenes Ausweichens vermutet,6 und man kann nicht bestreiten, dass das Gefühl, mit dem ein großer Teil der euro päischen Völker im 2 0. Jahrhundert auf den Aufstieg Russlands 34
zu einer der beiden Supermächte geblickt hat, in der Tat eher Angst als Neid war. Und dennoch hat in einem Punkt Dostojewski recht: Es gibt eine religiöse Qualität in der russischen Literatur, der nichts Vergleichbares in der zeitgenössischen westeuropäischen Literatur entspricht und die zu ihrem poetischen Wert entscheidend beiträgt. Ich will mich hier nicht auf Dostojewski und Tolstoi beziehen, deren Religiosität offenkundig ist und gerade deswegen manchmal aufdringlich wirkt, sondern auf zwei so «westliche» Schriftsteller wie Turgenjew und Tschechow. Der Schluss von Väter und Söhne ist deswegen so bezaubernd, weil der Gang der beiden greisen Basarows zum Grab ihres einzigen Kindes auf doppelte Weise mit dem Vorangegangenen kontrastiert – einerseits mit der nihilistischen Gesinnung des Verstorbenen, andererseits mit der abschließenden Zusammenfassung des weiteren Schicksals der Nebenhelden des Romans: Für sie ist die Zeit weitergelaufen, aber eben nicht für Jewgenij Basarow. Die Hoffnung über den Tod hinaus für jemanden, der seinen ganzen intellektuellen Ehrgeiz daran setzte, sich über derartige Hoffnungen lächerlich zu machen, hat etwas zutiefst Rührendes. Ähnliches gilt für den Schluss von Turgenjews meisterhafter Erzählung Erste Liebe (vor der Wiederaufnahme der Rahmenerzählung, in der das typisch Russische, und das heißt in diesem Falle: das Demoralisierende, an den berichteten Vorgängen hervorgehoben wird). In dem durch das Erlebnis des Todes einer alten Frau angeregten Wunsch Wladimirs, für Sinaida und den Vater zu beten, liegt ein versöhnlicher Ton, der der zutiefst unerfreulichen Geschichte seiner ersten Liebe eine stimmungsmäßige Wendung gibt. In der katzenhaften Art, in der Sinaida mit dem jungen, verliebten Wladimir spielte, und in der brutalen Weise, in der sein Vater die eigene Frau betrügt und die Geliebte peitscht, ist so viel Entwürdigendes, das zu den reinen Gefühlen des naiven Wladimir in so stechendem Kontrast steht, dass im Grunde nur noch der religiöse Ausweg bleibt. In der Tat kann man nicht übersehen, dass der russischen Religiosität die Erfahrung des eigenen politischen Versagens oder sogar Scheiterns zugrunde liegt. Die Erfolge des westeuropäischen Bürgertums bei der Beherrschung von Natur und Gesellschaft 35
v erdrängen leicht das Bewusstsein, von einem Unverfügbaren abhängig zu sein, und ohne dieses Gefühl gibt es keine wahrhafte Religiosität. Einer der vollkommensten Texte der Weltliteratur, Tschechows kurze Erzählung Der Student, macht diesen Zusammenhang deutlich. Die Stimmung des jungen Theologiestudenten ist am Karfreitag düster, nicht nur weil er gefastet hat, sondern weil er eindringlich spürt, dass es keinen Ausweg aus dem Elend Russlands gibt. Das, was ihn plötzlich mit großer Freude erfüllt, ist das kurze Gespräch mit zwei armen Frauen über die Lesung aus dem Evangelium, das über Petrus’ Verrat an Christus berichtet – ein Text, der die beiden Frauen existentiell bewegt. Der Sache nach ist dieser Verrat alles andere als erheiternd, aber dass die Erinnerung an ihn auch heute noch, nach fast neunzehnhundert Jahren, den Menschen eigentümlich zu berühren und an die eigene Schuld zu erinnern vermag, das begründet eine Kontinuität in der Geschichte und der moralischen Wahrheit, an welcher teilzuhaben für den Studenten etwas Beglückendes und Tröstliches hat, das über das gegenwärtige Elend Russlands hinweghebt. Möge es der Literatur Russlands auch noch im 21. Jahrhunderts gelingen, aus dem Bewusstsein der Teilhabe an einer der größten literarischen Kulturen der Menschheit Kraft und Orientierung zu beziehen!
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Geistiger Hintergrund und Besonderheit der sowjetischen Revolution: Eine geschichtsphilosophische Bewertung Man mag das kurze 20. Jahrhundert im Jahr 1914 oder 1917 beginnen lassen, die sowjetische Revolution wird auf jeden Fall eines der wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts bleiben. Zu ihrer umfassenden Bewertung ein Jahrhundert später mag vielleicht ein Philosoph etwas Nützliches beitragen. Denn erstens ist die sowjetische Revolution ein so komplexes Phänomen, dass die Perspektiven einer Einzelwissenschaft, und sogar verschiedener Einzelwissenschaften, die nur nebeneinander gestellt werden, etwas Wesentliches an diesem historischen Ereignis verfehlen. Ein Philosoph, obgleich ein Dilettant hinsichtlich jedes Einzelaspekts des Phänomens, mag eine Vogelperspektive einnehmen, die die Analysen der Spezialisten zwar nie ersetzen, aber doch ergänzen kann. Zweitens besteht das Bedürfnis nach einer von Normen geleiteten Bewertung dessen, was in der Sowjetunion und in Russland im Laufe der letzten hundert Jahre passiert ist. Und sicherlich hat hinsichtlich der normativen Dimension die Philosophie etwas zu bieten, was sowohl der Geschichtsschreibung als auch der Jurisprudenz verschlossen ist. Historiker versuchen geschichtliche Ereignisse zu verstehen, und obzwar gute Historiker auch die Werteinstellungen der Akteure des von ihnen erforschten geschichtlichen Prozesses zu begreifen suchen, da diese deren Entscheidungen motivieren, bedeutet dies keineswegs, dass Historiker eine besondere Kompetenz hinsichtlich der normativen Frage haben. Im Gegenteil, es fällt immer wieder auf, wie wenig Historiker über ethische Fragen nachgedacht haben, auch wenn die Werte, in denen sie erzogen wurden, unabdingbar ihre gelegentlichen Wertaussagen und sogar die Auswahl ihres Materials bedingen. Aber eine explizite Reflexion auf die eigenen Werte erfolgt selten, und noch seltener der Versuch, sie zu begründen oder auch nur konsistent zu machen.
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Juristen wiederum fällen normative Urteile; aber diese normativen Urteile sind relativ zu einem gegebenen gesetzlichen Rahmenwerk, dessen Geltung sie in ihrer Arbeit als Juristen voraussetzen müssen. Revolutionen freilich unterbrechen bewusst die gesetzliche Kontinuität,1 und Revolutionäre werden in der Regel nicht durch die Mitteilung abgeschreckt, dass das, was sie erstreben, illegal ist – denn sie wissen das natürlich, ja, darauf gerade kommt es ihnen an. (Nur die Deutschen – so soll Stalin jemanden zitierend gespottet haben – würden nie eine Revolution beginnen, da sie zu diesem Zweck den Rasen betreten müssten, was notorisch verboten sei.) Vielleicht möchten einige die These verteidigen, der revolutionäre Bruch konstitutioneller Legalität sei stets unmoralisch, aber wie es sich auch immer mit der Wahrheit dieser Aussage verhalten mag, so wird sie sicherlich nicht auf dem Boden des Rechts, sondern dem der politischen Ethik zu entscheiden sein, denn man bedarf normativer Prinzipien, die das positive Recht transzendieren, um hierzu zu einer Entscheidung zu kommen. Es versteht sich von selbst, dass, wenn eine Revolution erfolgreich ist, so wie es die bolschewistische war, sie neues Recht schafft und, um es sozial durchzusetzen, Heerscharen von Juristen erzieht, deren Aufgabe es ist, dieses neue Recht zu interpretieren und zu verteidigen und alle Versuche, zum früheren System zurückzukehren, als konterrevolutionäre illegale Akte abzuwehren. Damit zeigt sich die wesentliche Bezogenheit aller juristischen Arbeit auf ein Bezugssystem. Dieser Essay stützt sich auf die Tradition der Geschichtsphilosophie, einer Disziplin, die von der dominierenden analytischen Philosophie heute gewöhnlich vernachlässigt wird. Auf diese spezifische Denkform möchte ich Laras berühmte Bemerkung in Boris Pasternaks Doktor Schiwago beschränken, die freilich von ihr auf die Philosophie im allgemeinen bezogen wird: «Meiner Meinung nach muß Philosophie ein sparsam angewandtes Ingredienz in Kunst und Leben sein. Sich ausschließlich mit ihr abzugeben, wäre ebenso merkwürdig, wie wenn man nichts als Meerrettich essen wollte.»2 In der Tat ist die Schärfe formaler Analyse ein außerordentliches Gewürz, ohne das die meiste geistige Nahrung fade schmeckt; aber sie muss einem konkreten Inhalt zugefügt werden, um zu nähren. Als der Versuch, im Ganzen der menschlichen 38
rfahrung einen Sinn zu finden, bleibt die Philosophie der GeE schichte ein unverzichtbares Werkzeug, sich der sowjetischen Revolution zu nähern, und dies aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen. Einerseits wurde die sowjetische Revolution selbst geschichtsphilosophisch gerechtfertigt und man muss in der Lage sein, in diese Denkweise einzudringen, um die Motive der Akteure zu verstehen. Doch auch wenn man wie ich die Selbstrechtfertigung der sowjetischen Revolution als inakzeptabel verwirft, gibt es andererseits gute Argumente anzunehmen, dass eine abstrakte Ethik ohne ein Begreifen der Eigenart menschlicher Geschichte eine zu schwache Basis darstellt, um einem so komplexen Ereignis wie der so wjetischen Revolution moralischen Sinn abgewinnen zu können. Wir brauchen eine viel bessere Geschichtsphilosophie als die vom Marxismus-Leninismus gelieferte; doch bedeutet dies nicht, dass wir auf alle Geschichtsphilosophie verzichten können, wenn wir geschichtliche Ereignisse zu bewerten suchen. Ich werde folgendermaßen verfahren. Zunächst werde ich zwei Paare alternativer Arten des Umgangs mit der sowjetischen Revolution diskutieren: Das eine bezieht sich auf unterschiedliche historiographische Einstellungen, das andere auf abweichende moralische und politische Ideale (I). Im zweiten Abschnitt möchte ich einige der geistigen Ursachen der sowjetischen Revolution betrachten (II) und drittens zeigen, inwiefern diese Revolution die tradi tionelle russische Mentalität mehr fortsetzte als veränderte und warum ihre unstrittige moralische und intellektuelle Anziehungskraft einige erstaunliche kulturelle Errungenschaften zu Beginn des neuen Staates hervorbringen konnte. Insbesondere möchte ich erörtern, welchen Platz die sowjetische Revolution in der Entwicklung wenigstens des russischen Bewusstseins einnimmt und warum sie eine Lösung für das grundsätzliche Problem der russischen Identitätssuche zu versprechen schien (III). Mein Schwerpunkt erklärt, warum ich gelegentlich russische und sowjetische Literatur zitieren werde, denn Literatur ist eine der wichtigsten Formen der Selbstinterpretation einer Kultur. Schließlich will ich eine knappe Evaluierung der Oktoberrevolution nach drei unterschiedlichen Kriterien vorlegen: ihren eigenen Idealen, den zu deren Durch setzung verwendeten Mitteln und den objektiven Resultaten der 39
sowjetischen Revolution (IV). Das Unterfangen einer solchen Bewertung mag auf den ersten Blick naiv erscheinen, doch mir scheint, dass wir gar nicht umhin können zu versuchen, ein so bedeutendes Ereignis zu beurteilen. So haben wir das in der Tat auch in den letzten hundert Jahren auf sehr unterschiedliche Weise getan, manchmal in schlichter Abhängigkeit von unserer eigenen geographischen Position, manchmal auf der Grundlage komplexerer Gedankenprozesse. Schließlich scheint inzwischen der Moment gekommen, da eine solche Evaluierung vernünftigerweise hoffen darf, die eigene historische Bedingtheit zu transzendieren und eine normative Objektivität zu erzielen, die den Akteuren, sowohl den revolutionären als auch den konterrevolutionären, versagt war und die eine wertfreie Sozialwissenschaft und Historiographie gar nicht mehr anstrebt. Denn ein Jahrhundert ist eine recht lange Zeit, und der Kollaps der Sowjetunion 1991 hat es vermutlich leichter gemacht, in dieser Frage einen gewissen Konsens zu erzielen.
I. Nur zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution erschienen 1938 in den USA zwei wichtige Bücher, die die sowjetische Revolution in einen breiteren Kontext stellten. Das erste, The Anatomy of Revolution, hatte den Harvard Professor für Geschichte, Crane Brinton (1898–1968), zum Verfasser, das zweite, Out of Revolution: Autobiography of Western Man, war in Wahrheit viel eher die Neufassung als die bloße Übersetzung eines Buches, das schon 1931 unter dem Titel Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung erschienen war (eine erweiterte zweite deutsche Auflage folgte 1951 mit dem Titel Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen). Der Autor war einer der vielseitigsten deutschen Intellektuellen seiner Zeit, Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973). Seiner Ausbildung nach ein Rechtsgelehrter (er wurde schon 1912 Privatdozent für deutsches Privatrecht und Rechtsgeschichte, damals der jüngste deutsche Privatdozent), erhielt er 1923 einen zweiten Doktor, diesmal für Geschichtswissenschaft, ebenso wie die Venia Legendi für Soziologie und wurde Professor für Rechtsgeschichte 40
an der Universität Breslau. Rosenstock-Huessy war jüdischer Herkunft, jedoch zum Christentum konvertiert; 1933 gab er seine Professur auf. Nach einer kurzen Zeit in Harvard, wo seine offen religiöse Einstellung vielen Kollegen negativ auffiel, wurde er 1935 Professor für Sozialphilosophie in Dartmouth College, wo er bis 1957 unterrichtete.3 1939 rezensierten Brinton und Rosenstock-Huessy die Bücher des jeweils anderen in einer sehr feindseligen Weise.4 Dass sie um Rezensionen gebeten wurden, kann angesichts ihres gemeinsamen Gegenstandes, der Revolution, schwerlich überraschen. Auch die konkreten Revolutionen, die sie behandeln, überschneiden sich zu einem guten Teil – Brinton erörtert die englische, französische, amerikanische und russische Revolution, Rosenstock-Huessy (der die amerikanische Revolution von den anderen trennt) fügt die päpstliche Revolution Gregors VII. und die Reformation hinzu. Beide haben einen viel restriktiveren Begriff von Revolution als zum Beispiel Aristoteles im fünften Buch der Politik, der ersten allgemeinen Studie zu Revolutionen. Man könnte sagen, dass beide Autoren diejenigen Brüche in der konstitutionellen Kontinuität ignorieren, die nur auf persönlichen Machtkämpfen basieren und nicht von allgemeinen moralischen Ideen inspiriert waren. Woher rührt die Abneigung beider Gelehrten gegen das Werk des jeweils anderen? In meinen Augen ist das Hauptproblem nicht, dass ihre Behauptungen einander logisch ausschließen; in Wahrheit ist ziemlich viel von dem, was jeder von ihnen sagt, logisch kompatibel mit den Thesen des anderen, auch wenn sie recht unterschiedlichen Fragestellungen nachgehen (einer von RosenstockHuessys Kritikpunkten Brintons Buch gegenüber war, dass es zwar nicht falsch sei, aber einfach Gemeinplätze wiederhole). Nein, der Hauptgrund für ihre Rivalität ist, dass ihre methodologischen Ideen in enormer Spannung zueinander stehen und dass ihr intellektueller Ehrgeiz sehr verschieden ist. Brinton will vier Revolutionen vergleichen; und auch wenn er keineswegs spezifische Differenzen bestreitet, will er doch Gleichförmigkeiten in der Entwicklung von Revolutionen entdecken, wie etwa Faktoren, die sie erleichtern (z.B. die Delegitimierung der alten Ordnung durch Intellektuelle), die Bildung unterschiedlicher Typen von Revolutionären, die in der Regel nicht aus den am meis41
ten unterdrückten Klassen stammen, die Ablösung von Gemäßigten durch Extremisten (die in der amerikanischen Revolution glücklicherweise vermieden werden konnte), die Herrschaft von Terror und Tugend und die Thermidorische Reaktion gegen letztere. Brinton beharrt darauf, die Methodologie der exakten Naturwissenschaften nachzuahmen, wie sie von zeitgenössischen Fallibilisten verstanden wurde,5 und wie sowohl der Titel als auch seine berühmte Fieberkurvenmetapher (16ff.) zeigt, sieht er sich selbst als jemanden, der wie ein klinischer Arzt vorgeht, der eine Krankheit studiert. Ein Historiker müsse aus seiner Arbeit persönliche Hoffnungen und Befürchtungen heraushalten (11f.) und daher habe er der Versuchung zu widerstehen, die Revolutionen, die er studiert hat, in eine Geschichtsphilosophie einzuzwängen. Denn «the philosophy of history is almost bound to lead into the kind of prophetic activity we have already firmly forsworn» (290).6 Rosenstock-Huessy legt dagegen eine der komplexesten Geschichtsphilosophien des 20. Jahrhunderts vor: Er interessiert sich für die Unterschiede zwischen den einzelnen Revolutionen, die sich zum Teil aus den unterschiedlichen Charakteren der europäischen Nationen ergeben, und er sucht gleichzeitig nach einem Fortschritt der Menschheit durch ihre verschiedenen Revolutionen hindurch. Er ist sich dessen völlig bewusst, dass seine Methode im Widerspruch steht zu dem, was er als die Cartesische Zugangsweise der zeitgenössischen Sozialwissenschaften ansieht (740ff.). In seiner Besprechung von Brintons Buch schreibt Rosenstock- Huessy: «To me the meaning of revolutions does not disclose itself to the man who thinks that he himself moves outside their orbit. It is not to be found in anything happening immediately after and during the fever but in habits, immunities, and powers developed generations and centuries later.» Die Rezension endet mit einer scharfen Verurteilung der Weigerung moderner Intellektueller, Verantwortung für die soziale Evolution zu übernehmen, und ihrer wertfreien, rein beobachtenden Einstellung: «The academic scientists have imperiled our intellectual freedom. They have watched society instead of watching out for it.» (884) Sicher ist Rosenstock-Huessys Horizont unvergleichlich weiter als derjenige Brintons: Er ist vermutlich am besten, wenn er über das Mittelalter schreibt, dem er verschiedene außerordent42
lich gelehrte Spezialstudien widmete, aber man spürt, dass er überall in der europäischen Geschichte zu Hause ist und dass er sich mit Leichtigkeit zwischen den einzelnen europäischen Kulturen ebenso wie zwischen ihren verschiedenen Medien hin und her bewegt und zum Beispiel Numismatik und Literaturwissenschaft geistreich zu verknüpfen weiß – etwas, auf das amerikanische Intellektuelle der 1930er Jahre mit Misstrauen reagierten, ganz zu schweigen von unserer Zeit der Hyperspezialisierung. Unweigerlich führt ihn die Breite seiner Interessen zu einigen Ungenauigkeiten; er begriff 1938 weder, dass der Erste Weltkrieg, dessen Erlebnis seinem Buch z ugrunde liegt, einen zweiten vorbereitete, noch verstand er das Wesen des Nationalsozialismus.7 Das fast vollständige Fehlen wissenschaftlicher Fußnoten, der Mangel an präzisen Definitionen, seine oft intuitive Zugangsweise, die nicht vor Anekdoten zurückschreckt, seine manchmal losen Assoziationen zwischen separaten Ereignissen und der letztlich vitalistische Panentheismus, der sein Unternehmen beflügelt, mag Leser befremden, die auf größere logische Strenge Wert legen. Aber all das ändert nichts an der Tatsache, dass Rosenstock-Huessys Buch sowohl Geschichtsschreibung im besten Sinne des Wortes als auch Theorie der Geschichtsschreibung ist und dass sein Autor sehr wohl mit Giambattista Vico verglichen werden kann – so der große Rechtshistoriker und Experte des sowjetischen Rechts Harold J. Berman, der in Dartmouth studierte und dessen zwei Bücher über Recht und Revolution zutiefst von Rosenstock-Huessy beeinflusst sind, im Vorwort zum Wiederabdruck des Buches von 1969.8 Der provokative Untertitel ebenso wie das Motto aus Horaz’ Sermones (I 1, 70) «De te fabula narratur» verweisen auf Rosenstock-Huessys spezifische historiographische Position: Man kann nicht Geschichtsschreibung gleichsam von außen betreiben, wie ein Entomologe Insekten beobachtet; denn was wir selbst sind, ist das Resultat der Geschichte. Daher muss das letzte Ziel der Geschichtsschreibung darin bestehen, unserer eigenen Position in der Geschichte Sinn zuzuschreiben. (Darin folgt Rosenstock-Huessy der Prozedur von Hegels Phänomenologie des Geistes.) Sein Buch will den Beitrag der großen europäischen Revolutionen zu dem, was wir sind, und zugleich zu dem, was wir sein sollen, rekonstruieren; es ist damit unvermeid43
