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German Pages 232 Year 2016
Verena Wecker Strategien bei der Pluralbildung im DaZ-Erwerb
DaZ-Forschung
Deutsch als Zweitsprache, Mehrsprachigkeit und Migration Herausgegeben von Bernt Ahrenholz Christine Dimroth Beate Lütke Martina Rost-Roth
Band 12
Verena Wecker
Strategien bei der Pluralbildung im DaZ-Erwerb Eine Studie mit russisch- und türkischsprachigen Lernern
ISBN 978-3-11-045173-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045429-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045198-6 ISSN 2192-371X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vorgelegt und als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich beim Verfassen dieser Arbeit unterstützt haben. In erster Linie gilt mein Dank den Betreuern, Prof. Dr. Klaus-Michael Köpcke und Dr. Andreas Bittner, für ihre intensive und weit über das Übliche hinausgehende Unterstützung in allen Phasen des Projekts. In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen habe ich viele wertvolle Anregungen erhalten, konnte Ideen diskutieren und habe sehr viel gelernt. Besonders danken möchte ich auch den Schulleiterinnen und Schulleitern, den Lehrerinnen und Lehrern und den Kindern und ihren Eltern, die diese Untersuchung durch ihre Mitwirkung überhaupt erst möglich gemacht haben. Des Weiteren bedanke ich mich bei den Lehrenden und Promovierenden der Graduate School Empirical and Applied Linguistics für ihr konstruktives Feedback und den regen Austausch. Mein besonderer Dank gilt dabei Prof. Dr. Wilhelm Grießhaber für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten anzufertigen sowie für wertvolle methodische Anregungen. Prof. Dr. Jens Bölte danke ich für die Beratung in methodischen Fragen. Bei Prof. Dr. Heike Roll möchte ich mich für die Kontaktherstellung zu einer der Schulen bedanken, in der ein großer Teil der Probanden gewonnen werden konnte. Ohne die Unterstützung von Prof. Dr. Susanne Günthner hätte ich die Promotion wahrscheinlich nie begonnen – auch ihr gilt deshalb mein besonderer Dank. Jana Gamper und Anke Michel danke ich für die kritische Durchsicht von Teilen des Manuskripts. Bei Prof. Dr. Sarah Schimke möchte ich mich für die hilfreichen Diskussionen über methodische Fragen bedanken. Anja Binanzer hat durch ihre Hilfsbereitschaft, die intensiven Diskussionen und ihre Unterstützung bei der Datenerhebung viel zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat – ihr möchte ich deshalb ganz besonders danken! Den HerausgeberInnen, besonders Prof. Dr. Christine Dimroth, danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe DaZ-Forschung und für die hilfreichen Kommentare zur Überarbeitung des Manuskripts. Für die nette und unkomplizierte Betreuung seitens des Verlags möchte ich mich bei Dr. Julie Miess, Angelika Hermann und Nancy Christ bedanken. Schließlich gilt mein Dank meinen Eltern Klaus und Maria Wecker und meinem Mann Daniel Lafond für ihre bedingungslose Unterstützung und ihren festen Glauben an dieses Projekt.
Inhalt Abbildungsverzeichnis ix Tabellenverzeichnis x
Einleitung 1
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Theoretische Grundlagen 5 Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb 5 Strukturalistische Beschreibungen des deutschen Numerussystems 6 Das Dual-Mechanism-Model 20 Natürlichkeitstheorie 26 Optimalitätstheorie 35 Gebrauchsbasiertes Netzwerk- und Schema-Modell 39 Synthese 56 Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern 61 Spracherwerbstypen 69 Pluralbildung im Türkischen und Russischen 78 Das russische Numerussystem 78 Das türkische Numerussystem 80 Zusammenfassender Vergleich 82 Hypothesen 83
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Empirische Untersuchung 88 . Probanden 88 .. Sprachbiografische Angaben 88 .. Bildung homogener Gruppen 89 . Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen 91 .. Interpretationsverfahren: Die Wontel – Singular oder Plural? 97 ... Methode und Testdesign 97 ... Hypothesen 99 ... Ergebnisse 100 ... Zusammenfassung 108 .. Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern: Die Mafte – viele …? 109 ... Methode und Testdesign 109
viii Inhalt ... ... ... .. ... ... ... ... .. . . .. ..
Hypothesen 113 Ergebnisse 115 Zusammenfassung 141 Auswahl der besten Pluralform: Mänke, Manke oder Manken? 144 Methode und Testdesign 144 Hypothesen 148 Ergebnisse 149 Zusammenfassung 155 Verbalisierung der Strategien 157 Fazit und didaktischer Ausblick 162 Zusammenfassung der Ergebnisse 162 Didaktischer Ausblick 169 Zum Umgang mit Abweichungen von der zielsprachlichen Pluralbildung im Deutschunterricht 169 Plural als Unterrichtsgegenstand in der DaZ-Förderung 173
Literaturverzeichnis 177 Index 189 Anhang 193
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Pluralbildung nach Wegener. Aus Wegener 1995a: 31 | 16 Abb. 2: Produktivitätsgrade für den -(e)n-Plural nach Laaha u.a. (2006) | 31 Abb. 3: Assoziatives Netzwerk (Abb. aus Bybee 1988: 127) | 40 Abb. 4: Kontinuum zwischen prototypischem Singular- und Pluralschema. (Abb. aus Köpcke 1993: 88) | 45 Abb. 5: Verknüpfung der Schemata im assoziativen Netzwerk | 57 Abb. 6: Strategien der Pluralbildung im Erwerbsverlauf | 86 Abb. 7: Erhebungsverfahren | 96 Abb. 8: Beispiel für den visuellen Stimulus beim Interpretationsverfahren | 98 Abb. 9: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Türkisch | 102 Abb. 10: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Russisch | 102 Abb. 11: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Deutsch | 103 Abb. 12: Beispiel für den visuellen Stimulus bei der Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern | 111 Abb. 13: Verwendung der Nullmarkierung bei Nicht-Feminina auf -el, -er, -en | 123 Abb. 14: Verwendung der Nullmarkierung bei Monosyllabia, Items auf unbetonten Vollvokal und Schwa, L1 Türkisch und Russisch | 127 Abb. 15: Verwendung der Nullmarkierung bei Monosyllabia, Items auf unbetonten Vollvokal und Schwa, L1 Deutsch | 128 Abb. 16: Verwendung der Nullmarkierung bei Feminina auf -el und -er | 128 Abb. 17: Pluralbildungen durch Umlaut bei Items auf -el, -er, -en | 130 Abb. 18: Beispiel für einen Arbeitsbogen zur Auswahl der besten Pluralform | 147
Tabellenverzeichnis Tab. 1: Verteilung der Pluralmarkierungen über Nomen der drei Genera | 10 Tab. 2: Signalstärke der Pluralmarkierungen nach Köpcke (1993: 85) | 43 Tab. 3: Singular- und Pluralschemata im kindlichen Wortschatz | 64 Tab. 4: Verhältnis von Singular- und Pluralschemata im kindlichen Wortschatz | 66 Tab. 5: Pluralmarker im Russischen | 79 Tab. 6: Vergleich des deutschen, russischen und türkischen Numerussystems | 83 Tab. 7: Probandengruppen | 90 Tab. 8: Zeitlicher Verlauf der Datenerhebungen | 97 Tab. 9: Testset für das Interpretationsverfahren | 99 Tab. 10: Zuweisung der Funktion Plural (Angaben in %) | 101 Tab. 11: Testset 1 zur Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern | 112 Tab. 12: Testset 2 zur Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern | 113 Tab. 13: Ergebnisse des Elizitierungsverfahrens | 117 Tab. 14: Verwendung der Nullmarkierung in % | 120 Tab. 15: Overte Pluralmarkierungen für Monosyllabia (Angaben in %) | 133 Tab. 16: Overte Pluralmarkierungen für Items auf unbetonten Vollvokal (Angaben in %) | 136 Tab. 17: Verwendung overter Pluralmarkierungen (in %) für Items auf offene oder geschlossene Schwasilbe | 139 Tab. 18: Testset für die Auswahl der besten Pluralform | 146 Tab. 19: Ergebnisse der Auswahl einer Pluralform aus drei gegebenen Vorschlägen | 149 Tab. 20: Produktiver Wortschatz im Grundschulalter. Zusammenstellung aus Pregel & Rickheit (1987) | 193 Tab. 21: Sprachbiografische Angaben | 201 Tab. 22: Ergebnisse Sprachstandserhebungen | 206 Tab. 23: Ergebnisse des Elizitierungsverfahrens | 210 Tab. 24: Von der Auswertung ausgenommene Testsets | 219 Tab. 25: Ergebnisse des Auswahlverfahrens: Ausgewählte Pluralformen (Angaben in Prozent) | 221
Einleitung Die deutsche Pluralbildung ist einer der morphologischen Bereiche, der immer wieder als „Stolperstein“ im DaZ 1-Erwerb identifiziert wird (vgl. z.B. Rösch 2001). Die Komplexität des Systems ist vor allem darauf zurückzuführen, dass, je nach linguistischem Ansatz, fünf bis neun verschiedene Pluralmarker 2 gezählt werden, deren Zuordnung zu den Nomen nur tendenziell durch ein komplexes Geflecht an Regularitäten beschrieben werden kann. Die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung ist, wie Grundschulkinder mit Türkisch oder Russisch als Ausgangssprache und Deutsch als Zweitsprache vorgehen, um vor dem Hintergrund des Formenreichtums und der zumindest in Teilen geltenden Regelferne Pluralformen zu bilden bzw. Nomen als Singularoder Pluralformen zu interpretieren. Es geht damit weniger um die Reihenfolge, in der die verschiedenen Pluralmarker erworben oder in der die Regularitäten der Zuordnung von Nomen und Pluralmarker erkannt werden als vielmehr um die Strategien, die die DaZ-Lerner 3 im Erwerbsprozess ausbilden und bei der Pluralbildung anwenden. Der Begriff Strategie soll nicht suggerieren, dass es sich um Vorgänge handelt, die den Lernern zwingend bewusst sein müssen. Eine Strategie wird hier vielmehr als ein weitgehend unbewusst ablaufender Mechanismus bei der Sprachverarbeitung verstanden. Davon abzugrenzen sind Lernstrategien, die in der Sprachlehrforschung als bewusster Handlungsplan (vgl. z.B. Schramm 2008) definiert werden. Aus einem Großteil der vorliegenden linguistischen und psycholinguistischen Forschungsliteratur zum deutschen Numerussystem und seiner mentalen Repräsentation ist abzuleiten, dass Sprecher bei der Pluralbildung vom Singular ausgehen und diesen nach bestimmten Regeln in eine Pluralform transformieren bzw. die passende Pluralmarkierung an den Singularstamm affigieren. Dabei werden Genus und Auslaut des Nomens als die wesentlichen Merkmale beschrieben, die die Auswahl der Pluralmarkierung regulieren. In diesem Sinne wäre, mit Bybee (2003: 126) gesprochen, die Pluralbildung als source-orientiert zu bezeichnen: Die Sprecher suchen den Singular (also die zugrundeliegende Form oder source) nach bestimmten Merkmalen ab (vor allem Auslaut und Ge 1 Deutsch als Zweitsprache 2 Da die Begriffe „Morphem“ und „Allomorph“ aus der strukturalistisch orientierten Morphologie stammen und damit ganz bestimmte theoretische Implikationen mit sich bringen, wird der theorieneutralere Begriff des „Markers“ oder der „Markierung“ verwendet. 3 Mit der Verwendung des generischen Maskulinums wird auf männliche und weibliche Personen Bezug genommen.
Einleitung nus) und bilden dann entsprechend den Regularitäten eine Pluralform. Auf der anderen Seite gibt es theoretische Ansätze, in denen nicht die Ableitungsbeziehungen zwischen Singular- und Pluralformen im Fokus stehen, sondern die verschiedenen Gestalten der Pluralformen selbst, die vor dem Hintergrund der kognitiven Ausstattung des Sprechers als mehr oder weniger gut geeignet bewertet werden, um die Funktion Plural auszudrücken. Der Sprecher bildet einen Plural diesem Modell zufolge nicht, indem er vom Singular ausgehend nach bestimmten Regeln eine Pluralform erzeugt, sondern indem er sich an der Gestalt der Pluralform, in diesem Sinne des Produkts, orientiert. Diese Art der Pluralbildung wird in Anlehnung an Bybee (2003: 126) als produktorientiert bezeichnet. Die Hauptthese, die im theoretischen Teil entwickelt wird, ist, dass die Pluralbildungen von der untersuchten Sprechergruppe weder ausschließlich durch die source- noch allein durch die produktorientierte Strategie zu erklären sind. Vielmehr soll gezeigt werden, dass beide Strategien eine wichtige Rolle spielen, in unterschiedlichen Erwerbsstufen aber mehr oder weniger dominant sind. Erwerbstheoretisch werden diese Strategien im Rahmen des gebrauchsbasierten Netzwerkmodells verankert, in dem davon ausgegangen wird, dass aus konkreten Wortformen, die zunächst als Chunks gespeichert werden, Schemata abstrahiert und mit einer bestimmten grammatischen Funktion (hier: Singular oder Plural) assoziiert werden. Beim frühen Erwerb von Deutsch als Zweitsprache handelt es sich um eine spezifische Form des Spracherwerbs, die sich unter anderem darin vom monolingualen Erstspracherwerb unterscheidet, dass die Lerner bereits über eine zu einem gewissen Grad ausgebildete Sprache verfügen, bevor sie die zweite Sprache erwerben. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die sprachlichen Vorerfahrungen der DaZ-Lerner die Strategien bei der Verarbeitung des deutschen Numerussystems beeinflussen. Aus dieser Frage heraus ist die Wahl der zwei Sprechergruppen mit den Ausgangssprachen Russisch oder Türkisch motiviert: Das Türkische und das Russische gehören zwei typologisch verschiedenen Sprachgruppen an. Während das Russische wie das Deutsche zu den fusionierenden Sprachen gehört, zählt das Türkische zu den agglutinierenden Sprachen und unterscheidet sich in vielen grammatischen Strukturen wesentlich vom Deutschen. Die Untersuchung von türkisch- und russischsprachigen DaZLernern verspricht deshalb Aufschluss darüber, welche Rolle die Ausgangssprache im Erwerb eines morphologischen Teilsystems einer Zweitsprache spielt. Diese Studie soll damit einen Beitrag zur grundlegenden Erforschung des Zweitspracherwerbs des deutschen Numerussystems leisten. Didaktische Kon-
Einleitung
sequenzen, die daraus etwa für die DaZ-Förderung abgeleitet werden können, stehen nicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, werden aber abschließend in einem kurzen Ausblick thematisiert. Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten, theoretischen Teil werden morphologische Modelle zur Beschreibung des deutschen Numerussystems und ihre impliziten oder expliziten Implikationen für den Spracherwerb diskutiert. Berücksichtigt werden der strukturalistische Ansatz, das Dual-MechanismModel, die Natürlichkeitstheorie, die Optimalitätstheorie sowie das SchemaModell. In der anschließenden Synthese wird als Ergebnis der theoretischen Überlegungen der Erwerb des Numerussystems im Rahmen des gebrauchsbasierten Netzwerkmodells modelliert, in das source- und produktorientierte Strategien integriert werden. Da bei dem hier favorisierten gebrauchsbasierten Erwerbsansatz der Sprachgebrauch eine entscheidende Rolle für den Erwerbsprozess spielt, wird im darauf folgenden Abschnitt anhand des Korpus von Pregel & Rickheit (1987) der produktive nominale Wortschatz von Grundschulkindern im Hinblick auf das Numerussystem analysiert. Es folgt die theoretische Auseinandersetzung mit den Spezifika des kindlichen Zweitspracherwerbs und der Rolle, die der Ausgangssprache dabei zukommt. Kontrastiv zum Deutschen werden im Anschluss daran die Numerussysteme des Türkischen und des Russischen beschrieben. Aus dieser theoretischen Diskussion werden schließlich die Hypothesen für die empirische Untersuchung abgeleitet. Im empirischen Teil werden zunächst die Probanden und Methoden der Untersuchung vorgestellt. Daran anschließend werden der Reihe nach die drei durchgeführten Untersuchungen sowie die jeweiligen Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Zielsprachlich gebildete Pluralformen zu existierenden deutschen Nomen sagen nichts über Strategien der Sprecher aus, da diese Formen einfach als Chunks abgespeichert und reproduziert worden sein können. Aus diesem Grund wurde bei allen Verfahren mit Kunstwörtern gearbeitet, bei deren Verarbeitung die Reproduktion eines Chunks ausgeschlossen ist und die deshalb Aufschluss über die Strategien bieten, die bei der Bildung von Pluralformen angewendet wurden. Zunächst werden die Ergebnisse einer Untersuchung diskutiert, bei der den Probanden Kunstwörter vorgelegt wurden, die als Singular- oder Pluralformen interpretiert werden sollten (Interpretationsverfahren). Anschließend geht es um eine Erhebung, in der die Probanden Pluralformen zu Kunstwörtern gebildet haben (Elizitierungsverfahren). Als dritter Punkt wird eine Erhebung diskutiert, in der die Probanden aus Kunstwörtern, die ihnen als mögliche Pluralformen zu ebenfalls gegebenen Singularformen vorgelegt wurden, jeweils die Form auswählen sollten, die ihnen als die beste Pluralform erschien (Auswahlverfahren). Abschließend werden die metasprachlichen Kommentare, die die
Einleitung Probanden bei der Bearbeitung des Auswahlverfahrens geäußert haben, diskutiert. Im Fazit werden die zentralen Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf die morphologische Theoriebildung und die Zweitspracherwerbsforschung zusammengefasst und didaktische Konsequenzen formuliert.
Theoretische Grundlagen . Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb Die linguistischen Ansätze zur Beschreibung des deutschen Numerussystems lassen sich grob in zwei Richtungen unterscheiden: Modelle der ersten Richtung zeichnen sich dadurch aus, dass die Relationen zwischen Singularform (oder Basis- oder Grundform) und Pluralform (oder abgeleiteter Form) im Zentrum der Analysen stehen. Die Pluralformen selbst haben nicht den Status eigenständiger Repräsentationen, sie existieren nur als Ableitungen von Singularformen. Die Pluralbildung wird immer ausgehend vom Singular, der source, beschrieben. Diese source-orientierten Ansätze beruhen im Kern auf einer strukturalistischen Perspektive auf Sprache, in der die Relation von Singular- und Pluralformen durch Item-and-Process- (IP) oder Item-and-Arrangement- (IA) Prozesse 4 beschrieben wird. Im Grundsatz wird auf der Ebene der langue operiert, d.h. das Sprachsystem wird als abstraktes Gebilde erfasst, über das theoretisch jeder kompetente Sprecher verfügt. Der Einfluss des Sprechers mit seiner kognitiven Ausstattung und seinem Sprachgebrauch auf die Organisation des Sprachsystems wird nicht berücksichtigt. Bei der Produktion von Pluralformen müssten Sprecher diesen Ansätzen entsprechend vom Singular ausgehen und nach den festgestellten Regularitäten die Pluralform erzeugen, ohne dass die Gestalt der so erzeugten Pluralform selbst von Bedeutung ist. Überträgt man diese Sichtweise auf den Spracherwerb, so bedeutet das, dass die beschriebenen Regeln, durch die Pluralformen aus den Grundformen abgeleitet werden, erworben werden, während Elemente, die durch diese Regularitäten nicht zu erfassen sind, entweder holistisch gespeichert oder aber mit einem zusätzlichen Lexikoneintrag, der die Pluralbildung angibt, versehen werden müssen. In den Ansätzen der zweiten Richtung ist die Perspektive entgegengesetzt. Das Numerussystem wird nicht als Ableitungssystem vom Singular zum Plural dargestellt, sondern es werden prototypische Eigenschaften der Pluralformen in Form von produktorientierten Schemata beschrieben. Die Pluralformen werden also nicht lediglich in ihrer Relation zur Singularform erfasst, sondern erhalten den Status eigenständiger Repräsentationen und werden aus funktionaler Perspektive miteinander verglichen und evaluiert. Im Gegensatz zum oben beschriebenen source-orientierten Ansatz wird dieser Ansatz deshalb als produkt 4 Für eine genauere Erläuterung der beiden Modelle vgl. Hockett (1954).
Theoretische Grundlagen orientiert bezeichnet. Der Sprecher geht aus dieser Perspektive bei der Produktion von Pluralformen nicht von der Singularform aus, um daraus die Pluralform zu generieren, sondern gleicht die Form mit den gespeicherten Pluralschemata ab. In Bezug auf Erwerbsprozesse bedeutet das, dass aus dem Input Schemata abstrahiert werden, die mit bestimmten grammatischen Funktionen, also Singular oder Plural, verknüpft werden. Diese Annahmen werden in gebrauchsbasierten Ansätzen zum Spracherwerb ausformuliert. Neben den beiden skizzierten Polen gibt es Modelle, die sich weder der einen noch der anderen Seite vollständig zuordnen lassen. Vielmehr kann man sich ein Kontinuum vorstellen, auf dem die verschiedenen Ansätze, die zunehmend die Sprecherperspektive in den Blick nehmen, angeordnet werden können. Ziel dieses Abschnitts ist es, die linguistischen Modelle vorzustellen und zu diskutieren, inwiefern sie zur Erklärung von Spracherwerbsprozessen und -verläufen geeignet sind. Es wird dafür argumentiert, dass die Annahme von Schemata einen umfassenderen Blick auf den Erwerbsprozess erlaubt als die anderen Modelle.
.. Strukturalistische Beschreibungen des deutschen Numerussystems Strukturalistische Beschreibungen des deutschen Numerussystems wurden vorwiegend in den 1970er Jahren vorgelegt. Zu nennen sind an dieser Stelle die Arbeiten von Werner (1969), Augst (1975, 1979), Mugdan (1977) und Rettig (1972). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie sich darum bemühen, das System der Zuordnung von den Pluralmarkern zum Substantiv möglichst umfassend, dabei aber so ökonomisch wie möglich zu beschreiben. Die von Augst (1979: 221) formulierte Fragestellung „Welches Wort wählt welchen Pluralanzeiger?“ bringt die Forschungsinteressen auf den Punkt. Diese Beschreibungen bilden auch heute noch die Grundlage vieler Darstellungen des Pluralsystems in Grammatiken (vgl. z.B. Duden 2009). Die folgende Beschreibung des Pluralsystems aus dieser Perspektive dient gleichzeitig der Darstellung des Lerngegenstands für die Probanden dieser Studie. Bevor der Frage nachgegangen werden kann, nach welchen Prinzipien die Pluralmarker den Nomen zugewiesen werden, muss zunächst geklärt werden, wie die Funktion Plural im Deutschen überhaupt ausgedrückt werden kann. Zur
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Pluralmarkierung stehen verschiedene morphologische Mittel zur Verfügung 5: Zum einen existieren verschiedene Suffixe, von denen einige nur allein und einige allein oder in Kombination mit dem modifikatorischen Umlaut auftreten. Dieser wiederum kann auch als alleiniger Pluralmarker auftreten. 6 Bei Maskulina und Neutra zeigt außerdem der Artikelwechsel der/das → die den Plural an, der ebenfalls als alleiniges Pluralkennzeichen auftreten kann. 7 In wenigen Fällen liegt auch eine suppletive Form für den Plural vor (Ehemann/Ehefrau – Eheleute). Von besonderem Interesse ist die Pluralmarkierung am Nomen selbst. Oberflächlich betrachtet liegen neun Möglichkeiten zur Pluralmarkierung am Nomen vor: Zunächst einmal die sieben Suffixe -en, -n, -e, -er oder -s 8 (Türen, Blumen, Hunde, Kinder, Kinos), wobei mit der Suffigierung von -e und -er die Umlautung des Stammvokals, sofern dieser umlautfähig ist, einhergehen kann (-e) bzw. einhergeht (-er) (Wölfe, Bücher). Dann gibt es Pluralformen, die sich gegenüber dem Singular nicht verändern (Wagen). Für diese Fälle wird die sogenannte Nullmarkierung (-ø) angenommen. Schließlich gibt es Pluralformen, die allein durch die Umlautung des Stammvokals gebildet werden (Vögel). 9 Wegener (1995a: 18) argumentiert, dass für die Marker -e und -ø, -en und -n, UL + -e und UL + -ø eine komplementäre Verteilung vorliegt, da das Schwa des Suffixes immer genau dann getilgt wird, wenn in der letzten Silbe des Stamms bereits ein Schwa enthalten ist. Nomen, die im Singular bereits auf eine Schwasilbe auslauten, können also kein silbisches Pluralflexiv erhalten und umgekehrt können Nomen, die nicht auf eine Schwasilbe auslauten, auch kein nicht-
5 Daneben kann das Konzept der Mehrzahligkeit auch durch lexikalische Elemente wie Zahlwörter ausgedrückt werden. Trotzdem wird auch bei vorangehendem Zahlwort immer die Pluralmarkierung am Nomen verlangt, im Unterschied zum Türkischen, vgl. Abschnitt 2.4.2. 6 Nur der Plural wird durch die morphologische Markierung des Nomens gekennzeichnet, die unmarkierte (hier: merkmallose) Wortform kennzeichnet den Singular. 7 Dies ist der Fall, wenn der Plural am Nomen selbst nicht markiert wird, bzw. durch -ø. In diesem Fall zeigen nur der Artikelwechsel und die Kongruenz zum Prädikat den Plural an. Die Pluralmarkierung -ø kommt bei Feminina, bei denen der Artikel im Singular und Plural gleich bleibt, in der Standardsprache derzeit nur bei drei Nomen vor: Jeans, Shorts und Iris (vgl. Köpcke 1993). 8 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden alle Suffixe in ihrer orthographischen Form notiert, nicht in phonetischer Umschrift. 9 Zusätzlich zu den genannten Formen gibt es nicht native Pluralmarkierungen, die zumeist als mit dem Nomen aus der Herkunftssprache entlehnt gelten. Dies gilt vor allem für ursprünglich lateinische, griechische und italienische Nomen wie der Bonus – die Boni, das Tempus – die Tempora, das Thema – die Themata etc. (vgl. auch Duden 2009: 185-188). Da diese Fremdwörter jedoch im Sprachgebrauch der Grundschüler kaum eine Rolle spielen, werden diese Pluralbildungen im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.
Theoretische Grundlagen silbisches Pluralsuffix anschließen. Formen wie *Gabelen oder *Herzn sind deshalb strukturell nicht möglich. 10 Auch Mugdan (1977: 85) nimmt schon die „Hypermorphe“ //En// und //E// an, die abhängig vom Auslaut des Singularstamms wie oben beschrieben als -en oder -n bzw. -e oder -ø realisiert werden. Eisenberg führt diese Beschränkung auf die geltenden Silbenstrukturen der deutschen Nomen zurück: „Bei den Substantiven ist der Trochäus notwendige Bedingung für die Bildung der Pluralformen“ (Eisenberg 2004: 140). Ein Daktylus wie Abende bildet die Ausnahme. Die aufgeführten Regelmäßigkeiten der Schwatilgung resultierten aus dieser Akzentbedingung (vgl. Eisenberg 2004: 166). 11 Eine weitere phonologische Regularität liegt bei den Pluralmarkierungen UL + -er und -er vor. Bildet ein Nomen den Plural auf -er, so tritt der Umlaut immer hinzu, wenn der Stammvokal des Nomens umlautfähig ist. So sind Pluralformen wie *Walder oder *Bucher im Deutschen systematisch auszuschließen (vgl. Wegener 1995a: 18). Deshalb können auch die Markierungen UL + -er und -er als phonologisch bedingte Varianten der Markierung (UL +) -er begriffen werden. Demnach blieben für das Deutsche nicht mehr die oben aufgeführten neun, sondern nur noch fünf Pluralmarkierungen anzunehmen: -(e), UL + -(e), -(e)n, (UL +) -er, -s, wobei unter den dargestellten Bedingungen -(e) als -e oder -ø realisiert wird, UL + -(e) als UL + -ø oder UL + -e, -(e)n als -en oder -n und (UL +) -er als UL + -er oder -er. Bittner (1991: 39) hingegen argumentiert, dass die Markierungen -e und -ø nicht als Varianten einer Markierung analysiert werden können: Zwar ist das Nichtauftreten eines Pluralflexivs (-ø Pl.) genau dann gegeben, wenn -e Pl. phonologisch bedingt nicht auftritt, aber eine komplementäre Verteilung von -e und -ø Pl., was hieße, bei einheitlicher Zuweisung eines gemeinsamen Basismorphems tritt überall, wo -e Pl. phonologisch bedingt nicht auftritt, -ø Pl. auf bzw. umgekehrt, ist nicht gegeben.