licher Weise teleologisch ausgerichtet – wobei das Telos die Denkweise ist, die die Erzählung hervorbringt. Rosenstock-Huessy bestreitet nicht, dass die Geschichts wissenschaft die Ursachen von Ereignissen erforschen muss; ja, da er geistesgeschichtlich viel versierter ist als Brinton, bietet er ein viel breiteres Panorama des russischen Hintergrundes der sowjetischen Revolution, auch wenn es manchmal unsicher bleibt, ob die Strukturen, die er verknüpfen möchte, wirklich als Ursachen und Wirkungen anzusehen sind. Aber Geschichtsphilosophen, so Rosenstock-Huessy, können sich nicht darauf beschränken, Kausalzusammenhängen nachzugehen. Sie müssen versuchen, in der Geschichte Sinn zu finden, so wie der Verfasser einer Autobiographie im eigenen Leben Sinn zu finden sucht. «The world’s history is our own history. If it were but a world’s history, […] it would be nothing but a hopeless library of dust.» (7) Das erklärt, warum die englische Version des Buches, auf die ich mich hier konzentriere, anders als das deutsche Original (Karl Löwiths Meaning in History von 1949 antizipierend), im ersten Teil rückwärts schreitet – von der russischen zur französischen und englischen Revolution und zur Reformation –, und zwar im Bestreben, die gegenwärtige Situation zu rekonstruieren. Aber warum sollte sich die Geschichtsphilosophie auf Revolutionen konzentrieren? Eine Revolution in Rosenstock-Huessys Sinn ist viel mehr als der bloße Bruch der Kontinuität des Verfassungsrechtes. «Revolutions bring forward the question of the type of society which ought to exist. This question is even more vital than a war. A war, according to whether it is won or lost, expands or contracts the political order of a country. But revolution creates this same political order. Wars carry out, export into new regions, what revolutions create. […] To be sure, the word ‹revolution› does not apply to the events like the hundred and twenty revolutions in Mexico.» (76)9 Nur wenn der verfassungsrechtliche Bruch mit einem radikalen Wandel in unseren normativen Ideen verknüpft ist, der den Glauben beflügelt, die bestehende politische Ordnung sei zutiefst verdorben und werde nicht auf verfassungsmäßige Weise verändert werden, handelt es sich um eine Revolution, die relevant ist für die «Autobiographie der Menschheit». Palastrevolten, die einen Autokraten durch einen anderen ersetzen, sind keine Revolutionen 44
in diesem Sinne; auch die französischen Revolutionen von 1830 und 1848, so kann man hinzufügen, sind viel kurzlebiger als die eigentlichen Revolutionen 1640–1660 in England, 1789–1799 in Frankreich und 1917–1929 in Russland. Das erklärt, warum Revolutionen im eigentlichen Sinne von der Geschichtsphilosophie studiert werden müssen; sie sind die entscheidenden Laboratorien, in denen sich die nationalen Identitäten bilden. Die französische Nation zum Beispiel ist unverständlich ohne ihre Revolution. Aber Rosenstock-Huessy behauptet noch mehr. Auch wenn Revolutionen radikale Brüche der Kontinuität darstellen, ist eine kohärente Erzählung ihrer Reihenfolge möglich. Denn er folgt Hegel in der Annahme (die bei beiden Denkern letztlich durch eine spezifische Interpretation des Christentums gerechtfertigt wird), dass trotz aller durch Revolutionen verursachten Brüche in der Geschichte eine verborgene Kontinuität waltet – wie in einem menschlichen Leben, trotz seiner verschiedenen Identitätskrisen. Das geheime Telos, das nach Rosenstock-Huessy die päpstliche Revolution des elften Jahrhunderts mit der kommunistischen Weltrevolution verknüpft, ist einerseits, wie in Hegels Geschichtsphilosophie, ein Fortschritt in der Freiheit (32) und andererseits ein zunehmendes Bewusstwerden des gemeinsamen Schicksals der Menschheit: «This interplay proves that one spirit makes its way through the letters of this alphabet. The great and totalitarian Revolutions are the test of the unity of mankind. […] Not one of these national revolutions is local in purpose or result.» (712) Hinsichtlich des missionarischen, in einem weiten Sinn des Wortes religiösen Eifers, der die von ihm beschriebenen vier Revolutionen beseelt, selbst nachdem ihre Ideologie völlig säkular geworden ist, stimmt Brinton zu (210ff.); und er stimmt auch darin mit Rosenstock-Huessy überein, die sowjetische Revolution eher mit den früheren Revolutionen als mit den nahezu gleichzeitigen Revolutionen des Faschismus und Nationalsozialismus in Zusammenhang zu bringen: «But if in some respects Russian communism has come to seem to us as totalitarian, as undemocratic, as Italian Fascism or German Nazism, the fact remains that the Russian Revolution started as the heir of the eighteenth-century Enlightenment, and the Italian and German revolutions started by repudiating that Enlightenment.» (22) 45
Diese Bemerkung führt uns zum anderen großen Dissens in den Zugängen zur sowjetischen Revolution – zur Frage, wie sie zu bewerten ist. Die Selbstinterpretation der sowjetischen Revolution ist wohlbekannt: Sie gilt als die endgültige, proletarische Revolution, die die klassenlose Gesellschaft vorbereitet, eine Fortsetzung und Verbesserung der französischen Revolution, die die Bolschewisten gründlich studierten, freilich mit dem Anspruch, die halbherzigen Kompromisse und Heucheleien zu überwinden, die für die Bourgeoisie charakteristisch seien, deren Klasseninteressen die französische Revolution begünstigte.10 Auch unter denjenigen, die die sowjetische Selbstbewertung nicht teilen, findet man die Position, die sowjetische Revolution habe wenigstens zu einer erfolgreichen Modernisierung Russlands geführt;11 manchmal wird hinzugefügt, sie allein habe Russland befähigt, dem deutschen Angriff zu widerstehen und schließlich den Nationalsozialismus zu besiegen. Dem steht die zuerst von Hannah Arendt in The Origins of Totalitarianism12 klar artikulierte Position entgegen, der zufolge zwar nicht das sowjetische Experiment als solches, aber doch sein Resultat, der Stalinismus, das nächste Äquivalent zum National sozialismus sei. Eine von Arendts faszinierendsten Thesen ist sicherlich, dass der Stalinismus dem Nationalsozialismus viel näher kommt als der italienische Faschismus und die anderen Diktaturen im Europa der Zwischenkriegszeit: «Selbst Mussolini, der das Wort ‹totaler Staat› zum ersten Mal gebrauchte, mußte sich mit der Diktatur eines Einparteienstaates begnügen, die sich nicht wesentlich von den ebenfalls nichttotalitären Militärdiktaturen […] unterscheidet.» (499f.) Denn das Wesen des Totalitarismus, das sich von Despotismus, Tyrannei und Diktatur unterscheidet (703), besteht in der Manipulation der Massen durch totalitäre Propaganda und Organisation, in systematischem Terror, der hauptsächlich durch eine Geheimpolizei verübt wird, sowie in totaler Herrschaft, die ihren Höhepunkt in Konzentrations- und Vernichtungslagern findet. Arendt bestreitet nicht, dass die ideologischen Rechtfertigungen des Totalitarismus in den beiden einzigen Fällen, die sie anerkennt, unterschiedlicher Art sind; aber sie sieht viele Parallelen in den institutionellen Organisationen dieser Gesellschaften, so dass in ihrer Begriffsbildung diese Unterschiede verblassen. 46
Eine andersartige Verurteilung der sowjetischen Revolution kann man im berühmten Buch des deutschen Sinologen Karl Wittfogel Oriental Despotism: A Comparative Study of Total Power finden.13 Nach dem früheren Marxisten, der sich in einen entschiedenen Antikommunisten verwandelt hatte, wurde Russland durch die mongolische Eroberung dem asiatischen Despotismus unterworfen, und die Bolschewisten setzten eine typisch asiatische Form zentralisierter Produktion fort, die ihren Ursprung in der Notwendigkeit künstlicher Bewässerung in einer «hydraulischen Wirtschaft» gehabt hatte. Die Hauptprobleme dieser These sind sicherlich die vereinfachende Entgegensetzung westlicher und asiatischer Mentalität und das Unterschätzen der Unterschiede innerhalb beider Kontinente. Oswald Spengler benutzt einen nicht weniger stereotypischen Gegensatz, wenn er die legitime westliche Abstammung der Bolschewisten betont, die in seinen Augen wahrhaft Erben der französischen Revolution sind – wenn auch dies eine Anklage ist, da er die letztere ebenfalls hasst. Die «asiatische» Natur einer Revolution wird nach ihm am deutlichsten ausgedrückt in der destruktiven Wut des Pugatschow-Aufstandes.14 Die zwei Typen von Entgegensetzungen – kausale gegen teleologische Analyse sowie positive gegen negative Bewertung –, sind, obgleich begrifflich unterschieden, logisch nicht voneinander unabhängig. Denn eine teleologische Interpretation setzt eine positive Bewertung voraus; es gibt keine vernünftige Weise, den Nationalsozialismus in eine Geschichte des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit zu integrieren. Wenn die sowjetische Revolution der legalen Revolution der Nationalsozialisten letztlich analog ist, kann sie nur als eine der vielen blutigen und schändlichen Gewaltausbrüche der Geschichte behandelt werden. Sie mag immer noch viel Licht auf die Natur des Menschengeschlechtes werfen, aber sie kann keinen Platz neben den drei anderen großen Revolutionen beanspruchen, denen die meisten Menschen das Erringen größerer bürgerlicher und politischer Gleichheit zuschreiben und deren positive Nachwirkungen wir immer noch fühlen, ja, die sich zu nehmend über den ganzen Globus ausbreiten.15
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II. Es ist allgemein bekannt, dass es Karl Marx zufolge nicht wahrscheinlich war, dass in Russland von selbst eine sozialistische Revolution entstehen würde. Seine Abneigung gegenüber Russland beschränkte sich nicht auf den Zarismus, sondern erstreckte sich auf die russische Kultur insgesamt, die er als besonders rückschrittlich wahrnahm.16 In der Tat besteht kein Zweifel, dass die russische Kultur sich von der westlichen bedeutsam unterschied, und man muss diese Unterschiede in ihrer Tiefe fassen, wenn man das Wesen der sowjetischen Revolution begreifen will, denn trotz all ihrer universalistischen und modernistischen Ansprüche war sie, wie Tatjana in Eugen Onegin (Евгений Онегин), «русская душою,/ Сама не зная почему»17 – «russisch in ihrer Seele, wenn auch selbst nicht wissend weshalb». Die Hoffnung, eine neue Gesellschaftsform könne Russland einfach wie einer «tabula rasa» aufgepropft werden, war selbst redend illusorisch.18 Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Suche nach «nationalen Charakterzügen» nicht unproblematisch ist, denn diese mögen sich im Laufe der Geschichte wandeln. Und es ist noch problematischer im Falle eines multiethnischen Reiches wie Russlands, denn die Bevölkerung dieses Staates war heterogener als in vielen anderen Ländern. Die sowjetische Revolution wurde in der Tat durch Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft durchgeführt – es genüge, den Georgier Stalin zu nennen. Dennoch vereinten gemeinsame historische Erfahrungen, eine gemeinsame Lingua franca und eine weitverbreitete Religion, die auch diejenigen als dominant anerkannten, die ihr nicht angehörten, die verschiedenen ethnischen Gruppen Russlands, und es ist eine plausible Hypothese, dass sich unter diesen Bedingungen nationale Charakterzüge bildeten, die sogar die Revolution überdauerten. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Hypothese falsifiziert werden kann, aber es lohnt sich herauszufinden, wie weit sie uns führt. Diese Hypothese ist auch nützlich, um die Frage zu beantworten, wohin Russlands Weg heute führt, denn der Kollaps der Sowjetunion 1991 hat eine Regression zu früheren nationalen Zügen ausgelöst, nachdem deren revolutionäre Transformation zurückgewiesen worden war. 48
Der erste Faktor, bei dem man ansetzen muss, ist geographischer Natur: Schon vor der Expansion nach Sibirien war die Bevölkerungsdichte Russlands gering; die weite Ausdehnung des Landes führte zu einem deutlich anderen Verhältnis von Dörfern und Städten als in Europa.19 Wer die älteste russische Dichtung aus dem späten zwölften Jahrhundert liest, das Lied von der Heerfahrt Igors (Слово о плъку Игоревѣ),20 und es mit zeitgenössischer westeuropäischer Literatur vergleicht, wird durch die außerordentlich bedeutende Rolle beeindruckt, die die Naturbeschreibung in ihm spielt, genauso wie durch die nahezu schamanistische Idee, nach der der Held in andere beseelte Wesen transformiert wird. Der Natur ausgeliefert zu sein und gleichzeitig das Bewusstsein zu haben, sie sei beseelt, sind Züge, die die russische Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert charakterisieren; ich erwähne nur Tolstois Leinwandmesser (Холстомер), aber auch die außerordentliche Naturbeschreibung in Doktor Schiwago. Das Weiterbestehen des heidnischen Glaubens an Hexerei wird nicht nur durch die Figur der Matrjona in Tolstois Drama Die Macht der Finsternis (Власть тьмы) belegt; auch im Lager der Revolutionäre in Pasternaks Roman begegnen wir einer Hexe, Kubarícha (XII 6f.). Die besondere Anziehungskraft, die Michail Bulgakows Meister und Margarita auf sowjetische Leser ausgeübt hat, kann kaum verstanden werden, wenn man nicht begreift, dass solche abergläubischen Ideen in Russland bis lange ins 20. Jahrhundert hinein überlebten. Das verweist auf das, was ich eine eigenwillige Asynchronie der russischen Kultur nennen möchte – die gleichzeitige Gegenwart von Mentalitäten, die zu sehr unterschiedlichen Epochen in der Entwicklung der Menschheit gehören. Zweifelsohne gab es einige wichtige mittelalterliche russische Städte, in denen das Potential für eine soziale Evolution zu größerer Freiheit existierte – ich nenne nur die erste russische Hauptstadt, Nowgorod. Als 1862 in der Stadt das Nationaldenkmal «Tausend Jahre Russland» (Tысячелетие России) errichtet wurde, verband es in seiner Struktur die Mütze des Monomach mit der Wetsche-Glocke und drückte damit irgendwie die Hoffnung aus, dass unter Alexander II. eine Kombination der Monarchie mit den alten, auf rudimentäre Weise demokratischen Traditionen der Stadt gelingen möge. Die Wetsche (die Versammlung der Bevölkerung) 49
war jedoch abgeschafft worden, als Iwan III. 1478 die Stadt eroberte, und ihre brutale Plünderung 1570 durch die Opritschniki seines Enkels besiegelte das Ende der Bedeutung der Stadt. Iwan IV. fehlt daher auf dem Monument. Von den auf dem unteren Teil des Denkmals dargestellten 108 großen Russen sind die meisten Feldherren, die zweitgrößte Gruppe besteht aus kirchlichen Persönlichkeiten, die dritte aus Staatsmännern und Staatsfrauen, die kleinste Gruppe (nur sechzehn) aus Schriftstellern und Künstlern. Kein Philosoph ziert das Monument. Die Rangordnung ist wesentlich: Ein Land mit einem so riesigen Territorium, das von vielen verschiedenen Seiten aus angegriffen werden konnte, musste die Verteidigung als seine primäre Verantwortung betrachten. Wie es kein Zufall ist, dass das Mutterland des europäischen Liberalismus eine Insel ist, so begünstigten der Mangel an Schutz durch natürliche Grenzen und die Erfahrung der langen mongolischen Herrschaft die Akzeptanz der Autokratie. (Die Analyse von Zusammenhängen zwischen geographischer Lage und politischem System hat ebenso wenig mit der verwerflichen geopolitischen Lehre zu tun, Staaten sollten zur Erhöhung ihrer Sicherheit bestimmte Nachbargebiete annektieren, wie die Feststellung, dass Menschen verschiedene Hautfarbe haben, mit Rassismus.) Als nach dem Fall Konstantinopels die Lehre von Moskau als drittem Rom entwickelt wurde (um 1560 im Stufenbuch (Степенная книга) und noch früher, um 1500, in der Erzählung von den Wladimirschen Fürsten (Сказание о князьях Владимирских)), wurde der byzantinische Cäsaropapismus wiederbelebt. Trotz der Handelsverbindungen, die im 16. Jahrhundert zwischen Russland und Westeuropa begründet wurden, wurde die Andersartigkeit Russlands von den westlichen Ländern früh gespürt. In der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts findet dieses Gefühl seinen stärksten Ausdruck in den Kapiteln 20 bis 22 des fünften Buches von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus, die durch Adam Olearius’ Reisebeschreibung angeregt sind. Der Held erlebt Mangel an Bewegungsfreiheit, ständige Aufsicht, bizarre Großzügigkeit und gleichzeitig überhaupt keine Sicherheit für persönliches Eigentum, das letztlich dem Z aren unterworfen ist. Was sind die Hauptunterschiede zwischen der russischen Orthodoxie und den westlichen Formen der Christenheit? Die 50
ereicherung des Christentums durch die Vertiefung der eigenen B Subjektivität, die das Werk des Augustinus bedeutet, blieb den griechischen Vätern fremd. Noch viel weniger entwickelte die russische Orthodoxie etwas den rationalen Diskussionen der Scholastik und der systematischen Analyse des Kirchenrechts Analoges. Ikonen und mönchischer Mystizismus waren die zwei traditionellen Säulen der russisch-orthodoxen Kirche. Die Renaissance fand in Russland nicht statt, und bescheidene Ansätze zur Aufklärung beginnen erst, nachdem Peter der Große das Land dem Westen geöffnet hatte. Die Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften, die er 1724 gründete, war noch keine Universität. Während diese Institution das westeuropäische Mittelalter zutiefst belebt hatte, erhielt Russland seine erste Universität erst 1755, und zwar in Moskau, und musste bis zum 19. Jahrhundert auf die nächste warten. Peters Reformen machten aus Russland eine europäische Großmacht, zumal dank einer zunehmenden Besteuerung, ohne die seine militärischen Erfolge nicht möglich gewesen wären, die die nationalen Demütigungen des 17. Jahrhunderts beendeten; ich nenne nur den polnisch-russischen Krieg von 1609–1618 mit der polnischen Besetzung Moskaus und die Friedensverträge von Stolbowo 1617 und Cardis 1661 mit Schweden, in denen Russland seine Ansprüche auf Estland und Livland aufgeben musste. Gleichzeitig vergrößerte Peter der Große die Abhängigkeit der Leibeigenen. Sein Absolutismus war viel härter als der gleich zeitige Absolutismus in Westeuropa, da diese Länder sich einer bürgerlichen Gesellschaft rühmen konnten, die ein soziales Gegengewicht zur rechtlich anerkannten Macht der Krone bildete – einer Macht, die in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich schon im Laufe des 17. Jahrhunderts drastisch begrenzt zu werden begann. Napoleons Invasion und mehr noch seine Niederlage und der Marsch russischer Truppen nach Paris konfrontierten die russischen Eliten mit den westlichen Kulturen in einer völlig neuen Weise und führten zu einer Wahrnehmung des Kontrastes zwischen der eigenen militärischen Kraft und der rechtlichen und kulturellen Rückständigkeit. Das Scheitern der Dekabristenrevolte machte deutlich, dass ein Übergang zu westeuropäischen politischen Vorbildern in irgendeiner vorhersehbaren Zukunft nicht erfolgen würde, da die einzigen legalen Wege 51
der Verfassungsänderung Zugeständnisse seitens des Zaren waren, die nicht wahrscheinlich waren. Die auf Aristoteles zurückgehende alte Lehre von der Bedeutung des Mittelstandes für die Stabilität einer Gesellschaft wird negativ durch die sozialen Strukturen des russischen Reiches im 19. Jahrhundert bewiesen. Die Basis der sozialen Pyramide Russlands bilden meist analphabetische, bis zur Befreiung der Leib eigenen 1861 oft unfreie Bauern, deren tiefer Glaube es ihnen gestattete, ihre Unterdrückung und die regelmäßigen Hungersnöte, wie etwa die von 1891/92, zu ertragen, die zum Teil von geringen Investitionen und dem Mangel an moderner Agrartechnologie verursacht wurden, für die es aufgrund des Obschtschina-Systems, d.h., des geringen Verhältnisses von privatem zu kollektivem Eigentum an Land, kaum Anreize gab. An der Spitze stand der Zar, der für die meisten Bauern eine religiöse Autorität besaß, die ihn von der Aristokratie abhob, und dem viele eine starke Zuneigung bewahrten. (Trotz seiner Vulgarität war Grigori Rasputin ein Symbol der lebenden Verbindung zwischen den Bauern und dem Monarchen, die die aristokratischen und wohlhabenden Zirkel übersprang.) Natürlich gab es einen Klerus, Beamte und Kleinbürger, und es gab einen grundbesitzenden Adel, der stark in militärischen Tugenden verwurzelt war: Die zwei größten russischen Dichter der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Alexander Puschkin und Michail Lermontow, starben beide nach bzw. in Duellen, wie sie auch in ihren berühmtesten Werken eine entscheidende Rolle spielen. (Noch 1861 forderte Lew Tolstoi Iwan Turgenjew zu einem Duell heraus, das glücklicherweise vermieden werden konnte.) Gleichzeitig konnte sich die russische Aristokratie eine intellektuelle Entwicklung leisten, die anderen Klassen versagt und für sie umso unerlässlicher war, da ihr das Ventil einer politischen Aktivität in einem Parlament nicht offenstand. Unweigerlich führte ein derartiges intellektuelles Wachstum zu Selbstzweifeln hinsichtlich der ganzen Struktur der russischen Gesellschaft und der eigenen Position in ihr. Aber was bis zum späten 19. Jahrhundert fehlte, war ein wohlhabendes und gebildetes Großbürgertum im westlichen Sinne. In seinem Meisterwerk Mimesis hat der große Literaturkritiker Erich Auerbach mit enormer Prägnanz das Wesen des russischen realistischen Romans des 19. Jahrhunderts in den wenigen Seiten 52
erfasst, die er ihm widmet. Im Zusammenhang mit den Kaufleuten Kusma Samsonow in Dostojewskis Brüder Karamasow (Братья Карамазовы) und Parfjon Rogoschin im Idioten (Идиот) schreibt Auerbach: «Das hat mit dem aufgeklärten Bürgertum Mittel- und Westeuropas nicht die geringste Verwandtschaft.»21 Ein Werk, das bürgerliches Wohlbehagen und Gemütlichkeit als den Lohn harter und ehrlicher Arbeit feiert, wie etwa Thomas Manns Buddenbrooks, ist in Russland einfach unvorstellbar. Und das ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass es keine vergleichbare Klasse gibt. Die tiefe christliche Sensibilität der Russen revoltierte gegen die Inte grierung des universalisierten rationalen Egoismus, der den mo dernen Kapitalismus hervorgebracht hat. Albert Hirschman hat brillant die Transformation der Leidenschaften in Interessen nach gezeichnet – die Kanalisierung, die von einer stärkeren individuellen Kontrolle über die Leidenschaften begleitet ist, der weniger schädlichen wirtschaftlichen Interessen in eine Struktur, die für die ganze Gesellschaft wohltätig ist.22 Die Helden der großen russischen Romane und Dramen weigern sich, diesen Weg zu beschreiten; sie bleiben entweder in ihre Leidenschaften verstrickt, oder sie transzendieren die ganze Sphäre des Egoismus in Richtung Heiligkeit. Oscar Wilde witzelte bekanntlich: «The Catholic Church is for saints and sinners alone. For respectable people the Anglican Church will do.»23 Was Wilde über den Katholizismus sagt, trifft noch mehr auf die orthodoxe Kirche zu; und die Pointe verschiedener Meisterwerke der russischen Literatur ist gerade, dass nur die größten Sünder wahre Heilige werden können. Die drei wichtigsten Dramen des Weisen von Jasnaja Poljana machen dies sehr deutlich: Dank seiner Selbstanklage am Ende, die auch Verbrechen einschließt, die er nicht begangen hat, gewinnt der Held von Die Macht der Finsternis, Nikita, eine Größe, die seinen Vater verzückt, dessen Verwurzelung in absoluten christlichen Werten bei weitem seine Schwierigkeiten beim Sprechen aufwiegt, die die Umständlichkeit seiner Gedanken belegen. Ähnlich rehabilitiert Fedjas Selbstaufopferung am Ende von Der lebende Leichnam (Живой труп) den Helden, mit dem Tolstoi wesentlich stärker sympathisiert als mit dessen Frau Lisa, die nach der falschen Nachricht seines Todes wieder heiratet. Fedjas Liebe zur Vitalität der Zigeuner wird mit dem bürgerlichen Wertsystem seiner Familie 53
kontrastiert; wenn er auch ein Verschwender und Libertin ist, zieht ihn doch Tolstoi deutlich der Welt prätentiöser Ärzte und Anwälte aus dem Drama vor. Es ist wohlbekannt, dass Nikolai Iwanovitsch Sarynzew im unvollendeten Und das Licht scheint in der Finsternis (И свет во тьме светит) Tolstois eigene moralische Gewissensbisse hinsichtlich seines Lebens als landbesitzender Adliger repräsentiert (Gewissensbisse, die durch die Lehren Henry Georges bestärkt wurden). Nikolai sollte in der letzten Szene fälschlich behaupten, er habe sich selber zufällig erschossen, um die Prinzessin Tscheremschanowa zu entlasten, die ihn ermordet hat, um Rache für das Schicksal ihres Sohnes Boris zu nehmen, dessen von Sarynzews authentischem Christentum inspirierte Weigerung, in der Armee zu dienen, zu seiner Inhaftierung und seiner Behandlung als eines Wahnsinnigen führte. Das unglückliche Bewusstsein, das Hegel mit dem mittelalterlichen Christentum identifiziert hat, also die Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft, sich in der Welt zu Hause zu fühlen, erhielt vermutlich eine tiefere Manifestation in den Gewissensskrupeln, die die begabtesten und moralisch sensibelsten russischen Aristokraten des späten 19. Jahrhunderts quälten. Der authentische russische Intellektuelle wird von seiner Gesellschaft, die er vollständig ablehnt, ja, verachtet, unvermeidlicher Weise als Wahnsinniger angesehen. Die zweite und die dritte Szene des dritten Aktes des Dramas stellen Boris dem Militär, der Kirche, der Medizin und seiner eigenen Familie gegenüber. Der Konflikt wird so präsentiert, dass es keine Möglichkeit eines Kompromisses oder auch nur wechselseitigen Verstehens gibt; und sosehr Tolstois radikales Christentum sich von dem revolutionären Impetus der Bolschewisten unterscheidet, so wenig lässt sich bezweifeln, dass das Drama einen revolutionären Geist atmet und die vollständige Unmöglichkeit einer Versöhnung des moralischen Individuums mit der Gesellschaft ausdrückt. Das ist zum Teil ein Resultat der Unfähigkeit der russischen Gesellschaft, intelligente Kritik zu integrieren und sich an sie anzupassen. Eines der ersten großen russischen Dramen ist Alexander Gribojedows Verstand schafft Leiden (Горе от ума, 1823 verfasst, aber erst postum veröffentlicht), dessen Held, Tschatski, nach einer langen Reise ins Ausland nach Moskau zurückkehrt und sich dort nicht 54
mehr zu Hause fühlen kann; seine Kritik an Russland erzeugt den Verdacht, er sei ein Revolutionär, und am Ende triumphiert das Gerücht, er sei verrückt – eine frühe Vorwegnahme der Psychiatrisierung des Dissidenten, die in der Sowjetunion so verbreitet war. Seine ununterbrochenen Angriffe gegen die russische Korruption und seine berühmte Antwort (I 7) auf Sophias Frage «Где ж лучше?», «Где нас нет» («Wo ist es besser?», «Wo es uns nicht gibt»)24 konnten ihn in der Tat schwerlich bei seiner früheren Freundin und deren Familie beliebt machen. Und dennoch wäre es völlig einseitig, Tschatski als Westler zu interpretieren. Sein Leiden ist mindestens ebenso sehr durch die lächerlichen Versuche der russischen Aristokratie, Westeuropa nachzuahmen, bedingt wie durch den Mangel an Erziehung, den er bei dem einheimischen Adel erkennt. Schon früh tadelt er die Konfusion der Sprachen, die Mischung von Russisch und Französisch, die für die russische Aristokratie so charakteristisch war;25 und in seiner langen Tirade (III 22) drückt Tschatski seinen Hass auf die Franzosen aus, die die Russen für Barbaren halten und die in den russischen Adligen, die unfähig sind, ihre eigenen Traditionen wiederzubeleben und zu dem «klugen und guten Volk» eine Verbindung zu gewinnen, nur ein billiges Imitat französischer Kultur sehen.26 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Tschatski als Portrait des ersten russischen Philosophen konzipiert war, Pjotr Tschaadajews, den Gribojedow persönlich kannte. Tschaadajew ist in der Geschichte des russischen Denkens entscheidend, weil er sowohl die Westler als auch die Slawophilen antizipiert, die beiden philosophischen Hauptrichtungen, die im 19. Jahrhundert entstanden und beide in Opposition zu den konservativen Kräften des Reiches standen. In den späten 1820er Jahren schrieb er auf Französisch die Briefe zur Geschichtsphilosophie (Lettres sur la philosophie de l’histoire, später Philosophische Briefe [Lettres philosophiques] genannt), deren erster 1836 in russischer Übersetzung in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde. Die Reaktion der Regierung war brutal: Die Zeitschrift wurde konfisziert, der Herausgeber nach Sibirien verbannt, und Tschaadajew offiziell für verrückt erklärt und als solcher behandelt (daher hatte seine Antwort, die in Russland erst im 20. Jahrhundert publiziert wurde, den Titel Apologie eines Wahnsinnigen [Apologie d’un fou]). Man muss einräumen, dass das Bild, das Tschaadajew von 55
Russland zeichnete, nicht schmeichelhaft war – es wird zu einem Land erklärt, das, anstatt eine Synthese von Europa und dem eigentlichen Asien zu sein, zwischen denen es liegt, überhaupt nicht zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigetragen, ja, vielmehr das entstellt hat, was es von außen erhalten hat.27 Aber sosehr dieser erste Brief eine düstere Vision Russlands bietet und die feindselige Einstellung gegen Leibeigenschaft und die orthodoxe Kirche keineswegs verbirgt, äußert Tschaadajew in seinen Briefen auch große Hoffnungen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung Russlands – Hoffnungen, die die Slawophilen inspirieren konnten, auch wenn sie das erste Mal auf Französisch ausgesprochen wurden. (Man vergesse nicht, dass auch der berühmteste Liebesbrief der russischen Literatur eine Übertragung aus dem Französischen zu sein prätendiert; denn Puschkin wusste sehr wohl, dass es seines sprachlichen Genies bedurfte, um eine russische Sprache zu schaffen, die komplexe westliche Gefühle ausdrücken konnte.) Es ist hier nicht möglich, die verwickelten Diskussionen zwischen den beiden Denkschulen zu behandeln, aber drei Punkte sind für unseren Gegenstand relevant. Erstens ist es bemerkenswert, dass das Hauptproblem der russischen Philosophie im 19. Jahrhundert in der Bestimmung von Russlands Position in der Welt besteht – etwas, was von keiner anderen Nationalphilosophie behauptet werden kann. Die Suche nach der eigenen Identität ebenso wie der Kampf um Anerkennung durch den Westen sind die treibenden Kräfte in Russlands intellektuellem Leben. Während ich keine besondere Originalität in der klassischen russischen Philosophie entdecken kann (die die Tradition des objektiven Idealismus fortsetzt, aber sie nicht mit den neuen philosophischen Ideen bereichert, die in Westeuropa von Descartes an entstanden, dessen methodischer Zweifel dem russischen Denken fremd blieb), muss man zweitens anerkennen, dass diese Reflexion auf die eigene Kultur Russlands bleibendsten Beitrag zur Weltkultur hervorgebracht hat – seine Literatur des 19. Jahrhunderts. Im ersten Essay dieses Buches habe ich als eine der U rsachen für diese außerordentliche Leistung die Tatsache genannt, dass Russland mit einer der gewichtigsten moralischen Fragen kämpfte, dem Übergang vom vormodernen Wertsystem zum modernen (einem Übergang, den Westeuropa im 17. Jahrhundert behandelt hatte), aber nun mit den literarischen Techniken und der psychologischen 56
Scharfsicht, die der westeuropäische Roman im 18. Jahrhundert erworben hatte. Die Substantialität des Inhalts und die Komplexität der Form bei der Darstellung der typisch russischen Asynchronie, die ich oben erwähnte, ist eine der Ursachen für die großartige literarische Qualität von Puschkins Eugen Onegin. Dass das Gedicht so viel mehr ist als eine brillante Nachahmung von Lawrence Sternes Tristram Shandy, verdankt sich dem Zauber der Figur Tatjanas, die tief verstrickt ist in den Aberglauben des russischen Landlebens, aber dank der Lektüre westeuropäischer Romane zu moderner erotischer Liebe fähig ist, die ihrer Amme so unverständlich bleibt, und die am Ende ihre Überlegenheit gegenüber zeitgenössischen französischen Heldinnen dadurch manifestiert, dass sie ihrem ungeliebten Ehemann treu bleibt und dankbar ihrer toten Amme gedenkt, während sie Onegin zurückweist. Puschkins Kombination von Ironie, unmittelbarer Welterfahrung und Gefühlstiefe inauguriert die große Erzählkunst der Russen. Auerbach knüpft ihre Kraft an das Überleben des frühen christlichen Realismus, der in jedem Individuum den göttlichen Funken erkannte, auch in den Erniedrigten und Beleidigten,28 und an Exzesse der Leidenschaften, die im Westen verglimmt waren (oder eher, so möchte ich hinzufügen, innerhalb der erotischen Erfahrung isoliert worden waren). «Der Pendelausschlag ihres Wesens, ihrer Handlungen, Gedanken, Empfindungen scheint viel weiter als im übrigen Europa.» (485) Die intellektuellen Diskussionen in den großen russischen Romanen erörtern oft, neben dem allgegenwärtigen Thema der russischen Identität, tiefere philosophische Fragen als die zeitgenössischen philosophischen Texte; und auch wenn Dostojewski komplexe intellektuelle Fragen oft in einer unverantwortlichen Weise vereinfacht, geht er ihnen wenigstens nicht aus dem Weg, sondern greift sie auf.29 Drittens verliehen der existentielle Ernst und die Aufrichtigkeit der Russen ihnen, trotz all ihres Leidens an der Situation ihrer Kultur, gleichzeitig ein Überlegenheitsgefühl, das durch die außerordentlich klare Wahrnehmung der Schwächen und Heucheleien des Westens geschärft ist. Gewiss ist dieses Gefühl moralischer und geistiger Überlegenheit nicht an sich revolutionär. Um eine reale Revolution hervorzubringen, musste etwas zum 57
Unbehagen an der eigenen Kultur und der Ablehnung des Liberalismus als einer Alternative zum Zarismus hinzutreten. Die letztere Alternative wurde für größere Schichten nie genießbar, weil sie in Russland nie die religiöse oder metaphysische Rechtfertigung erhielt, nach der die russische Kultur stets verzweifelt suchte und die in Deutschland Hegel der Idee des auf Gewaltenteilung und Respekt für allgemeine Rechte gegründeten Vernunftstaats verliehen hatte. Der Name Tschatskis implizierte schon eine Kritik an bloßem Schwatzen (chatting) und der Produktion nur von Rauch (чадить); die Frage war nun, was zu tun sei, что делать – um den Titel von Nikolai Tschernyschewskis berühmtem Roman von 1863 zu zitieren, der mit Rachmetow das Vorbild für die neuen Berufsrevolutionäre aufstellte. Berdjajew hat die enormen Unterschiede zwischen dem westlichen Begriff des Intellektuellen und dem russischen Begriff der Intelligenzija (интеллигенция) hervorgehoben, die, sozial heterogen, «an einen Mönchsorden oder eine Sekte» erinnere. «Sie besass eine eigenartige und sehr intolerante Moral, eine obligatorische Weltanschauung, eigene Sitten und Bräuche und bildete einen Menschentypus aus, den man auch an seiner äusseren Erscheinung erkennen […] konnte».30 Paradoxerweise hat selbst deren virulenteste Form, der Nihilismus, tiefe religiöse Wurzeln – er konnte «nur in einer Seele gedeihen, die durch das russische Christentum gebildet und geprägt worden war. Er ist die Umkehrung des russischen christlichen asketischen Geistes, ein gnadenloser Asketismus.» (51) Rachmetow ist in der Tat der Erbe des heiligen Narren (юродивый),31 freilich mit dem Wunsch, die Welt total zu transformieren, die er als völlig ungerecht wahrnimmt. Die Transformation religiöser in revolutionäre Ideale durch Tschernyschweski, der Sohn eines Popen und selbst Seminarist gewesen war, geht Hand in Hand mit einer recht schlichten Utopie, die auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt setzt. Deren brillanteste Kritik sind zweifelsohne Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Kellerloch (Записки из подполья) von 1864. Die Parodie einiger guter Taten des Romans ebenso wie die explizite Auseinandersetzung mit dessen utopischen Phantasien sind ebenso genial wie der Erzähler (und wohl auch sein Autor) pathologisch. 58
Eine der entsetzlichsten Figuren unter den russischen Nihilisten war Sergei Netschajew, nach dem Pjotr Werchowenskij in Dostojewskis Dämonen (Бесы) zum Teil gestaltet ist. Netschajews Katechismus des Revolutionärs (Катехизис революционера), bei dessen Abfassung sein Freund Michail Bakunin mitgearbeitet haben mag, ist eines der eindrucksvollsten Monumente des Hasses in der Menschheitsgeschichte.32 Der Revolutionär engagiere sich ausschließlich für die Zerstörung der bestehenden sozialen Ordnung und verachte ihre Wissenschaft (2, 3, 13); sein einziges moralisches Kriterium sei, ob etwas zur Revolution führe (4); und er sei sogar willens, das Leiden des Volkes zu intensivieren, wenn dies es der Revolution zutreibe (22). Die angestrebte Revolution unterscheide sich radikal von allen früheren westlichen Revolutionen, weil sie alle Eigentumsrechte und den Staat umstürzen werde (23). Das Charisma Netschajews, in dem «vengeful power seeking and martyrdom were two sides of the same psychological coin»,33 wird dadurch bewiesen, dass es ihm während seines letzten Gefängnisaufenthaltes gelang, mehrere seiner Wärter zu seiner Ideologie zu bekehren. Netschajew war sicher ein pathologischer Extremist, obgleich mehrere Sozialrevolutionäre und einige der späteren sowjetischen Führer, zumal aus der Tscheka, nicht viel anders als er dachten. Unter den Revolutionären des neunzehnten Jahrhunderts nimmt Pjotr Tkatschow viel mehr von der bolschewistischen Einstellung vorweg, zumal dank seiner Ablehnung von Bakunins Anarchismus und seiner Hingabe an die Idee einer revolutionären Avantgarde. Er sah im Fehlen einer starken Bourgeoisie einen Faktor, der die Revolution begünstigte und verband den Sozialismus mit der traditionellen Obschtschina. Georgi Plechanov, der erste russische Marxist im strengen Sinne des Wortes, beharrte dagegen darauf, dass zunächst eine bürgerliche Revolution stattfinden müsse, bevor später eine sozialistische folgen könne. Er hatte keine Sympathien für die sentimentalen Ideen der Narodniki (Volkstümler), die in der Gemeinschaft der Bauern die wahre Stärke Russlands sahen, aber deren Programm, «zum Volke zu gehen» (хождение в народ), sich als weitgehend ineffektiv erwiesen hatte, da die religiösen und monarchistischen Bauern ihnen misstrauten und die oft herab lassende Einstellung der meist wohlhabenden Narodniki übel 59
nahmen, die sie aufsuchten und zu indoktrinieren suchten, obgleich sie vorgaben, ihre Sitten zu lernen. Da die Zahl der Arbeiter von 1865 bis 1898 von 380 000 auf drei Millionen zugenommen hatte,34 konnte Plechanow hoffen, dass dies die soziale Basis für eine künftige sozialistische Revolution darstellen würde. Aber er war entschieden gegen die Oktoberrevolution eingestellt, die in seinen Augen viel zu früh nach der Februarrevolution erfolgt war und die den Kriegseinsatz beendete, den Plechanow stark unterstützte.