10 Dabei muss berücksichtigt werden, dass in der gesprochenen Sprache keinesfalls immer die silbische Variante realisiert wird, wie am Bsp. [ty:ɐ] – [ty:ɐn] (Türen) deutlich wird. Eindeutig silbisch realisiert wird die Endung -en im gesprochenen Deutsch im Prinzip nur dann, wenn der Stamm auf einen Obstruenten endet. 11 In den Formen des Komparativs dagegen werden regelmäßig zwei oder sogar drei Schwasilben hintereinander realisiert: kleineres, selteneres. Laut Eisenberg ist „[d]er Daktylus […] in den Flexionsformen des Komparativs grammatikalisiert“ (Eisenberg 2004: 140). Eine Abfolge mehrerer Schwasilben ist also nicht generell untypisch fürs Deutsche, sondern nur in der Substantivdeklination unüblich.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Es ist also nicht so, dass überall dort, wo -e aus phonologischen Gründen nicht auftreten kann (Schwasilbe im Stammauslaut), automatisch -ø auftritt. Vielmehr sind an diesen Stellen auch -s oder -n als Pluralmarkierungen möglich. Somit wäre von sieben Markierungen auszugehen: -(e)n, -e, UL + -e, (UL +) -er, -ø, UL + -ø, -s. Im Deutschen wird die Funktion Plural damit nicht durch eine Form ausgedrückt, sondern durch mehrere. Es liegt also ein Eins-zu-Viele-Verhältnis zwischen Funktion und Form vor. Diese Tatsache ist für strukturalistisch orientierte Modelle eine Herausforderung, da sie auf der grundlegenden Annahme beruhen, dass ein Inhalt idealerweise durch eine Form ausgedrückt wird (vgl. Köpcke 1993). Bei der morphologischen Analyse werden dementsprechend komplexe Wortformen in ihre Bestandteile (= Morpheme) segmentiert, wobei jedem Wortbestandteil idealerweise eine spezifische Bedeutung zugeordnet werden kann. In Fällen wie dem deutschen Pluralsystem, in denen eine Bedeutung durch verschiedene sprachliche Mittel ausgedrückt wird, wird traditionellerweise von Allomorphen gesprochen. Da es für das Deutsche jedoch nicht möglich ist, ein zugrundeliegendes Morphem und die daraus abgeleiteten Allomorphe zu bestimmen, werden die Termini Morphem und Allomorph im Folgenden vermieden und stattdessen die theorieneutraleren Termini Marker oder Markierung verwendet. Besonders diskussionswürdig ist die Annahme des sogenannten Nullplurals, mit der der Tatsache begegnet wird, dass die Funktion Plural im Deutschen in einigen Fällen keine phonologische Entsprechung am Nomen selbst aufweist, wie z.B. bei der Wagen - die Wagen. In diesem Fall kann im Prinzip kein Pluralmarker angesetzt werden, da das Kriterium der phonologischen Substanz (vgl. Luschützky (2000) zum Morphem-/Allomorphbegriff) nicht erfüllt ist. In solchen Fällen wird das so genannte „Nullmorph“ (-ø) (Mugdan 1977: 51) angenommen, da eine Parallelität zwischen den overten Pluralmarkierungen und der Null- bzw. Nichtmarkierung vorliegt (vgl. auch Köpcke 1998: 307). Wie Bergenholtz & Mugdan (2000: 438) beschreiben, erlaubt die Annahme dieser Nullmarkierung, die komplexe Wortform in Analogie zu anderen Pluralformen im Deutschen in zwei Bestandteile zu segmentieren: Ebenso wie Blumen als {Blume} + {n} analysiert werden kann, kann Wagen als {Wagen} + {-ø} analysiert werden. Das sprachliche Zeichen, das traditionell als Verbindung von Ausdruck und Inhalt definiert wird, wird damit auch auf Elemente ausgedehnt, deren Inhalt nicht overt realisiert wird, d.h. keine phonetische Entsprechung aufweist. Bergenholtz & Mugdan (2000: 436) stellen fest, dass „die Erweiterung des Zeichenbegriffs die Funktion [hat], gewisse Asymmetrien in der Ausdrucks-Inhalts-Relation zu vermeiden“. Die Annahme von Nullmarkierungen kann also als Hilfskonstruktion der strukturalistisch geprägten Mor-
Theoretische Grundlagen phologie angesehen werden, die in ihren Analysen das Ideal eines Eins-zu-EinsVerhältnisses zwischen Form und Funktion anstrebt. 12 Nachdem die Frage der sprachlichen Mittel zur Pluralmarkierung am Nomen diskutiert wurde, kann nun der Frage nachgegangen werden, ob es Regeln gibt, nach denen diese Markierungen über die Nomen verteilt sind. Schlägt man in Lehrwerken für DaF 13 oder DaZ nach, so entsteht der Eindruck, dass dies verneint werden muss. So heißt es z.B. in dem DaF-Lehrwerk Tangram Aktuell: „Für den Plural gibt es oft keine Regel. Lernen Sie Nomen deshalb immer mit Artikel und mit Plural“ (Dallapiazza u.a. 2004: 37). Dem stehen jedoch die oben genannten linguistischen Analysen gegenüber, die zeigen, dass das System nicht völlig arbiträr ist, sondern dass sich auf Basis von Genus und Auslaut zumindest Präferenzen für die Wahl des Pluralmarkers formulieren lassen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Köpcke (1993: 36) zunächst eine Annäherung an das Pluralsystem über das Genus vorgenommen. Tab. 1: Verteilung der Pluralmarkierungen über Nomen der drei Genera Pluralmarkierung
Beispiel Femininum
Maskulinum
Neutrum
-(e)n
Blumen
Neffen
Augen
-e
(-nisse; -sale)
Hunde
Jahre
UL+-e
Hände
Füße
(Flöße)
-ø
(Jeans)
Tiger
Fenster
UL+-ø
(Mütter)
Väter
(Klöster)
(UL +) -er
-
Geister/Wälder
Bilder/Häuser
-s
Mangos
Parks
Kinos
Bei einer ersten Betrachtung der Tabelle 1 scheint es, als seien die Pluralmarker willkürlich über die Nomen aller drei Genera verteilt, denn fast alle Zellen ent-
12 Wie noch gezeigt wird, gibt es Ansätze, in denen dieses Problem der Nullmarkierung nicht besteht, da die paradigmatischen Beziehungen von Wortformen nicht als Ableitungen von einer Grundform modelliert werden, sondern als Netzwerk aus phonologischen und semantischen Relationen. Wenn im Folgenden weiterhin von der Nullmarkierung (-ø) gesprochen wird, dann deshalb, weil diese Bezeichnung allgemein geläufig ist. Damit soll jedoch lediglich ausgedrückt werden, dass die Pluralform mit der Singularform identisch ist. 13 Deutsch als Fremdsprache
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
halten ein Beispiel. Die Einklammerungen zeigen jedoch an, dass für die jeweilige Zelle nur eine sehr geringe Anzahl an Beispielen existiert, meist nur ein oder zwei Nomen. Das leere Feld in Tabelle 1 zeigt, dass es im Deutschen kein Femininum gibt, das den Plural mit (UL +) -er bildet. Aber auch die Feminina, die den Plural mit -ø bilden, sind sehr selten, genau genommen gibt es in der deutschen Standardsprache derzeit nur drei: Jeans und Shorts, bei denen es sich um Entlehnungen aus dem Englischen handelt, sowie Iris (Blume). 14 Ebenso sind die Feminina, die ihren Plural mit -e bilden, beschränkt auf einige nicht mehr produktive Derivationen mit -nis und -sal, z.B. die Kenntnisse oder die Mühsale. Feminina, die ihren Plural allein durch den Umlaut bilden, gibt es ebenfalls nur zwei, nämlich Mütter und Töchter. Die Gruppe der Feminina, die ihren Plural mit UL + -e bilden, besteht aus 40 Nomen, darunter z.B. Hand – Hände, Wand – Wände (vgl. Mugdan 1977: 212). Wie Köpcke (1993: 125) analysiert, sind diese Feminina prototypisch monosyllabisch, weisen einen umlautfähigen Stammvokal auf, lauten auf den Plosiv /t/ aus und haben eine hohe Gebrauchsfrequenz. Die Feminina, die den Plural mit UL + -e bilden, konstituieren damit eine kleine, in sich geschlossene Gruppe mit spezifischen phonologischen Merkmalen, die keine Produktivität aufweist. Der s-Plural tritt im gesamten Pluralsystem selten auf. Er kommt in speziellen semantischen, lexikalischen oder phonologischen Kontexten vor wie bei Eigennamen, Nomen niederdeutscher Herkunft, Onomatopöein, Fremdwörtern, Abkürzungen und Kurzwörtern sowie bei mehrsilbigen Nomen, die auf unbetonten Vollvokal enden (vgl. Eisenberg 2004: 164 und Wegener 1995a). In den meisten oben genannten Analysen des deutschen Pluralsystems und in den Standardwerken zur deutschen Grammatik (z.B. Duden 2009: 181, Eisenberg 2004: 164-165) wird deshalb angenommen, dass die Feminina den Plural präferiert mit -(e)n bilden. Auch diachrone Betrachtungen des Pluralsystems sprechen für die Angemessenheit dieser Annahme, da Feminina in Sprachwandelprozessen tendenziell aus der ePluralklasse in die en-Klasse übertreten, vgl. z.B. Schlüchte → Schluchten (Bittner 1988: 44). Auch die Pluralbildung der Neutra unterliegt einigen Beschränkungen. So lässt sich für Neutra, die ihren Plural durch UL oder UL + -e bilden, lediglich jeweils ein Beleg finden: Klöster und Flöße. Auch die Neutra, die den Plural mit
14 Im Gegensatz zu den Maskulina und Neutra in derselben Zeile ist bei den femininen Nomen allein an der Kongruenz zum Verb erkennbar, ob es sich um einen Plural oder einen Singular handelt, da bei den Feminina auch der Artikelwechsel, der bei Maskulina und Neutra selbst bei sonstiger Unverändertheit des Nomens den Plural signalisiert, wegfällt.
Theoretische Grundlagen -(e)n bilden, sind auf wenige Fälle begrenzt (z.B. Ohren, Betten). 15 Der Pluralmarker (UL +) -er wird in einigen Analysen des Pluralsystems (z.B. Augst 1975, 1979) wegen seiner niedrigen Typefrequenz und der Tatsache, dass er nicht mehr produktiv ist, als nicht zum zentralen Pluralsystem zugehörig eingestuft. Die Neutra, die den Plural auf diese Weise bilden, beschränken sich ebenfalls auf eine eher geringe Anzahl (z.B. Kinder, Bücher). 16 Da auch, wie bereits erwähnt, der s-Plural eine niedrige Typefrequenz aufweist, kann für die Neutra festgehalten werden, dass sie den Plural vor allem mit -e oder -ø bilden (vgl. auch hier Eisenberg 2004: 164-166 und Duden 2009: 181). Bei den Maskulina kommen zwar alle Pluralmarkierungen vor, auch hier lassen sich aber bestimmte Präferenzen aufzeigen. Die Maskulina, die den Plural mit -(e)n bilden, gehören der schwachen Deklinationsklasse an (Mensch, Bär). Wie Köpcke (1993: 133) darlegt, stellen die schwachen Maskulina eine relativ kleine Gruppe dar, deren Deklinationsverhalten „von einem Zusammenspiel zwischen Morphotaktik und Semantik gesteuert wird“. Es handelt sich also um eine Untergruppe der Maskulina, die spezifische außermorphologische Eigenschaften aufweist (vgl. Köpcke 1995, 2005). Nur wenige Maskulina bilden den Plural mit (UL +) -er. Mugdan (1977) zählt 24, zu denen noch die wenigen Maskulina mit dem Derivationssuffix -tum hinzukommen (z.B. Reichtümer). Ebenso wie bei den Neutra gilt der Pluralmarker (UL +) -er auch bei den Maskulina als nicht produktiv. Für die Pluralbildung mit -s gilt, wie auch schon bei den Feminina und Neutra, dass der Marker selten vorkommt und auf spezielle Kontexte beschränkt ist. Insgesamt gilt deshalb bei den Maskulina wie auch bei den Neutra, dass die Pluralbildung mit -e oder -ø präferiert ist. Das Auftreten des Umlautes in Verbindung mit dem Pluralmarker -e oder auch als alleinige Pluralmarkierung bei den Maskulina wird oft als arbiträr angesehen (vgl. z.B. Mugdan 1977). Der Umlaut tritt jedoch häufiger auf als bei den Neutra. Bittner (1988) stellt dar, dass bei monosyllabischen Maskulina mit umlautfähigem Stammvokal die Pluralbildung durch UL + -e gegenüber der Variante ohne Umlaut leicht bevorzugt wird (in 60 % der Fälle). „Diese Situation spräche eigentlich dafür, daß der prototypische Pl.-Marker für Msk. nicht -e, sondern -“e [UL + -e; V.W.] ist“ (Bittner 1988: 49; Hervorhebung im Original). Dagegen spreche aber unter anderem, „daß keine eindeutige Tendenz einer Ausbreitung des
15 Mugdan (1977: 212) führt 22 monosyllabische Neutra auf, die den Plural mit -en bilden. Zusätzlich gibt es einige wenige Neutra, die auf Schwa enden (Auge) und den Plural mit -n bilden. 16 Mugdan zählt 78 Fälle auf, sowie zusätzlich Substantive, die auf das Derivationssuffix -tum enden (Mugdan 1977: 213).
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Umlauts auf alle umlautfähigen Msk. mit -e Pl. erkennbar ist“ (Bittner 1988: 49; Hervorhebung im Original). Thieroff (2009) stellt demgegenüber anhand der diachronen Entwicklung und dem Umgang mit Entlehnungen dar, dass der Umlaut als Pluralmarkierung bei Maskulina im Gegenwartsdeutschen die markierte Form darstellt und zum Abbau tendiert. Köpcke (1994) argumentiert, dass die Umlautung monosyllabischer Maskulina im Plural durch bestimmte semantische und formale Eigenschaften der Nomen beeinflusst wird. 17 Die Darstellung der Pluralbildungen in Bezug auf die drei Genera zeigt, dass sich die Neutra und Maskulina bei der Pluralbildung ähnlich verhalten, da Nomen dieser beiden Genera den Plural präferiert mit -e oder -ø (und, bei den Maskulina, mit den entsprechenden Umlautvarianten) bilden, während die Feminina den Plural präferiert mit -(e)n bilden. Dieser Tatsache wird in der Forschung häufig Rechnung getragen, indem nicht zwischen Feminina, Maskulina und Neutra unterschieden wird, sondern lediglich zwischen Feminina und NichtFeminina (vgl. z.B. Bittner 1988, Bittner & Köpcke 2012, Thieroff 2009, Wegener 1995a). Die Verteilung der Pluralmarkierungen über die Genera macht deutlich, dass die Pluralbildung im Deutschen nicht vollständig arbiträr ist, wie es z.B. die Auflistungen oder die „Lerntipps“ in vielen DaF/DaZ-Lehrwerken glauben machen. Vielmehr wurden bei Feminina und Nicht-Feminina unterschiedliche Präferenzen bei der Wahl einer Pluralmarkierung deutlich, die die Zuordnung von Pluralmarkierung und Nomen zwar nicht eindeutig vorhersagen, die Wahlmöglichkeiten aber zumindest eingrenzen. Präferenzen bei der Pluralbildung erschöpfen sich jedoch nicht im Zusammenspiel mit dem Genus. Ein anderes Kriterium, das bei der Pluralbildung offenbar eine regularisierende Wirkung hat und in den meisten Analysen genannt wird, ist der Auslaut des Nomens. So bilden fast alle Nomen, die im Singular auf Schwa enden, ihren Plural mit -n. 18 Außerdem bilden die meisten Nomen, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, den Plural mit -s. Maskulina und Neutra, die auf ein Pseudosuffix 19 (-el, -er, -en) enden, bilden den Plural in den meisten Fällen mit -ø, der Umlaut tritt fast ausschließlich bei wenigen Maskulina auf. 20
17 Es ist die Tendenz festzustellen, dass monosyllabische Maskulina den Plural eher mit Umlaut bilden, wenn sie Lebewesen bezeichnen (vgl. Köpcke 1994). 18 Ausnahmen bilden lediglich Neutra der Struktur Ge…e (Gebirge) sowie das Nomen Käse. 19 Zur Rechtfertigung des Begriffes „Pseudosuffix“ vgl. Köpcke (1993: 111-112). 20 Für eine detaillierte Übersicht über die Umlautung der Nomen mit Pseudosuffix s. Köpcke (1993: 113-116).
Theoretische Grundlagen Darüber hinaus lässt sich ein morphologisches Kriterium annehmen, das bei Nomen, die auf ein Derivationssuffix wie z.B. -heit, -keit oder -ung enden, wirksam ist: Für jedes Derivationssuffix ist die Pluralbildung exakt festgelegt. Alle Nomen, die bspw. auf -ung enden, bilden den Plural mit -en (Wohnungen). Anstatt in diesen Fällen von eindeutigen Regeln für die Pluralbildung zu sprechen, kann jedoch auf die Wirksamkeit des Letztgliedprinzips hingewiesen werden: So wie alle Komposita, deren letztes Glied z.B. Bein ist (Tischbein, Stuhlbein, Nasenbein), den Plural mit -e bilden, bilden eben alle Nomen, deren letztes Glied -heit ist, den Plural mit -en. Für diese Analyse spricht auch, dass Derivationssuffixe teilweise einen eigenen Eintrag im Wörterbuch haben (z.B. -keit im Deutschen Wörterbuch von Wahrig 2005). Die Pluralbildung von Nomen mit Derivationssuffix ist also nicht regulärer als bei monomorphematischen Nomen oder Komposita. Das Zusammenspiel der Kriterien Genus und Auslaut wird in den systematischen Analysen des deutschen Pluralsystems berücksichtigt, wobei die Hierarchie der beiden Kriterien umstritten ist. Für den Vorrang des Auslautkriteriums spricht, dass fast alle Nomen auf -e den Plural mit -n bilden, unabhängig von ihrem Genus. Für das Genuskriterium spricht dagegen, dass Feminina präferiert den -(e)n-Plural wählen, während Maskulina und Neutra den -e-Plural wählen. Wie bereits erwähnt, treten im Sprachwandel Feminina meist von der -e in die -(e)n Pluralklasse über (vgl. Schlüchte → Schluchten), Maskulina und Neutra dagegen in die -e Pluralklasse (z.B. Blitz, Kern) (vgl. Bittner 1988). Diese Zuordnungen von Pluralmarkierungen und Nomen machen deutlich, dass sich das System linguistisch als ein komplexes Geflecht aus Präferenzen beschreiben lässt, die auf Genus und Auslaut des Nomens basieren, dabei aber in den meisten Fällen nur eine tendenzielle Gültigkeit aufweisen. Die am strukturalistischen Ansatz orientierten Beschreibungen des deutschen Numerussystems sind deshalb dadurch gekennzeichnet, dass die Regeln, die für die Pluralbildung im Deutschen aufgestellt werden, durch lange Listen von Ausnahmen ergänzt werden müssen, wenn das gesamte System abgebildet werden soll. Beispielhaft ist hier die Analyse Mugdans (1977), der die deutsche Pluralbildung anhand von 15 Regeln beschreibt. Die Nomen, deren Pluralformen sich nicht durch diese Regeln erklären lassen, erfasst er in zahlreichen Listen. Augst (1979) hingegen kommt mit drei Regeln aus, beschränkt sich damit aber auch auf das „zentrale Pluralsystem“, bestehend aus den Pluralmarkierungen -e, -en und -ø. Bei dieser Komplexität der vermeintlichen Regeln und ihrer eingeschränkten Gültigkeit wundert es nicht, dass DaF-Lehrwerksautoren auf die Vermittlung von Regeln verzichten und stattdessen den Tipp geben, die Pluralform am besten mit dem Nomen mitzulernen.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Wegener (1995a) umgeht die langen Listen mit Ausnahmen, indem sie Haupt- und Nebenregeln aufstellt 21, um der Komplexität des deutschen Numerussystems gerecht zu werden. Da Wegener den Anspruch erhebt, eine Beschreibung des Numerussystems aus der Lernerperspektive vorzunehmen, wird ihre Darstellung hier etwas ausführlicher diskutiert. In dieser Analyse werden die Nomen in einem ersten Schritt in markierte und nicht-markierte eingeteilt. Als markiert werden solche Nomen definiert, die nicht „der ‘normalen Struktur deutscher Substantive’ entsprechen“ (Wegener 1995a: 22). Dazu gehören demnach alle Substantive, die auf einen unbetonten Vollvokal auslauten (Auto) sowie die „Fremdsubstantive, solange sie auf ihrer letzten Silbe ‘fremd’ ausgesprochen werden“ (Wegener 1995a: 22) (Balkon) und Substantive, die zum maritimen Fachwortschatz gehören (Wrack) oder als norddeutsche Regionalismen einzustufen sind (Steppke). Darüber hinaus werden auch Substantive, die pragmatische Besonderheiten aufweisen, wie Eigennamen, Substantivierungen und Zitierformen, als markierte Substantive klassifiziert. Mit dieser ersten Unterscheidung von markierten und unmarkierten Nomen werden drei Hauptregeln für die Pluralbildung aufgestellt: Markierte Nomen bilden den Plural mit -s, unmarkierte Feminina bilden den Plural mit -(e)n, unmarkierte Nicht-Feminina bilden den Plural mit -e oder -ø (bei Wegener zusammengefasst als -(e)). In einem zweiten Schritt werden die Nomen innerhalb der als nicht-markiert klassifizierten Gruppe unterteilt in solche, deren Pluralbildung markiert ist und solche, deren Pluralbildung nicht markiert ist. Als im Hinblick auf ihre Pluralbildung markiert werden in Anlehnung an Wurzel (1990) diejenigen Substantive definiert, die den Plural anders bilden als der Großteil der Substantive der entsprechenden Genusklasse. 22 Das Substantiv Hund wäre demnach im ersten Schritt als unmarkiert einzustufen, da es weder phonologisch noch pragmatisch markiert ist. Da Hund den Plural mit -e bildet, wie die meisten Maskulina, ist es auch im zweiten Schritt als unmarkiert einzustufen. Das Substantiv Bär hingegen ist zwar ebenfalls phonologisch und pragmatisch unmarkiert, im Hinblick auf die Pluralbildung durch -en aber markiert, da dies nicht den genusspezifischen Präferenzen entspricht. Für die Nomen, die im Hinblick auf ihre Pluralbildung markiert sind, gelten nicht die Haupt-, sondern die Nebenregeln: Markierte Feminina bilden den Plural mit UL + -e, markierte NichtFeminina bilden den Plural mit -(e)n, UL + -(e) oder (UL +) -er. Dies veranschaulicht Abbildung 1 (entnommen aus Wegener 1995a: 31). 21 Vgl. auch das Konzept der major und minor rules der generativen Morphologie (Booij 1977: 68ff.). 22 Für eine ausführlichere Darstellung dieses Konzepts der Markiertheit vgl. Abschnitt 2.1.3.
Theoretische Grundlagen
Abb. 1: Pluralbildung nach Wegener. Aus Wegener 1995a: 31.
An diesem Ansatz sind zwei Dinge problematisch: Erstens liegt den Markiertheitszuschreibungen kein einheitliches theoretisches Konzept zugrunde. Einerseits werden im Anschluss an Bornschein & Butt (1987) alle Nomen, die nicht „der ‘normalen Struktur deutscher Substantive’ entsprechen“ (Wegener 1995a: 22) als markiert bezeichnet. Andererseits werden in Anlehnung an Wurzel (1990) diejenigen nicht-markierten Substantive als für die Pluralbildung markiert klassifiziert, die den Plural anders bilden als der Großteil der Substantive der entsprechenden Genusklasse. Zweitens bleibt unklar, inwiefern diese Spezifizierung der Substantive als im Hinblick auf ihre Pluralbildung markiert oder unmarkiert gegenüber anderen Lösungsvorschlägen (z.B. den Ausnahmelisten bei Mugdan 1977) aus der Lernerperspektive vorzuziehen ist. Wegener verwirft bspw. eine Spezifizierung der Flexionsklasse, da sie „einem Vermerk des Pluralmarkers im LE [Lexikoneintrag; V.W.]“ gleichkomme. Wenn also bspw. für die Feminina angegeben wird, ob sie stark oder schwach flektieren, so sei damit nicht viel gewonnen, da die Flexionsklasse nur unter Berücksichtigung der Pluralbildung überhaupt ermittelt werden kann. Der Lerner müsse also die Pluralmarkierung schon kennen und könne sie nicht aus der Kenntnis der Flexionsklasse heraus ableiten. Letztlich muss aber auch in Wegeners Ansatz der Pluralmarker bei den Nicht-Feminina, die in Bezug auf die Pluralbildung markiert sind, als Lexikoneintrag gespeichert werden. Anders ist nicht abzuleiten, ob der Plural nun mit -(e)n, UL + -(e) oder (UL +) -er gebildet wird. Fraglich ist außerdem, wie die Kategorie der Markiertheit vom Lerner erschlossen werden kann.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Wichtig ist festzuhalten, dass das Ziel dieser strukturalistischen Beschreibungen zunächst einmal die umfassende Darstellung des Systems auf der Ebene der langue ist. Sie stellen deshalb ohne Frage eine wichtige deskriptive Grundlage dar. Dennoch gibt es einige Kritikpunkte, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Fragwürdig ist z.B. das Konstrukt der Nullmarkierung, das zur Lösung modellinterner Probleme dient, darüber hinaus aber wenig einleuchtend ist. Da sich diese Ansätze grundlegend der Annahme einer Eins-zuEins-Beziehung zwischen Form und Funktion verschreiben, ergeben sich für die Beschreibung flektierender Sprachen wie dem Deutschen komplexe Regelgeflechte mit langen Listen von Ausnahmen. Matthews (1991: 204) bspw. verwirft deshalb solche Beschreibungsmodelle als im Hinblick auf die Analyse flektierender Sprachen schlicht unangemessen: „If we foist them on a flectional system, we are bound to describe it as an agglutinative system that has somehow gone wrong”. Diese Schlussfolgerung ist mit Blick auf die Komplexität der Regularitäten, die aus dieser Perspektive in keinerlei Hinsicht motiviert scheinen, gut nachvollziehbar. Köpcke (1993: 20) hebt hervor, dass durch die rein formale Betrachtung des Systems verschiedene Phänomene, wie eben die große Anzahl an Ausnahmen, lediglich dargestellt, aber nicht erklärt werden können. Bybee (1988: 121-122) kritisiert, dass diese Ansätze keine Möglichkeiten bieten, paradigmatische Relationen darzustellen, die jedoch notwendig sind, um über die Beschreibung des einzelsprachlichen Systems hinausgehend sprachübergreifende Gemeinsamkeiten, Erwerbsprozesse und Sprachwandelphänomene erfassen zu können. Konsequenzen für den Spracherwerb Die letzten beiden Kritikpunkte gehen damit bereits über die reine Darstellung des Systems auf Ebene der langue hinaus, indem nach Erklärungen für die Organisation des Systems und für dynamische Aspekte, wie den Spracherwerb, gefragt wird. Nun ist es, wie bereits festgestellt wurde, erst einmal auch gar nicht der Anspruch der strukturalistischen Darstellungen, Aussagen über die mentale Repräsentation oder den Erwerb des Systems zu treffen. Impliziert wird mit dieser Beschreibung jedoch, dass im Spracherwerb einerseits Regeln zur Kombination von Stamm und Marker erworben werden, andererseits diejenigen Elemente, die diesen Regeln nicht entsprechen, auswendig gelernt werden müssen. Dies entspricht weitestgehend jedermanns Erfahrung beim schulischen Erwerb einer Fremdsprache. Wegener (1995a: 10) formuliert die Lernaufgabe dementsprechend folgendermaßen: Grundsätzlich besteht die Erwerbsaufgabe darin, die zu einer bestimmten Singularform gehörende Pluralform zu erkennen, was entweder heißt, die Pluralformen ganzheitlich zu
Theoretische Grundlagen lernen oder zu speichern, oder aber heißt, die Formen zu segmentieren, die Pluralmarker, darunter das 0-Allomorph, zu identifizieren sowie Regeln für ihre Distribution zu bilden und auf die Singularformen anzuwenden.
Hier wird also von der linguistischen Beschreibung des Systems direkt auf Erwerbsprozesse geschlossen. Wegener (1995a) überprüft die psychische Realität ihrer Haupt- und Nebenregeln anhand eines Kunstwörtertests mit kompetenten Muttersprachlern des Deutschen und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Resultate zu einem großen Teil durch die aufgestellten Haupt- und Nebenregeln erklärt werden können: Die verschiedenen Kunstwörter werden in den meisten Fällen entweder nach der Haupt- oder nach der Nebenregel dekliniert. Diese Regeln müssen also im Spracherwerb aufgebaut werden, wenn sie bei kompetenten Sprechern psychisch real sind. Unklar bleibt in den Ausführungen jedoch, warum ein Teil der Sprecher bei der Deklination der Kunstwörter die Haupt-, ein anderer Teil die Nebenregeln anwendet. Da die Hauptregeln zuvor als „Default“ festgelegt wurden, der automatisch gewählt wird, wenn kein anderer Lexikoneintrag vorliegt, wäre für die Verarbeitung von Kunstwörtern vorherzusagen, dass die Sprecher nur die Hauptregeln und eben nicht die Nebenregeln anwenden. Darüber hinaus kann durch dieses Konzept nicht erklärt werden, warum die Sprecher den Regeln in ganz unterschiedlichem Ausmaß folgen: Während Nicht-Feminina auf -el bspw. zu 50% nach der Hauptregel dekliniert werden, geschieht dies bei Nicht-Feminina auf -er zu 85% und bei Maskulina auf -en zu 91%. In einer Untersuchung zum Zweitspracherwerb, die sich auf Daten einer longitudinalen Studie mit Grundschulkindern mit türkischer, russischer oder polnischer Ausgangssprache bezieht, wird die Ausbildung dieser Regeln im Zweitspracherwerb überprüft (Wegener 1994). Zunächst wird eine Erwerbsreihenfolge für die verschiedenen Pluralmarker aufgestellt (Wegener 1994: 281). Diese beruht auf der zielsprachlichen Verwendung der Marker. Kinder mit türkischer Ausgangssprache erwerben die Marker demnach in der Reihenfolge -ø > -er > -e > -n > -en > -s. Die Erwerbsreihenfolge bei den Kindern mit russischer oder polnischer Ausgangssprache weicht nur unwesentlich davon ab. Die zielsprachengerechte Pluralbildung kann jedoch immer auch darauf zurückgeführt werden, dass die Pluralformen als Chunks gespeichert vorliegen und einfach als Ganze reproduziert werden. In diesem Fall kann also nicht auf eine produktive Verwendung des jeweiligen Markers geschlossen werden. Die Fälle, in denen die Marker nicht zielsprachengerecht verwendet werden, sind deshalb auf-
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
schlussreicher. Die Kinder mit türkischer Ausgangssprache übergeneralisieren 23 die Marker in dieser Reihenfolge mit absteigender Häufigkeit: -(e)n > -s > -e > UL > -er. Auch hier sind die Unterschiede zu den Kindern mit russischer oder polnischer Ausgangssprache marginal. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass die Lerner verschiedene Pluralmarker (am häufigsten -(e)n, -e und -s) übergeneralisieren, also für Nomen verwenden, die eigentlich andere Marker erfordern. Dies wird als Hinweis darauf interpretiert, dass die Lerner eine kognitiv-analytische Strategie bei der Pluralbildung anwenden. D.h., dass sie komplexe Formen analysieren, die Marker segmentieren und Regeln für die Zuweisung der Marker zu den Nomen ausbilden. Die aufgestellten Haupt- und Nebenregeln werden jedoch kaum bestätigt. Vielmehr zeigt sich zum einen, dass die Unterscheidung zwischen markierten und unmarkierten Nomen (im Sinne von phonologischer und pragmatischer Markiertheit) nicht vorgenommen wird. Die Lerner bilden also auch zu unmarkierten Substantiven wie Mädchen den Plural mit -s, und andersherum auch zu markierten Substantiven wie T-Shirt mit -e. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass die Unterscheidung nach Genus von den Lernern kaum als relevantes Kriterium für die Pluralbildung erkannt wird. Die Untersuchung zeigt damit zwar, dass die Lerner die Pluralbildung nicht einfach durch die holistische Speicherung von Pluralformen erwerben, macht aber auch deutlich, dass die aufgestellten Regularitäten im Erwerb nicht ausgebildet werden. Zumindest in frühen Erwerbsphasen werden bei der Pluralbildung also offenbar andere Strategien als die Zuweisung der Pluralmarker nach den aufgestellten Regeln verfolgt. Auch in Mugdans Untersuchung (1977), in der Pluralformen zu Kunstwörtern elizitiert werden, zeigt sich, dass die von ihm aufgestellten Regeln nicht ausreichen, um die Pluralbildungen verschiedener Versuchsgruppen, darunter Lerner mit DaE 24 und DaZ, vollständig zu erklären: „Die Versuchsauswertung läßt nicht den Schluß zu, daß das Verhalten der getesteten Personen bei der Bildung des Plurals unbekannter Substantive in einfacher Weise durch Regeln beschreibbar ist“ (Mugdan 1977: 172; Hervorhebungen im Original). Eine Erklä-
23 Unter dem Begriff Übergeneralisierung wird allgemein verstanden, dass eine gelernte Regel auf Kontexte übertragen wird, in denen sie nicht greift. So ist z.B. zu beobachten, dass Kinder im Spracherwerb das Flexionsmuster der schwachen Verben auf starke Verben übertragen: er gehte. In Bezug auf die Pluralbildung bedeutet es, dass eine Markierung für Nomen/Strukturtypen verwendet wird, bei denen sie normalerweise nicht auftritt, also z.B. Hunden statt Hunde. 24 Deutsch als Erstsprache
Theoretische Grundlagen rung für die Abweichungen, die über die Komplexität der deutschen Pluralbildung hinausgeht, wird jedoch nicht gefunden. Diese Beispiele zeigen, dass von der linguistischen Beschreibung des Systems keine direkten Rückschlüsse auf die mentale Repräsentation und Mechanismen des Erwerbs und der Sprachproduktion gezogen werden können, wie auch Günther (2004: 1768) betont: Die Tatsache, daß die Wortform sagtest im Deutschen analysiert werden kann als bestehend aus dem Stamm sag und dem Affix -test, wobei letzteres die 2. Person Singular des Präteritums bezeichnet, und daß alle regulären deutschen Verben diese Form so bilden, besagt zunächst einmal nichts darüber, ob jemand, der diese Form in einem Satz äußern möchte, in seinem Gedächtnis erst den Stamm sag sucht, dann das Suffix für “2. Person Singular des Präteritums regulärer Verben” rauskramt, beide zusammenleimt und schließlich diese Gebilde produziert.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Analyse der Zuordnung von Pluralmarkierungen zu Nomen im Deutschen und die Formulierung von Präferenzen, wie sie in diesen Ansätzen vollzogen wird, eine wichtige, wenn auch in einigen Punkten diskussionswürdige deskriptive Grundlage darstellt. Die hier exemplarisch diskutierten Studien von Mugdan (1977) und Wegener (1994, 1995a) zeigen aber, dass eine strukturalistische Beschreibung des Systems nicht mit dessen mentaler Repräsentation gleichzusetzen ist und Erwerbsprozesse dadurch nur unzureichend erklärt werden können. Um Erklärungen für die Organisation des Systems zu finden und Aussagen über die mentale Repräsentation und den Erwerb zu treffen, ist es deshalb notwendig, über diese strukturalistischen Analysen hinauszugehen.
.. Das Dual-Mechanism-Model Im Gegensatz zu den strukturalistischen Beschreibungen ist es das erklärte Ziel des Dual-Mechanism-Models (im Folgenden DM-Modell), die mentale Repräsentation des deutschen Numerussystems zu erfassen. Die sprachsystematischen Analysen werden deshalb häufig direkt mit Aussagen über mentale Prozesse verbunden, vgl. Pinker (1998: 222): There is a lexicon of words for common or idiosyncratic entities; the psychological mechanism designed to handle it is simply a kind of memory. And there is a separate system of combinatorial grammatical rules for novel combinations of entities; the psychological mechanism designed to handle it is symbolic computation (Pinker 1998: 222).
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Der reguläre Pluralmarker ist dem DM-Modell zufolge neben den lexikalischen Stämmen im mentalen Lexikon gespeichert (vgl. z.B. Penke 2006). Durch Regeln, die in der Grammatik festgeschrieben sind, werden die Elemente zu morphologisch komplexen Wörtern zusammengesetzt. Dieser reguläre Marker gilt als Default, der automatisch immer dann verwendet wird, wenn kein spezifischer Lexikoneintrag vorliegt, der dies verhindert. Die irregulären Pluralformen sind als unanalysierte Einheiten (also Vollformen) ebenfalls im mentalen Lexikon gespeichert und werden bei Bedarf abgerufen. Dies entspricht den Listen mit Ausnahmen in strukturalistischen Beschreibungen, wie sie z.B. Mugdan (1977) aufgestellt hat. Im Hinblick auf die grundsätzliche Darstellung des Sprachsystems unterscheidet sich dieses Modell damit kaum von den bereits skizzierten strukturalistischen Ansätzen. Vielmehr kann das DM-Modell als psycholinguistische Ausformulierung der strukturalistischen Beschreibungen charakterisiert werden: Was in Bezug auf die mentale Repräsentation in diesen implizit angelegt ist, wird hier explizit modelliert. Das DM-Modell ist ebenso wie der strukturalistische Ansatz im Hinblick auf Sprachen, deren Flexionsmorphologie bis auf wenige Ausnahmen regulären Prinzipien folgt, recht einleuchtend. Die Pluralbildung im Englischen bspw. erfolgt für den überwiegenden Teil der Nomen durch die Suffigierung von -s, dessen Varianten [-s], [-z] oder [-iz] durch phonologische Regularitäten klar vorhersagbar sind. Daneben gibt es wenige Nomen, deren Pluralbildung nicht diesen Prinzipien entspricht, z.B. mouse – mice, child – children etc. Ebenso regulär ist die Pluralbildung im Türkischen, wo der Plural ebenfalls durch ein einziges Suffix, -ler, gekennzeichnet wird, das eine durch Vokalharmonie bedingte Variante aufweist, -lar. Im Deutschen hingegen hat die Beschreibung des Pluralsystems im vorigen Abschnitt gezeigt, dass es nicht einen einzigen Pluralmarker gibt, aus dem sich die existierenden Varianten durch phonologische Regularitäten ableiten lassen. 25 Vielmehr liegen im Deutschen mehrere Marker vor, deren Distribution über die Nomen durch ein komplexes Geflecht aus jeweils nur tendenziell gültigen Präferenzen beschrieben werden kann. In Bezug auf das deutsche Pluralsystem stellt sich im Rahmen des DM-Modells deshalb die Frage, welcher der Pluralmarker der reguläre, also in diesem Sinne der Default ist und ob alle anderen Pluralbildungsmöglichkeiten als irregulär einzustufen sind. Von Vertretern des DM-Modells (Clahsen 1999a, 2006, Clahsen u. a. 1992, Pinker 1998, 1999, Marcus 2001, Marcus u. a. 1992, SonnenstuhlHenning 2003) wird angenommen, dass im Deutschen trotz seiner sehr niedri 25 Aus diesem Grund ist auch der Begriff der Plural-Allomorphe so problematisch und wird in dieser Untersuchung nicht verwendet.
Theoretische Grundlagen gen Type- und Tokenfrequenz der Pluralmarker -s der regelmäßige Defaultmarker ist. Begründet wird dies u.a. damit, dass -s – an Nomen aller drei Genera herantreten kann (F: Bars, M: Parks, N: Autos) – für ein- und mehrsilbige Stämme verwendet wird (Bars, Autos) – an Wortstämme mit Endung auf Konsonant und Vokal herantreten kann (Parks, Kinos) – für nominalisierte Konjunktionen, Eponyme, Eigen- und Produktnamen und nominalisierte Verbalphrasen verwendet wird (die Meiers, die Wenns und Abers) Für den -s-Plural gebe es demzufolge die wenigsten Beschränkungen, während alle anderen Pluralbildungsmöglichkeiten auf bestimmte morphophonologische Kontexte beschränkt und deshalb als irregulär zu qualifizieren seien (Clahsen 1999a: 995). Auf theoretischer (linguistischer) Ebene besteht der Unterschied zwischen den im vorigen Abschnitt skizzierten strukturalistischen Ansätzen und dem DMModell vor allem in der Definition dessen, was als regulär zu bezeichnen ist: Während im DM-Modell nur -s als reguläre (Default-)Markierung angenommen wird, werden in anderen Ansätzen komplexere Regelgeflechte beschrieben. Im Hinblick auf die linguistische Angemessenheit der Darstellung des Numerussystems gewinnt dieses Modell gegenüber den strukturalistischen Ansätzen nichts hinzu, im Gegenteil. Die Kritik lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens ist die Definition vom Pluralmarker -s als der einzigen regulären Form linguistisch unangemessen. Anders als von Vertretern des DM-Modells behauptet, unterliegt die Verwendung des -s-Plurals nämlich durchaus spezifischen Restriktionen: Der Marker wird vorwiegend für (unassimilierte) Fremdwörter, Kurzwörter, Eigennamen, Onomatopoetika etc. genutzt oder für Nomen mit ganz bestimmten phonologischen Eigenschaften (Endung auf einen unbetonten Vollvokal). Der -s-Plural wird damit also, genau wie die anderen Pluralmarker, in spezifischen Kontexten verwendet. Der Pluralmarker -s ist deshalb nicht als der einzige reguläre Marker, sondern eher als eine Art Notplural zu verstehen (vgl. Gaeata 2008, Laaha u.a. 2006: 278, Stemberger 1999, Wegener 1995a, 1999). Ein weiterer Kritikpunkt an diesem Modell ist, dass die Unterteilung in einen regulären und einen irregulären Bereich den Gegebenheiten des deutschen Pluralsystems nicht gerecht wird (vgl. z.B. Gaeta 2008, Dressler 1999). Vielmehr sind innerhalb der als irregulär definierten Klasse diverse Subklassen auszumachen, für deren Pluralbildung klare Präferenzen bestehen. Feminina bspw. bilden den Plural präferiert mit -(e)n, Nicht-Feminina mit -e (vgl. Abschnitt 2.1.1). Diese Präferenzen zu übergehen und alle diese Pluralbildungen
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
als irregulär zu klassifizieren, stellt, mit Gaeta (2008: 83) gesprochen, eine „grobe Vereinfachung“ dar. Sonnenstuhl-Henning (2003) schlägt als Ergebnis einer Reihe psycholinguistischer Experimente eine Erweiterung des DM-Modells vor, die genau diesem Kritikpunkt entspricht: „Im erweiterten Dualen Modell wird angenommen, daß das menschliche Sprachsystem nicht nur in der Lage ist, zwischen Defaultformen und irregulären Formen zu unterscheiden, sondern auch strengen klassenspezifischen Regularitäten Rechnung zu tragen“ (Sonnenstuhl-Henning 2003: 153). Für Feminina, die im Singular auf Schwa enden und den Plural ausnahmslos mit -n bilden, ist „eine lexikalische Vollformspeicherung ihrer Pluralform […] völlig redundant, da sie aufgrund der lexikalischen Eigenschaften des Stamms sicher vorhersagbar ist“ (SonnenstuhlHenning 2003: 153). Somit wird innerhalb der Klasse der non-Default-Formen (d.h. alle Pluralformen außer -s) die Unterscheidung zwischen subregulären (d.h. Feminina auf Schwa, die den Plural mit -n bilden) und irregulären Formen eingeführt. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Default- und nonDefault-Formen wird jedoch auch im erweiterten DM-Modell aufrecht erhalten. Der dritte Kritikpunkt ist, dass dieses Modell bei der Beschreibung anderer Sprachen als dem Englischen und dem Deutschen mindestens vor großen Herausforderungen steht (vgl. Behrens & Tomasello 1999). Kapatsinski (2006) zeigt am Beispiel der verbalen Derivation russischer Substantive, dass zwei produktive Muster existieren, die gleichermaßen kontextsensitiv sind. Es gibt also nicht ein alleiniges Defaultmuster. Keuleers (2008) zeigt, dass das DM-Modell auch den Gegebenheiten des niederländischen Numerussystems nicht gerecht werden kann. Clahsen (1999b: 1047) entgegnet den kritischen Kommentaren, dass andere linguistische Beschreibungsmodelle zwar auf einer theoretischen Ebene angemessener sein mögen, aber Ergebnissen empirischer Untersuchungen zum Spracherwerb und zur mentalen Repräsentation von Flexionsmorphologie häufig nicht standhalten können: „But the descriptively more highly valued analysis may be empirically incorrect“. Auch wenn die Annahme des Pluralmarkers -s als Default also theoretisch wenig einleuchtend ist, soll dies der psychischen Realität entsprechen und demnach durch psycholinguistische Untersuchungen und Spracherwerbsdaten zu belegen sein. Dieser Anspruch wird im folgenden Abschnitt überprüft. Konsequenzen für den Spracherwerb Ebenso wie die linguistischen Grundlagen dieses Modells sind auch die Annahmen zum Spracherwerb im nativistischen Paradigma verortet. Eisenbeiß (2009) bezeichnet es als die grundlegende gemeinsame Annahme aller nativisti-
Theoretische Grundlagen schen Spracherwerbsmodelle, dass ein Kind eine voll ausgeprägte Sprachfähigkeit nicht allein durch den sprachlichen Input, den es aus seiner Umgebung erhält, erwerben kann, da dieser oft nur fehler- und bruchstückhaft ist. So können Sprecher bspw. Äußerungen produzieren, die sie zuvor nie gehört haben und wissen, dass gewisse Strukturen ungrammatisch sind, obwohl sie es nie explizit gelernt haben. Diese Überlegung wird als das logische Problem des Spracherwerbs oder als poverty of stimulus-Argument bezeichnet. Aus dem logischen Problem des Spracherwerbs, der Unterdeterminiertheit des sprachlichen Inputs, wurde innerhalb der Generativen Linguistik die Annahme abgeleitet, dass ein Teil der Kenntnis von Sprache im (Erst-)Spracherwerb nicht erlernt werden muss, sondern in Form der Universalgrammatik (UG) angeboren ist. Eisenbeiß (2009: 274) führt die damit einhergehende Ablehnung des Konzeptes des Lernens von Sprache auf die Anfänge der Generativen Linguistik zurück, die sich von dem damals vorherrschenden behavioristischen Lernkonzept, wie es in den 1950er Jahren von Skinner auf Sprache angewandt wurde, distanzierte. Aussagen über mentale Prozesse wurden im behavioristischen Ansatz als unwissenschaftlich und spekulativ abgelehnt. Nur direkt beobachtbare Aktionen und Reaktionen waren Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung. Lernen (von Sprache) wurde deshalb als Stimulus (sprachlicher Input) und Reaktion auf den Stimulus (Response) modelliert, das durch positive oder negative Verstärkung aus der Umwelt beeinflusst werden kann. Die sprachlichen Verarbeitungsprozesse im Kopf der Sprecher wurden als black box dargestellt und waren nicht Gegenstand der Untersuchungen. Chomsky dagegen nahm die Position ein, dass die vom Behaviorismus ausgeblendeten mentalen Prozesse wesentlich zur Erklärung der menschlichen Sprachfähigkeit seien. Clahsen (1999a) argumentiert im Rahmen dieser nativistischen Position, wenn er sagt, die im DM-Modell postulierte duale Struktur des Sprachsystems müsse nicht erworben werden, sondern sei a priori gegeben. „[T]he driving force in children’s grammatical development is their gradual acquisition of new lexical and morphological items; the architecture, however, including its dual structure seems to be intrinsic to children’s as well as adults’ language faculty” (Clahsen 1999a: 1009). Erwerbstheoretisch wird, wie sich konsequenterweise aus der dualen Sprachstruktur ergibt, angenommen, dass der Erwerb von Flexionsmorphologie zwei verschiedenen kognitiven Prozessen unterliegt: Einerseits werden Regeln zur Prozessierung des Wortstamms erworben. Die unregelmäßigen Formen werden andererseits als Ganze gespeichert. Penke (2006) beschreibt dabei die folgenden Schritte: Zu Beginn des Spracherwerbs werden komplexe Formen als Vollformen in assoziativen Netzwerken gespeichert, wobei sich Flexionssche-
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mata herausbilden. Dieser Erwerbsschritt vollzieht sich für reguläre und irreguläre Elemente gleichermaßen. Für die regulären Elemente wird jedoch ein weiterer Abstraktionsschritt angenommen: „In diesem werden auf der Basis der Flexionsschemata eigenständige lexikalische Repräsentationen für Affixe entwickelt“ (Penke 2006: 215). Während irreguläre Elemente des morphologischen Systems also in assoziativen Netzwerken gespeichert werden und sich Flexionsschemata, die jedoch immer an das lexikalische Element gebunden bleiben, ausbilden, wird für die regulären Elemente eine eigene Repräsentation für das jeweilige Affix entwickelt, die lexemunabhängig ist. Im Hinblick auf das englische Pluralsystem würde das bedeuten, dass die Kinder die Suffigierung des Morphems {-s} mit seinen phonologisch bedingten Allomorphen {-iz} und {-z} als die regelmäßige Form der Pluralbildung erlernen, also cat – cats, dog – dogs etc. Dabei wird {-s} nach einer gewissen Erwerbsdauer bzw. ab einem bestimmten Input-Level als selbstständiges Affix zur Pluralkennzeichnung gespeichert und mit den ebenfalls gespeicherten Lexemen zur Produktion einer Pluralform kombiniert. Die wenigen Ausnahmen wie z.B. mice oder children werden holistisch gespeichert. Kinder wenden im Spracherwerb die Regel, durch die die regelmäßigen Nomen den Plural bilden, auch auf unregelmäßige Nomen an und bilden Formen wie *mouses statt mice. Diese Übergeneralisierungsfehler können diesem Modell zufolge nur an den unregelmäßigen Pluralformen auftreten, wenn diese noch nicht holistisch gespeichert wurden und die Defaultpluralbildung dadurch blockieren. Die regelmäßigen Formen dagegen werden in den meisten Fällen korrekt gebildet. So interpretieren Marcus u. a. (1992: vi) die Ergebnisse ihrer Studie zum Erwerb der irregulären englischen past-tense Formen folgendermaßen: Children, like adults, mark tense using memory (for irregulars) and an affixation rule that can generate a regular past tense form for any verb. Retrieval of an irregular blocks the rule, but children’s memory traces are not strong enough to guarantee perfect retrieval. When retrieval fails, the rule is applied, and overregularization results.
Dabei bleibt jedoch theoretisch unklar, wie Lerner herausfinden können, welche der Formen in ihrem Input regulär sind und welche irregulär. Dieses Problem stellt sich umso deutlicher, wenn die als regulär definierte Form eine niedrigfrequente ist, wie der -s-Plural im Deutschen (vgl. auch Bybee 1999). Evidenzen für das DM-Modell als adäquates Erwerbsmodell stammen von Clahsen u.a. (1992), Clahsen u.a. (1996) sowie Bartke u.a. (1996). In ihrer Untersuchung zum monolingualen Erwerb der deutschen Pluralbildung stellen Clahsen u. a. (1992) fest, dass -s am häufigsten übergeneralisiert wird, alle anderen Suffixe ersetzen kann und für die Pluralbildung bei Kunstwörtern verwendet
Theoretische Grundlagen wird (vgl. Clahsen u.a. 1992: 238). Diese Ergebnisse werden dahingehend interpretiert, dass die Kinder -s als regulären Defaultplural erkennen und anwenden: „[T]he results we have on the acquisition of noun plurals show that even in German, children develop a regular (default)affix” (Clahsen u.a. 1992: 226). Die Ergebnisse der Untersuchungen mit Lernern von Clahsen u.a. (1996) und Bartke u.a. (1996) werden in Clahsen (1999a: 1008) resümiert: „In sum, our results on participle and noun plural formation indicate that regular and irregular inflectional processes are dissociated in child language. The -t participle and the -s plural affixes are supplied under default circumstances”. Diesen Studien steht inzwischen jedoch eine beachtliche Zahl an Studien zum Erst- und Zweitspracherwerb gegenüber, in denen festgestellt wird, dass es keine Evidenzen für die Ausbildung von -s als regulärem Plural gibt. Vielmehr werde auch der -s-Plural bei klar definierbaren Strukturtypen verwendet, nicht als Default. Zudem werden neben -s auch die Markierungen -(e)n und -e früh verwendet und übergeneralisiert. Dies ist im Rahmen des DM-Modells nicht erklärbar (vgl. Behrens 2002, Bittner & Köpcke 2001, Gawlitzek-Maiwaldt 1994, Köpcke 1998, Korecky-Kröll & Dressler 2009, Szagun 2001, Wegener 2008a). Ein Sonderstatus von -s im Erwerb des deutschen Numerussystems ist deshalb nicht auszumachen. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sich das DM-Modell in seinen linguistischen Grundzügen kaum von strukturalistischen Ansätzen unterscheidet: Hier wie dort wird angenommen, dass Pluralformen durch die Anwendung bestimmter Regeln aus Singularformen abgeleitet werden, Ausnahmen werden in Listen geführt. Die Reduktion der komplexen Regelgeflechte auf die Unterscheidung von einem regulären Marker -s und den restlichen irregulären Markern ist aus linguistischer Perspektive schwer nachvollziehbar. Obwohl der Anspruch des Modells darin liegt, die mentale Repräsentation des Numerussystems zu erfassen, wird die kognitive Ausstattung des Sprechers nicht berücksichtigt: Die Analyse erfolgt auch hier ausschließlich auf Ebene der langue. Zahlreiche Spracherwerbsstudien, die Evidenzen gegen die behauptete Sonderstellung des -s-Plurals bringen, legen nahe, dass das Modell für die Erklärung des Erwerbs des deutschen Pluralsystems wenig geeignet ist.
.. Natürlichkeitstheorie Vertreter der Natürlichkeitstheorie (Dressler u.a. 1987, Mayerthaler 1981, Wurzel 1984) gehen über die bloße Feststellung grammatischer Regularitäten und Strukturen, wie sie in strukturalistischen und generativen Ansätzen im Fokus stehen, hinaus. Es geht in diesem Modell vielmehr darum, zu analysieren, wa-
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
rum bestimmte grammatische Strukturen präferiert und andere dispräferiert werden. Der Sprecher wird damit als Faktor, der den Aufbau und die Entwicklung des sprachlichen Systems entscheidend beeinflusst, einbezogen. Ein zentraler Begriff in diesem Ansatz ist der der Markiertheit. Wie Wurzel (1994: 26-28) darlegt, geht der Begriff der Markiertheit auf das Konzept der Merkmalhaftigkeit zurück, das in der Prager Schule (Trubetzkoy 1931) begründet und von Chomsky & Halle (1968) weiterentwickelt wurde, die zwischen der Merkmalhaftigkeit und der Markiertheit unterscheiden: Während sich die Merkmalhaftigkeit auf das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Merkmalen bezieht, bezeichnet die Markiertheit die Komplexität der Merkmale. Mayerthaler (1982: 261) definiert markiert als „relativ komplexer für das menschliche Gehirn“, womit deutlich wird, dass dieser Ansatz versucht, grammatische Strukturen vor dem Hintergrund der kognitiven Ausstattung der Sprecher zu evaluieren. Dies hebt auch Wurzel (1984: 21) hervor: Wichtig ist dabei, daß […] die Ebene der Markiertheitswerte nicht als innergrammatische Ebene interpretiert wird. Die Markiertheitswerte sind vielmehr Bewertungsprädikate, denen auf der Objektebene bestimmte unbewußte Bewertungsprozeduren der Sprecher entsprechen, die nicht Teil des Sprachsystems selbst sind.
Als sprachübergreifend wirksame Markiertheitsprinzipien definiert Mayerthaler (1981) den konstruktionellen Ikonismus, Uniformität und Transparenz. Der konstruktionelle Ikonismus besagt, dass einem Mehr an Semantik auch ein Mehr an Form entsprechen sollte: Eine Pluralform sollte also mehr phonetische Substanz aufweisen als die entsprechende Singularform. Eine Pluralform wie die Wagen, die sich nicht von der Singularform unterscheidet, ist demnach markierter als eine Form, die ein zusätzliches Suffix aufweist, wie bspw. die Hunde. Mit dem Prinzip der Uniformität wird ausgesagt, dass ein Paradigma nach dem Prinzip one form - one function organisiert sein sollte (Mayerthaler 1981: 34), wie es typischerweise in agglutinierenden Sprachen der Fall ist. Das Flexionsparadigma von ital. amico bspw. ist nicht uniform, da der Stamm im Singular /amik/ lautet, im Plural aber /amič/. Hier liegen also zwei Formen für den Wortstamm vor. Auch das deutsche Numerussystem ist nicht uniform, da es mehrere Formen gibt, die die Funktion Plural ausdrücken. Das Kriterium der Transparenz schließlich ist erfüllt, wenn ein Paradigma „sich durch monofunktionale Operationen konstituiert bzw. nur monofunktionale Flexive/Derivative aufweist“ (Mayerthaler 1981: 35). Das nominale Paradigma im Deutschen ist bspw. nicht transparent, da eine Form für mehrere Funktionen steht (z.B. -s für Genitiv Singular und Nominativ Plural). Die Symbolisierung einer grammati-
Theoretische Grundlagen schen Funktion ist also dann unmarkiert, d.h. maximal natürlich, „wenn sie konstruktionell ikonisch, uniform und transparent ist“ (Wurzel 1984: 22). Wurzel (1984) ergänzt diese sprachübergreifenden Markiertheitsprinzipien um einzelsprachliche, „systembezogene“ Markiertheitsprinzipien und begegnet damit der Tatsache, dass sich die Einzelsprachen im Hinblick auf die universellen Markiertheitsprinzipien sehr unterschiedlich verhalten und nicht in allen Sprachen Entwicklungen festzustellen sind, die zu einem Abbau von sprachübergreifender Markiertheit führen. 26 Als das wichtigste Prinzip der systembezogenen Natürlichkeit wird das Prinzip der Systemangemessenheit eingeführt. Dieses Prinzip trägt der Tatsache Rechnung, dass „[d]as Flexionssystem einer Wortart in einer gegebenen Sprache […] immer durch bestimmte übergeordnete Struktureigenschaften […] charakterisiert [ist]“ (Wurzel 1994: 38). Die wichtigsten systemdefinierenden Struktureigenschaften sind das „Inventar von Kategoriengefügen“, das „Auftreten von Grundformflexion versus Stammflexion“, das „Auftreten von separater versus kombinierter Symbolisierung der Kategorien“, „die auftretenden Markertypen“ und „das Vorhandensein versus Nichtvorhandensein von Flexionsklassen“ (Wurzel 1994: 38). Wenn es in Sprachen zu konkurrierenden Struktureigenschaften kommt, was fast immer der Fall ist, gibt es immer eine Struktureigenschaft, die quantitativ überwiegt und somit das System dominiert. In Bezug auf die deutsche Pluralbildung bedeutet dies z.B., dass der Plural überwiegend durch Grundformflexion gebildet wird (Hund – Hunde, Tür – Türen). Pluralbildung durch Stammflexion tritt ebenfalls auf, ist aber sehr viel seltener (Villa – Villen) und damit als markiert einzustufen (für eine Gegenposition vgl. aber Harnisch 2001). Es wird vorhergesagt, dass Sprachen sich dahingehend entwickeln, dass Strukturen, die nicht in diesem Sinne systemangemessen sind, abgebaut werden zu Gunsten von systemangemessenen Strukturen, auch wenn dies zu einem Markiertheitsaufbau in Bezug auf einzelsprachenunabhängige Markiertheitsprinzipien führt: „Das Prinzip der Systemangemessenheit favorisiert grammatisch-typologisch einheitlich aufgebaute Flexionssysteme und bewirkt den Abbau nicht-systemangemessener morphologischer Erscheinungen durch Sprachwandel“ (Wurzel 1994: 41). Auf die deutsche Pluralbildung bezogen würde das also bedeuten, dass Pluralbildungen durch Stammflexion abgebaut werden zugunsten von Pluralbildungen durch Grundformflexion. Wurzel (1994: 41) nennt einige Beispiele, bei denen dieser Wandel 26 Dabei wird den Prinzipien der systembezogenen Natürlichkeit ebenfalls universelle Gültigkeit zugesprochen. Die Ausprägungen sind jedoch einzelsprachspezifisch (vgl. auch das Konzept der universell gültigen Prinzipien und der einzelsprachlichen Ausprägung der Parameter in der Generativen Linguistik (Chomsky 1981)).
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
bereits eingetreten ist: Globus – Globen > Globusse, Atlas – Atlanten > Atlasse. Dieser Analyse stehen aber andere Studien zur Entwicklung der Pluralbildung bei Lehnwörtern gegenüber (z.B. Bittner & Köpcke 2012, Wegener 2003), in denen gezeigt wird, dass auch der gegensätzliche Weg eingeschlagen wird: Bei einigen Entlehnungen wird die anfängliche Grundformflexion durch Stammflexion ersetzt (z.B. Pizza – Pizzas > Pizzen, Datscha – Datschas > Datschen). Das zweite wichtige Prinzip dieser systembezogenen Natürlichkeit ist das der „präferenten Flexionsklassenzugehörigkeit“ (Wurzel 1994: 43). Wie Wurzel (1994: 43) darlegt, ergibt sich die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer bestimmten Flexionsklasse in einigen Fällen eindeutig aus dessen außermorphologischen Eigenschaften, das bedeutet aus phonologischen, syntaktischen oder semantischen Eigenschaften. Im Deutschen werden bspw. alle Feminina, die auf Schwa enden, schwach dekliniert, bilden also den Plural mit -(e)n. Häufig kann jedoch aus den außermorphologischen Eigenschaften eines Wortes nicht eindeutig auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Flexionsklasse geschlossen werden. Es gibt vielmehr mehrere Klassen, die in Frage kommen. Dies liegt im Deutschen z.B. bei den monosyllabischen Maskulina vor. Diese können den Plural mit -e, UL + -e, (UL +) -er, -(e)n oder -s bilden. In solchen Fällen sei jedoch zu beobachten, daß die Zugehörigkeit eines Wortes zu den unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Flexionsklassen für die Sprecher ganz offensichtlich nicht ‚gleichgut‘ ist. Die Sprecher präferieren vielmehr jeweils eine dieser Klassen, was sich in der Sprachveränderung, der Behandlung von Neuwörtern, im Spracherwerb usw. zeigt (Wurzel 1994: 43).
Als entscheidendes Kriterium für diese Präferenz oder Dispräferenz einer Klasse werden die quantitativen Verhältnisse (Wurzel 1994: 44) genannt: Diejenige Klasse, die die meisten Wörter enthält, wird gegenüber den anderen Klassen präferiert. Auf dieser Grundlage werden „stabile und instabile Flexionsklassen“ definiert. Stabile Flexionsklassen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Großteil der Wörter enthalten. Wörter aus instabilen Flexionsklassen treten in stabile Flexionsklassen über, instabile Flexionsklassen nehmen hingegen keine neuen Wörter auf. „Die Zugehörigkeit eines Wortes zur entsprechenden stabilen Flexionsklasse ist unmarkiert, seine Zugehörigkeit zur instabilen Klasse/einer der instabilen Klassen ist markiert“ (Wurzel 1994: 45). Für die Feminina bedeutet das bspw., dass die Pluralbildung durch -(e)n die präferierte und unmarkierte ist, da diese Flexionsklasse die meisten Feminina umfasst. 27 Dies bedeutet, dass 27 Vgl. die Haupt- und Nebenregeln von Wegener (1995a), die auf dieser Basis aufgestellt wurden (Abschnitt 2.1.1).