III. Die Ursachen für den Erfolg zunächst der Februar- und dann der Oktoberrevolution waren mannigfach:35 Ich nenne nur die oben diskutierte irreparable Spaltung in der russischen Gesellschaft, die zunehmende Entfremdung der Aristokratie, die deren traditionelle Stütze gewesen war, von der Krone, die Uneinsichtigkeit des zaristischen Regimes (zumal nach der Ermordung Alexanders II., des am meisten reformbereiten russischen Zaren seit Peter dem Großen),36 eine Repression, die kaum Hoffnung auf Reformen übrig zu lassen schien, und die Bereitschaft der Revolutionäre zu töten und zu sterben. Im Kapitel «Du socialisme au terrorisme» seines prophetischen Buches von 1886 stellt Anatol Leroy-Beaulieu die Frage, wie Menschen, die von christlichen Märtyrern inspiriert worden waren, sich im Laufe einer Generation in Mörder verwandeln konnten, und gibt die folgende Antwort: «Cette brusque metamorphose a été accomplie par l’arrestation, par la deportation de la plupart des propagandistes.»37 Paradoxerweise verwandelte auch die Befreiung der Leibeigenen, die nicht ausreichte, um der Mehrzahl von ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen, viele von ihnen in Indus trieproletarier, die revolutionärer Propaganda leichter zugänglich waren, und verstärkte den revolutionären Geist. Aber so wie der russisch-japanische Krieg die Revolution von 1905 auslöste, so entzündete der Erste Weltkrieg sowohl die Februar- als auch die Oktoberrevolution. Das sinnlose Gemetzel entfremdete schließlich auch die Bauern, die zu Kanonenfutter geworden waren, von ihrem Zaren, und die Weigerung der liberalen Regierung, den Krieg zu 60
beenden sowie eine bundesstaatliche Verfassung und eine Landreform zu akzeptieren, spielte eine zentrale Rolle in ihrer Delegitimierung. Die Einführung von Verwaltungsgerichten unter Alexander Kerenski am 31.5.1917 war ein wichtiger Fortschritt in der Gewaltenteilung – aber die in den Schützengräben sterbenden Bauern hatten dringendere Probleme, und die neue Regierung erwies sich als unfähig, den allgemeinen Kollaps aufzuhalten.38 Wenn es einen Geniestreich bei Lenin gab, so war es gewiss seine Entscheidung, gegen alle nationalistische Opposition einen Separatfrieden mit den Mittelmächten zu suchen, um sich auf innere Aufgaben zu konzentrieren. Angesichts der Tatsache, dass der russische Plan, durch einen Krieg in Fernost die Aufmerksamkeit von den inneren Problemen abzulenken, 1905 ein derartiger Schuss nach hinten gewesen war,39 kann man nur von der Dummheit überrascht sein (zumindest wenn man sich noch nicht an das Ausmaß menschlicher Dummheit gewöhnt hat), mit der die Regierung sich in den nächsten Krieg stürzte, für den sie nicht besser vorbereitet war als für den früheren. Trotz der enormen Menge an natürlichen Ressourcen und der riesigen Bevölkerung mit einer außerordentlichen Leidensfähigkeit fehlte Russland immer noch die industrielle Grundlage, die für einen modernen Krieg unabdingbar war. Der Verfall der staatlichen Autorität ist ein weiterer Faktor, der eine Revolution begünstigt; und die Schwäche des Reiches, die sich schon mit dem Krimkrieg zu manifestieren begonnen hatte (trotz der Erfolge in Zentralasien, die die Form der Kolonialisierung abschlossen, die das russische Reich kennzeichnete), steigerten den Mut, die Regierung zu stürzen. Es versteht sich, dass eine revolutionäre Situation als solche noch nicht bestimmt, wer die Macht erringen wird. Die Geschichte ist so reich an Zufällen, dass es absurd wäre zu behaupten, der Sieg der Bolschewisten im Oktober 1917 und später im Bürgerkrieg sei «notwendig» gewesen. Doch bleibt es verblüffend, wie schnell sich die Bolschewisten nach ihren verschiedenen Niederlagen im Krieg reorganisierten, während für die Weißen die Niederlagen meist endgültig waren. Das Grauen des Bürgerkrieges, der die territoriale Integrität des Landes durch die zahlreichen intervenierenden Staaten bedrohte, der Mangel an Koordination unter den verschiedenen weißen Generälen ebenso wie die Tatsache, dass einige der 61
Führer der Weißen noch pathologischer als die der Roten waren (es genüge Roman von Ungern-Sternberg zu erwähnen), tragen dazu bei, den bolschewistischen Sieg im Bürgerkrieg und das schließliche Sich-Abfinden der russischen Bevölkerung mit der sowjetischen Herrschaft zu erklären, die wenigstens Stabilität gewährte und es schnell schaffte, die meisten der nach der Revolution ver lorenen Territorien wiederzugewinnen (Finnland, die baltischen Republiken und Polen waren die wichtigsten Ausnahmen). Russland fehlte jede Erfahrung mit dem langwierigen Prozess, durch demokratische Verhandlungen und die Fähigkeit zum Kompromiss zum Konsens zu gelangen, ohne die ein auf Gewaltenteilung gegründetes System nicht funktionieren kann. In den Semstwos, die 1864 eingeführt wurden, waren 74% Adlige gewesen; die beiden ersten Staatsdumas, die 1906 und 1907 gewählt wurden, waren extrem kurzlebig, und die dritte Duma, die auf der Grundlage eines neuen Wahlgesetzes gewählt wurde, das unter Verletzung der Verfassung von 1905 zustande kam, wurde «die Duma der Herren und Lakaien» genannt. All das konnte das Vertrauen in den Parlamentarismus nicht steigern. Die Verachtung für demokratische Prozeduren wurde deutlich, als die Bolschewisten die im November 1917 in den ersten freien Wahlen in der russischen Geschichte gewählte Russische Konstituierende Versammlung auflösten, nachdem sie, anders als die Nationalsozialisten in den letzten freien deutschen Wahlen, weniger als ein Viertel der Stimmen erhalten hatten; die Abschaffung des Mehrparteiensystems folgte schon im Sommer 1918. Die russische Verfassung von 1918 beraubte die Klassenfeinde ausdrücklich aller politischen Rechte (Art. 65). Dies war offenkundig keine Diktatur durch das Proletariat, aber wenigstens beanspruchte sie, eine Diktatur für das Proletariat zu sein, und wahrscheinlich glaubten die meisten Bolschewisten ehrlich, sie seien die besten Anwälte der Interessen des Proletariats. Doch die Brutalität, mit der sie den Kronstädter Matrosenaufstand erstickten, bewies, dass die Bolschewisten früh jede Möglichkeit einer Rätedemokratie unterdrückten. Die erste sowjetische Verfassung von 1923/24 erkannte keine Grundrechte an – Rechte, die die Staatsgrundgesetze des Kaiserreichs Russland von 1906 im achten Kapitel bewilligt hatten (zum Beispiel das Recht, ins Ausland zu reisen, in Art. 76). Die Verfas62
sung von 1936 listet in Kapitel 10 Grundrechte und Grundpflichten der Bürger auf, einschließlich verschiedener Rechte auf Leistungen, die der Verfassung von 1906 fremd geblieben waren; aber die Rechte auf Abwehr staatlicher Eingriffe hatten praktisch keine soziale Wirksamkeit (etwas, das für viele Teile des sowjetischen Rechts gilt, das oft informellem politischem Druck nachgeben musste). Die Verfassung von 1923/24 konzentrierte die politische Macht im Präsidium des Zentralen Exekutivkomittees, das die legislative und die exekutive Gewalt vereinigte (Art. 29), und erkannte keine wirkliche Unabhängigkeit der Judikative an (Art. 43– 48). Gegen Stalins Widerstand verwirklichte Lenin, in Erfüllung eines seiner früheren Versprechen, eine gewisse Form von Föderalismus innerhalb der Sowjetunion, die sogar ein zweistufiger Bundestaat wurde, da der größte Gliedstaat, Russland, selbst bundesstaatlich verfasst war; er akzeptierte sogar das ausdrückliche Recht der Republiken, die Union zu verlassen (Deklaration und Art. 4). Dieses Recht bestand fort bis zur Verfassung von 1936 (Art. 17), ja, bis zur letzten sowjetischen Verfassung von 1977, wo es in Art. 72 formuliert ist, und es spielte eine inspirierende Rolle in der Auflösung der Sowjetunion.40 Die Sozialisierung der Produktionsmittel gehörte von Anfang an zum Programm. Die Kollektivisierung der Wirtschaft während des Bürgerkrieges konnte mit analogen Beispielen in Kriegssituationen gerechtfertigt werden; Lenin bewunderte den deutschen «Staatskapitalismus» im Ersten Weltkrieg zutiefst. Dessen Übernahme und die Beschleunigung dieser Übernahme mit allen diktatorischen Methoden in noch stärkerem Maße, als Peter der Große die Übernahme der westlichen Kultur durch das «barbarische Russland» beschleunigt hatte, ohne selbst vor barbarischen Methoden im Kampf gegen die Barbarei zurückzuschrecken – das wurde von Lenin in seinem Essay von 1918 Über ‹linke› Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit (О ‹левом› ребячестве и о мелкобуржуазности) zu seinem ausdrücklichen Ziel erklärt.41 Man muss zugeben, dass er Wort gehalten hat, auch was den letzten Teil seines Versprechens angeht. Lenins eminenter praktischer Sinn führte ihn freilich 1921 dazu, die Neue Ökonomische Politik einzuführen, die dann unter Stalin von den Fünfjahresplänen (пятилетки) abgelöst wurde. Sie erzielten eine rasche Industrialisierung des Landes, und nach dem Sieg im 63
Zweiten Weltkrieg, als die nationalsozialistische Aggression noch mehr Patriotismus als während des Bürgerkrieges weckte, dehnte die Sowjetunion ihre politische Macht über den Planeten in einer Weise aus, die die Zaren nie erreicht hatten, und wurde mit dem Status einer von nur zwei Weltmächten belohnt. Mir scheint die Tatsache, dass das politische System, das die Bolschewisten schufen, bis 1991 bestehen und aufrichtigen Enthusiasmus seitens vieler Russen erfahren konnte, nicht erklärlich, wenn man nicht dessen neue Ideologie mitberücksichtigt, denn Zwang und Terror alleine können ein Gemeinwesen nicht für sehr lange Zeit zusammenhalten. Die neue Weltanschauung bot eine Synthese vieler Erwartungen, die sich im 19. Jahrhundert gebildet hatten. Menschen leben nicht vom Brot alleine, und der Wunsch, das Schwanken zwischen Selbstverachtung und kompensatorischem Größenwahn zu überwinden, das typisch war für so viele Vertreter der Intelligenzija des 19. Jahrhunderts und das Maxim Gorky in seinem Drama Sommergäste (Дачники) so witzig karikiert hat, war ein mindestens so starker Anreiz wie der Wunsch nach einer fortschrittlicheren Produktionsform und nach mehr Gerechtigkeit. Er war so stark, dass viele willens und fähig waren, die schrecklichen Entbehrungen zu erdulden, die mit dem Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg einhergingen, indem sie sich auf den aufrichtigen Glauben stützten, Russland sei nun die politische Avantgarde der ganzen Welt geworden. Der Bolschewismus ist auf eine westliche Ideologie, den Marxismus, gegründet, und daher konnte er als zur Familie der Westler zählend betrachtet werden. Seine antireligiöse Einstellung, seine Festlegung auf den «wissenschaftlichen Materialismus», sein Anspruch, die Gesetze der Wirtschaft und der menschlichen Geschichte gefunden zu haben, ebenso wie die Ausrichtung auf die Befreiung der ganzen Menschheit waren allesamt Faktoren, die auf Modernisierung verwiesen. Erhebend war das Gefühl, die Wirklichkeit müsse durch das Subjekt neu gestaltet werden – aber anders als im westlichen Ideal des Selfmademans nicht durch das Individuum, sondern durch das Kollektiv. Das verweist auf die andere Seite des Bolschewismus: Er schien durch seinen Erfolg, den schon sein Name suggerierte, zu beweisen, dass die Nationen der Sowjet union vom Schicksal dazu bestimmt waren, dem Rest der Welt das 64
Licht zu zeigen. Die Kontinuität mit traditionellen Formen der Unterdrückung und die staatsfixierte Tradition waren wenigstens kein Kulturschock und erinnerten das Volk an vertraute Erfahrungen, nun freilich mit der Aussicht, auf der Seite des Henkers und nicht derjenigen der Opfer zu stehen zu kommen. In seinem oben zitierten Essay rechtfertigt Lenin die Notwendigkeit der Machtkonzentration in den Händen der politischen Führer der Arbeiter mit der Behauptung, dank der Stärke der politischen Macht der russischen Arbeiter schreite das Land allen anderen Ländern voran, auch wenn es hinsichtlich des Niveaus seiner Kultur und seiner materiellen Produktion sogar den rückschrittlichsten westeuropäischen Ländern hinterherhinke.42 Mit derartigen Aussagen befriedigten die Bolschewisten gewissermaßen den Nationalstolz der Slawophilen, auch wenn nur Stalin in seinem berühmten Trinkspruch auf das russische Volk beim Empfang zu Ehren der Truppenbefehlshaber der Roten Armee am 24.5.1945 explizit die außerordentliche Natur der russischen Nation unter allen sowjetischen Völkern anerkannte. Durch die Verknüpfung der Kollektivierung in Kolchosen und zunehmend in Sowchosen mit der Tradition der Obschtschina wurde eine gewisse Kontinuität mit der Tradition suggeriert – und man hat sarkastisch behauptet, dass sogar eine neue Form von Leibeigenschaft eingeführt wurde, da in Kolchosen geborene Kinder einer besonderen Erlaubnis bedurften, um diese zu verlassen und anderswo Arbeit zu suchen. Gegen Marx’ eigene antiagrarische Einstellung beanspruchte der erste sozialistische Staat, ein Staat von Arbeitern und Bauern zu sein, wie das durch den Hammer und die Sichel symbolisch ausgedrückt wurde (auch wenn die Bauern weiterhin wirtschaftlich ausgebeutet wurden). Die Zentralisierung der Macht in Stalins Händen in den 1930er Jahren schuf eine dem Zarentum äquivalente Monokratie, und die Zurschaustellung der Leichname der beiden Führer belebte gewissermaßen den Kult der Ikonen und Reliquien wieder. Psycho logisch richtete sich die Aufgabe der gemeinsamen Arbeit an der Weltrevolution und – nach dem Sturz Trotzkis (der ein militärisches und kein politisches Genie war) und dem Aufstieg Stalins – dem Aufbau des ersten sozialistischen Landes an tiefe religiöse Bedürfnisse, wie den Wunsch, sich für eine größere Sache zu opfern, 65
einen Wunsch, der durch traditionelle Formen der Religiosität nicht mehr befriedigt werden konnte, da die Eliten sie mehr und mehr als intellektuell unredlich betrachteten. Schon in einem Aufsatz von 1908 hat Berdjajew sehr gut die Verwandlung religiöser Energien verstanden, die in der Psychologie der Revolutionäre erfolgte.43 In Form eines Paradoxes könnte man sagen, dass nur eine Revolution mit einer utopischen Dimension in einem Lande mit einer so starken religiösen Tradition erfolgreich sein konnte. Eine nüchternere Vision, wie die des Übergangs in einen liberalen Staat, war nichts weniger als – utopisch in einem Land mit starken utopischen Bedürfnissen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier den Machtkämpfen nachzugehen, die zu Stalins totalitärer Herrschaft mit der Großen Säuberung führten, zur Verknöcherung des Systems und zum Ende der Sowjetunion 1991.44 Das einzige Thema, dem ich näher nachgehen möchte, ist die kulturelle Entwicklung der Sowjetunion. Was die sowjetische am auffälligsten von der nationalsozialistischen Revolution unterscheidet, ist die Tatsache, dass ein Jahrzehnt lang die Sowjetunion es schaffte, herausragende künstlerische Leistungen hervorzubringen. Es ist zweifelsfrei richtig, dass das sowjetische System schon früh viele bedeutende Künstler und Intellektuelle verbannte und unter Stalin viele andere tötete oder zum Selbstmord zwang. Dennoch beflügelte der Enthusiasmus für die neue Revolution einige außerordentliche Künstler, etwas, was nur sehr begrenzt vom Nationalsozialismus gilt. Leni Riefenstahl muss als Regisseurin zweier erstaunlicher Propagandafilme bewundert werden; aber sie war eine Ausnahme, und sie war gewiss nicht ein Sergei Eisenstein. Auch wenn Aufrichtigkeit ganz sicher keine hinreichende Bedingung großer Kunst ist, ist sie doch eine notwendige Bedingung, und die Qualität der frühen sowjetischen Kunst ist ein Zeichen der Ehrlichkeit des revolutionären Glaubens. Die Entfaltung der Künste im ersten sowjetischen Jahrzehnt stand unter dem Schutz Anatoli Lunatscharskis, des ersten Volkskommissars für das Bildungswesen, eines Mannes von gutem Geschmack; und obgleich die sowjetischen Künste Züge der Moderne aufweisen, die wir auch in anderen Ländern finden (man denke nur an den Futurismus), war revolutionärer Eifer zweifelsohne ein wichtiger Fak66
tor in dieser Entfaltung. Doch mit dem Aufstieg Stalins und Andrei Schdanows wurde die Avantgarde vernichtet.45 Es ist in der Tat der sowjetische Film, in dem ich die größte künstlerische Originalität des neuen Systems erblicke. Das kann ziemlich leicht erklärt werden. Die besondere Stellung des Films unter den Künsten besteht darin, dass er in seiner dominanten Form auf der Fotografie aufbaut, die die Wirklichkeit mit einer Treue reproduziert, die von den früheren Künsten nicht erreicht wurde. Gleichzeitig beruht der Erfolg eines Films auf dem Schnitt, einer konstruktiven Tätigkeit, die der Kreativität viel Raum lässt. Die Kombination dieser beiden Faktoren, die in einer deutlichen Spannung zueinander stehen, musste die künstlerisch begabten Helden des frühen sowjetischen Staates fesseln. Die Objektivität in der Darstellung der Wirklichkeit entsprach dem «wissenschaftlichen» Aspekt des Marxismus, der in Absetzung von den träumerischen Illusionen des utopischen Sozialismus die Gesetze der Wirklichkeit zu begreifen vorgab; der Schnitt spiegelte die Aktivität, mit der das sowjetische Volk in seiner großen Verwandlung der Gesellschaft befasst war. Dsiga Wertows Dokumentarfilm Der Mann mit der Kamera (Человек с киноаппаратом) erfasst beide Tendenzen auf großartige Weise. Es kann nicht überraschen, dass die meisten frühen sowjetischen Spielfilme propagandistisch waren, aber – so seltsam es klingen mag – dies ist der erhabenen ästhetischen Qualität ihrer besten Exemplare kaum abträglich. Neben der Verherrlichung der Oktoberrevolution selbst, des Bürgerkrieges, der sie konsolidierte, der Ereignisse, die sie vorbereiteten, wie etwa der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin, und der Beziehung der sowjetischen Ideale zu weniger entwickelten Zivilisationen ebenso wie zu der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur (man denke an Wsewolod Pudowkins Sturm über Asien (Потомок Чингисхана) und Lew Kuleschows Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki (Необычайные приключения мистера Веста в стране Большевиков)), liebten die sowjetischen Regisseure die Verklärung der beginnenden Industrialisierung der Landwirtschaft – ich nenne nur Eisensteins und Grigori Alexandrows Die Generallinie (Генеральная линия) und Oleksandr Dowschenkos Erde (Земля). Was den letzten Film zu einem solchen Meisterwerk macht, ist, dass die Huldigung an die moderne Tech67
nologie, die nahezu wie eine religiöse Ikone behandelt wird, ihn überhaupt nicht davon abhält, die Schönheit der Natur in all ihren Schattierungen zu erfassen. Nicht weniger bedeutsam sind die Beiträge zur frühen Filmtheorie, die die Sowjetunion hervorgebracht hat, zumal die von Pudowkin und Eisenstein. Der Aufsatz des letzteren «Dramaturgie der Filmform» bleibt ein Klassiker auch für diejenigen, die nicht mit dem Autor in seiner Verurteilung von Plansequenzen als «völlig unfilmisch» übereinstimmen. Ich nenne nur seine Konzeption des Films als einer Kunst, die die dynamische Natur der Dinge darstellt, seine Analyse der verschiedenen Typen von Konflikten in der neuen Kunst, seine Unterscheidung von epischem und dramatischem Schnitt, sein Beharren darauf, man solle nicht nur die Emotionen, sondern auch den Denkprozess lenken, und zumal seine Verteidigung des Kreuzschnitts, der so typisch für den sowjetischen Film ist. Es versteht sich, dass die sowjetische Filmtheorie, ganz anders als das spätere Werk André Bazins, sich auf das kon struktive Element des Filmens konzentriert; und in der Tat sind der Kreuzschnitt zwischen dem Massaker an den Arbeitern und der Schlachtung eines Stiers in einem Schlachthof, dem Bruch des Eises auf dem Fluss und der Demonstration der Arbeiter sowie der Hysterie an der Börse und dem Töten auf den Schlachtfeldern in Eisensteins Streik (Стачка), Pudowkins Die Mutter (Мать) bzw. dessen Das Ende von Sankt Petersburg (Конец Санкт-Петербурга) spektakuläre Beispiele für diese Technik, die unvergessliche Assoziationen zwischen zwei Ereignissen schafft, die kausal nicht verknüpft sind, aber von denen suggeriert wird, sie seien in ihrem Wesen verbunden.46 In der Literatur ist Wladimir Majakowski das bedeutendste Beispiel für einen ausgezeichneten Dichter, der mehrere Jahre große Sympathien für die sowjetische Revolution hatte, auch wenn am Ende seine Einstellung recht komplex war. Jewgenij Samjatin schrieb dagegen schon 1921 die erste Dystopie, Wir (Мы), ein Genre, das von Aldous Huxley und George Orwell fortgesetzt wurde; alle drei Werke bringen eine Begegnung des zweifelnden Objekts totalitärer Umsorgung mit einem der Führer, der in Wir «Wohltäter» heißt. Von besonderem Interesse ist die Diskussion, ob die Revolution, die zum dystopischen Staat geführt hat, die 68