Theoretische Grundlagen Abweichungen im Spracherwerb der Art sein müssten, dass für Feminina, die den Plural markiert bilden (also bspw. mit UL + -e), statt des zielsprachlichen markierten Plurals der nicht zielsprachliche unmarkierte Plural auf -en gebildet wird. Statt Hände könnten Lerner also die Form Handen bilden. Der umgekehrte Fall sollte hingegen nicht auftreten: Für Feminina, die im Hinblick auf die Pluralbildung unmarkiert sind (z.B. Frauen), sollten keine Abweichungen produziert werden, indem eine markierte Form gebildet wird. Anders als Wurzel vertreten Dressler (2003), Dressler & Laaha (2012), Laaha u.a. (2006) und Korecky-Kröll u.a. (2012) die These, dass nicht die quantitativen Verhältnisse entscheidend sind für die Präferenz/Dispräferenz von Flexionsklassen, sondern vielmehr deren Produktivität. In diesem Modell werden zwei Stufen von Produktivität unterschieden: Flexionsklassen (oder auch morphologische Regeln oder Muster) sind dann produktiv, wenn sie Lehnwörter aufnehmen, auf Abkürzungen angewendet werden und wenn Wörter aus anderen Flexionsklassen in diese übertreten. Dies entspricht dem in der Linguistik gängigen Verständnis von Produktivität. So kann also die schwache Deklination für Feminina als produktiv bestimmt werden, da neue Wörter in diese Flexionsklasse aufgenommen werden (vgl. die Pizza – die Pizzen) und Wörter aus der konkurrierenden, nicht produktiven starken Flexionsklasse in sie übertreten (vgl. die Schlucht – die Schlüchte > die Schluchten). Im zweiten Schritt werden die produktiven Flexionsklassen unterschieden in voll produktive, produktive und schwach produktive. Diese Abstufung fügt dem traditionellen Konzept von Produktivität eine weitere Dimension hinzu. Eine produktive Flexionsklasse, die keine konkurrierenden produktiven Flexionsklassen aufweist, gilt als voll produktiv. Ein Beispiel hierfür ist die schwache Deklination bei Feminina, die auf -e enden. Die einzig mögliche Pluralbildung ist die mit -(e)n. Diese Pluralbildung ist für Feminina auf Schwa-Auslaut also voll produktiv. Konkurrieren nun zwei produktive Flexionsklassen oder -muster im gleichen strukturellen Kontext, so sind beide als produktiv, aber nicht mehr als voll produktiv einzustufen. Ein Beispiel dafür sind Feminina, die auf einen Konsonanten auslauten. Die Pluralbildung erfolgt in diesen Fällen entweder durch -(e)n oder durch -s, wobei beide Bildungen produktiv sind. 28 Als Konsequenz gelten die Pluralbildungen mit -(e)n und -s also für Feminina mit Endung auf einen Konsonanten als produktiv. An dieser Stelle wird der Unterschied zu dem quantitativen Kriterium von Wurzel deutlich: Obwohl die Pluralbildung mit -s bei Feminina deutlich seltener ist als die mit -(e)n, gelten beide als gleichermaßen produktiv. Die quantitativen 28 Da der Pluralmarker UL + -e für Feminina nicht produktiv ist, wird er nicht als Konkurrenzmuster berücksichtigt.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Verhältnisse haben also keine Auswirkungen auf den Grad der Produktivität. Konkurrieren mehr als zwei Flexionsmuster im gleichen strukturellen Kontext, gelten diese als nur schwach produktiv. Ein Beispiel dafür ist die Pluralbildung bei Maskulina und Neutra, die auf einen Konsonanten auslauten. In diesem Fall sind die Pluralbildungen mit -e, UL + -e und -s produktiv. Diese Flexionsmuster werden aufgrund der untereinander herrschenden Konkurrenz als lediglich schwach produktiv eingestuft. Abbildung 2 veranschaulicht diese Produktivitätsgrade exemplarisch für die Pluralbildung durch -(e)n:
-(e)nPlural
Pluralform 1. Produktivitätsstufe
nicht produktiv
2. Produktivitätsstufe struktureller Kontext
Konkurrenzformen
M/N auf Konsonant
produktiv voll produktiv
produktiv
schwach produktiv
M/F auf Schwa
F auf Konsonant
M/N auf -el
-s
-s, -ø
Abb. 2: Produktivitätsgrade für den -(e)n-Plural nach Laaha u.a. (2006).
Aus linguistischer Perspektive kann zunächst einmal festgehalten werden, dass die Ansätze im Rahmen der Natürlichkeitstheorie einerseits grundlegend den strukturalistischen Beschreibungsprinzipien verpflichtet sind: Pluralformen werden modelliert als durch Regeln aus zugrundeliegenden Singularformen abgeleitete Produkte. Es werden also auch in diesem Ansatz source-basierte Regeln angenommen, die auf der Basis von Genus und Auslaut des Singulars operieren. Dabei werden jedoch mehr Klassen unterschieden als in traditionellen Ansätzen. Während bei Mugdan (1977) und Augst (1975, 1979) bspw. für alle Feminina angenommen wird, dass der reguläre Pluralmarker -(e)n sei, wird in der Natürlichkeitstheorie unterschieden zwischen Feminina, die auf Schwa
Theoretische Grundlagen auslauten und Feminina, die auf einen Konsonanten auslauten. Während für erstere die Pluralbildung mit -(e)n vollproduktiv ist, ist sie für letztere nur produktiv. Der graduelle Charakter der Produktivität und auch der Markiertheit ist ein weiterer Unterschied zum dichotomischen Gegensatz von Regel und Ausnahme. Vertreter der Natürlichkeitstheorie gehen andererseits über die Aussagen der strukturellen und generativen Ansätze hinaus, indem ein an der kognitiven Ausstattung des Sprechers ausgerichtetes Bewertungsinstrumentarium von Formen etabliert wird. Dadurch soll die Organisation des Systems eben nicht nur strukturell beschrieben, sondern auch erklärt werden, warum das System so ist, wie es ist, wie es sich verändern wird und wie es erworben wird. Ebenso wie beim DM-Modell wird also auch hier der Anspruch erhoben, die mentale Repräsentation des Systems zu erfassen. Konsequenzen für den Spracherwerb Wie bereits angeklungen ist, wird für den Spracherwerb die These aufgestellt, dass Kinder unmarkierte Strukturen vor markierten Strukturen erwerben und unmarkierte Strukturen präferieren (Mayerthaler 1981: 4). Empirisch überprüft wurden hauptsächlich die Faktoren Ikonizität und Produktivität. 29 Seifert (1988) zeigt in ihrer Untersuchung mit Kindern zwischen sechs und elf Jahren, die monolingual deutschsprachig oder bilingual deutsch-türkischsprachig sind, dass die Probanden ikonischere Pluralformen gegenüber weniger ikonischen Formen bevorzugen. Diese Tendenz ist bei den bilingualen deutschtürkischsprachigen Probanden besonders ausgeprägt, was auf den Einfluss des Türkischen zurückgeführt wird, wo die Ikonizität eine größere Rolle spielt als im Deutschen. Harnisch (2005) zeigt an exemplarischen Analysen kindersprachlicher Daten, dass Kinder im Spracherwerbsverlauf dazu neigen, einem Wort phonologische Substanz hinzuzufügen, wenn eine semantische Kategorie nicht markiert wird (z.B. Vermeidung des Nullplurals durch das Anfügen eines Suffixes) und umgekehrt phonologischer Substanz eine Bedeutung zuzusprechen, wenn diese nicht vorhanden ist. Beide Strategien zeigen, dass Kinder versuchen, nichtikonische Einheiten in ikonische, und damit unmarkierte, umzuwandeln (Harnisch 2005: 129). 29 Die im Abschnitt 2.1.1 besprochene Arbeit von Wegener (1995a) operiert zwar ebenfalls mit dem Begriff der Markiertheit nach Wurzel (1984), dient aber nicht dem Nachweis der Angemessenheit dieses Konzepts. Vielmehr geht es um die Beschreibung des Numerussystems als Regelgeflecht und um den Erwerb dieser Regeln. Aus diesem Grund wurde dieser Ansatz dem Abschnitt 2.1.1 zugeordnet.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Laaha u.a. (2006) überprüfen den Faktor der Produktivität anhand von Spracherwerbsdaten zum Pluralerwerb von monolingual deutschsprachigen Kindern. Die Ausgangsthese dieser Untersuchung ist, dass die Produktivitätsskala der Pluralbildungsregeln oder -muster Spracherwerbsverläufe erklären kann. Das bedeutet, dass nicht zielsprachengerechte Pluralbildungen vor allem dadurch zustande kommen, dass weniger produktive Pluralbildungen durch produktivere ersetzt werden. Voll produktive Pluralbildungen sollten am häufigsten zielsprachengerecht realisiert werden. In der Untersuchung wurden Pluralformen zu 42 deutschen Wörtern elizitiert. Probanden dieser Studie waren 84 Kinder zwischen 2;6 und 6 Jahren. Im Ergebnis stellen die Autoren fest, dass die unterschiedlichen Produktivitätsgrade der Pluralbildungsmuster einen Einfluss auf den Anteil der zielsprachlichen Pluralbildungen der Probanden haben: The most important finding of our study was the relevance of degrees of morphological productivity for children’s scores of correct responses: in accordance with our initial hypothesis, fully productive and productive plural patterns showed higher scores than weakly productive and non-productive ones (Laaha u.a. 2006: 296).
Auch die fehlerhaften Bildungen der Probanden können, wie angenommen, durch die Ersetzung von weniger produktiven Mustern durch produktivere Muster erklärt werden: „[T]he majority of all overtly marked overgeneralizations (78%, N=703 out of 898) resulted either from shifts from less productive plural patterns towards more productive ones or from competition between plural patterns of the same degree of productivity” (Laaha u.a. 2006: 294). Diese Studie belegt also, dass die unterschiedlichen Produktivitätsgrade, d.h. letztlich die Anzahl der konkurrierenden Flexionsmuster, die für ein Nomen in Frage kommen, einen Einfluss auf die Produktion von Pluralformen im Spracherwerb nehmen. Wenn 78% der Übergeneralisierungen auf einen Wechsel zu einer produktiveren oder gleichermaßen produktiven Pluralbildung zurückgeführt werden können, bleiben aber die restlichen 22% der Übergeneralisierungen unerklärt. Auch auf die Frage, welcher Faktor für die Wahl einer Pluralform ausschlaggebend ist, wenn beide denselben Produktivitätsgrad aufweisen, wird nicht weiter eingegangen. Korecky-Kröll u.a. (2012) untersuchen die Rolle der Produktivität anhand eines online-Akzeptabilitätstests, in dem Pluralformen von den Probanden (114 Kinder zwischen sechs und zehn Jahren und 40 Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren) bewertet wurden. Es wurden 58 Pluralformen getestet, die zu fünf Pluralklassen gehören: -e, UL + -e bei femininen Nomen, UL + -e bei maskulinen Nomen, -ø und UL + -ø. Für jedes Wort wurde die existierende Pluralform angegeben sowie eine potentielle und eine systematisch nicht mögliche Form. Die
Theoretische Grundlagen potentielle Form wird dadurch definiert, dass sie durch ein produktives Pluralbildungsmuster hervorgerufen wird. Es ist also eine Form, die zwar de facto nicht existiert, systematisch aber möglich wäre. So wurden z.B. für das Nomen Bus die Pluralformen Busse (existierende Form), Büsse (potentielle Form) und Büssen (nicht mögliche Form) angegeben. Jeder Proband erhielt jeweils nur eine der drei möglichen Formen. Die Aufgabe bestand darin, zu entscheiden, ob es sich bei den präsentierten Wörtern um korrekte deutsche Pluralformen handelt. Als wichtigstes Ergebnis dieser Studie wird genannt, dass sowohl die erwachsenen Probanden als auch die Kinder für die Unterscheidung zwischen potentiellen und nicht möglichen Pluralformen sensibel waren, was sich sowohl im Akzeptabilitätsgrad als auch in der Reaktionszeit zeigt (Korecky-Kröll u.a. 2012: 55). Existierende Pluralformen wurden erwartungsgemäß von beiden Probandengruppen am häufigsten akzeptiert. Der Faktor der Produktivität kann die Ergebnisse jedoch nicht vollständig erklären. So werden bspw. die unproduktiven existierenden Pluralformen der Feminina, die den Plural mit UL + -e bilden, ebenso häufig oder sogar häufiger akzeptiert als die produktiveren Pluralformen der Maskulina, die den Plural mit -e oder UL + -e bilden. Dies sollte nach dem Ansatz der Produktivität nicht der Fall sein. „The analysis of the five stimulus sets reveals, therefore, that the notion of productivity is insufficient to account for the full data pattern” (Korecky-Kröll u.a. 2012: 57). Deshalb wird als weiterer Erklärungsfaktor der Umlaut herangezogen: Dieser sorge neben dem jeweiligen Suffix für die deutlichere Unterscheidung zwischen Singular- und Pluralform. Umgelautete Pluralformen werden deshalb eher akzeptiert als nicht umgelautete Formen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in den Ansätzen der Natürlichkeitstheorie im Gegensatz zu den strukturalistischen Ansätzen eine Orientierung am Sprecher und seiner kognitiven Ausstattung deutlich wird. Gefragt wird, was die Formen für den Sprecher zu ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Formen macht. Diese Bewertung erfolgt in Relation zu den Singular-, also den Basisformen: Für Wurzel (1984, 1994) sind diejenigen Flexionsformen die besseren, die für Wörter mit bestimmten außermorphologischen Eigenschaften häufiger realisiert werden. Konkurrieren bei monosyllabischen Maskulina also die Pluralbildungen mit -e und mit -er, so ist diejenige mit -e die bessere oder unmarkiertere, da die meisten monosyllabischen Maskulina ihren Plural auf diese Weise bilden. In Dresslers Ansatz wird die Frequenz hingegen nur als Auswirkung der Produktivität gesehen: Die Flexionsklasse, die produktiver ist, die also bei der Integration von Fremd- oder Neuwörtern angewendet wird und nicht in Konkurrenz mit anderen produktiven Klassen oder Regeln steht, ist die bessere. Damit wird implizit jedoch nach wie vor davon ausgegangen, dass der Lerner
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
(ausschließlich) Muster für die Zuordnung von Singular- und Pluralformen ausbildet. Impliziert wird also weiterhin, dass der Sprecher/Lerner in erster Linie danach strebt, eine Pluralform zu bilden, die zur Singularform mit ihren spezifischen Eigenschaften passt. Gibt es mehrere Möglichkeiten, entscheidet er sich präferiert für die unmarkiertere (Wurzel 1994) bzw. produktivere (Laaha u.a. 2006) Variante. Wie die genannten Studien gezeigt haben, können dadurch tatsächlich Fehlermuster im Spracherwerb erklärt werden, wobei aber die genannten Kriterien offenbar nicht die einzigen relevanten Faktoren sind. In der Studie von Korecky-Kröll u.a. (2012) wird bereits angedeutet, dass neben dem Grad der Produktivität auch die Gestalt der Pluralform selbst einen entscheidenden Faktor darstellt: Dass umgelautete Pluralformen gegenüber nicht umgelauteten Formen präferiert werden, wird dadurch erklärt, dass die Kennzeichnung des Plurals durch den zusätzlichen Umlaut verstärkt wird. Der Sprecher/Lerner orientiert sich also nicht nur an der Singularform, zu der er den passenden Plural bilden will (source-orientierte Pluralbildung), sondern auch an der Gestalt der Pluralform selbst, mit dem Ziel, eine Form zu bilden, mit der diese Funktion möglichst deutlich ausgedrückt werden kann (produktorientierte Pluralbildung). Dieser Punkt leitet über zu Modellen, in denen nicht (nur) die auf der zugrundeliegenden Singularform basierenden Präferenzen für die Pluralbildung untersucht werden, sondern in denen die Gestalten der Pluralformen selbst zueinander in Beziehung gesetzt und analysiert werden.
.. Optimalitätstheorie Der Ansatz der Optimalitätstheorie (im Folgenden OT) unterscheidet sich deutlich von den bisher vorgestellten Modellen, da nicht nur source-orientierte Regeln formuliert werden, sondern der Output oder das Produkt (in diesem Fall also die Pluralformen) im Zentrum der Analyse stehen. So formulieren Fikkert & de Hoop (2009: 320) den Anspruch im Hinblick auf die Syntax, der sich auch auf die Morphologie übertragen lässt: „OT syntax takes the perspective of the speaker, who intends to get across a certain message (a meaning) and looks for the optimal way of expressing it (the optimal form)”. Im Fokus steht also diesem Anspruch nach die Form, durch die eine grammatische Funktion in optimaler Weise ausgedrückt wird. In Bezug auf das deutsche Pluralsystem bedeutet das, dass nicht, wie in den bisher vorgestellten Ansätzen, allein die sourceorientierten Regularitäten der Pluralbildung von Interesse sind, sondern auch die Gestalt der Pluralformen selbst: Die Frage ist nicht nur, welches Wort welchen Pluralmarker wählt, sondern auch, welche Wortform die Funktion Plural
Theoretische Grundlagen in optimaler Weise ausdrückt. Die theoretische Modellierung dieses Konzepts verdeutlicht diese Perspektive: Im Rahmen der OT wird angenommen, dass die Grammatik aus einem Set an Beschränkungen (constraints) besteht, die einerseits die Wohlgeformtheit der Output-Strukturen betreffen (Markiertheitsbeschränkungen), andererseits die Beziehung zwischen Grundform und abgeleiteter Form (Treuebeschränkungen), wobei die Form des Outputs der Form des Inputs nach Möglichkeit entsprechen sollte. Diese Beschränkungen sind verletzbar und hierarchisch geordnet. Die Form, die die am niedrigsten gerankte Beschränkung verletzt, ist die zielsprachliche und wird als die optimale Form bezeichnet: „The basic assumption of OT is that each linguistic output form is optimal, in the sense that it incurs the least serious violations of a set of conflicting constraints” (Kager 1999: 8). Zur Erzeugung des optimalen Outputs werden zwei Stufen durchlaufen: Der Generator erzeugt für einen bestimmten Input eine im Prinzip unendlich große Menge an Outputkandidaten, die durch den Evaluator im Hinblick auf die Verletzung der Beschränkungen in der gegebenen hierarchischen Ordnung evaluiert werden, so dass der optimale Kandidat selektiert werden kann (vgl. Kager 1999: 8). Im Unterschied zu Annahmen der bisher vorgestellten Modelle, denen gemein ist, dass die realisierte Form direkt vom Input, also von einer Basisform abgeleitet wird, beschreibt Russel (1997: 115), dass in der OT keine direkte Ableitungsbeziehung zwischen Grundform und realisierter Form (Output) besteht: OT has a different conception of the relationship between the UR [underlying representation, V.W.] and the surface form, that is, the winning candidate. The two come from different places: the UR from the lexicon, the surface form from the infinite candidate set produced by GEN. The UR does not turn into the surface form.
Wie diese Konzeption deutlich macht, legt die OT den theoretischen Fokus insgesamt stärker auf die Evaluierung der Outputkandidaten als auf ihre Generierung aus dem Input, durch die sehr unspezifisch zunächst unendlich viele Kandidaten erzeugt werden. Der entscheidende Schritt ist die Auswahl des optimalen Outputs anhand der hierarchisch geordneten Beschränkungen. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, die OT-Grammatik als output-orientiert zu betrachten, wie bspw. Xu (2007: 6): „This model is output-oriented in that the grammar consists of restrictions on the output.“ Dies unterstützt auch die Aussage McCarthys (2006: 310), der darlegt, dass dies gerade der entscheidende Unterschied zwischen der OT und anderen, regelbasierten, Modellen ist. Rule-based or process theories of phonology and morphology emphasize mechanisms of derivation: A rewrites as B in context C. This perspective is unhelpful in allomorph selection, where the mechanism of derivation is trivial, because the allomorphs must be lexi-
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
cally listed. OT, on the other hand, is inherently comparative, using a constraint hierarchy to select the right output from a range of options (McCarthy 2006: 310).
Vom Ansatz her ist dieses Modell deshalb vielversprechend für die Frage, was eine Wortform im Deutschen zu einer guten bzw. optimalen Pluralform macht, und zwar unabhängig von der dazugehörigen Singularform. Der Ansatz weist jedoch einige inhärente Probleme auf. Zum einen ist nicht klar definiert, was genau der Input ist, aus dem die Kandidaten für die optimale Output-Form generiert werden. Zum anderen gibt es keine Einigung auf die Anzahl und die Art der Beschränkungen, was in der Praxis dazu führt, dass mit ganz unterschiedlichen Beschränkungen gearbeitet wird. Dies wiederum führt zu sehr uneinheitlichen, kaum verifizierbaren Analysen. Diese Probleme werden auch bei den beiden optimalitätstheoretischen Analysen, die bisher zum deutschen Pluralsystem vorliegen (Elgersma & Houseman 1999 und Wegener 1999), deutlich. Wegener (1999) formuliert Treue- und Markiertheitsbeschränkungen, die direkt aus strukturalistischen Analysen der deutschen Pluralmorphologie abgeleitet sind, z.B.: „FK: Die Pluralform korrespondiert mit der Flexionsklasse des Singularstamms“ oder „GK: Die Pluralform korrespondiert mit der Genusklasse des Singularstamms“ (Wegener 1999: 11). Dass es sich dabei kaum um universale Beschränkungen handeln kann, die in der OT eigentlich angestrebt werden, ist eindeutig. Besonders problematisch an dieser Analyse ist, dass für verschiedene Nomen verschiedene Beschränkungshierarchien angenommen werden. Um bspw. die Pluralformen Onkel und Vögel erklären zu können, müssen die aufgestellten Beschränkungen in unterschiedlichen Hierarchien angeordnet werden (Wegener 1999: 17). Konkret geht es bei diesen Beispielen um die Positionierung der Beschränkung IDENT(F). Diese besagt, dass im Singular und Plural korrespondierende Segmente identische Werte für das Merkmal F aufweisen. F bezieht sich sowohl auf den Vokal des Kerns als auch auf den Konsonanten im Auslaut und die Morphemgrenze. Diese Beschränkung wird bei Onkel sehr hoch gerankt, bei Vögel hingegen an letzter Stelle, so dass die Vokalveränderung möglich wird. Dies ist insofern problematisch, als in der OT davon ausgegangen wird, dass die Hierachie der Beschränkungen zwar einzelsprachenspezifisch und auch in einer Einzelsprache nicht stabil ist, sondern sowohl im Spracherwerbsverlauf als auch im Sprachwandel Verschiebungen unterliegt. Wenn aber für jedes Wort eine spezifische Beschränkungshierarchie gilt, bedeutet dies letztendlich, dass die Pluralbildung völlig arbiträr ist. Wegener argumentiert, dass die unterschiedlichen Hierarchien darauf zurückzuführen sind, dass Vogel ein natives Wort, Onkel hingegen ein Lehnwort sei. Da aber das Auftreten der Nullmarkierung im deutschen Numerussystem nicht prinzipiell auf Lehnwörter begrenzt ist, ist dieses Argument wenig überzeugend. Insgesamt bringt diese
Theoretische Grundlagen Analyse des deutschen Pluralsystems im Rahmen der OT deshalb kaum Erkenntnisse, die über die der strukturalistischen Analysen hinausgehen. In der Analyse von Elgersma & Houseman (1999: 340-343, 347) werden Treuebeschränkungen nicht thematisiert und die Markiertheitsbeschränkungen direkt aus Annahmen der Natürlichkeitstheorie abgeleitet, so z.B.: „MARK: For any morphological category (plural, preterite, etc.) mark the output“ (Elgersma & Houseman 1999: 340). Dies entspricht weitestgehend dem natürlichkeitstheoretischen Prinzip der Ikonizität, das im vorigen Abschnitt erläutert wurde. Obwohl das gleiche grammatische System beschrieben wird, unterscheiden sich die Beschränkungen, die Wegener (1999) und Elgersma & Houseman (1999) annehmen, in Anzahl und Art. Die Autoren dieser Studie betonen, dass viele Ideen der OT bereits in der Natürlichkeitstheorie vorweggenommen wurden: „In several respects, general principles of NM [Natural Morphology; V.W.] anticipate developments in OT, although this has not been generally acknowledged“ (Elgersma & Housman 1999: 333). 30 Auch in dieser Untersuchung werden für verschiedene Nomen unterschiedliche Beschränkungshierarchien angenommen, die u.a. in Abhängigkeit vom Genus des Nomens gewählt werden: „This in effect means that constraint rankings are partially conditioned by features in the lexicon such as gender” (Elgersma & Houseman 1999: 344). In beiden Analysen wird also wenig darüber ausgesagt, ob es im Deutschen präferierte Wortgestalten für die Funktion Plural gibt. Die in der OT angelegte produktorientierte Perspektive wird also kaum deutlich. Stattdessen konzentrieren sich die Untersuchungen auf die source-orientierten Regularitäten, indem dem Genus oder der Flexionsklasse des Nomens ein entscheidender Einfluss auf das Ranking der Beschränkungen und damit letztlich auf die Auswahl des Pluralmarkers zugesprochen wird. Der Ertrag der Umformulierung von Erkenntnissen aus strukturalistischen oder natürlichkeitstheoretischen Analysen in optimalitätstheoretische Beschränkungen bleibt insgesamt fragwürdig. Konsequenzen für den Spracherwerb In Bezug auf den Spracherwerb gehen Vertreter der Optimalitätstheorie davon aus, dass die sprachspezifische Hierarchie, in der die (universell gültigen) Beschränkungen angeordnet sind, erlernt werden muss (Fikkert & de Hoop 2009). Legendre (2006: 804) formuliert die Erwerbsaufgabe, die sich aus Sicht der OT stellt, spezifischer, indem sie auf das Konkurrieren von Treue- und Markiertheitsbeschränkungen in einer Sprache hinweist: „The task of a child acquiring a 30 Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen der OT und der Natürlichkeitstheorie vgl. Hurch (1998).
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
language is to figure out how the conflict between economy and expressiveness is resolved in the particular language he or she is exposed to”. Ob die Beschränkungen dagegen angeborenes Wissen darstellen, ist innerhalb der OT umstritten (vgl. Fikkert & de Hoop 2009: 318). Bresnan resümiert, dass im Rahmen der OT angenommen wird, dass die Markiertheitsbeschränkungen am Anfang des Spracherwerbs die Treuebeschränkungen dominieren. A number of researchers in OT have proposed that in the initial state of the language learner all structural markedness constraints dominate faithfulness constraints; maximal unmarked forms are thus optimal during the initial stages of language acquisition. Then during the acquisition of marked forms, markedness constraints are subsequently demoted, allowing marked forms to become optimal (Bresnan 2001: 25). 31
Diese Annahme stimmt mit den Voraussagen der Natürlichkeitstheorie überein, die ebenfalls davon ausgeht, dass unmarkierte Strukturen im Spracherwerb vor den markierten Strukturen erworben werden (vgl. z. B. Wurzel 1994: 33). Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die vorliegenden optimalitätstheoretischen Analysen zur deutschen Pluralmorphologie kaum Erkenntnisse bieten, die über die der strukturalistischen Analysen oder der Natürlichkeitstheorie hinausgehen. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die Konzentration dieser Analysen auf source-basierten Regularitäten liegt, die in Form von hierarchisch geordneten Beschränkungen dargestellt werden. Der output-orientierte Ansatz der OT kommt deshalb kaum zum Tragen. Im Hinblick auf den Spracherwerb stimmen die Vorhersagen der OT mit denen der Natürlichkeitstheorie dahingehend überein, dass davon ausgegangen wird, dass die Markiertheitsbeschränkungen zunächst am höchsten gerankt sind und die Treuebeschränkungen, die zu markierten Strukturen führen können, erst später im Spracherwerbsverlauf berücksichtigt werden.
.. Gebrauchsbasiertes Netzwerk- und Schema-Modell Im Schema-Modell (Köpcke 1988, 1993) werden Pluralformen nicht lediglich als Ableitungen von Singularformen betrachtet, sondern erhalten den Status eigenständiger Repräsentationen: „Entscheidend ist hier die Annahme, daß morphologisch einfache und komplexe Formen im Lexikon des Sprechers jeweils getrennt und bis zu einem gewissen Grad auch unabhängig voneinander gespeichert […] sind“ (Köpcke 1993: 71). Diese Betrachtungsweise schließt an 31 Vgl. auch Fikkert & de Hoop (2009: 318) und Legendre (2006: 804).
Theoretische Grundlagen Bybees morphologisches Netzwerkmodell (1985, 1988) an, in dem davon ausgegangen wird, dass Wortformen holistisch gespeichert und in assoziativen Netzwerken mit anderen Wortformen, mit denen sie phonologische oder semantische Ähnlichkeit aufweisen, verbunden sind. Dies veranschaulicht Abbildung 3 aus Bybee (1988: 127):
Abb. 3: Assoziatives Netzwerk (Abb. aus Bybee 1988: 127).
Während die ersten drei Phoneme von cat und cats sowohl semantisch als auch phonologisch übereinstimmen, besteht bei den Pluralformen cats, caps, mats, rats lediglich bei dem Segment -s eine semantische und phonologische Verbindung. Rein phonologische Verbindungen, die kein semantisches Äquivalent aufweisen, werden in dieser Abbildung durch einen feineren Strich verdeutlicht. Diese Berücksichtigung von semantischen wie auch phonologischen Ähnlichkeitsbeziehungen erlaubt eine Organisation des Lexikons, in dem die Wörter in unterschiedlich enger Verbindung zueinander stehen: Sprachliche Einheiten, 32 die zwischen ihren einzelnen Merkmalen mehr semantische und phonologische Verbindungen aufweisen, stehen in engerer Verbindung zueinander als zu anderen sprachlichen Einheiten, mit denen sie weniger Gemeinsamkeiten teilen. Die Organisation von Wortformen erfolgt also durch die Einbettung in ein assoziatives Netzwerk, das auf phonologischen und semantischen Ähnlichkeitsbeziehungen beruht. Eine Segmentierung in Wortstamm und Affix, wie sie
32 Mit sprachlichen Einheiten sind nicht nur Wortformen gemeint. Auch größere Einheiten wie Phrasen können auf diese Weise in ein assoziatives Netzwerk eingebettet sein.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
für strukturalistisch geprägte Ansätze typisch ist, ist damit ebenso hinfällig wie die daraus resultierende Annahme, die Elemente würden getrennt voneinander gespeichert und bei Bedarf nach bestimmten Regeln zusammengefügt. Ein morphologisch komplexes Wort erhält seine Bedeutung damit nicht durch die Addition seiner Bestandteile (Morpheme), sondern durch die Verbindung zu anderen Wörtern: „[T]his model allows us to conceptualize the internal structure of a word as a set of relations with other words, rather than as a string of discrete meaningful sequences, that is, morphemes“ (Bybee 1988: 139). Dass komplexe Wortformen sich nicht immer in Morpheme zerlegen lassen, die jeweils eine eins-zu-eins-Relation zwischen Form und Funktion aufweisen, ist aus dieser Perspektive unproblematisch. So erübrigt sich z.B. das in Abschnitt 2.1.1 besprochene Problem der Nullmarkierung, die in strukturalistischen Analysen aus theorieinternen Gründen angenommen werden muss. Darüber hinaus ist in diesem Ansatz die strikte Trennung von regulären und irregulären Formen bzw. zwischen Grammatik und Lexikon hinfällig: Da alle Wortformen holistisch gespeichert und in ein assoziatives Netzwerk eingebettet werden, kann es keine Trennung zwischen einer lexikalischen Komponente, in der die Morpheme sowie die irregulären Formen als Ganze gespeichert werden und einer grammatischen Komponente, in der die regulären Formen verarbeitet werden, geben. Der entscheidende Punkt für die vorliegende Untersuchung ist, dass die Pluralformen durch diese Perspektive nicht als Ableitungen von Singularformen, sondern als eigenständige Repräsentationen modelliert werden, die durch phonologische und semantische Ähnlichkeitsbeziehungen sowohl in Verbindung zu den zugehörigen Singular- als auch zu anderen Pluralformen stehen. Köpcke (1993: 69) argumentiert, dass auf der Basis dieser vernetzten, holistisch gespeicherten Wortformen phonologische Schemata abstrahiert und mit grammatischen Funktionen assoziiert werden. Ein Schema zeichnet sich dadurch aus, dass es abstrakter ist als die konkreten Wortformen, auf denen es basiert. Es enthält nur die Elemente, die für die zugrundeliegenden Wortformen charakteristisch sind (vgl. Köpcke 1993: 71 und Bybee 1988: 135). So lässt sich bspw. zwischen die Blumen, die Fliegen, die Wolken die formale Gemeinsamkeit abstrahieren, dass sie den Artikel die tragen und auf -en enden, sowie die semantische Gemeinsamkeit, dass sie den Plural bezeichnen. Mit dem Schema [die…-en] kann also die Bedeutung Plural assoziiert werden und zwar unabhängig von einer damit verbundenen Singularform. Wie die bisherigen Analysen bereits deutlich gemacht haben, wird die Funktion Plural im Deutschen durch unterschiedliche Schemata oder Gestalten signalisiert. Diese Schemata sind darüber hinaus kaum exklusiv mit der Funktion Plural assoziiert. Vielmehr kann bspw. ein Schema, das die Gestalt [die … -e]
Theoretische Grundlagen aufweist, ebenso gut mit der Funktion Singular verknüpft sein wie mit der Funktion Plural (vgl. die Wortformen die Blume, die Straße, aber die Hunde, die Steine). Köpcke (1993) nimmt dies als Ausgangspunkt, um die verschiedenen Schemata, die mit der Funktion Plural assoziiert sind, daraufhin zu analysieren, inwieweit sie für den Sprecher ‚gute‘ Pluralformen darstellen. Die verschiedenen Pluralschemata werden dabei auf einer Skala angeordnet, die von Schemata, die nur schwach mit der Funktion Plural assoziiert sind bis hin zu Schemata, die prototypisch für die Funktion Plural stehen, reicht. Im Gegensatz zu den anderen Modellen wird also der Fokus hier nicht darauf gelegt, die Ableitungsrelationen von Singular- und Pluralformen darzustellen und zu erklären, sondern die Pluralformen als Wortgestalten vor dem Hintergrund der kognitiven Ausstattung des Sprechers zu evaluieren. Dazu wird in Anlehnung an das Competition Model (Bates & MacWhinney 1987, 1989) die Signalstärke der für die Schemata charakteristischen Merkmale definiert, d.h. für die overten Pluralmarkierungen. 33 Die Signalstärke setzt sich aus den perzeptuellen Faktoren der Salienz, der Type- und Tokenfrequenz, der Validität und der Ikonizität zusammen. Es wird also angenommen, dass die Signalstärke einer Pluralmarkierung umso größer ist, je salienter, frequenter, valider und ikonischer sie ist. Dabei werden alle Faktoren prinzipiell als gleichwertig betrachtet, was im Hinblick auf die Bewertung der Pluralmarker als mehr oder weniger signalstark Probleme hervorruft, wie noch deutlich werden wird. Salienz wird definiert als das Ausmaß, „mit dem eine morphologische Markierung vom Hörer identifizierbar ist, also ihre akustische Prominenz“ (Köpcke 1993: 82). Elemente, die sich am Wortende befinden, sind demnach salienter als Elemente, die nicht am Wortende platziert sind. Diese Annahme wird aus dem operating principle A von Slobin abgeleitet, das lautet: „Pay attention to the ends of words“ (Slobin 1973: 191). Dementsprechend ist der Umlaut als Komponente eines Pluralschemas als weniger salient als eine Markierung am Wortende gewertet. Der Faktor Typefrequenz beschreibt die Anzahl der Nomen, die die gleiche Pluralmarkierung wählen. Die Markierung -(e)n ist laut Köpcke die frequenteste Markierung, gefolgt von -e, wohingegen die anderen Markierungen eher selten auftreten. Die Tokenfrequenz bezeichnet die Häufigkeit der konkreten Realisierung einer Markierung. Wenn bspw. die Markierung -s also an nur wenigen Nomen auftritt, so weist sie eine niedrige Typefrequenz auf. Kommen diese Nomen aber sehr häu 33 Vor dem Hintergrund der Annahme von Schemata ist zu fragen, ob die Pluralmarker isoliert auf ihre Signalstärke hin analysiert werden können. Konsequenter wäre es, nicht die Marker, sondern die Schemamerkmale, die an konkrete Formen gebunden auftreten, zu betrachten (vgl. die Analyse der Pluralschemata im kindlichen Wortschatz in Abschnitt 2.2).
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
fig vor, so ist die Tokenfrequenz der Markierung -s als hoch einzustufen. Validität „meint die Frequenz, mit der ein bestimmtes Merkmal in der Kategorie auftaucht, die mit der Zielkategorie kontrastiert“ (Köpcke 1993: 82). Die Endung -e bspw. ist eine recht frequente Pluralendung (die Hunde, die Steine), sie kommt aber ebenfalls sehr häufig als Wortauslaut von femininen Nomen (die Straße, die Blume etc.) oder von schwachen Maskulina (der Junge, der Halunke) im Singular vor. Ihre Validität als Signal für einen Plural ist deshalb eher gering. Der Faktor der Ikonizität berücksichtigt die Überlegungen der morphologischen Natürlichkeitstheorie, dass ein Mehr an Bedeutung auch durch ein Mehr an phonetischem Material ausgedrückt werden sollte. Dementsprechend ist eine additive Markierung besser zum Ausdruck des Plurals geeignet als eine modifizierende Markierung wie der Umlaut und eine silbenbildende Markierung (z.B. -en) besser als eine nicht silbenbildende (-s). 34 Tabelle 2 fasst die Bewertung der einzelnen Schemamerkmale im Hinblick auf diese Faktoren zusammen: Tab. 2: Signalstärke der Pluralmarkierungen nach Köpcke (1993: 85) Markierung
Salienz
TypeFrequenz
TokenFrequenz
Validität
silbenbildend
-(e)n
+
+
+
+
+/-
-s
+
-
-
+
-
-e
+
+/-
-
-
+
-er
+
-
-
-
+
Umlaut
-
-
-
+/-
-
Alle Suffixe werden als salient eingestuft, der Umlaut hingegen nicht, da er nicht am Wortende auftritt und somit schwerer wahrnehmbar ist. Die Markierung mit der höchsten Typefrequenz ist -(e)n, -e wird eine mittlere, allen anderen Markierungen eine niedrige Typefrequenz zugesprochen. Da diese Abstufungen nicht durch konkrete Wortschatzanalysen belegt werden, ist davon auszugehen, dass es sich dabei um Einschätzungen handelt. Gleiches gilt für den Faktor der Tokenfrequenz. Köpcke weist dem Marker -(e)n eine hohe, allen anderen Markern eine niedrige Tokenfrequenz zu. Wegener (1995a: 16-17) hin-
34 Ob die Unterscheidung der Faktoren Salienz und Ikonizität notwendig ist, ist fragwürdig. Schließlich weist ein Marker, der silbenbildend ist, auch eine größere Salienz auf. Wie Wegener (1995a: 13-14) zeigt, können beide Faktoren deshalb sinnvoll miteinander kombiniert werden.
Theoretische Grundlagen gegen vertritt die Ansicht, dass die Tokenfrequenz von -e im Grundwortschatz höher ist als die von -(e)n. Auf Basis des rückläufigen Wörterbuchs von Mater (1970) werden -(e)n und -s von Köpcke als gleichermaßen valide eingestuft, da es nur wenige Singularformen gibt, die diese Endungen aufweisen. Auch der Umlaut ist von mittlerer Validität, da die umgelautete Form des Vokals /a/ im Singular vergleichsweise häufig auftritt und zusätzlich durch das Auftreten des gleichlautenden Vokals /ɛ/ (beide ausgesprochen als [ɛ] (vgl. Henker und Bäcker) gestärkt wird. Die umgelauteten Formen der anderen Vokale sind hingegen im Singular relativ selten. Die Marker -e und -er werden aufgrund ihres zahlreichen Auftretens im Singular als nicht valide eingestuft. Köpcke (1993: 86) leitet aus diesen Überlegungen ab, dass die Endungen -en > -s > -e> -er in absteigender Reihenfolge signalstarke Merkmale eines Pluralschemas sind. Da zuvor keine Gewichtung der Faktoren vorgenommen wurde, bleibt an dieser Stelle jedoch unklar, wie diese Reihenfolge zu begründen ist. Der Marker -(e)n erfüllt die meisten Faktoren, somit ist nachvollziehbar, dass er die größte Signalstärke aufweist. Der Marker -e erfüllt aber mehr Faktoren als -s, müsste also eigentlich auch eine größere Signalstärke aufweisen. Die Endungen sind jedoch nicht die einzigen relevanten Merkmale. Auch der Umlaut und der Artikel die werden als Komponenten von Pluralschemata definiert. Ein Schema, das auf die signalstarke Endung -(e)n endet, umgelautet ist und den Artikel die aufweist, repräsentiert somit den Prototyp einer deutschen Pluralform, ein Schema, das keines dieser Merkmale trägt, den Prototyp einer Singularform. Alle anderen Schemata, die mehr oder weniger Merkmale einer Pluralform tragen, sind dementsprechend auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen anzusiedeln, wie Köpcke (1993: 88) mit einer Abbildung (Abbildung 4) veranschaulicht. Da auf diesem Kontinuum lediglich eine kleine Auswahl an möglichen Pluralschemata dargestellt wird, trägt es den Charakter einer Veranschaulichung des Konzeptes. Dabei bleiben einige Fragen offen. So ist nicht klar, warum das Schema, das mehrsilbig ist, auf -er endet und der die-Klasse angehört, näher am Pluralpol angesiedelt ist als das Schema, das auf -e endet, ansonsten aber die gleichen Merkmale aufweist. Da die Endung -e zuvor als signalstärker eingestuft wurde als -er, müsste es eigentlich genau umgekehrt sein. Ebenso ist nicht klar, welches Gewicht die verschiedenen Komponenten eines Schemas (Artikel, Umlaut, Endung) besitzen. Ist also bspw. ein Schema, das die signalstarke Endung -en aufweist, aber der der-Klasse angehört, näher am Pluralpol zu verorten als
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
ein Schema, das die signalschwache Endung -er aufweist, dafür aber der dieKlasse angehört? 35
Abb. 4: Kontinuum zwischen prototypischem Singular- und Pluralschema. (Abb. aus Köpcke 1993: 88)
Abgesehen von den genannten Unklarheiten ist dieses Modell theoretisch bedeutsam, weil es eine andere Sichtweise auf flektierte Wortformen erlaubt als die bisher diskutierten Modelle. Wie dargestellt wurde, wird in diesen Modellen angenommen, dass Pluralformen durch Regeln aus den zugrundeliegenden Singularformen abgeleitet werden. Dies entspricht einer source-orientierten Perspektive. Im Schema-Modell hingegen werden keine Regeln bestimmt, die auf der source operieren, um Pluralformen zu generieren. Vielmehr werden Charakteristika dieser Pluralformen in Form von Schemata beschrieben. Diese Herangehensweise wird im Gegensatz zur source-orientierten Regel als produktorientiert bezeichnet. Wie Nesset (2008: 20) zusammenfasst, beschreiben produktorientierte Generalisierungen die Gestalt der Wortformen, ohne dabei die paradigmatischen Beziehungen zu anderen Formen zu berücksichtigen. Wie die Pluralschemata mit den Singularschemata verknüpft sind, d.h. die Frage, welches Nomen welchen Pluralmarker wählt, wird also zunächst einmal nicht berücksichtigt. Exkurs Konstruktionsgrammatik In diesem Zusammenhang soll eine weitere Grammatiktheorie genannt werden, die sich seit dem Ende der 1980er Jahre unter der Bezeichnung Construction Grammar (Konstruktionsgrammatik), herausgebildet hat. Wie Imo (2007: 22) darstellt, gilt der Artikel von Fillmore; Kay & O’Connor (1988), in dem die Auto 35 Diese Frage wird in Abschnitt 3.2.1 noch einmal aufgegriffen.
Theoretische Grundlagen ren die strikte Trennung von Grammatik als Regelwerk und Lexikon als Wortspeicher kritisieren und anhand der let alone-Konstruktion im Englischen zeigen, dass es zahlreiche Phänomene in einer Sprache gibt, die sich weder der einen noch der anderen Seite vollständig zuordnen lassen, als Ursprung der Konstruktionsgrammatik. Obwohl die Konstruktionsgrammatik keine in sich geschlossene Grammatiktheorie darstellt, sondern verschiedene Richtungen unterschieden werden (kognitive, gebrauchsbasierte Modelle einerseits (Langacker 1987, Goldberg 1995) und formal ausgerichtete Ansätze andererseits (Fillmore; Kay & O’Connor 1988)), können einige richtungsübergreifende Grundannahmen festgehalten werden (vgl. Ziem & Lasch 2013: 36): – zwischen Grammatik und Lexikon einer Sprache besteht keine strikte Trennung, sondern ein Kontinuum – das Sprachsystem ist nicht modular aufgebaut – Grammatik wird als ein „strukturiertes Inventar von Konstruktionen“ (Ziem & Lasch 2013: 36) modelliert. Da die kognitiven, gebrauchsbasierten Modelle der Konstruktionsgrammatik (vor allem die Kognitive Grammatik Langackers) etliche Überschneidungen mit dem Schema-Ansatz aufweisen, soll diese Richtung im Folgenden etwas näher vorgestellt werden. Goldberg (1995: 4) definiert eine Konstruktion folgendermaßen: „C is a CONSTRUCTION iffdef C is a form-meaning pair such that some aspect of Fi or some aspect of Si is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions.“ Aus dieser Definition geht das Prinzip der Konventionalität und Nicht-Kompositionalität (Ziem & Lasch 2013: 79) bzw. der Gestaltorientierung (Imo 2007: 28) hervor. Das Prinzip besagt zum einen, dass Konstruktionen konventionelle Form-Bedeutungspaare sind, also sprachliche Zeichen. In diesem Konstruktionsbegriff sind sprachliche Einheiten mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden eingeschlossen, von Morphemen über Idiomen hin zu Wortarten und grammatischen Relationen. So ist also ein einzelnes Wort ebenso ein Form-Bedeutungspaar wie bspw. das Idiom jmd. auf die Finger schauen und die ditransitivische Konstruktion [[NPNom] [VP][NPDat][NPAkk] (vgl. Tabelle 1 in Ziem & Lasch 2013: 19). Zum anderen wird damit ausgesagt, dass Konstruktionen einen „Bedeutungsüberschuss“ (Ziem & Lasch 2013: 80) enthalten, da sich ihre Gesamtbedeutung nicht additiv aus der Bedeutung der Komponenten ergibt, sondern eine Eigenbedeutung aufweisen. Dies erläutert Imo (2007: 31) an dem Ausdruck Du hast Tomaten auf den Augen: Die einzelnen syntaktischen Wortformen (du, hast, Tomaten, auf, den, Augen) weisen bestimmte Bedeutungen auf, aus deren Kombination allein jedoch nicht
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auf die Bedeutung des gesamten Ausdrucks (etwas nicht sehen) geschlossen werden kann. Innerhalb der Konstruktionsgrammatik wurden zunächst und werden bis heute überwiegend syntaktische Strukturen analysiert. Die Gemeinsamkeiten mit dem morphologischen Schema-Modell sind dabei allerdings nicht zu übersehen: In beiden Ansätzen wird die strikte Trennung von Lexikon und Grammatik überwunden und es wird von einer gestalthaften Verarbeitung komplexer sprachlicher Einheiten ausgegangen, deren Bedeutung nicht durch die Addition der Bedeutungen ihrer Komponenten erschlossen werden kann. 36 Im Folgenden soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Prinzipien der Konstruktionsgrammatik auf die Analyse sprachlicher Einheiten von unterschiedlichem Komplexitätsgrad (Satz, Wort, Morphem) angewendet werden. Zunächst soll die konstruktionsgrammatische Analyse syntaktischer Strukturen anhand des viel diskutierten Phänomens der resultativen Verwendung intransitiver Verben veranschaulicht werden. Die folgenden Beispiele aus Jacobs (2009: 521, Hervorhebungen V.W.) verdeutlichen das genannte Phänomen: a. Wir lassen uns eine gute Saison nicht kaputt quatschen. b. So u jetzt will ich euch garnet weiter müde quatschen sondern euch ein paar schöne fotos zeigen! c. Habe auch Psychologie studiert und kann alle Leute tot quatschen. d. Kai Magnus Sting erweckt den Eindruck, als könnte er den Tod bewusstlos quatschen. In traditionelleren, lexikalischen Syntaxtheorien (z.B. Valenztheorie) wird davon ausgegangen, dass die Argumentstruktur eines Satzes allein durch das Verb bestimmt wird. Demnach erforderte das Verb quatschen lediglich ein Argument in Form einer NP, die die Subjektfunktion einnimmt und optional ein weiteres Argument in Form einer Präpositionalphrase, wie bspw. in Lisa und ihre Freundin quatschen über ihren Urlaub. In den oben gezeigten Beispielen a-d wird das Verb jedoch mit resultativer Bedeutung verwendet: „Formen des Verbs quatschen kommen mit einer Akkusativ-NP und einer prädikativen XP vor und bil-
36 Innerhalb der Konstruktionsgrammatik gehen die Meinungen darüber auseinander, ob auch Ausdrücke, deren Bedeutung prinzipiell aus ihren Einzelteilen erschließbar ist, die also nicht idiomatischer Natur sind, als Konstruktionen zu definieren sind. Bybee (2013: 51) vertritt die Ansicht, dass aus einer gebrauchsbasierten Perspektive auf Sprache auch solche Einheiten als Konstruktionen zu werten seien, die zwar keine idiomatisierten Wendungen darstellen, die aber häufig nebeneinander auftreten und deshalb als Chunks verarbeitet werden (vgl. auch Ziem & Lasch 2013: 153).
Theoretische Grundlagen den dabei Phrasen mit der Bedeutung ‚x quatscht, und das führt dazu, dass NP XP ist‘“ (Jacobs 2009: 511). Diese Fälle wären deshalb als Ausnahmen zu behandeln und für die resultative Verwendung des Verbs quatschen müsste ein eigenständiger Lexikoneintrag angenommen werden. Goldberg & Jackendoff (2004) argumentieren für das Englische, dass Beispiele dieser Art im Rahmen der Konstruktionsgrammatik angemessener zu analysieren sind als im Rahmen lexikalischer Ansätze. Sie nehmen an, dass die Argumentstruktur eines Satzes nicht allein durch das Verb bestimmt wird, sondern auch durch die syntaktische Konstruktion: „[T]he VP’s complement structure is not determined by the verb alone, as is assumed in most of mainstream generative grammar as well as in many functionalist traditions (e.g. Langacker 2003). On our view, argument structure is determined by the composite effects of the verb and the construction” (Goldberg & Jackendoff 2004: 534). 37 Dabei ist die Gesamtbedeutung des Satzes nicht einfach die Summe der Verb- und der Konstruktionsbedeutung, also für c) bspw. Ich quatsche und Alle Leute sind tot, sondern das Verb ist vielmehr das Mittel, durch das die Konstruktionsbedeutung realisiert wird: Das Quatschen verursacht den Tod der Leute. Die Bedeutung des Satzes ist also mehr als die Summe der Bedeutung seiner Bestandteile. In der Notation von Goldberg & Jackendoff (2004: 538) wären diese Relationen folgendermaßen zu beschreiben: Syntax: Ich quatsche alle Leute tot Semantik: ICH [CAUSE] LEUTE SIND TOT Mittel: ICH QUATSCHE Daraus kann die Konstruktionsbedeutung wie folgt abstrahiert werden (Goldberg & Jackendoff 2004: 538): Syntax: NP1 V NP2 AP3 Semantics: X1 CAUSE [Y2 BECOME Z3] MEANS: [VERBAL SUBEVENT]
Vergleicht man Verben, denen eine resultative Bedeutung intrinsisch ist, wie z.B. machen in Peters langatmige Ausführungen machen die Zuhörer müde mit dieser Konstruktion, so fällt auf, dass das Verhältnis von Syntax und Semantik das gleiche ist: 37 Langacker (2009) entgegnet, dass im Rahmen der Kognitiven Grammatik keineswegs davon ausgegangen wird, dass das Verb allein die Komplementstruktur eines Satzes bestimmt. In diesem Artikel diskutiert Langacker die – vermeintlichen – Unterschiede zwischen der Kognitiven Grammatik und der Goldbergschen Konstruktionsgrammatik.
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Peters langatmige Ausführungen (NP1) machen (V) sie (NP2) müde (AP3) Syntax: NP1 V NP2 AP3 Semantik: X1 CAUSE [Y2 BECOME Z3] Welke (2009) spricht in diesen Fällen von Konstruktionsvererbung: „Bei Konstruktionsvererbung (Valenzänderung) werden Konstruktionen auf Verben (oder Adjektive) übertragen, für die diese Verben (noch) nicht im Lexikon lizenziert sind“ (Welke 2009: 520). Eine entscheidende Bedingung für Erweiterungen der Verbvalenz, wie sie auch in den angeführten Beispielen aufgetreten ist, ist demnach das Vorhandensein einer kohärenten syntaktischen Konstruktion, die als Analogie-Muster zur Verfügung steht. In den o.g. Fällen könnte dies eben die syntaktische Konstruktion des Verbs machen sein (obwohl dies von Welke (2009) in Frage gestellt wird). In der Valenzgrammatik müsste für die oben gezeigten Beispiele a-d angenommen werden, dass die resultative Verwendung von quatschen auf einen weiteren Lexikoneintrag zurückzuführen ist, der eben diese Argumentstruktur fordert. Aus Perspektive der Konstruktionsgrammatik ist es jedoch nicht notwendig anzunehmen, dass das Verb seine Bedeutung verändert, um die zusätzlichen Argumente zu rechtfertigen. Die resultative Bedeutung des Satzes entstammt vielmehr der oben gezeigten Konstruktion, die syntaktisch eine NP im Nominativ, eine NP im Akkusativ und eine AP umfasst, nicht dem Verb selbst. Wie Goldberg & Jackendoff (2004: 534) argumentieren, führt diese Sichtweise zu einer starken Reduktion der Polysemie im Lexikon. Das Beispiel verdeutlicht damit zweierlei: Zum einen die Auflösung der strikten Trennung von Grammatik und Lexikon, zum anderen die Tatsache, dass eine komplexe sprachliche Einheit (in diesem Fall die syntaktische Struktur [NP1 V NP2 AP3]) ein Bedeutungsträger ist und z.B., wie hier gezeigt, eine resultative Bedeutung trägt, die aus der isolierten Betrachtung der einzelnen Komponenten nicht hervorgeht. Auch auf morphologischer Ebene wird mit dem Ansatz der Konstruktionsgrammatik gearbeitet (vgl. z.B. Booij 2007, 2010, Michel 2014), wobei der Fokus (bisher) auf der Wortbildung liegt. Booij (2007) zeigt anhand verschiedener Beispiele auf, inwiefern ein konstruktionsgrammatischer Ansatz bei Wortbildungsphänomenen, die typischerweise als Sonderfälle oder Ausnahmen behandelt werden (und damit im Lexikon abzuspeichern sind), eine angemessenere Analyse erlaubt. Zur Veranschaulichung soll im Folgenden der Fall der komplexen Ableitungsschemata diskutiert werden. Im Niederländischen besteht ein produktives Wortbildungsverfahren, in dem Verben durch Suffigierung von -baar zunächst zu Adjektiven umgewandelt und diese dann anschlie-
Theoretische Grundlagen ßend mit dem negativen Präfix on- versehen werden (vgl. auch Deutsch unzerstörbar, unhaltbar etc.). Ausgehend von niederländischen Wortbildungen wie onbedwingbaar (unbezwinglich), onverwoestbaar (unverwüstlich), onbestelbaar (unzustellbar) wird gezeigt, dass es eine Reihe von Wörtern gibt, bei denen das deverbale Adjektiv, das den ersten Schritt dieses komplexen Wortbildungsprozesses darstellt, theoretisch zwar möglich ist, aber nicht existiert: „For instance, Dutch deverbal adjectives in -baar ‘-able’ form a productive derivational category, which can be subsequently prefixed with the negative prefix on‘un-’. In many cases, the intermediate adjective is only a possible word, and does not belong to the class of existing words” (Booij 2007: 38). Ähnliche unvollständige Ableitungsreihen lassen sich auch für das Deutsche finden, z.B. zählen – *zählig – unzählig (vgl. Michel 2014). 38 Wie Michel (2014) darstellt, wird in regelbasierten Wortbildungsmodellen für solche komplexen Ableitungen entweder ein Zwischenschritt angenommen, bei dem ein Adjektiv erzeugt wird, das nicht existiert (im Deutschen also bspw. zählig, im Niederländischen bedwingbaar) oder ein Zirkumfix (dt. un-…-ig, ndl. on-…-baar). Beide Lösungen sind unbefriedigend, da bei der ersten Möglichkeit mit nicht existenten Einheiten operiert wird und bei der zweiten (Zirkumfix) außer Acht gelassen wird, dass es im Deutschen eine ganze Reihe von deverbalen oder denominalen Adjektiven gibt, die mit -ig deriviert wurden, was ein den Sprechern bekanntes Wortbildungsmuster darstellt. Gleiches gilt für Derivationen mit -baar im Niederländischen. Booij (2007: 39) plädiert deshalb dafür, diese Wortbildungen in Form von Schemata zu modellieren. Er führt aus, dass die beiden beteiligten Wortbildungsmuster in einem komplexen Schema vereint werden können. Für das Niederländische ergibt sich also das folgende komplexe Schema: [on-A]A + [Vbaar]A = [on[[V-baar]A]A (Booij 2007: 38). Michel modelliert für das Deutsche analog: [x [y]A]A’ + [[y]N/V-ig]A [un [[y]N/V-ig]A]]A’ (Michel 2014: 149). Diese Verschmelzung von Wortbildungsmustern bezeichnet Booij (2007) als unification. Sprecher führen demnach nicht einen Wortbildungsprozess nach dem anderen durch, sondern orientieren sich direkt an dem komplexen Schema: „The coming into being of such unified schemas means that they have become conventional templates by themselves. Thus language users may coin a new multiply complex negative adjective directly from a verbal base without an intermediate step.” (Booij 2007: 39). Michel (2014: 152-153) fasst die Vorteile des konstruktionsgrammatischen Ansatzes zur Analyse von Wortbildungsprozessen 38 Auch bei den o.g. Beispielen ließe sich schon diskutieren, ob die Adjektive zerstörbar und haltbar (als Gegenteil von unhaltbar) existent sind.
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in drei Punkten zusammen: Erstens sind Konstruktionen dynamisch und verdeutlichen im Gegensatz zu bspw. Zirkumfixen, welche Konstruktionen an einer Verschmelzung beteiligt sind. Zweitens weisen Konstruktionen mentale Realität auf, sind also Teil des Sprachwissens der Sprecher, was von traditionellen Wortbildungsregeln nicht gesagt werden kann. Drittens sind Konstruktionen „sprachrealitätsnah“ (Michel 2014: 152). Anders als in traditionellen Herangehensweisen muss deshalb nicht mit nicht existenten Zwischenformen (wie bspw. *zählig) gearbeitet werden. Wie die Beispiele auf Ebene der Syntax und der Wortbildung gezeigt haben, liegt der konstruktionsgrammatischen Herangehensweise die Idee zugrunde, dass Sprecher aus dem sprachlichen Input Muster von unterschiedlicher Komplexität abstrahieren und diese Muster auf weitere Formen übertragen, ohne dass diese als im Lexikon gespeicherte Sonderfälle oder Ausnahmen gehandhabt werden müssen. Damit wird der Produktivität dieser traditionell als „Sonderfälle“ behandelten Phänomen Rechnung getragen. Neben der Ebene der Syntax und der Wortbildung liegen auch einige wenige erste Ansätze für die Anwendung der Konstruktionsgrammatik auf die Ebene der Flexionsmorphologie vor, die allerdings vorwiegend den formal ausgerichteten Ansätze der Konstruktionsgrammatik (Embodied Construction Grammar, Fluid Construction Grammar) zuzurechnen sind und den Fokus auf die Implementierung in automatisierten Analysesystemen legen (z.B. Beuls 2012). Wie Booij (2010) schreibt, ist das klassische Problem morphembasierter Modelle der Flexionsmorphologie, die oft nicht eingelöste eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen Form und Funktion, durch eine konstruktionsgrammatische Perspektive besser zu fassen: „The crucial observation from a constructionist point of view is that it is the specific array of building blocks like stem-allomorph, thematic vowel, ending, etc. that as a whole evokes a specific set of morpho-syntactic properties“ (Booij 2010: 22, Hervorhebung V.W.). Das entscheidende Stichwort ist in diesem Zitat „as a whole“: Die Bedeutungszuweisung von grammatisch komplexen Wortformen wird nicht über Segmentierung vorgenommen, sondern erfolgt holistisch. In diesem Zusammenhang zeigt Spencer (2004) anhand der Konditionalform von Verben in romanischen Sprachen, dass sich die konditionale Bedeutung nicht auf einzelne Morpheme zurückführen lässt. Im Spanischen z.B. wird die Konditionalform aus dem Stamm, der die gleiche Form wie der Infinitiv aufweist, und der Endung, die homophon zum Indikativ Imperfekt ist, gebildet, vgl. cantar-ia. Das (aus Sicht morphembasierter Ansätze) Problematische an dieser Form ist, dass die Endung -ia allein nicht die konditionale Bedeutung tragen kann, da keine Beziehung zwischen dem Imperfekt und dem Konditional besteht. Nur in Verbindung mit der Stammform auf -ar wird die
Theoretische Grundlagen konditionale Bedeutung ausgedrückt. Andersherum trägt auch die Stammendung -ar nur dann die konditionale Bedeutung, wenn die Endung -ia folgt. Dieser Fall zeigt, dass den Affixen allein keine Bedeutung zugesprochen werden kann, sondern dass sich diese nur aus der gesamten Form, also holistisch, erschließen lässt: „In other words, it is as though the affixes are behaving like parts of a non-compositional idiom such as ‘pull someone’s leg‘“ (Spencer 2004: 85). Morphologisch komplexe Wörter können deshalb als „constructional idioms“ (Spencer 2004: 84) bezeichnet werden. Köpcke & Panther (i.V.) befassen sich mit -er-Derivationen im Deutschen (Lehrer, Maler) und vergleichen sie mit Nomen, die auf das Pseudosuffix -er auslauten, aber nicht in Stamm und Derivationssuffix -er segmentiert werden können (Hammer, Priester). Die Analyse erfolgt im Rahmen der Konstruktionsgrammatik. Anhand der prozentualen Verteilung der maskulinen Genuszuweisung bei Nomen auf Pseudosuffix -er zeigen die Autoren, dass Sprecher diese Nomen, wenn sie wie prototypische „echte“ -er-Derivationen eine agentive Bedeutung haben, auch wie „echte“ -er-Derivationen behandeln und ihnen das maskuline Genus zuweisen. Außerdem zeigt ein diachroner Vergleich, dass Nomen mit ursprünglich nichtmaskulinem Genus als Maskulina reklassifiziert werden, was auf die „Sogwirkung“ der prototypischen -er-Gestalten zurückgeführt wird (Köpcke & Panther i.V.: 13). Dieses Beispiel weist darauf hin, dass Sprecher die Wortgestalt nicht in Stamm und Suffix segmentieren, sondern holistisch verarbeiten. Die Ähnlichkeiten zwischen Grundannahmen der Konstruktionsgrammatik und des Schema-Ansatzes, der im Rahmen der Kognitiven Grammatik verankert werden kann, sind evident: Statt einer strikten Trennung von Grammatik und Lexikon wird von einem Kontinuum ausgegangen, das diese beiden Bereiche als Pole aufweist. Komplexe Äußerungseinheiten werden als nichtkompositionell analysiert und es wird davon ausgegangen, dass die Bedeutungszuweisung holistisch erfolgt. Unterschiede zwischen den Ansätzen liegen m.E. eher in formalen Details als in grundlegenden Annahmen zum Aufbau des Sprachwissens und der Sprachverarbeitung. Konsequenzen für den Spracherwerb Der Spracherwerb kann aus dieser Perspektive nicht darin bestehen, dass die Pluralmarker segmentiert und Regeln zur Kombination der Marker mit den Wortstämmen erworben werden. Vielmehr wird angenommen, dass im Spracherwerb Schemata aus konkreten Wortformen abstrahiert und in einem assoziativen Netzwerk miteinander verknüpft werden. Diese Annahmen werden in gebrauchsbasierten Spracherwerbsmodellen ausformuliert (Behrens 2009,
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Kemmer & Barlow 2000, Tomasello 2005). 39 Der Spracherwerb beginnt aus dieser Perspektive mit dem Erwerb einzelner sprachlicher Einheiten, die zunächst unanalysiert in assoziativen Netzwerken als Vollformen (Chunks) gespeichert werden. So könnten Kinder bspw. die Wortform Füße erwerben, ohne sich bewusst zu sein, dass der Umlaut und das Schwa in dieser Wortform den Plural kennzeichnen. Kinder verwenden damit sprachliche Formen zwar tlw. zielsprachengerecht wie kompetente Sprecher, ihre Sprachfähigkeit ist aber noch sehr lexemspezifisch. Dies entspricht in etwa dem Konzept der prämorphologischen Phase des Spracherwerbs, wie Dressler & Karpf (1995) sie definieren. Morphologisch komplexe Formen werden in dieser Phase zwar bereits gebildet, aber als unanalysierte Chunks oder über Analogiebildungen lediglich reproduziert. 40 Durch die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Menschen zur Abstraktion und Generalisierung können im Spracherwerb auf der Basis des gebotenen Inputs und der daraus gespeicherten lexemspezifischen Konstruktionen abstraktere Muster oder Schemata erschlossen werden, die eine bestimmte Semantik oder grammatische Funktion transportieren. Diese Schemata sind insofern abstrakter als die konkreten Wortformen, als dass sie nur die Merkmale enthalten, die typischerweise bei den verschiedenen Wortformen auftreten. Wie Lieven & Tomasello betonen, besteht der Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Sprachkompetenz im Grad der Abstraktion sprachlicher Einheiten: „From the point of view of language development the difference between the child and the adult inventories is in the balance between fully item-based constructions and partially or fully abstract constructions” (Lieven & Tomasello 2008: 177). Damit wird ein wesentlicher Unterschied zu nativistischen Erwerbsansätzen (vgl. Abschnitt 2.1.2) deutlich: Der Spracherwerb wird im gebrauchsbasierten Ansatz nicht als von einem angeborenen Sprachgen im Sinne der Generativen Grammatik gesteuert modelliert, sondern ist allein durch den sprachlichen Input, also den Gebrauch von Sprache und durch allgemeine kognitive und soziale Fähigkeiten des Menschen zu erklären (vgl. Behrens 2009: 387). Wie Behrens (2009: 386) darstellt, ist die Frequenz, mit der die Items im Sprachgebrauch der Lerner oder Sprecher auftreten, aus dieser Perspektive das entscheidende Kriterium für die Vernetzung der Wortformen und die Abstrakti-
39 Die psycholinguistische Ausgestaltung dieser Annahmen erfolgt in den konnektionistischen Modellen. Diese werden von Günther (2004) als die neben den regelbasierten (symbolverarbeitenden) Modellen (vgl. das DM-Modell) existierende Grundposition in der Frage nach der mentalen Repräsentation von Flexionsmorphologie vorgestellt (vgl. z.B. Westermann u.a. 2009, McLeod u.a. 1998). 40 Diese Phase wird auch im DM-Modell angenommen (vgl. Abschnitt 2.1.2).