letzte ist, was die Befürworter des Systems selbstredend bejahen müssen.47 Es versteht sich, dass das Buch in der Sowjetunion nicht publiziert werden konnte (es war das erste Buch, das das Goskomizdat, das Staatliche Komitee für das Verlagswesen, verbot), aber sein Autor war ein alter Bolschewist; und diese bittere Satire auf eine totalitäre Gesellschaft konnte nur von jemandem verfasst sein, der in den revolutionären Geist eingedrungen war. Die zwei größten Romane der sowjetischen Literatur, Bulgakows und Pasternaks schon erwähnte Meisterwerke, konnten zu deren Lebzeiten ebenso wenig veröffentlicht werden. Stilistisch sehr unterschiedlich – Bulgakows Buch ist modernistisch, Pasternak folgt traditionelleren Erzählmustern –, stellen beide eine absolute, ehebrecherische Liebe zwischen einem Mann und einer Frau und die Hingabe an literarische und poetische Schöpfung dem gesellschaftlichen Wahnsinn um sie herum gegenüber. Während Pasternaks Ton elegisch ist und er den Verlust der Werte beklagt, die die vorrevolutionäre Welt zierten, deren außerordentliche Ungerechtigkeit er keineswegs bestreitet, besteht Bulgakows Geniestreich darin, den Teufel in eine letztlich wohlwollende Figur zu verwandeln, der, anders als Goethes Mephistopheles, die Liebenden vereint und dessen zerstörerische Kraft sich nur gegen die Heuchelei und die Erbärmlichkeit der Bürokraten des sowjetischen Staates richtet. Beide Werke drücken eine subtile Religiosität aus, die bei Bulgakow wiederum komplexer ist, denn der Roman des Meisters erstrebt eine vollständige Humanisierung und Historisierung Jesu, dessen moralische Botschaft freilich dadurch für Menschen, die unterdrückt leben, noch attraktiver wird. Da diese beiden Bücher, deren Platz unter den größten Romanen des 20. Jahrhunderts nicht bestritten werden kann, literarische Transformationen der sowjetischen Erfahrung sind und außerhalb Russlands nicht hätten geschrieben werden können, müssen sie trotz aller Kritik an ihr zu den Produkten dieser Gesellschaft gerechnet werden. Sie schafften es, trotz des Totalitarismus zu überleben, denn «Manuskripte brennen nicht» – wohl der berühmteste und am ehesten zur Hoffnung animierende Satz in Bulgakows Roman.48
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IV. Auf den ersten Blick mag es absurd erscheinen, ein komplexes historisches Phänomen wie die russische Revolution bewerten zu wollen; denn nur Handlungen individueller Akteure scheinen einem moralischen Urteil unterworfen zu sein. Einerseits ist es sicher richtig, dass niemand verantwortlich ist für unvorhersehbare Konsequenzen; und nicht weniger wahr ist es, dass, auch wenn man zu einer negativen Bewertung der sowjetischen Revolution kommt, dies keinesfalls impliziert, dass alle Personen, die sich für sie einsetzten, falsch gehandelt haben. Solch ein Urteil hängt von den Entscheidungen ab, die getroffen wurden, und diese von den Alternativen, die bestanden – und wenn jemand in den Malstrom einer Revolution stürzt, sind die Alternativen dramatisch vermindert. Aber auch wenn all dies unstrittig ist, müssen wir anerkennen, dass menschliche Handlungen kein Selbstzweck sind, sondern auf die Herstellung von Zuständen abzielen; und dass der Wert einer Handlung viel zu tun hat mit dem Wert des Zustandes, den sie erstrebt. Daher ist die erste Frage, die wir stellen müssen: Was versuchte die sowjetische Revolution zu erreichen? Das Ziel allein kann jedoch nie alle Mittel rechtfertigen, die erforderlich sind, es zu erreichen, denn diese Mittel können Güter von höherem Wert verletzen als dem, den sie zu verwirklichen suchen. Die zweite Frage ist daher: Wie steht es um die moralische Eigenart der angewandten Mittel? Drittens schließlich gilt: Auch wenn die Nebeneffekte eines Ereignisses von den Akteuren nicht vorhergesehen werden konnten, besteht die moralische Relevanz der Geschichtsschreibung eben in der Tatsache, dass spätere Generationen diese unbeabsichtigten Konsequenzen beobachten und dadurch aus unvorhersehbaren in vorhersehbare verwandeln können; ohne deswegen notwendig die Akteure der früheren Epoche zu verdammen, müssen wir heute anerkennen, dass wir Situationen vermeiden müssen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit negative Konsequenzen hervorbringen. Um mit dem Ziel zu beginnen, so kann man nicht behaupten, dass es von vornherein unmoralisch war. Wer könnte etwas gegen die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen einzuwenden haben, die in Art. 3 der russischen Verfassung 70
von 1918 zum entscheidenden Ziel erklärt wurde? In der Tat unterscheidet der Einsatz für universalistische moralische Ideale und für eine gewisse Form internationaler Solidarität (die keineswegs unvereinbar war mit imperialistischer Expansion, die einesteils durch universalistische Ideen angeregt war, ihnen andernteils zugleich widersprach) die sowjetische Revolution grundsätzlich von der legalen Revolution des Nationalsozialismus, die zudem nicht die Entschuldigung hatte, gegen einen brutal repressiven Gegner zu kämpfen, gegen den sich die Bolschewisten bis zum Februar 1917 zur Wehr gesetzt hatten. In beiden Revolutionen waltet ein unterschiedlicher Geist, der sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert. Unter den nationalsozialistischen Führungskräften gab es nicht eine Gestalt, die moralisch anziehend war, während es unter den Alt-Bolschewisten einige halbwegs anständige Menschen und sogar Leute mit Geschmack gab. Lunatscharski gehört sicher zu einer anderen moralischen Kategorie als Joseph Goebbels – während ich das bestreiten würde im Falle Heinrich Himmlers und Genrich Jagodas oder Reinhard Heydrichs und Nikolai Jeschows. Unter den Überzeugungstätern gab es in beiden Systemen Menschen mit einer großen Bereitschaft zur Selbstaufopferung, aber die Bereitschaft zu töten war im sowjetischen System hauptsächlich gegen jene gerichtet, die als Bedrohung des Systems galten. Die Vernichtung von Menschen ausschließlich aufgrund ihrer Rasse war auf Deutschland beschränkt, auch wenn die sowjetische Phantasie bei der Entdeckung vermeinter Feinde vergleichbare Resultate hinsichtlich der Zahl der Opfer erzielte und vermeinte Feinde auch nach ethnischen Kriterien gesucht wurden. Verschiedene Zwangsumsiedlungen waren letztlich Genozide, auch wenn sie nicht als ausdrücklicher Völkermord geplant worden waren. Trotz der Schrecken des Stalinismus, dessen Terror wahrscheinlich noch wahlloser war als in Deutschland, ließ die Brutalität der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow beträchtlich nach, dessen Herrschaft nach Arendts eigenen Kriterien mehr autoritär als totalitär war; und mit Michail Gorbatschow wurde ein friedlicher Übergang möglich, was von dem nationalsozialistischen System nicht zu erwarten gewesen wäre. Gorbatschows Grundanständigkeit, wie die vieler anderer weniger prominenter sowjetischer Bürger, war mit dem sowjetischen 71
System nicht unvereinbar, auch nicht mit gehobenen Machtpositionen. Ich erwähnte schon, dass das Aufblühen der Kunst im ersten Jahrzehnt der Sowjetunion oft aufrichtigen E nthusiasmus ausdrückte. Als wichtigster Schritt bei der Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen galt der Sozialismus. Obgleich der Sozialismus ein Mittel ist zu jenem fundamentalen Ziel, ist er doch so mit seinem Ziel verwoben, dass er zusammen mit ihm abgehandelt werden kann. Was den Sozialismus angeht, ist die moralische Evidenz nicht so deutlich. Erstens ist es überhaupt nicht klar, warum in einer Plan- oder Zentralverwaltungswirtschaft die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eher erfolgen sollte als in einer Marktwirtschaft. Das würde auch gelten, wenn die Planwirtschaft auf demokratischen Prozessen, parlamentarischen oder direkten, basierte, was in der Sowjetunion nicht der Fall war; denn die überstimmte Minderheit hat in einer Planwirtschaft weniger Rechte als in einer Marktwirtschaft, in der jedes Individuum eine gewisse Chance hat, die eigenen Bedürfnisse dadurch befriedigt zu bekommen, dass es die Bedürfnisse anderer befriedigt. Die Geschichte hat inzwischen bestätigt, was theoretische Reflexionen schon im Voraus gezeigt hatten, nämlich dass eine Planwirtschaft viel seltener als eine Marktwirtschaft zu einem Gleich gewicht von Angebot und Nachfrage führt, denn sie ist viel weniger flexibel und es gibt keinen Grund zur der Annahme, die Bürokratie kenne die Bedürfnisse der Menschen besser, als diese es selber tun. Die Abwertung der Marktwirtschaft war unter westlichen Intellektuellen verbreitet, die gerne die Wohltaten des Kapitalismus genossen, aber sich hinsichtlich seiner Widersprüche mit dem Gedanken trösteten, dass irgendwo eine Alternative zum Kapitalismus errichtet werde (glücklicherweise nicht von ihnen selber). Eine der Wurzeln dieser Ablehnung war die Schwierigkeit zu begreifen, dass soziale Systeme gute Resultate haben können, auch wenn sie niemand als solche intendiert hat – eine religiösem Denken, das von der Kategorie der Vorsehung inspiriert ist, vertraute Idee, die jedoch für eine explizit atheistische Weltanschauung, die noch nicht mit der Systemtheorie bekannt geworden ist, viel schwerer zu verdauen ist.49 72
Dass die Sowjetunion dem Westen in der Produktion von Konsumgütern hinterherhinkte, ist wohlbekannt. Aber man kann einwenden, dass die erzwungene Industrialisierung unter Stalin von Anfang an sehr bewusst die Bedürfnisse des Konsumenten gerade nicht betonte, sondern eine Schwerindustrie aufbauen wollte, die derjenigen der westlichen Staaten vergleichbar war. Darin war sie erfolgreich: «In 1913 the Tsarist Empire, with 9.4 per cent of the world’s population, produced 6 per cent of the world’s total of ‹national income› and 3.6 per cent of its industrial output. In 1986 the U.S.S.R., with less than 6 per cent of the global population produced 14 per cent of the globe’s ‹national income› and 14.6 per cent of its industrial output.»50 Vergleichbare Erfolge fehlten jedoch in der Landwirtschaft, und man kann sich fragen, ob die rasche Industrialisierung nicht in erster Linie das Bedürfnis des Herrschers nach Prestige befriedigte. Doch kann man argumentieren, dass die Industrialisierung sich als Segen erwies, als Deutschland das Land angriff, da sie der Sowjetunion gestattete, den Aggressor abzuwehren. Obgleich dieses Argument gewiss nicht absurd ist, kann man natürlich einwenden, dass der Aufstieg des Faschismus in Europa durch die sowjetische Revolution begünstigt wurde. Solange ein solcher Einwand nicht dazu benutzt wird, den Faschismus zu entschuldigen, ist er plausibel. Doch ändert das natürlich nichts an der Tatsache, dass angesichts der Existenz feindlicher Mächte die Industrialisierung notwendig war, wenn man die Unterwerfung des eigenen Landes vermeiden wollte.51 Ob die Industrialisierung mit derselben Geschwindigkeit erfolgt wäre, wenn die Oktoberrevolution nicht auf die Februarrevolution gefolgt wäre, kann ich nicht beurteilen. Doch auch wenn die Umwandlung der Sowjetunion in einen Industriestaat und die Abwehr der deutschen Invasionsbestrebungen erfolgreich und für die meisten sowjetischen Bürger Anlass zum Stolz waren, muss man sich fragen: um welchen Preis?52 Nicht nur individuelle Eigentums- und Freiheitsrechte wurden in ungeheurem Maße verletzt, die Zahl der im Bürgerkrieg, in der durch den Staat ausgelösten ukrainischen Hungersnot (dem Holodomor) und unter Stalins Staatsterrorismus verlorenen Menschenleben ist enorm – allein letztere beträgt wahrscheinlich zwischen zehn und zwanzig Millionen.53 Wiederum mag man argumentieren, dass die 73
Toten des Bürgerkrieges nicht so sehr auf die Rechnung der Bolschewisten gehen als auf diejenige der Aufständischen; schließlich beharrt auch ein Philosoph, der die Legitimität der Revolutionen so grundsätzlich bestreitet wie Kant, darauf, dass eine revolutionäre Regierung, wenn sie einmal die Herrschaft errungen hat, respektiert werden muss.54 Wie immer es um diese Behauptung auch stehen mag (man könnte durchaus die These vertreten, dass die Revolte der Russen gegen die Bolschewisten moralisch edler war als die deutsche Ergebung unter ihre Diktatur), ist es psychologisch verständlich, dass Menschen dem Beispiel folgen, das ihnen gegeben wird; und dass nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung Aufstände erfolgten, kann schwerlich überraschen. Revolutionen, die auf grundsätzlichen Veränderungen im Wertsystem beruhen, verlaufen fast immer blutig – man denke an die englische Revolution (mit der Mehrzahl der Opfer in Irland) und an die französische Revolution. Die amerikanische Revolution ist in der Tat eine Ausnahme, und zwar hauptsächlich dank dreier Faktoren. Erstens handelte es sich um einen Konflikt, der territorial und nicht von Interessen bestimmt war und durch die erfolgreiche Sezession beendet werden konnte (deshalb muss dieser Konflikt von einer wirklichen Revolution unterschieden werden).55 Zweitens leisteten die Väter der amerikanischen Verfassung eine enorme intellektuelle Arbeit mit der Konzeption einer Verfassung, die den Machtmissbrauch einschränken konnte: die Verfassung, die sie schufen, unterschied sich nur wenig von der britischen, da sie der Gewaltenteilung verpflichtet war und letztlich nur die Krone durch einen indirekt gewählten Präsidenten ersetzte. Die Obsession mit dem Sozialismus dagegen führte schon Marx, und noch mehr die Bolschewisten, dazu, das Nachdenken über eine angemessene Machtverteilung zu vernachlässigen. Warum sollte man sich denn darum kümmern, wenn doch der Sozialismus jede Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abschaffen würde? Drittens ermöglichte der amerikanische Kontinent eine Expansion nach Westen, die den Menschen versprach, statt durch Umverteilungen durch eigene Arbeit die Armut überwinden zu können, während in der Sowjetunion der Wunsch, die soziale Ungleichheit zu überwinden, zweifelsohne das Ausmaß an Gewalt, das zu diesem Zwecke notwendig zu sein schien, vermehrte.56 74
Die Frage, ob die sowjetische Revolution für Stalins Aufstieg verantwortlich gemacht werden kann, ist schwer zu beantworten. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Stalins monokratisches System von den Bolschewisten nicht geplant war, aber es ist aussichtslos zu bestreiten, dass die Diktatur einer Partei, die auf der vollständigen Verachtung aller Mechanismen der Gewaltenteilung basierte, die Möglichkeit und – angesichts der menschlichen Natur – sogar die hohe Wahrscheinlichkeit einer monokratischen Ära eröffnete, die alle Konflikte zu beenden versprach, die die unmittelbare revolutionäre Situation gepeinigt hatten. Eines der vielen Probleme, das Lenin seinem Lande hinterließ, war das Fehlen einer klaren Nachfolgeregelung, und dieser Mangel ebenso wie die frischen Erinnerungen an die Gewaltorgien im Großen Krieg und im Bürgerkrieg vermehrten unweigerlich das Risiko eines blutigen Machtkampfes. Dieser war zumindest eine natürliche Nebenfolge. Eine Ideologie, die die letzte Verantwortung über Recht und Unrecht an die Geschichte delegiert, sollte ihre Verantwortung für die Geschichte anerkennen. Eine intentionalistische Ethik andererseits sollte auf die Tatsache verweisen, dass die Gräuel, obzwar nicht vorhergesehen, doch vorhersehbar waren und deswegen nicht vorhergesehen wurden, weil man den eigenen Machtwillen nicht bändigen wollte. Im Fall des Holodomor erfasst die Kategorie des bedingten Vorsatzes (dolus eventualis) wohl am besten den moralischen Status der Taten. Die legalen Morde der Großen Säuberung hingegen waren offenkundig absichtlich – es lag dolus directus vor. Explizites Ziel der Prozesse war ja die Tötung der Angeklagten. Trotz der Unterschiede beim Ausgangsziel scheint es mir daher vergeblich zu sein, die Analogien zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus zu leugnen, die von Arendt aufgezeigt worden sind. Selbst ein dem Marxismus so nahe stehender Historiker wie Eric Hobsbawm, der den Terminus «totalitär»57 nicht mag, anerkennt, dass Stalins Autokratie versuchte, «to impose total control over all aspects of its citizens’ lives and thoughts, all their existence being, so far as possible, subordinated to the achievement of the system’s objectives, as defined and specified by the supreme authority» (387). Er würde freilich betonen, dass Stalins Autokratie dies nur versuchte, es ihr aber nicht wirklich gelang. Die Tatsache, dass die Implementierung entgegengesetzter Zielsetzungen zu politi75
schen Systemen führen konnte, die in ihren tödlichen Resultaten ziemlich ähnlich waren, ist eine der wichtigsten Lektionen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt, dass Zwecksetzungen nicht so viel zählen, wenn Menschen sich durch sie für legitimiert halten, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen – denn da Menschen in revolutionären Situationen hinsichtlich ihrer Ziele nicht übereinstimmen, ist es nur konsequent, dass sie zur Schlussfolgerung gelangen, die Beseitigung der eigenen Gegner sei der beste Weg, um die eigenen Zielsetzungen möglichst schnell zu verwirklichen. Letztlich ist diese Doktrin eine radikalisierte Form des Konsequentialismus, der völlig vom intrinsischen Wert einer Handlung abstrahiert und stattdessen nur auf die Konsequenzen blickt – oder besser: auf die vermeinten Konsequenzen. In einem der besten literarischen Werke zur bolschewistischen Mentalität, Sonnenfinsternis (Darkness at Noon), hat Arthur Koestler, der selbst mehrere Jahre ein engagierter Kommunist gewesen war, diese Bereitschaft, jedes Individuum für die Zwecke des Kollektivs zu opfern, in einer Diskussion zwischen Rubaschow und dessen altem Freund, dem Vernehmungsbeamten Iwanow, am Ende des zweiten Teiles großartig dargestellt, eine Bereitschaft, die mit der Rechtfertigung der Vivisektion von Tieren verglichen wird, auch wenn es nun der soziale Körper der Menschheit ist, dem die Haut abgezogen wird. Iwanow ist durch die Metapher und die Aufgabe inspiriert, eine neue Haut auf den sozialen Körper zu nähen.58 Koestler gelingt es, Iwanows fürsorgliche Kameraderie nicht ohne eine gewisse Bewunderung zu porträtieren, während er Iwanows jungen Kollegen Gletkin verachtet, der die neue Generation der Bolschewisten unter dem neuen Monokraten repräsentiert. In ihm hat die Hingabe an die erfolgreiche Industrialisierung alle Gefühle menschlicher Solidarität ausgelöscht und sie durch die Bereitwilligkeit ersetzt, nicht nur Gewalt, sondern alle Formen der Manipulation einzusetzen. Nachdem Gletkin es geschafft hat, Iwanow erschießen zu lassen, unterwirft sich Rubaschow Gletkin, und zwar in dem aufrichtigen Wunsch, der Partei zu dienen, indem er sich auf dem Altar der Geschichte anklagt und opfert. Doch was hat die Philosophie zu der Vorstellung zu sagen, dass ein edles Ziel die Mittel zu seiner Verwirklichung rechtfertigt? Die Antwort kann nur lauten, dass das Ziel mit großer Wahrschein76