Theoretische Grundlagen on von Schemata, wobei zwischen Type- und Tokenfrequenz unterschieden werden muss: Whereas high token frequency leads to entrenchment and storage as ‘chunk’, type frequency leads to the recognition of analogies between constructions. […] Schema formation and categorization can account for the extraction of very abstract rule-like phenomena that are not tied to specific lexical material.
Bezogen auf die deutsche Pluralbildung würde dies bedeuten, dass Pluralmarkierungen, die zwar bei einer relativ geringen Anzahl von Nomen angewendet werden, diese Nomen dafür aber im Sprachgebrauch hochfrequent sind, nicht als solche erkannt werden. Ein Beispiel hierfür bietet die Pluralmarkierung -er. Diese Art der Pluralmarkierung ist nicht mehr produktiv und wird nur bei relativ wenigen Nomen angewendet (z. B. Eier, Kinder), die aber in den meisten Fällen hochfrequent sind. Die Konsequenz müsste also sein, dass Kinder im Spracherwerb -er nicht als Pluralmarkierung erkennen, sondern die Pluralformen Eier oder Kinder als Ganze unanalysiert abspeichern. Tatsächlich zeigen Daten aus Erst- und Zweitspracherwerbsstudien (vgl. z.B. Szagun 2006, Wegener 2008a), dass Formen wie Eier oft auch für den Singular verwendet werden. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Kinder die Markierung -er nicht als Pluralmarkierung erkennen. Eine Pluralmarkierung aber, die eine hohe Typefrequenz aufweist, also bei vielen Nomen angewendet wird, wird eher in ihrer Funktion als Pluralmarkierung erkannt. In Übereinstimmung mit den Annahmen der gebrauchsbasierten Erwerbsmodelle wurde in mehreren Studien zum Erst- und Zweitspracherwerb des deutschen Pluralsystems festgestellt, dass gerade der von Köpcke (1993) als besonders signalstark analysierte Marker -(e)n früh erworben und häufig übergeneralisiert wird und dass die Erwerbsprozesse nur unzureichend durch den Erwerb von (source-basierten) Regeln erklärt werden können (vgl. z.B. Behrens 2002, Bittner & Köpcke 2001, Köpcke 1998, Szagun 2001, Wegener 2008a). Köpcke (1993, 1998) zeigt, dass eine umfassendere Interpretation von Spracherwerbsdaten durch die Annahme einer Schema-Komponente im Spracherwerb möglich ist. In einer Reanalyse von Spracherwerbsdaten aus der Studie von Mugdan (1977) 41 wird gezeigt, dass monolingual deutschsprachige Kinder die Stimulusitems umso häufiger unverändert für den Plural übernehmen, je größer die Ähnlichkeit des Items mit dem prototypischen Pluralschema ist (Köpcke 1998: 312). Dieses Verhalten, das auch bei kompetenten Sprechern des Deut 41 In dieser Studie wurden Pluralformen zu Kunstwörtern in Anlehnung an das Design von Berko (1958) elizitiert.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
schen nachgewiesen werden konnte (Köpcke 1993: 183-203), zeigt, dass sich die Lerner/Sprecher bei der Produktion von Pluralformen an den gespeicherten Pluralschemata orientierten statt Pluralformen nach bestimmten Regularitäten aus der zugrundeliegenden Singularform zu generieren. 42 Die Pluralbildung erfolgt also nicht in Orientierung an der source (der Singularform), sondern am Produkt (der Pluralform). Zu diesem Schluss kommt auch Wegener (2008a): In der Auswertung ihrer Daten aus dem DaZ-Erwerb russischer, türkischer und polnischer Grundschulkinder zeigt sich, dass gerade die eindeutigste Regel der deutschen Pluralbildung, nämlich dass feminine Nomen, die auf -e enden, den Plural mit -n bilden, unverhältnismäßig oft verletzt wird. Statt des zielsprachlich korrekten -n-Plurals verwenden die Kinder häufig die Markierung -ø. Wegener (2008a: 107) stellt fest, dass sich diese Tatsache nicht mit der Annahme in Einklang bringen lässt, dass die Lerner auf der Singularform basierende Regeln zur Pluralbildung ausbilden: „Das aber zeigt, dass die Kinder die Aufgabe der Pluralbildung nicht vom Stamm aus lösen, an den Suffixe anzufügen sind, sondern dass sie outputorientiert von den Pluralformen ausgehen, für die sie Schemata ausbilden“ (Wegener 2008a: 108). Evidenzen für diese produktorientierte Bildung flektierter Formen, bei der die Sprecher also nicht einer Regel folgen, sondern eine Form bilden, die ein prototypisches Schema für die gewünschte Funktion abbildet, liefern auch Untersuchungen zu anderen Sprachen, z.B. Bybee & Slobin (1982), Bybee & Moder (1983) zum Englischen und Kapatsinski (2012, 2013) für eine Kunstsprache. Dennoch kann diese produktorientierte Herangehensweise nicht die einzige Strategie der Sprecher sein. Dies würde implizieren, dass Sprecher Pluralformen völlig unabhängig von Eigenschaften der Singularform bilden. Wie Wegener (1995a: 48) kritisch einwendet, müsste das dazu führen, dass das prototypische Pluralschema, das auf -en endet, noch weitaus häufiger produziert wird, als dies in Spracherwerbsstudien bisher festgestellt wurde. Auch zeigen viele Spracherwerbsstudien, dass die Lerner sehr wohl zum großen Teil Pluralbil 42 Ein vergleichbares Ergebnis wurde auch bei der Reanalyse englischer Spracherwerbsdaten von Berko (1958) und Anisfeld & Tucker (1967) erlangt. Die Kinder scheinen auch in diesen Experimenten die Pluralformen zu Kunstwörtern durch einen Abgleich mit gespeicherten, mehr oder weniger prototypischen Singular- oder Pluralschemata zu bilden (vgl. Köpcke 1993: 160-171). Auch ein Experiment, in dem die Bedingungen umgekehrt wurden, die Kinder also zu gegebenen Pluralformen einen Singular bilden sollten, belegt die Annahme einer SchemaKomponente: Die Probanden wiederholen den Stimulus vermehrt dann unverändert, wenn er wenig Ähnlichkeit mit einem prototypischen Pluralschema aufweist. Im Gegenzug wird die Endung umso häufiger getilgt, je mehr Ähnlichkeiten der Stimulus mit einem prototypischen Pluralschema aufweist (Köpcke 1993: 176).
Theoretische Grundlagen dungen vornehmen, die den Regularitäten des Systems entsprechen, also in dem Sinne source-orientiert vorgehen (vgl. z.B. Laaha u.a. 2006, Abschnitt 2.1.3). Auch Kapatsinski (2012) zeigt, dass ein Grammatikmodell sowohl produktorientierte als auch source-orientierte Mechanismen umfassen sollte (wie es prinzipiell in der OT angelegt ist, vgl. Abschnitt 2.1.4), da beide bei der Produktion flektierter Formen eine Rolle spielen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das gebrauchsbasierte Netzwerkoder Schema-Modell also nicht primär die Beziehungen von Singular- und Pluralform betrachtet, sondern einen Ansatz zur Evaluation der verschiedenen Pluralformen vor dem Hintergrund der kognitiven Ausstattung des Sprechers bietet. Wie verschiedene Studien nachweisen, spielt die Strategie, eine Form produktorientiert zu bilden, bei der Produktion morphologisch komplexer Formen im Spracherwerb eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
.. Synthese Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass in den diskutierten Modellen zwei Perspektiven deutlich werden: Strukturalistische und generative Ansätze und auch die Natürlichkeitstheorie beschreiben die Pluralbildung ausgehend von der Singularform, d.h. in Form von source-orientierten Regularitäten. Das Schema-Modell beschreibt das Pluralsystem hingegen in Form von produktorientierten Schemata. 43 Überträgt man diese Perspektiven auf den Sprecher, so bedeutet das, dass zwei Strategien bei der Pluralbildung relevant sein müssten: Zum einen gehen die Sprecher source-orientiert vor, indem sie die Basisform (den Singular) nach bestimmten Eigenschaften absuchen und darauf basierend die passende Pluralform bilden. Zum anderen erfolgt die Pluralbildung produktorientiert, indem die Sprecher eine Pluralform im Abgleich mit gespeicherten Pluralschemata produzieren. Im zuletzt diskutierten Netzwerkmodell lassen sich diese beiden Perspektiven vereinen. Einerseits werden durch die Speicherung in assoziativen Netzwerken Verknüpfungen von Singular- und Pluralgestalten hergestellt. Andererseits werden aber auch Verbindungen von Singular- und Pluralgestalten untereinander erstellt. Dies veranschaulicht Abbildung 5:
43 Die Optimalitätstheorie ist in ihren Grundzügen zwar ebenfalls eher produktorientiert, dies wird in den vorliegenden Analysen zum deutschen Pluralsystem aber kaum eingelöst.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
Abb. 5: Verknüpfung der Schemata im assoziativen Netzwerk.
Über der waagerechten, gestrichelten Linie sind Schemata abgebildet, die mit der Funktion Plural assoziiert sind, darunter solche, die mit der Funktion Singular assoziiert sind. Die Schriftgröße der Darstellungen symbolisiert dabei die Häufigkeit 44, mit der die jeweiligen Schemata durch konkrete Wortformen realisiert werden und damit ihre Stärke: Pluralformen auf -er sind seltener als solche auf -e, am häufigsten sind Pluralformen, die auf -en enden. Im Singular hingegen überwiegen Wortformen, die monosyllabisch sind, selten sind Wortformen, die auf -en enden. Wortformen, die auf -e enden, liegen dazwischen. Dabei wird deutlich, dass die Schemata meist sowohl mit der Funktion Plural als auch mit der Funktion Singular assoziiert sind: [die…-e] bspw. ist in etwa ebenso häufig in pluralen wie in singularen Kontexten anzutreffen. Eine monosyllabische Gestalt ohne spezifischen Wortauslaut hingegen kommt nur als Singular vor. Ein Schema, das auf -en endet, ist im Plural deutlich häufiger als im Singular. Die Linien, durch die Singular- und Pluralschemata miteinander verbunden sind, drücken mit ihrer unterschiedlichen Stärke ebenfalls aus, wie häufig die 44 An dieser Stelle handelt es sich bei den Häufigkeitsangaben noch um grobe Schätzungen. Eine genaue Analyse der quantitativen Verhältnisse im Wortschatz von Grundschulkindern findet sich in Abschnitt 2.2.
Theoretische Grundlagen Verbindungen sind: Monosyllabische Singularformen sind am häufigsten mit Pluralformen, die auf -e enden, verknüpft, Singularformen, die auf -e enden, am häufigsten mit Pluralformen auf -en. Ein entscheidender Faktor für die Vernetzung der Formen und die Stärke der Verknüpfung ist also ihre Frequenz. Nesset (2008) führt für diese zwei Arten der Relationen und Generalisierungen die Begriffe first-order und second-order schema ein. Ein first-order Schema ist eine Generalisierung über Formen, die die gleiche Funktion bzw. Bedeutung tragen. Ausformuliert wäre ein solches first-order Schema also bspw.: Eine deutsche Pluralform ist zweisilbig und endet auf -en. Es ist damit produktorientiert, da es die charakteristischen Eigenschaften einer Form, die eine bestimmte grammatische Funktion transportiert, angibt. Ein second-order Schema ist eine Generalisierung über die paradigmatischen Verbindungen verschiedener first-order Schemata. Es könnte für das Deutsche bspw. lauten: Singulare, die monosyllabisch sind und der maskulinen oder neutralen Genusklasse angehören, sind mit Pluralen verknüpft, die auf -e enden. Second-order Schemata sind damit sourceorientiert, da sie spezifischen Singulargestalten (first-order Schema) spezifische Pluralgestalten (first-order Schema) zuordnen. 45 Summing up, in traditional approaches to phonology and morphology the emphasis has been on source-oriented generalizations, e.g. captured by procedural rules applying to underlying representations (e.g. Chomsky and Halle 1968). The focus in Cognitive Grammar is different. Here, product-oriented generalizations are primary in that they are expressed in first-order schemas. Source-oriented generalizations are captured in secondorder schemas that are based on first-order schemas (expressing product-oriented generalizations) (Nesset 2008: 21).
Diese Differenzierung bildet im Folgenden die theoretische Grundlage der Hypothesen und Analysen. Die Unterscheidung zwischen first- und second-order Schemata wird durch die deutschen Begriffe Schema oder einfaches Schema (= first-order Schema) und Paar-Schema (= second-order Schema) ersetzt. Eine Pluralbildung, die unabhängig von der zugehörigen Singularform im Abgleich mit dem prototypischen Pluralschema vorgenommen wird, ist produktorientiert. Wird jedoch ein Plural gebildet, der die Paarbeziehungen zwischen Singular- und Pluralschemata (also Paar-Schemata) berücksichtigt, liegt eine source-
45 Dabei kann die Zuordnungsrichtung auch umgekehrt sein: Nicht nur kann einer Singulargestalt aufgrund spezifischer Eigenschaften ein Partner im Plural zugewiesen werden, auch kann einer Pluralgestalt aufgrund spezifischer Eigenschaften der entsprechende Singularpartner zugewiesen werden. Der Fokus dieser Studie liegt jedoch auf erstgenanntem Fall.
Linguistische Modelle und ihre Implikationen für den Spracherwerb
orientierte Pluralbildung vor. 46 Mit dieser Unterscheidung ist es möglich, die verschiedenen Relationen und Generalisierungen der besprochenen Ansätze in einem theoretischen Rahmen, dem des gebrauchsbasierten Netzwerkmodells, zu erfassen. Wichtig ist also, dass, wenn im Folgenden von source-orientierten Pluralbildungen oder Strategien gesprochen wird, dies im Sinne eines PaarSchemas zu verstehen ist. Es bedeutet ausdrücklich nicht, dass ein Singularstamm durch die Anwendung bestimmter Regeln in eine Pluralform transformiert wird. Vielmehr muss der Begriff source-orientiert hier so verstanden werden, dass einer vorliegenden Singularform, die ein abstraktes Singularschema repräsentiert, ein dazu passendes Pluralschema zugeordnet wird. Die sourceorientierte Pluralbildung beruht also auf der Orientierung an Singular-PluralPaaren. Übertragen auf den Lerner impliziert dieses Modell, dass im Erwerbsverlauf Schemata und Paar-Schemata abstrahiert werden. Dies geht mit verschiedenen Strategien einher, die die Lerner bei der Pluralbildung anwenden. In Orientierung an das gebrauchsbasierte Erwerbsmodell (vgl. Abschnitt 2.1.5) wird der folgende Erwerbsverlauf angenommen: 47 In einem ersten Schritt speichern Lerner Wortformen holistisch und bauen dadurch ein assoziatives Netzwerk auf, in dem die Formen nach semantischen und phonologischen Ähnlichkeitsbeziehungen angeordnet sind. In dieser frühen Erwerbsphase haben die Lerner bereits erste Pluralformen holistisch gespeichert und können auch neue, unbekannte Pluralformen in direkter Analogie zu diesen gespeicherten Formen bilden. Stabile Schemata oder Paar-Schemata sind jedoch noch nicht ausgebildet. Deshalb kann auch kaum erwartet werden, dass die Lerner die Pluralbildungen produkt- oder source-orientiert vornehmen, denn dazu müssen Schemata vorliegen, die als Muster dienen könnten. Deshalb ist anzunehmen, dass die Lerner bei der Produktion von (unbekannten) Pluralformen auf eine andere Strategie zurückgreifen, um den Plural auszudrücken. In Frage kommt hier vor allem die Strategie, den Plural durch lexikalische Mittel (z.B. Zahlwörter oder Mengenangaben) auszudrücken und keine morphologische Markierung am Nomen selbst vorzunehmen. Dieses Phänomen wurde bereits in verschiedenen Studien zum Erst- und Zweitspracherwerb des deutschen Numerussystems festgestellt (vgl. Bittner 1999, Bittner & Köpcke 2001, Flagner 2008, Marouani 2006, Parodi u.a. 2004, Stephany 2002) und ist im Rahmen des gebrauchsbasierten Erwerbsmodells gut begründbar. 46 Eine konkretere Ausformulierung dieser Annahmen erfolgt in Abschnitt 2.5. 47 An dieser Stelle wird noch nicht zwischen verschiedenen Spracherwerbstypen (Erst- oder Zweitspracherwerb) unterschieden. Diese Präzisierung erfolgt in Abschnitt 2.3.
Theoretische Grundlagen Erst ab einer bestimmten Menge an gespeicherten Wortformen werden Schemata abstrahiert, d.h. die Lerner bilden Generalisierungen über Wortformen, die mit der Funktion Plural und mit der Funktion Singular assoziiert sind. Da Pluralformen im Deutschen unterschiedliche Gestalten aufweisen, werden mehrere Schemata abstrahiert. Die Stärke dieser Schemata ist abhängig von der Anzahl der Nomen, die diese Schemata abbilden (= Typefrequenz der Schemamerkmale). Wie stark die verschiedenen Schemata mit den Funktionen Singular oder Plural assoziiert sind, hängt zum einen von ihrer Stärke, zum anderen aber auch von ihrer Stärke in der Kontrastkategorie ab (vgl. das Kriterium der Validität bei Köpcke 1993). Ist das Schema [die…-e] also sowohl im Singular als auch im Plural stark ausgeprägt, so ist es für keine der Funktionen besonders valide. Das Schema [die …-en] hingegen kommt im Singular nicht vor, ist aber im Plural sehr stark, so dass es für die Funktion Plural sehr valide ist. Wenn Lerner nun also vor der Aufgabe stehen, ihnen unbekannte Plurale zu bilden, stehen ihnen dazu nicht mehr lediglich konkrete, holistisch gespeicherte Formen zur Verfügung, sondern abstrakte Schemata, an denen sie sich orientieren können. Die Pluralbildungen erfolgen dann also produktorientiert. In einem nächsten Schritt abstrahieren die Lerner Paar-Schemata, d.h. sie bilden Generalisierungen über die Verbindungen verschiedener Singular- und Pluralschemata. In dieser Phase ist zu erwarten, dass die Lerner vermehrt der Strategie folgen, eine Pluralform zu bilden, die Teil des Paar-Schemas der gegebenen Singularform ist. Die Pluralbildungen sind also vermehrt sourceorientiert. Die Paar-Schemata sind nicht exklusiv, denn ein Singularschema kann Teil mehrerer Paar-Schemata sein. Z.B. kann ein Singular-Schema mit der Eigenschaft, monosyllabisch zu sein, Paar-Schemata mit Pluralschemata auf -e, -s, -er oder -en bilden. Die Paar-Schemata unterscheiden sich aber im Hinblick auf die Anzahl der Nomen, die diese Schemata konstituieren und sind deshalb unterschiedlich stark. Das Paar-Schema, das monosyllabische Maskulina mit Pluralen auf -e verknüpft, sollte bspw. stärker ausgeprägt sein als das, das diese Singularformen mit Pluralen auf -s verknüpft. 48
48 Ähnlich wie beim Prinzip der präferenten Flexionsklassenzugehörigkeit von Wurzel (1994) (vgl. Abschnitt 2.1.3) wird also die Anzahl der Exemplare, die ein Schema oder Paar-Schema konstituieren, als entscheidender Faktor für die Stärke des (Paar-) Schemas gewertet. Die verschiedenen Produktivitätsgrade, die im Ansatz von Dressler (2003) als entscheidender Faktor gesehen werden, sind hier nur insofern relevant, als dass miteinander konkurrierende Paar-Schemata (z.B. monosyllabische Maskulina und Pluralformen auf -e vs. monosyllabische Maskulina und Pluralformen auf -er) per se weniger stark sind als ein Paar-Schema, das mit keinem anderen Paar-Schema konkurriert (z.B. Feminina auf -e und Pluralformen auf -en).
Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern
An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die Annahme der Paar-Schemata nicht gleichzusetzen ist mit der Annahme, dass die Lerner letzten Endes doch Regeln ausbilden, anhand derer sie Wortstämme in Pluralformen transformieren bzw. Wortstamm und Pluralmarker zusammenfügen. Stattdessen werden die paradigmatischen Beziehungen verschiedener Schemata dadurch ausgebildet, dass diese aufgrund von semantischen und phonologischen Ähnlichkeitsbeziehungen im assoziativen Netzwerk miteinander verknüpft werden. Die Lerner erkennen also, dass bestimmte Singular- und Pluralschemata häufig zusammen auftreten (wie monosyllabische Singularformen mit Pluralformen auf -e). Es ist nicht anzunehmen, dass sich die skizzierten Phasen im Erwerbsverlauf trennscharf voneinander abgrenzen lassen. So ist es möglich, dass einige Paar-Schemata schon früh ausgebildet werden, während andere einfache Schemata noch nicht einmal abstrahiert wurden. So ist z.B. zu vermuten, dass Pluralschemata, die nicht native Endungen enthalten wie -ta (vgl. Schemata, Themata etc.) erst spät ausgebildet werden, da der dafür notwendige Input zunächst fehlt. Dafür werden Paar-Schemata, die auf häufigen Schemata beruhen, wahrscheinlich schon recht früh ausgebaut (z.B. das Paar-Schema, das ein Singularschema auf Schwa mit einem Pluralschema auf -en verbindet). Die Ausbildung dieser Schemata und Paar-Schemata ist eng mit dem individuellen Wortschatz jedes Lerners verknüpft. Wie dargestellt wurde, ist dabei die Typefrequenz der Schemamerkmale von Bedeutung, während eine hohe Tokenfrequenz für die Abstraktion von Schemata nicht förderlich ist. Der Erwerbsfortschritt erfolgt somit in Abhängigkeit vom Anwachsen des Lexikons. Für konkretere Annahmen bezüglich des Erwerbsverlaufs und der Ausbildung der Schemata und Paar-Schemata ist deshalb die nun folgende Analyse des Wortschatzes der Lerner unverzichtbar. Diese Analyse soll zeigen, welche Schemata und Paar-Schemata die Lerner auf der Basis ihres Wortschatzes abstrahieren können.
. Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern Die Analyse orientiert sich an zwei Fragen: 1. Welche Pluralformen sind im kindlichen Wortschatz überhaupt vorhanden? Kann angenommen werden, dass Grundschulkinder über die gleichen Pluralschemata verfügen wie kompetente Sprecher des Deutschen? Wie stark sind die verschiedenen Pluralschemata ausgeprägt und wie valide übermitteln sie die Funktion Plural?
Theoretische Grundlagen 2.
Wie stellen sich die Verknüpfungen von Singular- und Pluralschemata dar? Diese Frage berücksichtigt die Verbindungen, die sich zwischen Formen beider Funktionen etablieren, also die Paar-Schemata.
Zur Beantwortung dieser Fragen stehen verschiedene Korpora zur Verfügung, z.B. Augst (1984) oder Wagner u.a. (1990-1999). Im Korpus von Pregel & Rickheit (1987) wurde der mündliche und schriftliche produktive Wortschatz von insgesamt 1049 Kindern im Grundschulalter wortartenspezifisch und mit Frequenzangaben zusammengestellt. Aufgrund der großen Anzahl an Kindern, bei denen der Wortschatz erhoben wurde, ist dieses Korpus das umfassendste und wird für die folgende Analyse zugrunde gelegt. Die in diesem Korpus dokumentierten Sprachproduktionen der Kinder wurden durch Impulse zu vier Themen angeregt: Lustige Geschichte, Tiergeschichte, Unfall(bericht), Beschreibung von Personen bzw. Kasperpuppen. Darüber hinaus gab es frei entwickelte Sprachproduktionen, die keinem der Themen zugeordnet werden können. Diese Themenbreite wurde von den Autoren der Studie bewusst gewählt, um zu vermeiden, dass die Zusammensetzung des Wortschatzes vor allem durch ein spezifisches Thema oder Sprechanlass bedingt ist. 49 Ein Vergleich dieses Korpus mit Korpora zur Erwachsenensprache ergibt dabei, dass „die Ranghäufigkeitsfolgen der Substantive in verschiedenen Korpora zur Erwachsenensprache im Vergleich mit der Ranghäufigkeitsliste des vorliegenden Korpus zum Wortgebrauch des Grundschulkindes [stark divergieren]“ (Pregel & Rickheit 1987: 17). Zwar seien die Unterschiede auch auf unterschiedliche Themen und Impulse der verschiedenen Erhebungsmethoden zurückzuführen, die Autoren betonen jedoch, dass die Differenzen „nicht zuletzt auch auf sprachentwicklungsbezogenen Tendenzen, auf Haltungen, Einstellungen und Erfahrungen der Sprecher/Schreiber in den referentiell semantischen Bezugsbereichen kognitiver und emotionaler Art [gründen]“ (Pregel & Rickheit 1987: 17). 50 Auf der Grundlage dieses Korpus soll also analysiert werden, über welche Substantive und daraus abstrahierte einfache und Paar-Schemata Kinder im Grundschulalter produktiv verfügen. Dafür wurden die Ranghäufigkeitslisten,
49 Dennoch finden sich auch in diesem Korpus Auffälligkeiten, die wohl auf die berücksichtigten Themengebiete zurückzuführen sind. Die Autoren selbst nennen u.a. „eine gewisse Überrepräsentation der substantivischen Bezeichnungen für Teile des Kopfes“, die sich aus der Aufgabe der Beschreibung ergibt (Pregel & Rickheit 1987: 4). 50 Das Korpus ist zwar relativ alt, es ist aber nicht davon auszugehen, dass sich der Grundwortschatz von Grundschulkindern seit den 80er Jahren eklatant verändert hat. Der Liste im Anhang (Tabelle 20) sind die Substantive zu entnehmen, die ausgewertet wurden.
Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern
die Pregel & Rickheit (1987) für jedes Schuljahr (eins bis vier) auf der Basis mündlicher Äußerungen erstellt haben, ausgewertet. Aus diesen Listen wurden die Nomen berücksichtigt, die in mindestens zwei der vier Subkorpora, d.h. in min. zwei der vier Schulkassen mindestens fünf Mal verwendet wurden. Dieses quantitative Kriterium trägt dazu bei, tatsächlich die Substantive in der Analyse zu berücksichtigen, die nicht nur vereinzelt oder nur in einer bestimmten Altersstufe häufig verwendet werden, sondern als allgemein verfügbar gelten können. Es wurden ausschließlich die mündlichen Korpora zugrunde gelegt, da die schriftlichen nur für die dritte und vierte Jahrgangsstufe erhoben wurden. Das auf diese Weise zusammengestellte Subkorpus von 240 Nomen (s. Tabelle 20 im Anhang) umfasst somit nicht den gesamten aktiv und passiv verfügbaren nominalen Wortschatz von Grundschülern, sondern nur die Nomen, die mit einer gewissen Häufigkeit produktiv verwendet werden. Problematisch ist dabei, dass die Substantive von Pregel & Rickheit (1987) nur in ihrer Grundform aufgeführt wurden und die tatsächlichen Wortformen nicht erfasst sind. Die Zusammenstellung gibt deshalb keine Informationen darüber, wie häufig die Substantive im Singular oder Plural verwendet wurden. Es wird aber davon ausgegangen, dass alle Substantive von den Kindern in beiden Numeri verwendet werden, wie auch ein Vergleich mit der Celex-Datenbank nahelegt, in der für jedes Nomen Angaben für beide Numeri vorliegen. In Bezug auf die Tokenfrequenz von Singular- und Pluralformen kann jedoch aufgrund dieser Einschränkung keine Aussage getroffen werden. 51 In Tabelle 3 wird gezeigt, mit welcher Häufigkeit die verschiedenen Singular- und Pluralschemata in diesem Korpus abgebildet werden 52 und welche Singularformen mit welchen Pluralformen verknüpft sind. 53
51 Wegener (1995a: 16) betont zu Recht, dass die Tokenfrequenz ein wichtiger Anhaltspunkt für den Erwerb ist. Eine Auswertung der Tokenfrequenz im Grundwortschatz Erwachsener kann jedoch nicht als Ersatz für die Auswertung der Tokenfrequenz im kindlichen Wortschatz dienen. Für die Entwicklung von Schemata ist die Typefrequenz ohnehin das ausschlaggebende Kriterium (vgl. Abschnitt 2.1.5). 52 Dabei sind nur ein- oder zweisilbige Wortformen ohne Derivationssuffix berücksichtigt, bei Komposita wird das Determinatum entsprechend kategorisiert. 53 Die Schemata sind nicht mit den Pluralmarkierungen gleichzusetzen. So ist -el bspw. keine Pluralmarkierung, aber trotzdem Merkmal eines Pluralschemas, da es bei Pluralformen wie die Sessel, die Löffel etc. vorkommt. Dass -el dabei nicht als Pluralmarkierung segmentiert werden kann, heißt also nicht, dass es nicht trotzdem Merkmal eines Pluralschemas sein kann.
Theoretische Grundlagen Tab. 3: Singular- und Pluralschemata im kindlichen Wortschatz Singularschemata
Pluralschemata
[der …-ø] () [die…-ø] (/ UL)
[die …-en] [die …-e]
[die …-er]
[die …-s]
[die …-el]
o.Pl. 54
/ UL
/ UL
/ UL
/ UL
[das…-ø] (/ UL) 56 / UL
/ UL
[der …-e] (/ UL)
/ UL
[die …-e] (/ UL)
/ UL
[das …-e] ()
[der …-el] ()
/ UL
[die …-el] ()
[das …-el] ()
[der …-er] ()
/ UL
[die …-er] ()
/ UL
[das …-er] ()
[der …-en] (/ UL)
/ UL
[die …-en] ()
[das …-en] ()
[der …-VV] ()
[die …-VV] ()
[das …-VV] ()
55
Alle Angaben sind absolute Zahlen. Der bestimmte Artikel wird als Schemamerkmal angegeben, so dass die Pluralschemata alle den Artikel die enthalten. Die Singularschemata enthalten je nach Genus den Artikel der, die oder das. 57 Die Tabelle ist folgendermaßen zu lesen: Das Singularschema [der …-ø] 54 Keine Pluralform vorhanden (Singulariatantum). 55 Für Bank wurden sowohl die Pluralformen Bänke als auch Banken gezählt, deshalb ist die Summe der Pluralformen höher als die der Singularformen. 56 Für Ding wurden sowohl die Pluralformen Dinger als auch Dinge gezählt, deshalb ist die Summe der Pluralformen höher als die der Singularformen. 57 Die Aufnahme des bestimmten Artikels in die Schemata soll verdeutlichen, dass das Genus ein relevantes Merkmal der Singularschemata ist. Wie Binanzer (2015) zusammenfasst, zeigen sprachstatistische Untersuchungen, dass zweigliedrige Nominalphrasen, bestehend aus Artikel und Nomen, hochfrequent sind und tlw. wohl auch holistisch gespeichert werden. Dass je nach Kasus natürlich auch andere Artikelformen auftreten oder Nomen auch ohne bestimmten
Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern
wird 55 mal abgebildet, d.h. es gibt im Korpus 55 monosyllabische Maskulina, von denen keines umgelautet ist. Von diesen 55 sind zwei einer Pluralform zugeordnet, die auf -en endet, 42 sind einer Pluralform auf -e zugeordnet, von denen 25 umgelautet sind. Fünf sind mit Pluralformen auf -er verknüpft, von denen vier umgelautet sind und schließlich sind drei mit einer Pluralform auf -s verbunden. Einfache Schemata Im Folgenden geht es zunächst um die Analyse der einfachen Schemata, die die Lerner auf Basis dieses produktiven Wortschatzes für die Funktionen Plural und Singular ausbilden können. Wie der Tabelle 3 zu entnehmen ist, treten Pluralformen mit den Endungen -n 58, -e, -er, -s und -el auf. Diese Formen sind in einigen Fällen umgelautet. In Tabelle 4 wird zusammengefasst, wie häufig die verschiedenen Schemata jeweils für die Funktion Singular und Plural auftreten. Der Vergleich wird auf die Schemata mit dem Artikel die beschränkt, da Schemata mit den Artikeln der oder das (im Nominativ und Akkusativ) nur im Singular auftreten. Da der Umlaut immer in Kombination mit den genannten Endungen vorkommt, kann er nicht als isoliertes Schemamerkmal analysiert werden und wird in der Tabelle deshalb erst einmal nicht berücksichtigt, weiter unten aber diskutiert. 59 Die zweite Spalte „Types Plural“ gibt an, wie häufig die Schemata im analysierten Korpus bei Wortformen im Plural auftreten, die Spalte „Types Singular“ enthält die entsprechenden Angaben für die Funktion Singular. Die Frage nach der Verfügbarkeit der Pluralmarker bzw. der Pluralschemata kann damit direkt beantwortet werden: Wie diese Übersicht zeigt, sind alle nativen Pluralformen im produktiven kindlichen Wortschatz vorhanden. Es zeigt sich außerdem, dass bis auf wenige Pluralformen auf -s fast alle Pluralschemata mindestens zweisilbig sind und auf eine Schwasilbe auslauten.
Artikel verwendet werden, ist selbstverständlich. Hinzu kommt, dass der bestimmte Artikel auch Numerusinformationen trägt: die Artikel der und das kommen (im Nominativ und Akkusativ) nur im Singular vor, die hingegen auch im Plural. 58 Hierunter fallen alle Endungen, die eine Schwasilbe gefolgt von -n enthalten, also die Endungen -en, -eln, -ern. 59 Diese Analyse unterscheidet sich von Köpckes Ansatz, der den Artikel die, den Umlaut und die Endung als Schemamerkmale identifiziert, die additiv zusammenwirken: Je mehr dieser Merkmale vorhanden sind, desto näher liegt das Nomen am Pol des prototypischen Plurals. In Abschnitt 3.2.1 wird experimentell überprüft, wie diese drei Schemamerkmale zusammenwirken.
Theoretische Grundlagen Tab. 4: Verhältnis von Singular- und Pluralschemata im kindlichen Wortschatz
Schemata
Types Plural (N = )
Types Singular (N = )
[die…-ø]
(,%)
[die…-el]
(%)
(,%)
[die…-s]
(,%)
(,%)
[die…-er]
(%)
(,%)
[die…-e]
(%)
(,%)
[die…-en]
(,%)
Darüber hinaus ist festzustellen, dass Pluralformen auf -en am typefrequentesten sind, gefolgt von solchen auf -e, -er, -s und schließlich -el. Eine monosyllabische Form ohne charakteristischen Wortauslaut trägt nie die Funktion Plural. Vergleicht man nun, wie häufig diese Schemata im Vergleich dazu auch im Singular auftreten, so zeigt sich, dass eine Form mit dem Artikel die und der Endung -en die Funktion Plural absolut valide übermittelt: Das Schema [die… -en] kommt im Singular gar nicht vor. 60 Demgegenüber ist eine monosyllabische Form ohne charakteristischen Auslaut absolut valide für die Übermittlung der Funktion Singular. Die übrigen Formen sind zwischen den beiden Polen anzusiedeln: Da das Schema [die…-s] nur einmal im Singular auftritt, ist auch dessen Validität als sehr hoch einzustufen. Dem Schema [die…-er] stehen zwei Nomen im Singular immerhin 42 im Plural gegenüber. Die Validität dieses Schemas ist deshalb höher einzustufen als die des Schemas [die…-el], das nur sechs Mal im Plural auftritt. Das Schema [die…-e] weist schließlich die geringste Validität auf, da es sehr häufig im Singular auftritt. Die Schemata sind also in dieser Reihenfolge von abnehmender Validität für die Übermittlung der Funktion Plural: -en > -s > -er > -el > -e. Es ist also nach dieser Analyse davon auszugehen, dass Lerner im Erwerbsverlauf die ermittelten Pluralschemata ausbilden, wobei das Schema [die…-en] besonders stark mit der Funktion Plural assoziiert ist, das Schema 60 Grundsätzlich ist für die Bestimmung der Validität die Festlegung der Kontrastkategorie problematisch, wie auch Köpcke (1993) darlegt. So können im Prinzip nicht nur die Formen des Nominativs, sondern auch die der anderen Kasus eine Rolle spielen: Im Dativ Plural enden die meisten Nomen auf -(e)n, im Genitiv Sg. auf -s. Auch die plurale Artikelform die verändert ihre Form im Dativ Pl. zu den, im Genitiv Pl. zu der. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass für die Probanden dieser Untersuchung der Genitiv, zumal in der gesprochenen Sprache, so gut wie keine Rolle spielt und auch der Dativ erst spät erworben wird (vgl. z.B. Wegener 1995b). Deshalb ist eine Beschränkung der Analyse auf die Formen des Nominativs und Akkusativs vertretbar.
Das Numerussystem im Wortschatz von Grundschülern
[die…-ø] dagegen gar nicht. Die anderen Schemata liegen entsprechend der ermittelten Validität dazwischen. 61 Betrachtet man an dieser Stelle das Auftreten des Umlauts in Kombination mit den Endungen, so zeigt sich, dass die Umlautung des Stammvokals die Validität der Schemata für die Funktion Plural in allen Fällen, außer bei den Endungen -n und -s, erhöht. In Kombination mit der Endung -n kommt der Umlaut bei Singularformen lediglich in einem Fall vor (Rücken), jedoch in keinem Fall bei Feminina. Der Umlaut macht ein Schema, das auf -n endet, damit jedoch nicht valider, da es auch ohne Umlaut bereits absolut valide ist. Bei Schemata, die auf -s enden, spielt der Umlaut weder im Singular noch im Plural in diesem Korpus eine Rolle. Die Validität verändert sich also auch in diesem Fall nicht. In Kombination mit der Endung -er kommt der Umlaut im Singular weder bei Feminina noch bei Neutra oder Maskulina vor, im Plural hingegen sind 22 Formen umgelautet. Der Umlaut trägt also dazu bei, die Validität einer Pluralform, die auf -er auslautet und ohne Umlaut bereits recht valide ist, zu erhöhen. In Kombination mit der Endung -e tritt der Umlaut im Singular bei vier Nomen auf, im Plural deutlich häufiger. Eine Pluralform, die auf -e endet, wird damit deutlich valider, wenn sie zusätzlich einen Umlaut aufweist. Bei der Endung -el ist eine Pluralform des vorliegenden Korpus umgelautet, im Singular tritt hingegen keine umgelautete Form dieser Endung auf. Auch hier erhöht der Umlaut also die Validität der Endung. Paar-Schemata Im Weiteren geht es nun um die Frage, welche Paar-Schemata die Lerner auf Basis ihres produktiven Wortschatzes entwickeln können. Wie gestalten sich also die Verknüpfungen zwischen den Singular- und Pluralschemata? Wie Tabelle 3 zu entnehmen ist, sind monosyllabischen Maskulina ganz überwiegend Pluralschemata mit Endung auf -e zugeordnet. Diese Zuordnung stellt damit ein stabiles Paar-Schema dar. Nur wenige Plurale enden auf -n oder -er. Monosyllabische Feminina sind im Gegensatz zu den Maskulina und Neutra dieser Struktur insgesamt selten: Sie stellen nur 14% der Monosyllabia dar. Für 61 Im Gegensatz zum Konzept der Signalstärke bei Köpcke (1993) (vgl. Abschnitt 2.1.5) werden die Faktoren Salienz und Ikonizität hier nicht berücksichtigt. Diese Faktoren sind bei der Analyse ganzer Schemata nicht zu ermitteln, sondern greifen nur, wenn man die Pluralmarkierungen isoliert betrachtet. Ein Pluralschema mit der Endung -en kann per se nicht salienter sein als bspw. ein Pluralschema mit der Endung -s. Die Pluralmarkierung -en ist hingegen salienter als die Pluralmarkierung -s, da erstere silbenbildend ist. Die Salienz ist ebenso wie die Ikonizität also immer nur für isolierte Markierungen und in Abhängigkeit von der dazugehörigen Singularform ermittelbar. Aus diesen Gründen werden diese Faktoren nicht berücksichtigt.
Theoretische Grundlagen dieses Singularschema gibt es zwei Pluralschemata, die fast gleichermaßen häufig zugeordnet werden: Solche mit Endung auf -n und umgelautete mit Endung auf -e. Dieses Verhältnis weicht deutlich vom deutschen Gesamtwortschatz ab, in dem die Pluralformen auf -n die auf UL + -e um ein Vielfaches übersteigen. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Lerner neben einem PaarSchema, das eine monosyllabische, feminine Wortform im Singular mit einer Wortform auf -n im Plural verbindet, auch ein Paar-Schema ausbilden, das diese Wortform mit einer umgelauteten Wortform auf -e im Plural verbindet. Angesichts der recht ausgeglichenen quantitativen Verhältnisse sollten beide PaarSchemata in etwa gleichstark sein. Die quantitativen Verhältnisse in diesem Korpus lassen also nicht den Schluss zu, dass Lerner eine Pluralform auf -n zu einem monosyllabischen Femininum gegenüber einer Pluralform auf -e präferieren, wie es im Rahmen strukturalistischer Ansätze oder der Natürlichkeitstheorie anzunehmen wäre. Monosyllabische Neutra gehen in den meisten Fällen mit Pluralformen auf -er einher. Es ist also davon auszugehen, dass die Lerner ein stabiles Paar-Schema entwickeln, das monosyllabische, neutrale Wortformen mit Pluralformen auf -er verbindet. Auch Pluralformen mit Endung auf -e sind für diesen Strukturtyp häufig, auch dies stellt damit ein solides PaarSchema dar. Auch hier liegt damit wieder eine Abweichung von den Verhältnissen im deutschen Gesamtwortschatz vor: Dort sind Plurale auf -er insgesamt deutlich seltener als solche auf -e und auch nicht produktiv. Singularformen auf -e werden über alle Genera hinweg und ausnahmslos Pluralformen auf -n zugeordnet. Dabei fällt auf, dass ein Großteil dieser Strukturtypen Feminina sind, Maskulina und Neutra sind kaum vertreten. Maskulina und Neutra auf -el, -er oder -en werden ganz überwiegend Pluralformen zugeordnet, die ebenfalls auf -el, -er oder -en enden. Singular- und Pluralformen sind in diesen Fällen also formidentisch oder unterscheiden sich höchstens durch einen Umlaut. Feminina auf -el (es liegen nur zwei vor: Schaukel und Troddel) sind Pluralformen auf -n zugeordnet. Feminina auf -er finden sich wieder nur zwei (Mutter und Schwester), von denen eins dem Pluralschema auf -er zugeordnet wird (Mütter), das andere dem auf -n (Schwestern). Die Lerner haben also in ihrem produktiv verfügbaren Wortschatz keine Evidenzen dafür, dass im Gesamtwortschatz die Pluralbildung durch -n für das Singular-Schema [die …-er] überwiegt. Die Nomen, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, setzen sich in diesem Korpus vor allem aus Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mama/Mami, Papa/Papi etc. zusammen. Lediglich die Neutra Auto und Pony dienen in dieser Gruppe nicht der Bezeichnung von Familienmitgliedern. Alle Nomen dieses Strukturtyps sind Pluralformen auf -s zugeordnet. Dabei ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass
Spracherwerbstypen
die Nomen zur Verwandtschaftsbezeichnung (Mami, Papi etc.) überhaupt nur selten im Plural verwendet werden. Die Analyse der Verknüpfungen von Singular- und Pluralschemata, der Paar-Schemata, die die Lerner auf Basis ihres produktiven Wortschatzes ausbilden können, zeigt, dass die Verhältnisse in großen Teilen mit denen des deutschen Gesamtwortschatzes übereinstimmen. Relevante Unterschiede liegen lediglich für die Pluralbildungen bei monosyllabischen Feminina, Neutra sowie Feminina auf -er vor. Für die Analyse der Paar-Schemata wurden die Kriterien Auslaut und Genus der Singularformen zugrunde gelegt, wie es in allen sourceorientierten Beschreibungen des deutschen Numerussystems üblich ist. Die dahinterstehende Annahme ist also, dass das Genus des Nomens als Teil des Singularschemas gespeichert ist. Für den Erstspracherwerb liegen Studien vor, die bestätigen, dass das Genus tatsächlich als Information für die Pluralbildung genutzt wird (vgl. z.B. Laaha u.a. 2006). Für den Zweitspracherwerb ist dies jedoch zweifelhaft, wie z.B. die Studie von Marouani (2006) zeigt. Prinzipiell gilt das Genus als eine der größten Fehlerquellen im DaZ-Erwerb. Inwiefern also das Genus für die DaZ-Lerner als Teil des Singularschemas verfügbar ist und damit auch bei der source-orientierten Pluralbildung eine Rolle spielt, muss im empirischen Teil überprüft werden.
. Spracherwerbstypen In den bisher skizzierten Annahmen der morphologischen Modelle und ihren Implikationen zum Erwerb und zur Repräsentation flexionsmorphologischen Wissens wurde noch nicht systematisch zwischen verschiedenen Spracherwerbstypen unterschieden. In diesem Abschnitt wird neben terminologischen Klärungen die Frage diskutiert, ob überhaupt und wenn ja, worin sich Erst- und Zweitspracherwerbsprozesse voneinander unterscheiden, ob also für die Probandengruppe dieser Studie spezifische Annahmen aufgestellt werden müssen. Als Erst- oder Ausgangssprache (auch L1) wird in dieser Untersuchung die Sprache bezeichnet, die die Sprecher zeitlich als erste erworben haben, ohne dass damit eine Aussage über den Grad der Beherrschung dieser Sprache getroffen wird. 62 Dementsprechend ist die Zweitsprache (auch L2) die Sprache, die zeitlich nach der Erst- oder Ausgangssprache erworben wird. Im Unterschied zum Erwerb einer Fremdsprache zeichnet sich der Zweitspracherwerb typi 62 Der Begriff Muttersprache wird aufgrund seiner emotionalen Konnotation (vgl. Ahrenholz 2010a und Oksaar 2003) vermieden.
Theoretische Grundlagen scherweise dadurch aus, dass er ungesteuert verläuft und dass die Zweitsprache die Verkehrssprache des Landes ist, in dem der Lerner lebt. Eine Fremdsprache hingegen wird typischerweise gesteuert, das heißt im Rahmen von institutionalisiertem Unterricht erworben und ist nicht die Verkehrssprache des Landes, in dem der Lerner lebt (vgl. z.B. Oksaar 2003). 63 In dieser Untersuchung wird vom Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gesprochen, da den Probanden gemein ist, dass sie in einem Land aufwachsen, dessen Verkehrssprache nicht ihre Erstoder Ausgangssprache ist. Zwar ist ein gewisser Grad an institutioneller Steuerung ihres Deutscherwerbs nicht auszuschließen (Sprachförderprogramme in Kindergärten und Schulen etc.), doch überwiegt der Kontakt mit der deutschen Sprache in Situationen, die nicht durch Sprachunterricht strukturiert sind. 64 Eine weitere, nicht ganz unproblematische Differenzierung ist die zwischen dem sukzessiven und dem gleichzeitigen Erwerb zweier Sprachen (bilingualer Erwerb). Das Alter, in dem der erste Kontakt zur zweiten Sprache stattfindet, wird in der Regel als der entscheidende Faktor zur Unterscheidung angesehen. 65 Meisel unterscheidet dementsprechend drei Konstellationen des mehrsprachigen Spracherwerbs: den kindlichen Zweitspracherwerb, der auch als früher Zweitspracherwerb bezeichnet wird, den (bilingualen) Erstspracherwerb und den Zweitspracherwerb Erwachsener: „[S]uccessive language acquistition can justly be referred to as child L2 acquisition if AOA [age of onset of acquisition; V. W.] happens around age 4. It is thus expected to share some features with adult L2 acquisition and to differ, in this respect, from (2)L1“ (Meisel 2009: 12). Auch Ahrenholz (2010a: 5) fasst zusammen, dass in der Zweitspracherwerbsforschung meistens davon ausgegangen wird, dass ca. ab dem 3./4. Lebensjahr aufgrund der bereits erworbenen Sprachkenntnisse und der neuronalen und kognitiven Entwicklung für die Aneig-
63 Eine saubere Trennung zwischen den Begriffen Fremdsprache und Zweitsprache ist in vielen Fällen nicht möglich, da es einerseits kaum ungesteuerten Erwerb gibt, bei dem nicht auch steuernde Elemente wie z.B. Korrekturen von außen auftreten. Andererseits wird auch gesteuerter Erwerb in vielen Fällen durch ungesteuerten Erwerb ergänzt, z.B. durch Reisen ins Land der Zielsprache (vgl. Oksaar 2003). 64 Dabei wird der reguläre Deutschunterricht in der Schule nicht als Fremdsprachenunterricht betrachtet, da in den seltensten Fällen auf die spezifischen Bedürfnisse von Deutsch als Zweitsprache-Lernern eingegangen wird. Der reguläre Deutschunterricht ist deshalb überwiegend ein muttersprachlicher Unterricht. 65 Auf die viel diskutierte Rolle des Alters im Zweitspracherwerb kann nicht ausführlich eingegangen werden. Für einen Überblick über die Debatte sei an dieser Stelle auf Ahrenholz (2010b), Bast (2003), Czinglar (2014), Dimroth (2007), Grotjahn & Schlak (2010) und Meisel (2009) verwiesen.
Spracherwerbstypen
nung einer neuen Sprache eine veränderte Erwerbssituation besteht und deshalb ab diesem Zeitpunkt von frühem Zweitspracherwerb gesprochen [wird]. (Hervorhebungen i. O.). 66
Bei der Diskussion des Alters darf der Faktor der Qualität und Quantität des Inputs in der Sprache, die erworben wird, nicht vergessen werden. Hat ein Kind vor dem als entscheidend betrachteten Alter von drei bis vier Jahren eher selten und in unregelmäßigen Abständen Kontakt zu einer zweiten Sprache, wird man kaum dafür argumentieren können, dass es bilingual aufwächst, da die Erstsprache eindeutig dominant ist. De Houwer (2009: 4) berücksichtigt diese Faktoren, wenn sie in ihrer Unterscheidung zwischen bilingualem Erst- und frühem Zweitspracherwerb den Faktor des „regular input“ anlegt: „Regular input here refers to daily or almost daily contact with a language through interpersonal interaction or overhearing a language“. Die Probanden dieser Untersuchung lassen sich nach diesen Kriterien als Lerner mit Deutsch als Zweitsprache einstufen, da sie in ihren Familien überwiegend Türkisch oder Russisch sprechen und ein regelmäßiger Kontakt zum Deutschen deshalb vermutlich erst mit Eintritt in den Kindergarten oder sogar die Schule gegeben war. 67 Untersucht wird hier also der frühe Zweitspracherwerb. Mit der begrifflichen Unterscheidung von (bilingualem) Erstspracherwerb und (frühem) Zweitspracherwerb wird impliziert, dass der Erwerb einer zweiten Sprache ab einer Altersgrenze von etwa drei bis vier Jahren andere Charakteristika aufweist als der (mono- oder bilinguale) Erstspracherwerb. Ob diese unterschiedlichen Erwerbstypen auch im Bereich der Flexionsmorphologie Auswirkungen zeigen, ist umstritten. In der Untersuchung von Schwartz (2004) zeigten sich zwar Unterschiede im Erwerb der Syntax, aber nicht bei der Flexionsmorphologie: „In the domain of inflectional morphology, child L2 acquisition is more like child L1 acquisition, and in the domain of syntax, child L2 acquisition is more like adult L2 acquisition“ (Schwartz 2004: 120). 68 Jedoch kommen Thoma & Tracy (2006) in ihrer Untersuchung mit DaZ-Lernern, die im Alter von drei bis vier Jahren erstmals Kontakt zum Deutschen hatten, zu dem Ergebnis, dass der Erwerb der Wortstellung dem bei monolingualen Kindern ähnelt und sich nach einem Erwerbszeitraum von wenigen Monaten auch kaum noch Unterschiede im Grad der Beherrschung zeigen. Andere Bereiche, wie Genus und 66 Vgl. auch die Diskussion in Tracy & Gawlitzek-Maiwaldt (2000) und De Houwer (2009). 67 Eine genauere Beschreibung der Probandengruppe erfolgt in Abschnitt 3.1. 68 Schwartz selbst weist allerdings darauf hin, dass die Studien, auf die sie ihre Analyse gründet, methodisch problematisch und die Resultate deshalb nur bedingt gültig sind (vgl. Schwartz 2004: 119).
Theoretische Grundlagen Kasus und unregelmäßige Paradigmen der Flexionsmorphologie, stellten die jungen DaZ-Lerner jedoch vor größere Herausforderungen. Auch laut Meisels Analyse ist die Flexionsmorphologie eine Ebene, die zumindest in Teilen „undoubtedly subject to fundamental changes during very early developmental phases“ (Meisel 2009: 22) ist. Diese Ergebnisse legen zunächst den Schluss nahe, dass auch der frühe DaZ-Erwerb der Pluralbildung als spezifisches Teilsystem der Flexionsmorphologie Charakteristika aufweist, die ihn vom monolingualen Erwerb unterscheiden. Vergleicht man jedoch die bisher vorliegenden Ergebnisse von Arbeiten zum monolingualen Erst- und frühen Zweitspracherwerb des deutschen Numerussystems, so werden im Allgemeinen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Erwerbsverläufen deutlich: Sowohl im Erst- als auch im frühen Zweitspracherwerb gibt es anfänglich eine Phase, in der der Plural nicht durch morphologische Markierungen am Nomen, sondern durch lexikalische Mittel wie Zahlwörter oder andere Mengenangaben ausgedrückt wird. Auch die auftretenden Fehlermuster gleichen einander. Sowohl im L1- als auch im frühen L2- Erwerb werden vor allem Pluralformen auf -en, -e und -s übergeneralisiert (vgl. für den L1-Erwerb Behrens 2002, Bittner 1999, Bittner & Köpcke 2001, Clahsen u.a. 1992, Gawlitzek-Maiwaldt 1994, Köpcke 1998, Korecky-Kröll & Dressler 2009, Stephany 2002, Szagun 2001 und für den frühen L2-Erwerb Flagner 2008, Marouani 2006 und Wegener 1994, 2008a, b). Flagner (2008: 161) kommt in ihrer Studie deshalb zu dem Schluss, dass „die Vorgehensweise und die angewandten Erwerbsstrategien im Erwerb der deutschen Pluralmorphologie bei den beiden Kindergruppen [Kinder mit DaE und DaZ; V.W.] die gleichen sind“. Ein Faktor, der Erst- und Zweitspracherwerb prinzipiell voneinander unterscheidet, ist, dass beim Erwerb der Erstsprache gleichzeitig „die erste Erfahrung mit der Strukturierung der umgebenden Welt durch eine Sprache und mit der Sprachverwendung“ gemacht wird (Oksaar 2003: 108) und „zusammen mit den sprachlichen Mitteln auch stets neue Denkkategorien“ (Oksaar 2003: 108) erworben werden. Beim Erwerb der Zweitsprache hingegen lernen Sprecher „neue sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten für gedanklich vertraute Sphären“ (Oksaar 2003: 108). Übertragen auf die Kategorie Numerus bedeutet dies, dass die semantischen Konzepte von Singular und Plural bereits bekannt sind und den Zweitsprachenlernern in ihrer Erstsprache auch sprachliche Formen zum Ausdruck dieser Konzepte zur Verfügung stehen. Die Herausforderung des L2Erwerbs besteht dann darin, neue Formen für bereits vorhandene Kategorien zu erwerben. Ist die Kategorie Numerus in der Erstsprache hingegen nicht vorhanden oder anders strukturiert (z.B. durch Vorhandensein eines Duals), müssen auch die bereits erworbenen Kategorien neu strukturiert werden. Dies ist für den frühen Zweitspracherwerb sicherlich nur eingeschränkt gültig, da die kog-
Spracherwerbstypen
nitive Entwicklung im Alter von drei bis vier Jahren lange nicht abgeschlossen ist. Dennoch kann die sprachliche Vorerfahrung, die Lerner einer Zweitsprache mitbringen, als ein wesentlicher Faktor, der den Erst- vom (frühen) Zweitspracherwerb unterscheidet, definiert werden. Die Frage, wie diese sprachlichen Vorerfahrungen den Erwerb einer Zweitsprache beeinflussen, nimmt in der Zweitspracherwerbsforschung insgesamt eine prominente Stellung ein. Jarvis fasst zusammen, dass „[p]erhaps no area of second language research has received as much attention and remained as elusive as the influence of the first language” (Jarvis 2000: 246). Allein die Definition des Phänomens bereitet Schwierigkeiten. Wie Jarvis (2000: 250) darstellt, wird der Begriff Transfer 69 in sehr verschiedenen Kontexten verwendet: Transfer wird als Prozess der Übertragung zwischen L1 und L2 gesehen, als Beschränkung in der Aufstellung von Hypothesen, die Lerner in Bezug auf die L2 vornehmen, als Strategie, die Lerner verwenden, um Kenntnislücken in der L2 zu schließen, oder als inert outcome eines gemeinsamen konzeptuellen Systems, das den beteiligten Sprachen gemein ist. Mit Odlin kann aber zunächst die folgende Definition festgehalten werden: „Transfer is the influence resulting from similarities and differences between the target language and any other language that has been previously (and perhaps imperfectly) acquired“ (Odlin 1989: 27). In den Anfängen der Zweitspracherwerbsforschung wurde die Ausgangssprache der Lerner im Rahmen der so genannten Kontrastivhypothese, die auf Lado (1957) zurückgeht, als wichtigster (und im Prinzip einziger) Einflussfaktor im Zweitspracherwerb in den Vordergrund der Untersuchungen gerückt. Vor dem Hintergrund der behavioristischen Spracherwerbstheorie wurde angenommen, dass die im Erstspracherwerb erlernten sprachlichen Muster oder habits in die Zweitsprache übertragen werden. Wenn die Strukturen in Ausgangs- und Zielsprache gleich sind, erfolgt positiver Transfer, d.h. eine zielsprachengerechte Äußerung. Unterscheiden sich jedoch einzelne Strukturen der Ausgangs- und Zielsprache voneinander, ist ein negativer Transfer (Interferenz) zu erwarten, also nicht-zielsprachengerechte Bildungen. 70 Diese starke Version der Hypothese gilt allgemein als widerlegt. So wurde in empirischen Untersuchungen bspw. festgestellt, dass ähnliche Strukturen in den beteiligten Sprachen nicht unbedingt zu zielsprachlichen Äußerungen in der L2 führen, sondern dass Kontrastmangel auch Abweichungen von der zielsprachlichen Norm 69 „Transfer“ wird gleichbedeutend mit „Einfluss der Ausgangssprache“ verwendet (vgl. Odlin 2003: 436 für eine Auflistung der Vielzahl an Ausdrücken für dieses Phänomen). 70 Vgl. ausführlicher z. B. Bausch & Kasper (1979), Grießhaber (2010), Jeuk (2003), Oksaar (2003).