lichkeit verwirklichbar sein muss und dass dessen intrinsischer Wert den Unwert der angewandten Mittel deutlich überwiegen muss.59 Aber menschliche Leben sind ein größerer Wert als der Zuwachs der Produktion; und zudem gibt es, und gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, viel Evidenz dafür, dass die Zunahme an Produktivität in einer Marktgesellschaft größer ist. Deren Abschaffung durch monströse Verbrechen hatte daher keine moralische Rechtfertigung, und der Kollaps der Sowjetunion basierte letztlich auf der Anerkennung, dass das planwirtschaftliche System den Wettlauf mit der Marktwirtschaft sowohl hinsichtlich der Hebung des Lebensstandards als auch hinsichtlich künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität verloren hatte. Zwar ist es richtig, dass die Erfahrung, auf dem Ozean des sowjetischen Totalitarismus zu segeln, einigen Menschen eine moralische und intellektuelle Tiefe verlieh, die in konsumistischen Gesellschaften kaum zu finden war,60 doch zählten zu den durch das System umfassend zerstörten Werten auch Tugenden wie Mut und Aufrichtigkeit. Bulgakows Pilatus erkennt in der Feigheit eines der schlimmsten Laster.61 Nur auf seiner Grundlage kann der Totalitarismus auf blühen. Aus dem Gesagten folgt, dass die sowjetische Revolution nicht in eine teleologische Deutung menschlicher Geschichte passt, wie es Rosenstock-Huessy suggeriert hatte. Sie hat die Reichweite menschlicher Freiheit nicht ausgedehnt, sondern ein entsetzliches totalitäres System hervorgebracht – das allerdings eine wichtige Rolle bei der Bezwingung eines noch grauenhafteren Systems spielte, was dessen Anziehungskraft für einige westliche Intellektuelle erklärt. Das Ideal sozialer Gerechtigkeit für die ärmeren Klassen wurde durch den westlichen Wohlfahrtsstaat wesentlich besser erreicht. Und doch müssen zwei Aspekte anerkannt werden. Die Erweiterung bloß negativer Rechte zu positiven war eine wichtige Leistung des 20. Jahrhunderts. Die späte Sowjetunion schaffte es immerhin, viele soziale Rechte in einer Weise zu verwirklichen, die früheren Phasen der russischen Geschichte völlig unbekannt war, und vermutlich hat die Bedrohung durch eine soziale Revolution zu deren raschen Ausbreitung im Westen beigetragen (man denke nur an die Entwicklung des internationalen Arbeitsrechts). Nicht weniger einschlägig war die Idee internationaler Solidarität. 77
Wir sind zwar noch weit davon entfernt, sie in mächtigen Institutionen verwirklicht zu haben, aber man kann im Bretton-Woods- System und in der Welthandelsorganisation globale Organisationen mit zunehmendem Einsatz für die globale Wohlfahrt erkennen. Denn sie versuchen, Entwicklung und Welthandel als mächtige Kräfte zu fördern, die die globale Armut mindern können. Sie sind weit entfernt von dem Selbstverständnis der internationalen Arbeiterbewegung, aber wenn es den genannten Institutionen gelingt, die absolute Armut zu überwinden, können sie sich vielleicht einst als die wahren und effizienten Erben des universalistischen Einsatzes des Marxismus deuten. Der zweite Grund, warum die sowjetische Revolution nicht einfach als absurder Fehler abgetan werden kann, war ihre außerordentliche Anziehungskraft für Länder der Dritten Welt, zumal in Asien. Christopher Reed bemerkt zwei zusammenhängende Widersprüche: «While universally based on a ‹proletarian› ideology it has, where it has come to power, relied heavily on peasants and peasant-based revolutions. […] Secondly, […] communism was, almost everywhere, faced with pre-capitalist problems of cultural, political and economic ‹backwardness› […]»62 Der Grund für diese Widersprüche ist relativ einfach: Ist der liberale Weg der Modernisierung eine gangbare und allgemein verständliche Alternative, ziehen ihn Menschen in der Regel vor, weil das Risiko von Gewaltausbrüchen viel geringer ist. Wo das nicht der Fall war und das Bedürfnis nach Modernisierung entstand, bot der Marxismus-Leninismus bis 1989 ein plausibles ideologisches Modell, wie man dahin gelangen könne. Er appellierte an vormoderne Gerechtigkeitsbegriffe und unterbreitete zur gleichen Zeit eine Geschichtsphilosophie, die es den weniger entwickelten Ländern gestattete, sich dem Westen für überlegen zu halten, dessen Wohlstand und Macht sie mit Argwohn betrachteten. Denn es ist viel leichter, Menschen dazu zu motivieren, die Mühen des Modernisierungsprozesses auf sich zu nehmen, wenn man ihnen versprechen kann, dass sie andere Nationen nicht einfach nur einholen, sondern durch das Erreichen eines neuen Niveaus geschichtlicher Entwicklung überholen werden. Zwar irrt die marxistische Geschichtsphilosophie, wenn sie den L iberalismus dem Sozialismus unterordnet; doch muss eine komplexere 78
eschichtsphilosophie die enorme Bedeutung der marxistischen G Geschichtsphilosophie als eines Werkzeuges der Modernisierung anerkennen, das Menschen begeisterte und zu großen Opfern motivierte, von denen einige zu bewundernswerten Resultaten führten. Der marxistische Missbrauch der Geschichtsphilosophie sollte nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Disziplin führen, die wesentlich bleibt, um dem Ganzen der menschlichen Erfahrung Sinn zu verleihen und auch um unsere zukünftige Entwicklung zu lenken. Das erste Land, das den von Reed beschriebenen Pfad beschritt, war Russland. Ich habe versucht deutlich zu machen, dass im Falle Russlands die bolschewistische Ideologie als Befreiung von den Widersprüchen erlebt werden konnte, die das russische Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert bedrängt hatten. Wo steht Russland heute nach dem Verlust seiner Ideologie? Sind Westler, Slawophile und Personen, die nur an der Bewahrung der derzeitigen Machtverteilung interessiert sind, in neuer Gestalt aufgetreten? Wie wird dieser erneuerte Konflikt im 21. Jahrhundert enden? Ich weiß nur, dass die Auflösung der Sowjetunion und das Scheitern des postsowjetischen Russlands bei dem Versuch, ein normales westliches Land zu werden, die Intensität der Identitätssuche der Russen auf einen neuen Höhepunkt getrieben haben, dem wir einige außergewöhnliche Kunstwerke verdanken,63 der aber kein gutes Vorzeichen für die politische Zukunft ist.64 Denn Russland ist heute genauso weit entfernt von einem moralischen Kapitalismus, wie es das vor hundert Jahren war. Die kommunistische Erfahrung hat nicht zu einer Bändigung des Egoismus geführt, der sich in der brutalsten Form ausdrückte, als das religiöse Residuum des Kommunismus verschwand; und die wiederbelebte russisch-orthodoxe Kirche begreift nicht einmal die Notwendigkeit einer modernen Sozialethik und die moralischen Argumente für eine auf der Gewaltenteilung basierende Verfassung. Die Demütigung, die den Kollaps der Sowjetunion begleitete, ist nicht verdaut worden, und die Kategorie des nahen Auslands (ближнее зарубежье), die auf die vierzehn ehemaligen Sowjetrepubliken angewandt wird, ist nicht leicht zu vereinbaren mit dem gegenwärtigen Völkerrecht. Solange diese Probleme andauern, wird der lange Schatten der s owjetischen Revolution nicht verschwinden. 79
Warum das heutige Russland gefährlicher ist als die Sowjetunion der 1970er Jahre Diesen dritten Essay möchte ich mit einer persönlichen Erinnerung beginnen: 1990 konnte ich als Gast des Instituts für Philosophie der sowjetischen Akademie der Wissenschaften vier Monate in Moskau verbringen, die zu den faszinierendsten und glücklichsten meines Lebens gehören. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, dass die von Michail Gorbatschow angekündigte Glasnost Wirklichkeit wurde: Die Gespräche mit Kollegen und Studenten waren sach orientiert, geistig intensiv und ehrlich, denn man fürchtete den Druck eines totalitären Staates nicht mehr, die Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Westen (aller Wahrscheinlichkeit nach unter Einsatz von Nuklearwaffen) zerschmolz; man war zwar besorgt, aber auch gespannt auf den Fortgang der Perestrojka, und man freute sich auf die Möglichkeit, endlich in den Westen reisen zu können. Der Kalte Krieg war zu Ende, und viele Russen gratulierten mir mit aufrichtiger Freude zu der bevorstehenden Einigung Deutschlands. Leider sind die Erinnerungen an diese Aufbruchszeit vor einem Vierteljahrhundert oft ein Hinderungsgrund, die heutige Situation richtig einzuschätzen: Denn man nimmt nur ungerne das Scheitern von Hoffnungen wahr. Die Weigerung vieler, die heutige Realität Russlands ohne Wunschdenken zur Kenntnis zu nehmen, hat in psychologisch sehr naheliegenden Selbsttäuschungsmechanismen ihren entscheidenden Grund. Der Kalte Krieg war enorm anstrengend – einerseits zwang er dazu, in Militärausgaben zu investieren, an deren Umlagerung in soziale Aufgaben man sich inzwischen gewöhnt hat, andererseits minderte das Leben mit der ständigen, wenn auch latenten Angst vor einem Atomkrieg die Lebensqualität beträchtlich. Ist es nicht natürlich, dass man lieber den Kopf in den Sand steckt als anzuerkennen, dass heute wieder anstrengende und schmerzliche Veränderungen erforderlich sind, wenn man einer viel größeren Katastrophe entgehen will? Gewiss ist dies natürlich
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– und eben deswegen sind besondere argumentative Mühen erforderlich, um aus dieser natürlichen Verdrängung aufzurütteln. Denn die Lage ist heute gefährlicher als in den 1970er und 1980er Jahren. Bevor ich erkläre, warum dies so ist (II) und was dagegen getan werden kann (III), will ich kurz einige der Faktoren nennen, die zur jetzigen Situation geführt haben (I).
I. Wie es zur heutigen Situation kam Der von Gorbatschow angestossene Reformprozess geriet sehr bald außer Kontrolle. Die Hoffnungen, die sich überall breitmachten – auf nationale Selbstbestimmung, auf Rechtsstaatlichkeit und auf ein Ende der Unterdrückung, auf Demokratisierung und zumal auf ein schnelles Einholen des westlichen Lebensstandards – wären selbst bei einer besser vorbereiteten politischen Führungsklasse nicht gleichzeitig oder innerhalb kurzer Zeit zu erfüllen gewesen. In Deutschland, wo der Totalitarismus ‹nur› zwölf Jahre gedauert hatte, musste vier Jahre nach dem Ende Hitlers ein Dreiundsiebzigjähriger, der dreizehn Jahre vor Hitler geboren war, Bundeskanzler werden, der vor 1933 genügend Erfahrungen mit rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen gesammelt hatte. In Russland hätte es freilich aufgrund der sieben Jahrzehnte währenden bolschewistischen Herrschaft rüstiger Hundertjähriger mit ausgezeichnetem Gedächtnis bedurft – ja selbst diese hätten nicht geholfen, da Russland bescheidene demokratische Erfahrungen nur in den chaotischen Kriegsmonaten von Februar bis Oktober 1917 gemacht hatte. Das Ende der Sowjetunion am 26.12.1991 war durch den an sich eine Stärkung der Zentralgewalt beabsichtigenden, gescheiterten Putsch vom August 1991 beschleunigt worden; entscheidend war aber der Wunsch nach Souveränität der Regierungen der meisten der fünfzehn Sowjetrepubliken. Man darf Zweifel daran haben, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Auflösung der Union wünschte, wenn man bedenkt, dass im März 1991 fast 78% der Wähler in einem Referendum, das allerdings in den drei baltischen Republiken, Moldawien, Armenien und Georgien nicht durchgeführt wurde, für die Bewahrung der Union stimmten. Immerhin 82
stimmte die Ukraine in einem zweiten Referendum im Dezember 1991 überwältigend für Unabhängigkeit, aber zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass die Sowjetunion keine Überlebenschance mehr hatte. Es entspricht auf jeden Fall den Tatsachen zu sagen, dass die Auflösung der Sowjetunion nicht durch externe Eingriffe, sondern durch innere Zerfallsprozesse verursacht wurde. Mit dem Ende der Sowjetunion entstand ein Machtvakuum, das gefüllt werden musste. Da es keine allgemein anerkannten Regeln und insbesondere keine demokratischen politischen Traditionen gab und da die kommunistische Ideologie inzwischen von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wurde, war Chaos vorprogrammiert. Die schwere Verfassungskrise vom September 1993, während der Jelzin verfassungsgemäß vom Parlament abgesetzt wurde, endete mit Jelzins Sieg, weil das Parlament es nicht schaffte, das Militär auf seine Seite zu ziehen, obwohl durchaus eine Chance dazu bestanden hätte. Seitdem ist das Militär dem Präsidenten loyal gewesen. Der ehrgeizige und populäre General Lew Rochlin wurde 1998 ermordet – angeblich von seiner Frau, die aber später ihr erpresstes Geständnis widerrief. (Unter Stalin wurden vermeintlich gefährliche Generäle immerhin Schauprozessen unterworfen.) Bei dem Konflikt zwischen Jelzin und dem russischen Parlament unterstützten die westlichen Mächte deutlich den Präsidenten, der Marktreformen durchzusetzen versprach; sie erkannten freilich damit das Prinzip der Überordnung der Exekutive über die Legislative an. Die neue Verfassung vom Dezember 1993 gab dem Präsidenten weitestgehende Rechte, etwa durch Erlasse zu regieren; auch sind die Anforderungen für eine Amtsenthebung des Präsidenten außerordentlich hoch. Die Wiederwahl – seit 2008 alle sechs Jahre – ist die einzige Hürde, die zu nehmen ist. Immerhin lässt die russische Verfassung nur zwei unmittelbar aneinander anschließende Amtsperioden eines Präsidenten zu, aber die ingeniöse Rochade von Präsident und Premier hat es Putin ermöglicht, seit 2000 ununterbrochen der starke Mann des Landes zu sein. Da er von Jelzin 1999 als Premier ernannt und als sein Nachfolger ausgewählt wurde, gab es seit der Souveränität Russlands keinen wirklichen Bruch im Präsidentenamt. Dies hat die Opposition unweigerlich geschwächt, die zudem stets in sich gespalten war, weil sie auf keine gemeinsame Ideologie rekurrieren 83
konnte; im Gegenteil, manche Oppositionelle standen links, andere rechts der Regierungspartei. Die zunehmende Kontrolle der Massenmedien durch den Staat, die Schikanierung von Opposition und Nichtregierungsorganisationen, schließlich die Ermordung des führenden Oppositionellen Boris Nemzow und die damit Hand in Hand gehende Einschüchterung der wenigen verbliebenen Oppositionellen haben einen Machtwechsel durch Wahlen inzwischen de facto unmöglich gemacht. Insgesamt brachten die 1990er Jahre für Russland eine ungekannte Massenarmut, einen Zusammenbruch des Gesundheitswesens, eine Verkürzung der Lebenserwartung um zahlreiche Jahre, einen rasanten Anstieg der Kriminalität und eine allgemeine Korruption, die durch den Wunsch motiviert war, jetzt endlich reich zu werden. Wer geglaubt hatte, die sozialistischen Jahrzehnte hätten eine höhere Form von Solidarität inspiriert, sah sich getäuscht und mit einem brutalen Kapitalismus konfrontiert, der Max Webers These, wonach sich diese Wirtschaftsform ohne ein besonderes religiöses Ethos nicht segensreich entfalten könne, ex contrario bestätigte. Anders als die katholische Kirche hat die Orthodoxie bis heute keine auf den modernen Kapitalismus reagierende Soziallehre; milde Gaben mafioser Organisationen an die Kirche sind eine legitime Weise, sich in den Augen der Orthodoxie gottgefällig zu erweisen. Die enormen Ressourcen Russlands, die nach allen Regeln der Gerechtigkeit öffentliches Eigentum waren, wurden an Günstlinge des Kremls verteilt; oft entschied brutale Gewalt, wer was erhielt. Nach der Unterordnung des Militärs waren die Oligarchen die wichtigste Herausforderung des Kremls; sie wurden geduldet, sofern sie sich nicht in die Politik einmischten. Taten sie es, mussten sie das Land verlassen wie die u.a. unabhängige Fernsehsender besitzenden Wladimir Gussinski und Boris Beresowski (an dessen «Selbstmord» in Ascot 2013 viele Zweifel bestehen). Oder sie wurden wie Michail Chodorkowski ins Gefängnis gesteckt – meist aufgrund wirklicher Delikte, die allerdings bei politisch gefügigeren Oligarchen akzeptiert, ja ermutigt wurden. Damit zerbrach jede Achtung vor dem Rechtssystem, die schon in der Sowjetunion gering gewesen war. Man kann Putins unstrittige Popularität in Russland nicht verstehen, wenn man nicht anerkennt, dass er im ersten Jahrzehnt 84
seiner Herrschaft die wirtschaftliche Lage des Landes bedeutend verbesserte – unter anderem dank kompetenter Ökonomen wie Michail Kassjanow, der allerdings 2004 entlassen wurde, als er die willkürliche Verhaftung des Oligarchen Platon Lebedew kritisierte. Der wirtschaftliche Aufschwung stützte sich allerdings hauptsächlich auf den Verkauf von Ressourcen; eine Diversifikation der Industrie fand kaum statt, und ebenso wenig erzeugte die russische Wirtschaft auf dem Weltmarkt besonders geschätzte Markenprodukte. Gleichzeitig wurde die föderale Struktur Russlands de facto abgeschafft – die Gouverneure der Regionen werden inzwischen vom Präsidenten vorgeschlagen und nicht mehr direkt gewählt. Die Macht der silowiki, der Bürokraten aus Verteidigungs- und Innenministerium, hat enorm zugenommen, und während sie in der Tat einigen Machtmissbrauch der Oligarchen ahnden konnten, sind sie selbst jeder Kontrolle entzogen. Noch mehr gilt das für die Mitglieder des seit 1995 bestehenden Rechtsnachfolgers des KGB, des FSB, aus dessen Reihen Putin selber kommt. Unter seiner Amtszeit wurden zahlreiche kritische Journalisten und Menschenrechtler ermordet, ohne dass die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden (mit der Ausnahme der Mörder Anna Politkowskajas, doch blieben die Hintermänner unbekannt und unbehelligt). Während es durchaus möglich ist, dass derartige Verbrechen autonom von Teilen des Sicherheitsapparates geplant und vollzogen wurden, wird es mit der zunehmenden Machtkonzentration Putins meines Erachtens immer unwahrscheinlicher, dass sie ohne seinen Befehl, zumindest sein billigendes In-Kauf-Nehmen geschehen. Würden sie gegen seinen Willen erfolgen, würden die Täter heute zu viel riskieren. Die Konzentration staatsrechtlicher Kompetenzen beim Präsidenten, die Unterordnung des Parlaments unter die Exekutive, die Pflege einer Scheinopposition wie der sogenannten Liberal-Demokratischen Partei Russlands, des Tummelplatzes des nationalistischen Extremisten Wladimir Schirinowski, die Beseitigung realer Opposition, die Einschüchterung der Gesellschaft durch gezielte Morde, die Eindämmung der Oligarchen und die enorme Popularität Putins erlauben das Urteil, seit Stalin, für den Putins Groß vater immer wieder als Koch arbeitete, habe kein russischer Politiker so viel Macht besessen wie Putin. Denn nach Stalins Tod 85
funktionierte die Sowjetunion als oligarchisches System, und Chruschtschow konnte 1964 vom Politbüro abgesetzt werden. Ein entscheidender Machtfaktor Putins ist aber damit noch gar nicht genannt. Ihm gelang die Wiedergewinnung einer ideologischen Basis, ohne die langfristig Macht nicht zu sichern ist. Wenn ein Glaubenssystem zerbricht, sei es auf individueller, sei es auf kollektiver Ebene, ist es naheliegend, auf das frühere zurückzugreifen – jedenfalls ist es einfacher, als sich zu etwas Neuem zu bekennen. In Russland gab es kaum liberale Traditionen, und der Neo liberalismus der 1990er Jahre wurde als raffgierig und vulgär empfunden. Also belebte Putin eine vorsowjetische Ideologie wieder – diejenige vom heiligen Mütterchen Russland, das sich gegen westliche Barbarei zur Wehr setzen muss. Unterstützt von der orthodoxen Kirche, konnte Putin eine Ideologie ausbauen, die den fortgesetzten Machtkampfstrategien der sowjetischen Zeit, zumal in den Geheimdiensten, eine religiöse Weihe verlieh. Das fand nicht nur deswegen große Resonanz, weil es kaum andere plausible ideologische Angebote gab; es traf den Nerv einer noch mehr als durch den wirtschaftlichen Niedergang durch den Verlust der Weltmachtstellung tief gedemütigten Nation. Ich werde nie die verkrüppelten Veteranen aus dem Großen Vaterländischen Krieg vergessen, die im Sommer 1993 auf dem Roten Platz lachenden westlichen Touristen ihre Ehrenabzeichen für einen Spottpreis verkaufen mussten. Sicher waren diese Touristen nicht für den Zusammenbruch des Pensionssystems verantwortlich, aber es war unschwer vorherzusehen, dass ihr Verhalten Rachegelüste gegen den Westen erzeugen musste.
II. Warum Russland so gefährlich ist Im Grunde ist im Gesagten schon enthalten, warum Russland heute gefährlicher ist als die alte Sowjetunion. Ich sehe fünf Gründe. Die sowjetische Ideologie war erstens der Marxismus, und dieser ist universalistischer Natur. So abscheuliche Verbrechen auch auf seiner Grundlage begangen wurden, lehrte er doch einen Einsatz für die Elenden der ganzen Welt; und auch wenn er die Verantwortung vor Gott eliminierte, blieb in ihm die Verantwortung 86
vor dem Urteil der Geschichte zentral. Immerhin konnte die Sowjetunion einen Gorbatschow hervorbringen, was dem national sozialistischen System versagt gewesen wäre, selbst wenn es länger gedauert hätte, und die Zahl anständiger Sowjetbürger, die von einem Gerechtigkeitsideal beseelt waren, war nicht gering. Die neue Ideologie Russlands dagegen ist aggressiv nationalistisch und daher viel eher der nationalsozialistischen als der alten sowjetischen verwandt. Als großer Politiker gilt, wer das Wohl der eigenen Nation über alles stellt. Das ist nicht einfach die Wiederkehr der alten Staatsräson Europas; denn diese implizierte eine Unterordnung der eigenen Interessen unter den Staat. Davon ist bei den kleptokratischen Zynikern im Umfeld Putins nichts zu spüren. Statt der – beschränkten – Tugenden der alten Aristokratie herrscht die Vulgarität von Neureichen, die sich mit Gewalt und Betrug bereichern. Stalin hatte zweitens dem trotzkistischen Expansionismus eine Absage erteilt und sich auf den Aufbau des Sozialismus im eigenen Lande beschränkt. Gewiss nahm Stalin 1939 an Hitlers Raubzug teil und es erfolgte 1945 eine massive Ausdehnung des sowjetischen Herrschaftsbereiches – aber letzteres entsprach traditionellen Üblichkeiten für den Sieger eines Krieges, der in keinem Lande so viele Opfer gekostet hatte wie in der Sowjetunion und den diese nicht angezettelt hatte. Mit Ausnahme des Einmarsches in Afghanistan 1979 – ein Land, dessen Kontrolle schon das zaristische Russland begehrt hatte – wurden die bestehenden Grenzen nicht der Sowjetunion, aber doch des Warschauer Paktes respektiert. Akzeptiert man die durchaus problematische Definition Hans Morgenthaus von Imperialismus als Herausforderung des Status quo, war die Sowjetunion der 1970er Jahre ein nicht-imperialistisches Reich. Was wir jetzt erleben, ist zwar immer noch der größte Flächenstaat der Erde, doch ein territorial kleineres Reich, das nun aber deutliche imperialistische Ambitionen hat: Es will das alte Territorium der Sowjetunion wiederherstellen. Schirinowski träumt sogar von den Grenzen von 1917, einschließlich Finnlands und Polens; ja, der Vizepremier Dmitri Rogosin schrieb im Oktober 2014 in einem Vorwort zu Ivan Mironovs Buch über den Verrat und Verkauf Alaskas, Russland habe das Recht, seine Kolonien zurückzufordern. Auch wer wie der Autor dieser Zeilen die Abwicklung 87
der Sowjetunion 1991 bedauerte, kann allerdings nur betonen, dass völkerrechtlich an der Souveränität des «nahen Auslands», also der vierzehn ehemaligen Sowjetrepubliken außerhalb Russlands, nicht zu rütteln ist. Wollen zwei souveräne Staaten beide fusionieren, so ist das ihr gutes Recht. Doch angesichts der inneren Entwicklung Russlands ist es sachlich völlig rational, dass ein Land wie die Ukraine, das die enormen Fortschritte Polens sieht, sich von einer Anbindung an EU und NATO mehr Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit verspricht denn als Satellitenstaat oder gar Teil Russlands. Und die viel kleineren Republiken würden in einer Union mit Russland unweigerlich überwältigt werden. Sicher hat Russland sich schon im 19. Jahrhundert als anti revolutionäre Macht verhalten und etwa der Habsburgermonarchie 1849 bei der Niederschlagung der ungarischen Revolution geholfen. Die Beunruhigung durch die Maidan-Revolution von 2014 war groß, auch weil Putin befürchtete, die revolutionäre Stimmung könnte sich auch in Russland gegen eine kleptokratische Regierung wenden. Aber sosehr der Sturz Wiktor Janukowytschs der Auslöser der von Moskau aus geplanten Sezession der Krim und der separatistischen Gewalt in der Ostukraine war, so naiv wäre es, dies als eine spontane Reaktion zu deuten. Pläne zur Annexion ukrainischen Territoriums existierten seit langem. Wer den in der Nowaja Gaseta (einer der letzten unabhängigen Zeitungen Russlands, die zum Teil Gorbatschow gehört) am 28.2.2015 publizierten Annexionsplan des devoten orthodoxen Oligarchen Konstantin Malofejew liest (der in der ersten Februarhälfte 2014, also vor dem Sturz Janukowytschs, dem Kreml vorlag), merkt sofort, dass er nur eine Konkretisierung seit langem bestehender Ideen darstellt, deren moralische Rechtfertigung erst gar nicht versucht wird, wie das unweigerlich der Fall wäre, würde es sich um einen neuen Vorschlag handeln. Auch die Schnelligkeit der Reaktion Russlands deutet darauf hin, dass hier nur bereits vorhandene Pläne aus der Schublade gezogen werden mussten. Wer sich mit dem 1997 in erster Auflage erschienenen Buch des Gründers und Vorsitzenden der Eurasischen Partei, Alexander Dugins, Osnoby geopolitiki (Grundlagen der Geopolitik) befasst, das russischen Generalstabsoffizieren als Lehrbuch dient (und dessen 88
Übertragung ins Deutsche ich mir wünsche, nicht etwa weil ich es schätze, sondern weil das deutsche Publikum, das selten Russisch liest, dadurch mehr über die Kategorien russischer Politiker erfahren würde); wer Alexander Prochanows Zeitung Sawtra kennt, die einen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine lange vor dem Ereignis forderte, weiß, dass die Wiederherstellung des sowjetischen Territoriums und die Transformation der dekadenten EU in ein russisches Protektorat deklarierte Ziele der aggressiven Rechten sind, die oft von den Altkommunisten nicht zu unterscheiden ist: Prochanow stand im August 1991 auf Seiten des Putschversuches gegen Gorbatschow. Dugins Besessenheit mit Geopolitik, die man wie manch andere Aspekte des heutigen Russlands aus dem Deutschland der 1920er und 1930er Jahre kennt (man denke an Karl Haushofer), beruht auf Missachtung der «willkürlichen» gegenwärtigen Grenzen und damit eines grundlegenden Prinzips des Völkerrechts. Geopolitik ist ihrer Natur nach imperialistisch im Sinne Morgenthaus. Dugin gehört übrigens heute zu den Kritikern Putins, der, von in den globalen Kapitalismus verflochtenen Liberalen zurückgehalten, zu zaudernd vorgehe. Und in der Tat ist dies der dritte Grund für die größere Gefährlichkeit Putins. Putin ist nicht nur unkontrollierter Alleinherrscher Russlands, er ist auch außerordentlich intelligent – er weiß, dass das Geschwätz von Schirinowski, Prochanow, Dugin und Rogosin kontraproduktiv ist. Die Kunst der Verstellung und der offenen Lüge beherrscht der ehemalige KGB-Agent zur Perfektion, und er kennt die alte Maxime «zwei Schritte vor, einen Schritt zurück», mit der man kurzsichtige Gegner leicht beruhigen kann. Zentraleuropa hat er mit den Erdgasexporten wirtschaftlich von sich abhängig gemacht, damit er neben dem militärischen ein weiteres Druckmittel in der Hand hat; und er hat die erste Überschreitung der ukrainischen Grenze sehr geschickt als Sezession organisiert, wohl wissend, einige westliche Völkerrechtler würden die Öffentlichkeit dahin belehren, so etwas sei keine wirkliche Annexion. Die «Freiwilligen», die in der Ukraine kämpfen, scheinen freilich keine richtige Wahl zu haben – die Nowaja Gaseta vom 16.2.2015 berichtet von einem jungen Soldaten, der seiner Familie besorgt mitgeteilt hatte, er werde nach Rostow-am-Don versetzt, von wo aus die «Freiwilligen» die Grenze zur Ukraine überschreiten; er wurde kurz darauf 89
erschlagen, doch trotz Hämatomen am ganzen Körper und gebrochener Nase erkannte die Staatsanwaltschaft auf Selbstmord, hierdurch die Varianten dieser Todesart um eine neue, bisher unbekannte bereichernd. Die russischen Soldaten, die in der Ukraine fallen, bekommen keine öffentliche Beerdigung, doch dies scheint Putins Popularität nicht nachhaltig zu schaden. Putins zentrales Streben ist nach Macht: erstens in Russland selber, wo er, wie gesagt, eine seit Stalin ungekannte Machtfülle genießt. Aber er kann diese Machtkonzentration nicht nur vor dem Volk, sondern auch vor sich selber nur rechtfertigen, wenn sie als notwendig erscheint. Anfangs argumentierte er – was ihm auch westliche Politiker wie Gerhard Schröder abkauften –, dass es ihm etwa bei der Abschaffung des Föderalismus nur um den Erhalt Russlands gehe; und in der Tat hat er dem Land größere Stabilität und größeren Wohlstand gebracht. Da aber diese wirtschaftlichen Erfolge nicht langfristig sind, zumal ein beträchtlicher Teil der Intellektuellen und die besten Wissenschaftler das Land verlassen haben, braucht er nun außenpolitische Erfolge, und es gibt gute Gründe zu vermuten, dass er selber sich für berufen hält, die Schmach von 1991 zu sühnen. Zwar wird jeder Tyrann ab einem bestimmten Zeitpunkt von der Stimmung des Hasses getrieben, die er selbst losgetreten hat, und zu irrationalen Entscheidungen gedrängt, die er eigentlich gar nicht will, aber zu Putins Zielen wird zweitens die Ausdehnung seiner Macht über das heutige Territorium Russlands hinaus durchaus gehören, im Idealfall auf alle ehemaligen Sowjetrepubliken. In meinem Buch Moral und Politik unterscheide ich drei Typen von Machtkämpfen, denen auch drei Formen von Krieg entsprechen. Geht es nur um Interessen, wie in den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts, sind Kriege meist kontrollierbar – denn ein Kompromiss ist meist eher im beiderseitigen Interesse als fortgesetzte Verluste. Wesentlich blutiger sind Kriege um Werte wie die Revolutionskriege nach 1789 und der Zweite Weltkrieg. Immerhin gibt es hier eine moralische Dimension, die dem Kampf der einen Seite eine gewisse Würde gibt, und es besteht die Hoffnung, dass am Ende die Sachargumente auch vom Gegner begriffen werden. Am bittersten sind Kriege, in denen es um Anerkennung geht, in denen der eine dem anderen zeigen will, dass er ihn nicht 90
so hätte behandeln dürfen. Revanchekriege sind meist Kriege dieser Art. Der Erste Weltkrieg hatte viele Züge eines solchen Krieges. Sicher handelt es sich bei dieser Unterscheidung um Idealtypen: In der Regel sind die drei Typen in der Wirklichkeit vermischt, allerdings nicht zu gleichen Graden. Das Anerkennungsproblem spielte auch im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite eine wichtige Rolle, aber der eigentliche Streit ging um die Legitimität bestimmter staats- und völkerrechtlicher Ideen. Auch heute spielt ein solcher Streit mit, und natürlich ist die Kontrolle der Ukraine als des größten Flächenstaates Europas für die russischen Oligarchen verlockend. Doch an der Basis des Konflikts schwelt – viertens – ein Kampf um Anerkennung mit dem Westen. Da Russland den Übergang in einen effizienten und fairen Kapitalismus nicht geschafft hat, sucht es nun die Auseinandersetzung auf der Ebene, auf der es sich überlegen fühlen kann, der physischen: nicht viel anders als arbeitslose trunkene Teenager, die diejenigen zusammenschlagen, deren Blick ihnen zu suggerieren scheint, sie hielten sich für überlegen. Ein wichtiger Unterschied ist, dass Russland das größte Atomwaffenarsenal auf Erden besitzt. Die Chance, atomar weiter abzurüsten, die unter Obama ohne Zweifel bestand, hat Putin zurückgewiesen, und zwar sicher weil die Ungleichheit im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich nur durch die Gleichheit in den Atomwaffen kompensiert wird. Dies mag im kurzfristigen Interesse seines Lands sein; im Interesse der Welt ist es nicht. Militärische Macht ist das einzige, worauf Russland sich heute etwas einbilden kann – zusammen mit der enormen Leidensfähigkeit des russischen Volkes, die, in zwei Weltkriegen erprobt, vielen Russen das Gefühl vermittelt, wenigstens darin seien sie im Falle eines Konfliktes GAYROPA überlegen (so heißt die EU in Russland inzwischen, auch wenn man tief gesunken sein muss, um sich auf seine Heterosexualität etwas einzubilden). Putin hat uns im letzten Jahrzehnt reichlich Gelegenheit gegeben, seinen muskulösen Oberkörper zu bestaunen – die Fotos waren schon Drohungen, und diese kommen nun immer expliziter, wie diejenige mit einem Einmarsch in Kiew (in einem Gespräch mit José Manuel Barroso) oder sogar in NATO-Länder (so angeblich in einem Gespräch mit Petro Poroschenko) oder mit einem nuklearen Angriff auf Dänemark 91
(durch seinen Botschafter am 22.3.2015). Auch die Erklärung Putins vom 23.2.2015, er glaube nicht an einen Krieg mit der Ukraine, weil dieser «apokalyptisch» sein würde, schafft es auf geschickte Weise, eine ungeheure Drohung und zugleich abwiegelnd für diejenigen zu sein, die sich etwas vormachen lassen wollen. Wenn er dann zwei Tage später erklärt, die Weigerung Kiews, auf eigene Kosten Erdgas in die abgespaltenen Gebiete fließen zu lassen, «schmecke nach Genozid», scheint er anzudeuten, es bestehe nun moralischer Anlass für eine «humanitäre Intervention». Wer sich dieser Wortwahl bedient, will keinen Frieden. Und man muss sich trotz des Minsker Abkommens darauf gefasst machen, dass, nachdem man in Syrien die Truppen trainiert und sich als Sieger gegen den Islamischen Staat profiliert hat, die «Separatisten» Mariupol zu nehmen versuchen werden, um so die Krim auf dem Landweg mit dem Mutterland zu vereinen. Ob man dann auch nach Transnistrien, den östlichen Teil Moldawiens, vorstoßen und die «Restukraine» in ein Protektorat verwandeln wird, bleibt abzu warten. Warum hat Putin 2014 losgeschlagen? Wie gesagt, glaube ich nicht, dass die Maidan-Revolution die eigentliche Ursache war. Auch wenn sie als Provokation wahrgenommen wurde, hätte Putin gewartet, wenn er den Zeitpunkt nicht für geeignet gehalten hätte. Ich vermute, Putin ist sich im Klaren darüber, dass die Zeit gegen Russland arbeitet. Der Aufstieg Chinas als zweiter Weltmacht wird Russland weiter in den Hintergrund drängen (jedenfalls solange nicht Donald Trump und Putin eine russisch-amerikanische Allianz gegen China bilden); die Chancen auf große wirtschaftliche Fortschritte Russlands stehen nicht gut; aufgrund seines Alters kann Putin nicht allzu lange warten, wenn er als «Sammler russischer Erde» in die Geschichtsbücher eingehen will. Insbesondere aber: Er und die meisten Russen nehmen den Westen derzeit als besonders schwächlich war, und das ist der fünfte Unterschied zur Situation der 1970er Jahre. Obama galt (in meinen Augen zu Unrecht) als schwacher Präsident, dessen Versuch, die US-russischen Beziehungen zu bessern, zurückgewiesen wurde, auch wenn gleichzeitig so getan wurde, die USA bedrohten Russland. Die Kriegsmüdigkeit der USA nach dem rechtlich, moralisch und politisch verwerflichen Irakkrieg, die weiterhin mühsame Abstimmung 92
der europäischen Außenpolitik, trotz der Existenz einer Außen beauftragten der EU, die antieuropäischen Bestrebungen in vielen EU-Ländern, die im Brexit-Referendum vermutlich nicht ihren letzten Ausdruck fanden, das Vorherrschen kurzsichtiger Politiker, die, wie das britische Oberhaus im Februar 2015 schrieb, schlafwandelnd in die Krise stürzten, schließlich die offenen Sympathien des tschechischen Präsidenten und des ungarischen Ministerpräsidenten für Putin waren eine Chance, die dieser sich nicht entgehen lassen durfte. Putin weiß, dass die Politik der EU nicht militärisch abgedeckt ist: Viele Verteidigungsbudgets der EU sind in den letzten Jahren geschrumpft, während unter Anatoli Serdjukow als Verteidigungsminister (2007–2012) die Schlagkraft der russischen Streitkräfte bedeutend erhöht wurde (Serdjukow machte sich mit seinen klugen organisatorischen Reformen viele Feinde im Militär und wurde wegen angeblicher Korruption entlassen). Insbesondere aber ist die Wehrbereitschaft der meisten Europäer derjenigen Frankreichs 1938 vergleichbar. Die geschickte und erfolgreiche Einflussnahme im amerikanischen Wahlkampf zugunsten eines Präsidenten mit isolationistischen Neigungen und mit starker Abneigung gegen China und die trotz der Interessengegensätze in Syrien erreichte Annäherung an die Türkei, die nach dem Putschversuch vom Juli 2016 sich immer weiter von der EU entfernt, w aren zwei weitere politische Glanzleistungen Putins 2016. Die Armee der Türkei ist immerhin die zweitgrößte der NATO, und ohne amerikanische Sicherheitsgarantie hätte die EU in einem Konflikt mit Russland keine Chance. Während die europäische Politik meist reaktiv ist und weitgehend durch die Erfordenisse der Medien demokratie und ihrer Talkshows bestimmt wird, folgt Putin einem klaren Plan. Dieser hat mit den Prinzipien einer universalistischen Ethik nichts zu tun, sondern richtet sich nach einer moralisch nicht gebändigten Staatsräson und dem Wunsch nach Revanche.
III. Was tun? Der Westen hat im neuen Jahrhundert viele Fehler gemacht. Ich nenne nur einige: Die Kündigung des ABM-Vertrages 2001 durch die USA war unklug, die Verletzung des Völkerrechts im Irakkrieg 93
2003 skandalös, der Sturz Gaddafis 2011 ohne Klärung seiner Nachfolge unverantwortlich, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, und man hätte in Kiew auf die legale Abwahl Janukowytschs im Herbst 2014 warten sollen. All dies sollte man zugeben. Angesichts der horrenden Folgen eines Krieges mit Russland ist es ferner völlig vernünftig, dass man wegen der Ukraine nicht einen Krieg mit Russland riskieren will und kann. Aber der Aggressor muss dafür einen Preis zahlen, und zwar einen wirtschaftlichen wie einen diplomatischen; denn moralische Argumente fruchten nicht mehr. Nachgeben würde nur zu noch mehr Forderungen führen. Empfindliche wirtschaftliche Sanktionen sollten folgen, wenn das Abkommen von Minsk stets weiter verletzt wird – allerdings so, dass weitere wirtschaftliche Druckmittel übrig bleiben. Denn dieses Mittel muss möglichst lange zur Verfügung stehen – in der Hoffnung, dass die Oligarchen aus Angst vor weiteren Verlusten protestieren, statt auf die «patriotische Linie» einzuschwingen. Auch am Konflikt nicht beteiligten Staaten, zumal China, muss die Gefährlichkeit der russischen Politik eindringlich klargemacht werden. Was geschehen würde, sollte Russland einen jener sechs EUStaaten angreifen, die nicht NATO-Mitglieder sind, um die Schwäche der EU deutlich zu machen (aus geographischen Gründen sind Zypern, Finnland und Schweden die einzigen plausiblen Kandidaten), weiß niemand. Zumindest eine Rückkehr des Kalten Krieges und eines neuen Eisernen Vorhanges wäre unvermeidlich. Doch muss auch eine klare rote Linie gezogen werden, deren Überschreitung militärische Sanktionen zur Folge haben wird. Diese Linie kann nur die der NATO sein – und zwar einschließlich der drei ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum. Eine Weigerung, diese im Falle eines Angriffs militärisch zu verteidigen, würde jede Glaubwürdigkeit der NATO zerstören, die im Augenblick die einzige Sicherheitsgarantie für die EU ist. Alle Versuche, die USA und die EU zu entfremden, müssen abgewehrt werden, zumal ohnehin eine starke Tendenz in den USA besteht, sich stärker dem pazifischen Raum zuzuwenden, in dem ganz andere Wachstumsmöglichkeiten existieren. Der politische Einigungsprozess in der EU muss vertieft werden – dass der Kreml sich durch ihn bedroht fühlt, belegt ja 94
seine Unterstützung der antieuropäischen extremen Linken und Rechten, die in ihrem Antiamerikanismus und der Begeisterung für Russland einig sind. Die europäischen Bevölkerungen müssen zudem einen klaren Verteidigungswillen zeigen, u.a. in der Erhöhung der Verteidigungsbudgets. Insbesondere aber muss die wahre Natur des Putin’schen Regimes deutlich gemacht werden, trotz aller Trolle, die auf dem Internet, vermutlich meist im Solde Russlands, abwiegeln und antiamerikanische Ressentiments schüren. Die Ablenkung der westlichen öffentlichen Meinung durch wesentlich geringere Probleme, wie die Abhöraffäre, aber selbst ernsthafte wie den islamistischen Terror, hat es erst ermöglicht, dass Russland durch einen Coup überraschen konnte, der in Wahrheit vorhersehbar hätte sein müssen. Gleichzeitig muss der Westen, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, Russland klarmachen, dass er stets zur Rückkehr zur Zusammenarbeit willens ist, wenn das Völkerrecht als das wichtigste Mittel, Gewalt zwischen Staaten zu verhindern, respektiert wird. Die innere Herrschaftsstruktur Russlands kann man von außen nicht ändern, aber man sollte bei Begegnungen mit Russen keine Gelegenheit ungenutzt lassen, auf die enormen Risiken zu verweisen, die ein autoritäres Regime und eine aggressive Politik mit sich bringen – gerade unter Verweis auf die deutsche Geschichte, unter der auch und gerade die bedeutende russische Nation furchtbar l eiden musste.
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Anmerkungen Vorwort: Über einen Untoten in der heutigen Weltpolitik 1 Vittorio Hösle, Moral und Politik, München 1997, 746, 1082. Zwei weitere inzwischen erfüllte Prognosen betreffen den Aufstieg des fundamentalistischen Ressentiments «in einem Maße […], das die USA noch unangenehm überraschen wird – gegenüber Himmelfahrtskommandos fanatisierter Terroristen sind auch Hegemonialmächte relativ wehrlos» (1078) sowie die Feststellung, «die Mißachtung, die der Großteil der Bevölkerung gegenüber den Politikern empfindet, hat einen gefährlichen Grad erreicht […] Das Mißtrauen gegenüber den Politikern ist eine Form verkappten Mißtrauens sich selbst gegenüber» (1122). 2 Der erste Aufsatz erschien in Communio 27 (1998), 359–372 (tschechische Übersetzung 2002, russische Übersetzung 2009), der dritte Aufsatz in Blätter für deutsche und internationale Politik 6 (2015), 101–110. Der zweite Aufsatz ist eine Verschmelzung zweier Aufsätze, die auf Englisch in der Zeitschrift für Medien und Kulturforschung 8/2017 sowie in Analyse & Kritik 2017 erscheinen. 3 Siehe etwa Maxim Kantor, Das neue Bestiarium. Gemälde, Graphik, Skulpturen und Puppen, Köln 2016.
Woher rührt der ausserordentliche literarische Wert der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts? 1 Vgl. etwa Joe Andrew, Russian Writers and Society in the Second Half of the Nineteenth Century, Atlantic Highlands, NJ 1982, S. X: «Literature and the criticism of it became almost the only available forum for political discussion.» 2 Vgl. Vittorio Hösle, Moral und Politik, München 1997, 710f. 3 Bei Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, 254, wird Der Tod des Iwan Iljitsch voller Anerkennung zitiert. 4 Vgl. etwa R. Lauth, Die Bedeutung der Schatow-Ideologie für die philosophische Weltanschauung Dostojewskis (1955), in: ders., Dostojewski und sein Jahrhundert, Bonn 1986, 37–51. Lauths Doppelkompetenz als Philosoph und als Kenner der russischen Geistesgeschichte ist in hohem Maße beeindruckend. 5 Die Brüder Karamasow, IV 12,6. 6 Ebd., IV 12,9. Zwar nimmt der Rechtsanwalt Fetjukowitsch am Ende seiner Rede Gogols Vergleich positiv auf (IV 12,13), aber er ist ein noch weit weniger zuverlässiges Sprachrohr Dostojewskis als Ippolit Kirillowitsch.
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Geistiger Hintergrund und Besonderheit der sowjetischen Revolution: Eine geschichtsphilosophische Bewertung 1 Der Begriff kann über das Rechtssystem hinaus verallgemeinert werden. Revolution ist dann der bewusste Bruch grundlegender Regeln in einem bestimmten Gebiet, und so gibt es auch künstlerische oder wissenschaftliche Revolutionen. Aber ich kann dies hier nicht weiter ausführen, vgl. dazu meinen Aufsatz: Charismatiker, Genie, Prophet und dynamischer Unternehmer. Zum inneren Zusammenhang der Elemente einer Begriffsfamilie, in: Scheidewege 43 (2013/14), 388–403. 2 Борис Пастернак, Доктор Живаго, Ann Arbor 1959, 418 (XIII 16) / Boris Pasternak, Doktor Schiwago, Frankfurt a.M. 1958, 481. 3 Zeichen der zunehmenden Anerkennung Rosenstock-Huessys unter Philosophen ist der lange Artikel über ihn in der Stanford Encyclopedia of Philosophy. 4 Eine von Brintons Rezensionen findet sich in Political Science Quarterly 54 (1939), 286–288, diejenige Rosenstock-Huessys in American Historical Review 44:4 (1939), 882–884 (sie berührt auch Roger Bigelow Merrimans Six Contemporary Revolutions). 5 The Anatomy of Revolution, New York 1952, 7ff. Ich zitiere aus der erweiterten zweiten Auflage. 6 So kritisiert er Rosenstock-Huessys Buch in der oben angeführten Rezension dafür, eher auf der Seite Hegels und Spenglers als auf derjenigen Condorcets und Buckles zu stehen (286) und etwas darzustellen, für das «the Germans themselves, in their clearer moods, have a word …: Schwärmerei» (288). 7 Es genüge, folgenden Satz zu zitieren: «The German Nazi revolution … needs world peace more than anyone else.» (Out of Revolution: Autobiography of West ern Man, Norwich, VT. 1969, 624; im Gegensatz zum italienischen Imperialismus). 8 Out of Revolution, XIII–XVIII. Mit Ausnahme des Vorworts ist dies ein Nachdruck der Erstausgabe (New York 1938). Unter deutschen Historikern hat Hans-Ulrich Wehler Die europäischen Revolutionen zu dem Buch erklärt, das ihn am meisten beeindruckt habe, und dessen Autor zum einzigen Genie, dem er in seinem Leben je begegnet sei («Der einzige geniale Mann», in: Ein Buch, das mein Leben verändert hat, hg. von Detlef Felken, München 2006, 438–440). 9 Vgl. Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart, Köln 1951, 5. Es braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden, dass dies nicht der allgemeinen Verwendung des Terminus entspricht. Man kontrastiere Patrick van Inwegen, Understanding Revolution, London 2011. 10 Das erklärt, warum die französische und die russische Revolution mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als eine jede von ihnen mit der englischen. Ein detaillierter Vergleich beider Revolutionen, zum Beispiel ihres Umgangs mit den Bauern und den Kirchen, findet sich bei Arno J. Mayer, The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton 2000.
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11 Siehe zum Beispiel A.S. Cohan, Theories of Revolution: An Introduction, New York 1975, 217: «Without excusing the excesses of the Stalinist era, one may also consider Stalin a manager committed to the modernization of the Soviet Union through a process of industrialization.» 12 New York 1951. Ich zitiere nach der deutschen Fassung: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986. 13 New Haven 1957. Deutsch erschien das Buch bei Kiepenheuer & Witsch (Köln, Berlin 1962) unter dem Titel Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. 14 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, München 1961 (11933), 120f. 15 Einige werden in meiner Taxonomie möglicher Einstellungen gegenüber der sowjetischen Revolution etwas sehen, das der Dreiteilung analog ist, die Nikolai Berdjajew in seiner brillanten Studie zur intellektuellen Vorgeschichte der sowjetischen Revolution vorgeschlagen hat – erstens die revolutionäre und konterrevolutionäre, zweitens die objektive, historische und wissenschaftliche Einstellung und drittens den Standpunkt der Geschichtsphilosophie: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern 1937, 137ff. Das Buch des ehemaligen Marxisten Berdjajew fällt selbst in die dritte Kategorie, doch bringt es Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie in zu große Nähe und schreckt nicht davor zurück, so wie es schon Joseph Marie de Maistre mit der französischen Revolution getan hatte, die bolschewistische Revolution als Strafe Gottes zu verstehen. Hinsichtlich solcher Aussagen kann ich nur mit Nachdruck Agnostizismus empfehlen. Aber es ist ein großes Verdienst des Buches, lange vor Arendt die totalitäre Natur des so wjetischen Regimes begriffen zu haben, auch wenn Berdjajew eher als Ideenhistoriker denn als Politikwissenschaftler verfährt. Sein Buch erschien 1937 in englischer und deutscher Übersetzung und erst 1955 im russischen Original (in Paris, da es in Russland nicht veröffentlicht werden konnte). Ich verdanke Berdjajews Buch ebenso viel wie Rosenstock-Huessys Studie, was die intellektuellen Voraussetzungen der Oktoberrevolution betrifft. 16 Siehe die Texte in Karl Marx, Friedrich Engels, Die russische Kommune. Kritik eines Mythos, hg. von Maximilien Rubel, München 1972. Marx erkennt zwar im Vorwort zur zweiten russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests, dass die russische Obschtschina in eine höhere Form kommunistischen Eigentums transformiert werden könnte, ohne durch den Kapitalismus gehen zu müssen, aber er knüpft diese Möglichkeit an eine gleichzeitige Arbeiterrevolution im Westen (70f.). Marx’ Verachtung für Russland, dessen Sprache er beherrschte, wird offensichtlich in seinem Brief an Kugelmann vom 12. Oktober 1868 im Zusammenhang mit der russischen Übersetzung des ersten Bandes des Kapitals (74). Siehe auch seine Enthüllungen der diplomatischen Geschichte des 18. Jahrhunderts (120ff.). Von der Sekundärliteratur zu dieser Frage siehe Helmut Krause, Marx und Engels und das zeitgenössische Rußland, Gießen 1958, besonders 102–113, zu der Diskussion von 1881 zwischen Marx
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und Vera Zasulich zur Frage, ob Russland die kapitalistische Phase würde vermeiden können. Marx’ Ambivalenz scheint eine Folge der Spannungen zu sein zwischen dem eigenen System und seinem Wunsch, seine Gesprächspartnerin nicht zu enttäuschen. Von der neueren Literatur besonders klärend Dirk Uffelmann, «‹Orientalischer› Anarchismus. Marx und Engels über ‹asiatische Produktionsweise›, Zarismus und ‹Bakunisterei›», in: Was bleibt? Karl Marx heute. Workshop vom 14.–16. März 2008 anlässlich des 125. Todestages von Karl Marx im Studienzentrum Karl-Marx-Haus Trier, hg. von Beatrix Bouvier, Harald Spehl, Harald Schwaetzer und Henrieke Stahl, Trier 2009, 201–232. 17 А. С. Пушкиин, Сочинения в трех томах, Moskau 1986, II 260 (V 4, 1f.). 18 Die Metapher der tabula rasa stammt von Leibniz, der sie in einem Text benutzte, den er 1711 für sein Treffen mit Peter dem Großen in Torgau verfasste (siehe W. Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen, St. Petersburg, Leipzig 1873, 180). Sie beschränkt sich jedoch auf Russlands wissenschaftliche Entwicklung und setzt nicht eine große soziale Trans formation als wünschenswert voraus, die Leibniz fürchtete, auch wenn er sie voraussagte (Nouveaux essais IV 16, § 4). 19 Man denke an das Wortspiel zu Beginn des zweiten Teils von Eugen Onegin (O rus! Hor. О Русъ): Russland ist in seinem Wesen das Land, auf das sich Horaz bezieht. 20 Ich teile die Auffassung vieler Linguisten, dass das Werk keine Fälschung sein kann, wie wiederholt behauptet worden ist. 21 Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, Stuttgart 81988, 484. 22 The Passion and the Interests. Political Arguments for Capitalism Before Its Triumph, Princeton 1977. 23 Richard Ellmann, Oscar Wilde, London 1987, 548. 24 A.C. Грибоедов, Полное собрание сочинений в трех томах, Sankt Petersburg 1995, I 27. 25 Op. cit., I 29. 26 Op. cit., I 95ff. 27 «… nous n’avons en rien contribué au progrès de l’esprit humain, et tout ce qui nous est revenu de ce progrès, nous l’avons défiguré.» (Pierre Tchadaief, Œuvres choisies, Paris, Leipzig 1862, 27) 28 Es genüge, an die Darstellung der Leibeigenen Natalia Sawischna in Tolstois Kindheit (Детство) zu erinnern. 29 Ich erwähne nur die berühmte Frage, ob ohne Gott alles erlaubt wäre (Die Brüder Karamasow, IV 11 4). 30 Ebd., 23. 31 Tolstoj beschreibt dagegen den heiligen Narren als Realität der russischen Volksreligiosität liebevoll in Kindheit (Детство), während Dostojewski zeit genössische funktionale Äquivalente wie Myschkin im Idioten bietet, die zwar andersartig sind, aber in ihrem Wesen christlich bleiben.
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32 Das russische Original findet sich in: Ф.М. Лурье, Нечаев. Созидатель разрушения, Moskau 2001, 104–109. 33 Philip Pomper, Sergei Nechaev, New Brunswick, NJ 1979, 219. 34 Siehe Georg von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, Stuttgart 61977, 9. 35 Siehe die Reflexionen über allgemeine Bedingungen von Revolutionen, die im russischen Fall gegeben waren, in Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, München 1993, 310: «Im allgemeinen begünstigen drei weitere Faktoren das Entstehen revolutionärer Situationen. Das ist erstens die zunehmende Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Machthaber an ihre am besten organisierten Untertanten (sic!) und ihrer Fähigkeit, die Erfüllung dieser Ansprüche zu erzwingen. Zweitens sind es Angriffe gegen größere Bevölkerungsgruppen und deren Vorrechte, und drittens die Schwächung der Machthaber angesichts gut organisierter Rivalen, die ihnen die Macht streitig machen.» 36 Ich weiß nicht, wie die Frage zu beantworten ist, ob Russland ein liberaler Staat hätte werden können, wenn Alexander II. nicht ermordet worden wäre (wie ich auch die Frage nicht zu beantworten vermag, ob ein längeres Leben Lenins das sowjetische Regime gemildert hätte). Die Wahrheitsbedingungen kontrafaktischer Konditionalsätze scheinen die Existenz von Gesetzen vorauszusetzen, die wir in unserem Fall noch nicht kennen. 37 L’empire des tsars et les Russes, Tome II: Les institutions, Paris 1893, 559. Die erste Ausgabe ist von 1886. Leroy-Beaulieus Protest gegen die Brutalität der russischen Repression erinnert an den berühmten Brief vom 14.(24.)3.1699 von Leibniz an den Amsterdamer Bürgermeister und Russlandexperten Nicolaes Witsen nach dem Massaker Peters des Großen an den Strelitzen. «Ce que je crains est que tant de supplices bien loin d’étouffer les animosités ne les aigrissent avec une manière de contagion.» Gleichzeitig äußert er die Hoffnung, Peters Erbe werde fortfahren «de civilizer la nation» – die immer noch ein wenig wie Skythien aussehe (W. Guerrier, op. cit., 42f.). Ich bin mir nicht sicher, dass Leibniz durch Witsens Bemerkung beruhigt wurde, der Zar werde sich auch um die Angehörigen der Strelitzen kümmern, und zwar indem er sie nach Sibirien verbanne (44f.). 38 Richard Pipe (The Russian Revolution, New York 1991, 337) stellt witzig fest: «Russians, having gotten rid of tsarism, on which they used to blame all their ills, stood bewildered in the midst of their newly gained freedom. They were not unlike the lady in a Balzac story who had been sick for so long that when finally cured thought herself struck by a new disease.» 39 Vgl. Günther Stökl, Russische Geschichte, Stuttgart 51990, 534f. 40 Einen konzisen Überblick über die verfassungsrechtliche Entwicklung der Sowjetunion gibt Boris Meissner, «Sowjetunion», in: Verfassungen der kommunistischen Staaten, hg. von Georg Brunner und Boris Meissner, Paderborn, München, Wien, Zürich 1980, 374–384.
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41 Ленин, Избранные произведения, 6 Bde., (Moskau) 1937, IV 276: «… не останавливаясь перед варварскими средствами борбы против варварствва.» 42 Ebd., IV 280. 43 Kъ психологіи революціи, in: Духовный кризисъ интеллигенціи, Sankt Petersburg 1910, 40–60, besonders 60. 44 Ein guter Überblick findet sich in: Brian Crozier, The Rise and Fall of the Soviet Empire, Rocklin 1999. 45 Während die Stalinistische Architektur zur Tradition des modernistischen Neoklassizismus gehört, der zur gleichen Zeit auch in Italien und Deutschland und sogar in den westlichen Demokratien beliebt war, entwickelte jemand wie Wladimir Tatlin eine Avantgarde-Architektur, die an Claude Nicolas Ledoux’ und Étienne-Louis Boullées utopische revolutionäre Architektur erinnert. Tatlins geplantes Monument der Dritten Internationale wurde nie gebaut, nicht anders als einige der gewagtesten Ideen seiner französischen Vorläufer im späten achtzehnten Jahrhundert. 46 Siehe Sergej M. Eisenstein, Schriften 3, hg. von Hans-Joachim Schlegel, München 1975, 200–225. Das Original ist auf deutsch. 47 Евгений Замятин, Собрание сочинений. Русь, Moskau 2003, 327f. / Jew genij Samjatin, Wir, Zürich 1977, 225f. (Nr. 30). 48 «Рукописи не горят»: Михаил Булгаков, Белая гвардия. Mастер и Mаргарита, Minsk 2008, 557; Michail Bulgakow, Meister und Margarita, Berlin 42015, 376 (Kap. 24). 49 Siehe Vittorio Hösle, «Ethics and Economics, or How Much Egoism Does Modern Capitalism Need? Machiavelli’s, Mandeville’s, and Malthus’s New Insight and Its Challenge», in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 97 (2011), 425–440. 50 Eric Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914–1991, New York 1996, 385. 51 Bailey Stone betont zu Recht die Notwendigkeit, den internationalen Kontext zu beachten, in dem die drei großen Revolutionen erfolgten (The Anatomy of Revolution Revisited. A Comparative Analysis of England, France, and Russia, New York 2014, XI). 52 Als Anatol Leroy-Beaulieu die Möglichkeit einer bevorstehenden Revolution in Russland erwog (die er für sehr wahrscheinlich hielt, sofern nicht die Regierung des Zaren weitreichende Reformen von oben einleitete), sah er voraus, dass eine solche russische Revolution das größte Ereignis seit der französischen Revolution und von überwältigender Originalität sein würde, eher sozial als politisch und zutiefst vom slawischen Geist inspiriert. «Mais cela a quel prix? Avec quels sacrifices pour la science et la civilisation?» (625) Er glaubte nicht, dass er ein solches Ereignis wünschen könne; denn der kürzeste Weg erweise sich oft als der längste. 53 E. Hobsbawm, op. cit., 393.
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54 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 49, Allgemeine Anmerkung A. 55 Ich beziehe mich auf eine der beiden Dimensionen von Tillys Taxonomie (op. cit., 77ff.). Seine Differenzierungen werden allerdings dem Unterschied zwischen Interessen und Werten nicht gerecht. 56 Das ist die zentrale These von Hannah Arendts Über die Revolution (München 1965), das die «gute» amerikanische Revolution den schlechten gegenüberstellt, die von der sozialen Frage angetrieben wurden: «Die Verwandlung der Menschenrechte in die Rechte der Sansculotten ist der Wendepunkt der Französischen und aller ihr folgenden Revolutionen.» (55) 57 Ebd., 393f. 58 Arthur Koestler, Sonnenfinsternis, Stuttgart 1946, 141ff. Ich zitiere den deutschen Text, auch wenn es sich um eine Rückübersetzung handelt; denn das deutsche Original ging verloren (und wurde erst 2015 wiedergefunden). Die englische Fassung kam schon 1940 heraus, aber sie ist nicht von Koestler selbst verfasst. 59 Siehe Vittorio Hösle, Moral und Politik, München 1997, 186ff. 60 See Борис Пастернак, Доктор Живаго, op. cit., 185 (VI 4) / Boris Pasternak, Doktor Schiwago, op. cit., 214: «… daß wir im Laufe von fünf oder zehn Jahren mehr erlebt haben als manche andere Menschen in einem ganzen Jahrhundert.» 61 Ebd., 590/430 (Kap. 26). 62 From Tsar to Soviets. The Russian People and their Revolution, 1917–1921, New York 1996, 290. 63 Ich denke besonders an den Maler und Schriftsteller Maxim Kantor, der das Wesen des sowjetischen Totalitarismus, die Zeit unmittelbar nach dem Kollaps des Reiches und die Bildung eines neuen aggressiven Nationalismus gleichermaßen erfasst hat. Ich nenne nur seinen Graphikzyklus Ödland. Aber auch Andrei Swjaginzews Leviathan (Левиафан) ist große Filmkunst. 64 Siehe den letzten Essay in diesem Band.
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reflexe 28 Vittorio Hösle Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik 2013. 102 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-2921-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2922-1 reflexe 35 Vittorio Hösle Dantes «Commedia» und Goethes «Faust» Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas 2014. 76 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3318-1 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3319-8 reflexe 37 Martin Bondeli Reinhold und Schopenhauer Zwei Denkwelten im Banne von Vorstellung und Wille 2014. 117 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3326-6 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3327-3 reflexe 38 Maurizio Ferraris Die Seele – ein iPad? 2014. 194 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3333-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3334-1 reflexe 39 Annemarie Pieper Nachgedacht Philosophische Streifzüge durch unseren Alltag 2014. 435 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3358-7 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3359-4
reflexe 40 Pierfrancesco Fiorato / Peter A. Schmid (Hg.) «Ich bestreite den Hass im Menschenherzen» Zu Hermann Cohens Begriff des grundlosen Hasses 2015. 180 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3373-0 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3376-1 reflexe 42 Emil Angehrn Die Herausforderung des Negativen Zwischen Sinnverlangen und Sinnentzug 2015. 210 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3400-3 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3401-0 reflexe 43 Eduard Kaeser Artfremde Subjekte Subjektives Erleben bei Tieren, Pflanzen und Maschinen? 2015. 165 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3432-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3433-1 reflexe 44 Urs Marti-Brander Rousseaus Schuld Essays über die Entstehung philosophischer Feindbilder 2015. 207 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3445-4 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3463-8 reflexe 45 Christine Christ-von Wedel Erasmus von Rotterdam Ein Porträt Mit 9 Karikaturen von Albert de Pury. 2016. 192 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3523-9 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3524-6
reflexe 46 Anton Hügli Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein 2016. 235 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3489-8 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3527-7 reflexe 47 Katrin Meyer Macht und Gewalt im Widerstreit Politisches Denken nach Hannah Arendt 2016. 201 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3556-7 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3561-1 reflexe 48 Michael Rüegg Krise der Freiheit Religion und westliche Welt Plädoyer für ein gelassenes Verhältnis 2016. 76 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3560-4 ISBN eBook (epub) 978-3-7965-3562-8 reflexe 49 Nora Eckert Wer und was ist Hamlet? Erkundungen 2016. 120 Seiten, 1 Abbildung. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3621-2 ISBN eBook 978-7965-3622-9 reflexe 50 Helmut Holzhey «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel» Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens 2017. Ca. 150 Seiten. ISBN Printausgabe 978-3-7965-3650-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3651-9
Das Signet des 1488 gegründeten Druck- und Verlagshauses Schwabe reicht zurück in die Anfänge der Buchdruckerkunst und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es ist die Druckermarke der Petri; sie illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?»
Man kann die gegenwärtige weltpolitische Situation überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht die zunehmende russische Weigerung, sich mit den territorialen Verlusten und den massiven Einbußen an weltpolitischer Bedeutung der letzten zwei Jahrzehnte abzufinden, als einen der wichtigsten politischen Faktoren der Gegenwart anerkennt. Vittorio Hösle
I S B N 978-3-7965-3636-6
Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch
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