Theoretische Grundlagen bewirken kann (Bausch & Kasper 1979: 6). Besonders kritisiert wurde außerdem die Reduktion des komplexen Prozesses des Zweitspracherwerbs auf den Transfer aus der Ausgangssprache, der Anspruch, aus dem Vergleich der beteiligten Sprachen Lernschwierigkeiten vorhersagen zu können und die Außerachtlassung der Dynamik des Spracherwerbs (vgl. z.B. Bausch & Kasper 1979, Grießhaber 2002, 2010). Ausgehend von der Kritik an dieser Hypothese wurde im Rahmen der nativistischen Erwerbstheorie die Identitätshypothese (Dulay & Burt 1974) entwickelt, in der nicht mehr die Strukturen der Ausgangssprache, sondern lediglich die der Zielsprache als für den Zweitspracherwerbsverlauf entscheidend erachtet wurden. Dulay & Burt (1974) stellten in ihrer Studie fest, dass bei Lernern von Englisch als Zweitsprache trotz typologisch unterschiedlicher Ausgangssprachen (Spanisch und Chinesisch) dieselbe Abfolge im Erwerb von Morphemen zu beobachten war. Oksaar (2003: 105) fasst die Schlussfolgerungen dieser Studie zusammen: 1) Es sind die universalen kognitiven Mechanismen, mit denen der Lerner die zweitsprachigen Daten verarbeitet, es werden also angeborene mentale Strukturen wirksam gemacht, 2) Erst- und Zweitspracherwerb sind isomorph, d.h. es gibt dieselbe Reihenfolge des Erwerbs der Einheiten in der Zweitsprache wie bei derselben Sprache als Erstsprache, 3) Es gibt keine Einwirkung von der Erstsprache auf den Zweitspracherwerb. Transfers/Interferenzen kommen nicht vor. Fehler (Developmental errors) sind durch die Struktur der Zweitsprache bedingt.
Zwar wurde mit dieser Hypothese der Blick zu Recht auf die sprachliche Kreativität der Lerner im Erwerbsprozess gelenkt. Es wurde deutlich, dass die Lerner nicht lediglich den aufgenommenen Input wiedergeben, sondern Äußerungen produzieren, die sie so nicht gehört und abgespeichert haben können. Die komplette Negierung von Transferprozessen aus der Ausgangssprache war aber nicht lange haltbar und wird heute nicht mehr behauptet (vgl. Bausch & Kasper 1979: 11-12, Königs 2010: 757). In the early days of L2 acquisition research, several investigators, most notably Dulay and Burt (e.g. 1974), held the view that L1 and L2 acquisition are largely identical and that there are no transfer effects from the mother tongue. Hardly any L2 acquisition researcher would still subscribe to this view; rather, L1 transfer is considered to play a crucial role in L2 grammar acquisition (Parodi u.a. 2004: 697).
Ein Ansatz, der laut Königs die Faktoren Ausgangssprache und Strukturen der Zielsprache mit weiteren Faktoren vereint, ist die Interlanguage-Hypothese (Selinker 1972): „In gewisser Weise stellt die insbesondere auf Selinker (1972) zurückgehende Interlanguage-Hypothese einen Kompromiss zwischen den ersten beiden hier erwähnten, doch sehr divergenten theoretischen Positionen
Spracherwerbstypen
[Kontrastiv- und Identitätshypothese; V. W.] dar“ (Königs 2010: 357). Die Interlanguage-Hypothese besagt, dass Lerner einer Zweitsprache ein eigenes Sprachsystem ausbilden, das zwar instabil, aber systematisch sei und neben Eigenschaften der Ausgangs- und Zielsprache auch Eigenschaften aufweise, die sich aus keiner der beiden beteiligten Sprachen ableiten lassen. Since we can observe that these two systems [target language and utterances produced by the learner; V.W.] are not identical, then in the making of constructs relevant to a theory of second language learning, one would be completely justified in hypothesizing, perhaps even compelled to hypothesize, the existence of a separate linguistic system based on the observable output which results from a learner’s attempted production of a TL [target language; V.W.] norm. This linguistic system we will call ‘interlanguage’ (IL) (Selinker 1974: 35; Hervorhebungen i. O.).
Selinker stellt fünf zentrale psychologische Faktoren auf, die auf die Interlanguage einwirken: „language transfer”, „transfer of training”, „strategies of second language learning”, „strategies of second language communication” und „overgeneralization of TL linguistic material” (Selinker 1974: 35). 71 Dieser Ansatz reduziert die Vielfalt an Einflussfaktoren im Erwerb einer zweiten Sprache damit nicht auf Strukturen der Ausgangs- oder Zielsprache, sondern berücksichtigt individuelle Lernerfaktoren. 72 Auf dem heutigen Stand der Forschung wird theorieübergreifend als gesichert angesehen, dass die Ausgangssprache ein Faktor ist, der den Zweitspracherwerb beeinflusst (vgl. z.B. White 2007, Bybee 2008, MacWhinney 2001, Gass & Selinker 2008). Welche sprachlichen Bereiche vom Einfluss der Ausgangssprache betroffen sind, ist dagegen strittig. Laut Odlin (2003: 437) betrifft der Einfluss alle sprachlichen Ebenen, obwohl, wie Kaivapalu & Martin (2007: 134) zusammenfassen, speziell der Bereich der Flexionsmorphologie oft als „immune to the first language influence“ gilt. So stellen bspw. Parodi u.a. (2004) in ihrer Untersuchung zum Erwerb der Nominalphrase in der Zweitsprache Deutsch durch erwachsene Lerner fest, dass der Erwerb zwar anders verlaufe und mit mehr Schwierigkeiten verbunden sei als im Erstspracherwerb, ein konkreter Einfluss der Ausgangssprache auf den Erwerbsverlauf der Nominalmorphologie aber, im Gegensatz zum Erwerbsverlauf syntaktischer Phänomene, nicht festgestellt werden könne: „In sum, what the results do clearly indicate is that in both the nominal and the sentential domains, syntactic transfer is in evidence but morphological acquisition is problematic regardless of the proper 71 Vgl. zur Erläuterung der Prozesse z.B. Jeuk (2003: 21-22). 72 Auch das Konzept der Fossilisierung geht auf diesen Ansatz zurück.
Theoretische Grundlagen ties of the L1” (Parodi u.a. 2004: 700). MacWhinney, der generell annimmt, dass „L2 learning is so heavily influenced by transfer from L1 […] that it would be impossible to construct a model of L2 learning that did not take into account the structure of the first language” (MacWhinney 2008: 342) weist auch darauf hin, dass „in morphosyntax, it is typically impossible to transfer from L1 to L2” (MacWhinney 2008: 352). Dies gelte jedoch vor allem für „arbitrary forms and classes“, wie z. B. die Genuszuweisung in verschiedenen Sprachen. Die grammatischen Funktionen, die den Morphemen zugrunde liegen, könnten dagegen durchaus Gegenstand von Transferprozessen sein (MacWhinney 2008: 353). Kaivapalu & Martin (2007) und Jarvis & Odlin (2000) weisen jedoch zumindest für den gesteuerten Erwerb erwachsener Lerner nach, dass die Ausgangssprache auch den Erwerb im Bereich der Flexionsmorphologie beeinflusst. In den bisher vorliegenden Studien zum Zweitspracherwerb des deutschen Numerussystems wurde an keiner Stelle ein direkter Transfer festgestellt. Pluralmarkierungen aus der Erstsprache wurden also nicht ins Deutsche übertragen. Wegener (1994) stellt allerdings einen indirekten Einfluss der Erstsprache fest, da die türkischsprachigen DaZ-Lerner ihrer Untersuchung im Gegensatz zu den russisch- und polnischsprachigen DaZ-Lernern die Genuspräferenzen bei der Pluralmarkierung weniger beachten: The L1 does not influence the children’s language acquisition through direct transfer and consequently does not appear as interference, but, at most, in superordinate predispositions or in a general sensitivity for particular language phenomena and categories (Wegener 1994: 288).
Auch Bast (2003) kann in ihrer Untersuchung bei der russischsprachigen DaZLernerin, die im Alter von etwa 14 Jahren nach Deutschland immigriert ist, feststellen, dass diese die Pluralmarkierung am Nomen nach den Numeralia zwei bis vier auslässt, was auf einen Einfluss aus der Ausgangssprache schließen lässt. Abschließend sollen diese Überlegungen und Forschungsergebnisse zu den Unterschieden zwischen Erst- und frühem Zweitspracherwerb sowie zur Rolle der Ausgangssprache nun in die bisher im Rahmen des gebrauchsbasierten Erwerbsansatzes aufgestellten theoretischen Annahmen integriert werden. Die Erwerbsprozesse, die im Rahmen des gebrauchsbasierten Netzwerkmodells skizziert wurden, nämlich die Erkennung von formalen und semantischen Ähnlichkeiten und die graduelle Abstraktion von Schemata aus dem Input, beruhen auf allgemeinen kognitiven Mechanismen. Demzufolge ist zu erwarten, dass kindliche DaZ-Lerner diesen Erwerbsprozess ebenso wie die monolingual deutschsprachigen Lerner durchlaufen, da sie über identische kognitive Vo-
Spracherwerbstypen
raussetzungen verfügen. Es dürften sich demnach keine Unterschiede zwischen kindlichen DaZ-Lernern und monolingual deutschsprachigen Lernern im Erwerbsverlauf selbst zeigen. Die Tatsache, dass die Lernergruppen unterschiedlich lange Erwerbszeiträume aufweisen und die Quantität des Inputs unterschiedlich ist, sollte lediglich dazu führen, dass der Erwerbsprozess zeitlich versetzt durchlaufen wird. Diese Annahme steht in Übereinstimmung mit bisherigen Studien zum Erwerb des deutschen Numerussystems, in denen für den Erst- und frühen Zweitspracherwerb ähnliche Befunde erzielt wurden. Auf der anderen Seite ist jedoch zu berücksichtigen, dass Sprecher dem gebrauchsbasierten Erwerbsmodell zufolge ihre mentale Grammatik direkt aus ihrer sprachlichen Erfahrung ableiten. Im Falle des Erwerbs einer zweiten Sprache oder auch des bilingualen Erwerbs sind somit mehrere Sprachen involviert. Dass diese Spracherfahrungen auf die Verarbeitung weiterer Sprachen Einfluss nehmen, ist vor diesem Hintergrund nur folgerichtig. Schließlich wäre es, mit Haberzettl (2005: 142) gesprochen, auch eine äußerst unökonomische und unplausible Annahme, dass Lerner beim Erwerb einer Zweitsprache das sprachliche Wissen aus ihrer Erstsprache unterdrücken, statt es in den Erwerbsprozess einzubringen. Erwartbar ist deshalb, dass die Abstraktion von einfachen und PaarSchemata als grundlegender Prozess im Erwerb der Flexionsmorphologie für alle Lerner unabhängig von ihrer Ausgangssprache gilt. Innerhalb dieses Erwerbsprozesses ist jedoch anzunehmen, dass die Lerner den Input aufgrund ihrer unterschiedlichen sprachlichen Vorerfahrungen unterschiedlich analysieren. So könnten die vermuteten Strategien, die bei der Pluralbildung angewendet werden, unterschiedlich stark ausgeprägt sein oder einige Phasen könnten schneller oder verzögert durchlaufen werden. Um diese möglichen Unterschiede konkreter benennen zu können, werden im nächsten Abschnitt die Numerussysteme im Türkischen und Russischen vorgestellt und im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem Deutschen analysiert.
Theoretische Grundlagen
. Pluralbildung im Türkischen und Russischen .. Das russische Numerussystem 73 Das Russische gehört wie das Deutsche zur indoeuropäischen Sprachfamilie und lässt sich ebenfalls dem Typ der fusionierenden Sprachen zuordnen. Eine Eins-zu-Eins-Zuordnung von Form und grammatischer Funktion ist, wie auch im Deutschen, nicht gegeben. Die flexionsmorphologischen Paradigmen sind vielmehr durch Synkretismen gekennzeichnet. Veränderungen des Stammes oder Akzentwechsel kommen häufig vor. Auch in dieser Hinsicht weist das Russische damit Ähnlichkeiten zum Deutschen auf, wo z.B. die Pluralendung -er immer mit einer Umlautung des Stammvokals (wenn dieser umlautfähig ist) einhergeht. Man unterscheidet im Russischen die Numeri Singular und Plural 74, deren Semantik der des Deutschen entspricht. Das heißt, durch den Singular wird die Einzahl, durch den Plural die Mehrzahl ausgedrückt. Die Entscheidung zwischen Singular und Plural ist im Russischen ebenso wie im Deutschen obligatorisch, es gibt keine numerusneutrale Form des Nomens. Ebenso wie im Deutschen gibt es aber auch im Russischen Nomen, die auf eine Numerusausprägung festgelegt sind, die Singularia- und Pluraliatantum. 75 Den DaZ-Lernern mit russischer Erstsprache ist die funktionale und obligatorische Unterscheidung von Singular und Plural also aus ihrer Erstsprache bekannt. Der Nominativ Plural wird im Russischen durch die Endungen -y, -i, -a, -ja 76 gekennzeichnet. Mit den Pluralmarkierungen kann eine Akzentverschiebung einhergehen wie z.B. bei górоd – gorodá (Stadt/Städte). Auch suppletive Formen treten auf wie bspw. čeloyek – ljudi (Mensch/Menschen) (vgl. Mulisch 1996: 228). Den Fall, dass sich ein Nomen im Nominativ Plural nicht vom Nominativ Singular unterscheidet, wie es im Deutschen z.B. bei das Fenster – die Fenster vorkommt, gibt 73 Die Darstellung erfolgt auf Grundlage von Jachnow (2004), Mulisch (1965, 1996), Tošović (2002) und Unbegaun (1969). 74 In einigen Fällen sind alte Duale erhalten geblieben, z.B. shtany (die Hose). 75 Zur näheren Beschreibung vgl. Mulisch (1996: 228-229). 76 Alle russischen Grapheme werden in transliterierter Form angegeben. Ob es sich bei -y und -i um zwei eigenständige Phoneme handelt oder ob -y als Allophon von -i zu interpretieren ist, ist in der Literatur umstritten, wie Tošović (2002: 412) zusammenfasst: „Die Vertreter der Moskauer phonologischen Schule nehmen an, dass ɨ (Buchstabe ы) [-y, V.W.] kein Phonem sei, sondern eine Variante des Phonems i (Buchstabe и) [-i, V.W.], während die Anhänger der Leningrader phonologischen Schule ɨ als selbständiges Phonem ansehen“.
Pluralbildung im Türkischen und Russischen
es im Russischen nicht. Das Pluralsystem des Russischen beruht also ähnlich wie das des Deutschen auf einer Viele-zu-Eins-Relation zwischen Form und Funktion: Zum Ausdruck der Funktion Plural stehen mehrere Formen zur Verfügung. 77 Während in beiden Sprachen Suffixe zur Pluralbildung vorhanden sind, kommt nur im Deutschen eine Veränderung des Wortstamms durch den Umlaut als zusätzliche oder einzige Pluralmarkierung vor. Im Russischen wird der Wortstamm zwar in einigen Fällen ebenfalls verändert, jedoch geschieht dies nicht durch Umlautung des Stammvokals. Tab. 5: Pluralmarker im Russischen Singular
Plural
Dt. Übersetzung
stol
stoly
Tisch/Tische
nedelja
nedeli
Woche/Wochen
brat
bratja
Bruder/Brüder
slowo
slowa
Wort/Wörter
Ähnlich wie im Deutschen sind auch im Russischen auf dem Genus und Auslaut des Nomens basierende source-orientierte Präferenzen für die Zuordnung eines Nomens zu einer Pluralmarkierung festzustellen. Anders als im Deutschen ist das Genus des Nomens aber im Nominativ Singular am Auslaut des Nomens erkennbar: Maskulina enden auf einen Konsonanten, Feminina enden auf -a, Neutra auf -o oder -e. Feminina und Maskulina wählen präferiert Pluralformen auf -y/-i, Neutra wählen präferiert Pluralformen auf -a/-ja. Beide Pluralmarkierungen treten jedoch auch in der jeweils anderen Klasse auf. Das russische Pluralsystem ist also in Bezug auf die Zuordnung von Pluralschemata zu Singularschemata ebenso wie das Deutsche recht komplex. DaZ-Lerner mit russischer Ausgangssprache bringen also aus ihrer Erstsprache das Wissen mit, dass die Singularform die Einzahl, die Pluralform die Mehrzahl bezeichnet und dass die Unterscheidung obligatorisch ist. Außerdem liegen auch im Russischen mehrere Formen vor, mit denen die Funktion Plural markiert wird. Eigenschaften der source (vor allem Genus und Auslaut) stellen auch im Russischen ein wichtiges Kriterium für die Zuordnung der passenden Pluralform dar. Da das Genus im Russischen aber am Nomen selbst erkennbar
77 Diese Formen wiederum sind nicht exklusiv für die Kennzeichnung der Funktion Plural. Vielmehr treten dieselben Formen auch als Kasusmarker auf.
Theoretische Grundlagen ist, bleibt die Frage offen, ob für Sprecher bei der Pluralbildung tatsächlich die Genusinformation relevant ist, oder ob nicht vielmehr die phonologischen Eigenschaften, d.h. der Auslaut, ausschlaggebend ist. Als Unterschied zum deutschen Pluralsystem ist festzuhalten, dass die Pluralbildung durch die sogenannte Nullmarkierung im Russischen nicht existiert. Im Erstspracherwerb des russischen Numerussystems lassen sich ähnliche Prozesse wie im Erstspracherwerb des deutschen Numerussystems feststellen. Gagarina & Voeikova (2009: 199) zeigen, dass die Funktion Plural im Erstspracherwerb des Russischen zunächst lexikalisch markiert wird, ehe die Flexionsendungen dafür verwendet werden: „According to this study, girls express quantity lexically at an average of 21.3 months and boys at 24.8 by the equivalents of ‘more’ or ‘one more’ etc. before marking number inflectionally, i.e. before contrasting singular and plural forms of nouns”. Wie Slobin (1966) darstellt, werden ebenso wie im Deutschen morphologische Markierungen in Kontexten verwendet, in denen sie zielsprachlich nicht auftreten. In Bezug auf den Erwerb des Numerussystems zeigen Gagarina & Voeikova (2009: 198), dass Formen mit der Endung -i/-y deutlich häufiger abweichend gebildet werden als Formen mit der Endung -a. Dies kann durch die höhere Frequenz von Pluralformen auf -i/-y erklärt werden. Dies entspricht Untersuchungen zum Erwerb des deutschen Pluralsystems, in denen festgestellt wurde, dass die besonders valide Pluralform auf -(e)n häufiger abweichend verwendet wird als weniger valide Formen wie bspw. solche auf -er.
.. Das türkische Numerussystem Das Türkische ist eine nicht-indoeuropäische und typologisch vom Deutschen verschiedene Sprache, die zentrale grammatische Merkmale des Deutschen nicht teilt. Das Türkische wird zum Typ der agglutinierenden Sprachen gezählt. Grammatische Funktionen werden fast ausschließlich durch Suffixe ausgedrückt, die an den Wortstamm angefügt werden. Diese Suffixe sind prinzipiell eineindeutig, d.h. dass eine Funktion durch nur eine Form ausgedrückt wird und diese Form auch keine anderen Funktionen trägt. Außerdem wirkt im Türkischen das Prinzip der Vokalharmonie, das zwischen hellen und dunklen Vokalen unterscheidet und bewirkt, dass in einem nativen türkischen Wort nur helle oder nur dunkle Vokale vorkommen.
Pluralbildung im Türkischen und Russischen
Auch das Türkische unterscheidet die Numeri Singular und Plural. 78 Wie Corbett (2000: 14) beschreibt, ist die Unterscheidung zwischen Singular und Plural im Türkischen allerdings nicht wie im Deutschen und Russischen zwingend. Vielmehr ist ein Nomen in der grammatischen Ausprägung des Singulars je nach Kontext semantisch als Singular oder Plural interpretierbar. Die Wortform ev (Haus) kann somit Haus oder Häuser bedeuten. Languages of this type have an opposition general/singular versus plural […] in which the first form does not by itself establish a number for the noun. […] But in such languages, the distinction is made ‘when it matters’ and not automatically, as in languages like English (Corbett 2000: 14). 79
Die Numerusausprägung muss also nicht zwingend kodiert werden. Steht eine Form im Singular, so bedeutet dies nicht automatisch, dass tatsächlich die Einzahl gemeint ist. Es ist vielmehr auch möglich, dass in diesem Kontext nicht relevant ist, ob es sich um den Singular oder Plural handelt. Wird ein Zahlwort verwendet, so steht das Nomen, auf das es sich bezieht, in der Regel ohne Pluralmarkierung. 80 Sobald das Nomen mit der Pluralmarkierung versehen wird, ist eine Interpretation als Singular jedoch ausgeschlossen. Hier liegt also ein Unterschied zum deutschen Numerussystem vor, in dem die Singularform nur dann verwendet werden kann, wenn tatsächlich auch die Einzahl ausgedrückt werden soll. Eine numerusneutrale Form gibt es nicht. Die DaZ-Lerner mit türkischer Ausgangssprache bringen also das Wissen mit, dass die Funktion Plural nicht unbedingt am Nomen markiert werden muss, was den Verhältnissen im Deutschen nicht entspricht. Wie Ketrez & Aksu-Koç (2009: 40) darlegen, wird die Numerusmarkierung im türkischen Erstspracherwerb später erworben als die Kasusmarkierungen, was eben darauf zurückgeführt werden kann, dass der Plural nicht zwingend kodiert werden muss. Der Plural wird im Türkischen durch das Suffix -ler bzw. -lar gebildet, das unmittelbar adjunkt zum Wortstamm steht. Welche dieser beiden Formen ver 78 Kornfilt (1997: 265) weist darauf hin, dass in drei türkischen Wörtern der ursprünglich arabische Dual weiterlebt: taraf-eyn (beide Seiten), valid-eyn und ebev-eyn (Eltern). Ansonsten kennt das Türkische jedoch keinen Dual. 79 Kornfilt (1997: 266) präzisiert aber, dass die Pluralmarkierung am Nomen nur dann optional ist, wenn eine Nominalphrase nicht determiniert ist und nicht referentiell. 80 Grießhaber (1993: 7) legt dar, dass auch die Funktion der Pluralmarkierung im Deutschen nicht die ist, Zähloperationen ausführen, sondern „die Zusammenfassung mehrerer Exemplare einer abgrenzbaren Größe zu einer Einheit“. Dass im Deutschen nach Zahlwörtern das Nomen im Plural stehen muss, ist auf die spezifischen Kongruenzbedingungen zurückzuführen, die im Türkischen nicht gegeben sind.
Theoretische Grundlagen wendet wird, wird vom Prinzip der Vokalharmonie bestimmt, ist also rein phonologisch bedingt. Nomen, deren Stämme einen hellen Vokal ([e], [i], [ø], [y]) aufweisen, bilden den Plural auf -ler, vgl. ev – evler (Haus/Häuser). Nomen, deren Stämme einen dunklen Vokal ([a], [ә], [o], [u]) enthalten, bilden den Plural auf -lar, vgl. çocuk – çocuklar (Kind/Kinder). Die Varianz von -ler und -lar lässt sich also mit der von -en und -n im Deutschen vergleichen, die ebenfalls rein phonologisch bestimmt ist. Im Türkischen beruht das Pluralsystem damit anders als im Deutschen und Russischen auf einem Eins-zu-Eins-Verhältnis zwischen Form und Funktion und ist uniform und transparent: Die Funktion Plural wird mit einer einzigen Form (und einer phonologisch bedingten Variante) ausgedrückt. Grammatische Funktionen werden nur durch Suffixe, nicht durch Stammveränderung markiert. Eigenschaften des Singulars sind nur in sehr begrenztem Maße relevant für die Pluralbildung: Lediglich der Stammvokal spielt eine Rolle bei der Wahl zwischen den Endungen -ler und -lar. Der Auslaut hingegen ist irrelevant für die Pluralbildung, die Kategorie Genus ist im Türkischen gar nicht vorhanden. Ausdifferenzierte Paar-Schemata, die zueinander passende Singular- und Pluralschemata umfassen, können deshalb für das Türkische nicht angenommen werden. Für den Erstspracherwerb des türkischen Flexionssystems stellen Aksu-Koç & Slobin (1985) dementsprechend fest, dass die Morphologie schnell und fast fehlerfrei erworben wird. Das gesamte Nominalsystem sei im Alter von 24 Monaten bereits komplett erworben. Auch Ketrez & Aksu-Koc (2009: 39) stellen fest: „No difficulty is observed in the production of plural morphology“. Diesen bemerkenswert schnellen und fehlerfreien Erwerb führen Aksu-Koç & Slobin (1985) und Ketrez & Aksu-Koc (2009) zum einen auf die große Salienz der silbischen Markierungen zurück, zum anderen auf die Transparenz und Regularität der Zuweisung. Im Rahmen des hier vertretenen Modells kann der schnelle, fehlerfreie Erwerb auch dadurch erklärt werden, dass lediglich ein Pluralschema ausgebildet werden muss. Der Erwerbsprozess ist damit bereits abgeschlossen, da keine Paar-Schemata für die spezifischen Verbindungen von Singularund Pluralschemata abstrahiert werden müssen.
.. Zusammenfassender Vergleich In Tabelle 6 wird der Vergleich der drei Sprachen im Hinblick auf die Numerussysteme noch einmal zusammengefasst:
Hypothesen
Tab. 6: Vergleich des deutschen, russischen und türkischen Numerussystems Deutsch
Russisch
Türkisch
Verwendung Singular und Plural
Singular = Einzahl, Plural = Mehrzahl, obligatorische Unterscheidung
Singular als numerusneutrale Form, keine obligatorische Unterscheidung
Verhältnis Form-Funktion
Mehrere Markierungen für die Funktion Eine Markierung mit Plural einer phonologisch bedingten Variante
Nullmarkierung
ja
nein
nein
Stammveränderung zum Umlaut Ausdruck gramm. Funktionen
Akzentwechsel
nein
Source-basierte Präferenzen in der Zuordnung von Markierung und Nomen
Basierend auf nein Genus, das am Auslaut des Nomens erkennbar ist
Basierend auf Genus und Auslaut
. Hypothesen In diesem Abschnitt werden die Hypothesen, die sich aus den theoretischen Überlegungen ableiten lassen und die die Grundlage für die folgende empirische Untersuchung bilden, zusammengefasst. Den Ausgangspunkt bildet die im Abschnitt 2.1.6 entwickelte Annahme, der Erwerb des deutschen Numerussystems erfolge durch die graduelle Abstraktion von einfachen Schemata, die mit den Funktionen Singular und Plural assoziiert sind und von Paar-Schemata, die Generalisierungen auf der Basis der einfachen Schemata darstellen. Es wird angenommen, dass mit diesen Erwerbsprozessen verschiedene Strategien für die Produktion von Pluralformen einhergehen. Es wird also davon ausgegangen, dass Lerner nicht nur source-orientierte Pluralbildungen vornehmen, wie sie aus strukturalistisch orientierten Darstellungen hervorgehen, sondern auch produktorientierte, wie sie im Schema-Modell angelegt sind. Der Zusammenhang zwischen der Ausbildung von einfachen und Paar-Schemata und den source- und produktorientierten Strategien bei der Pluralbildung wird im Folgenden dargelegt: In einem frühen Erwerbsstadium, in dem erst vereinzelte Pluralformen holistisch gespeichert worden sind, aus denen aber noch keine stabilen Schemata abstrahiert wurden, greifen Lerner auf lexikalische Mittel zurück, um den Plural zu kennzeichnen (z.B. viele Buch).
Theoretische Grundlagen Morphologische Mittel werden noch nicht verwendet, da noch keine Muster ausgebildet wurden, auf die zurückgegriffen werden kann. 81 In dieser Erwerbsphase werden die Nomen deshalb überwiegend nicht für den Plural markiert. In einem nächsten Erwerbsschritt werden einfache Schemata entwickelt. Die Lerner bilden also Generalisierungen über Wortformen, die mit der Funktion Plural assoziiert sind. Nach der Analyse des produktiven nominalen Wortschatzes im Grundschulalter (vgl. Abschnitt 2.2) ist davon auszugehen, dass diese Schemata in Abhängigkeit von ihrer Validität unterschiedlich stark mit der Funktion Plural verknüpft sind. Die Lerner assoziieren Schemata mit dem Artikel die und den Endungen -n > -s > -er > -el > -e > -ø deshalb in dieser Reihenfolge in abnehmendem Maße mit der Funktion Plural. Es ist anzunehmen, dass bei Lernern in dieser Phase die Strategie, Pluralbildungen produktorientiert zu bilden, besonders dominant ist. Das bedeutet, dass sie eine Pluralform weniger in Orientierung an spezifische Eigenschaften der dazugehörigen Singularform bilden als vielmehr im Abgleich mit den gespeicherten Pluralschemata. Wenn eine Singularform vorliegt, die gleichzeitig auch ein Pluralschema abbildet, besteht deshalb die Tendenz, diese Form unverändert zu übernehmen. Sie hört sich schließlich schon wie ein Plural an. Dies geschieht umso eher, je valider das Pluralschema ist, dass durch diese Form abgebildet wird. Die Lerner tendieren außerdem dazu, wenig valide Pluralformen zu vermeiden und stattdessen validere Formen zu bilden, solange dadurch nicht die zweisilbige Struktur mit der Endung auf eine Schwasilbe aufgegeben werden muss. Die besonders valide Form auf -n wird also auch dann häufig produziert, wenn die gegebene Singularform Teil eines anderen Paar-Schemas ist und deshalb eigentlich einen anderen Plural erfordert, z.B. -e bei monosyllabischen Nicht-Feminina, -ø bei NichtFeminina auf Pseudosuffix -el oder -er oder -s bei Nomen auf unbetonten Vollvokal. Die Realisierung von weniger validen Pluralschemata wie solchen auf -el wird hingegen vermieden, indem stattdessen validere Pluralschemata auf -s oder -n produziert werden. In einem nächsten Schritt abstrahieren die Lerner Paar-Schemata, d.h. sie bilden Generalisierungen über die Verbindungen verschiedener einfacher Schemata. In dieser Phase ist zu erwarten, dass die Lerner vermehrt der Strategie folgen, den Plural source-orientiert, also in Orientierung an bestimmte Eigenschaften des Singularschemas zu bilden. Die Lerner bemühen sich bei der Pluralbildung also darum, den zum gegebenen Singular passenden Plural zu bilden, die zusammen ein Paar-Schema abbilden. Auf eine source-orientierte 81 Unbekannte Flexionsformen können höchstens durch Analogiebildungen, die auf einem konkreten Beispiel basieren, gebildet werden.
Hypothesen
Pluralbildung kann immer dann geschlossen werden, wenn die Lerner zu einer gegebenen Singularform den Plural bilden, der aufgrund eines starken, also häufig vorkommenden Paar-Schemas zu erwarten ist. Für Maskulina und Neutra auf -el, -er, -en wäre das z.B. der unveränderte Plural. Die sourceorientierte Pluralbildung muss dabei nicht unbedingt diejenige sein, die den zielsprachlich erwartbaren Pluralbildungen entspricht. So wäre bspw. die Pluralbildung auf -er für monosyllabische Neutra als source-orientiert zu klassifizieren, da für den kindlichen Wortschatz ein solches Paar-Schema angenommen werden kann. In den strukturalistisch orientierten Beschreibungen des deutschen Numerussystems gilt der -er-Plural hingegen als irregulär. Ein besonders deutlicher Hinweis auf eine source-orientierte Strategie läge dann vor, wenn dieser Plural auf -er zwar häufig für monosyllabische Neutra, aber kaum für monosyllabische Feminina gebildet wird. Durch einen solchen Vergleich wird deutlich, dass die Pluralformen in Abhängigkeit vom Singularschema ausgewählt werden. Dies gilt auch für alle anderen Plurale: Wenn sich zeigt, dass die Lerner bestimmte Pluralformen dann besonders häufig wählen, wenn sie mit dem Singular ein starkes Paar-Schema bilden und dieselben Pluralformen seltener wählen, wenn sie mit dem Singular eben kein starkes PaarSchema abbilden, so lässt dies auf eine source-orientierte Strategie schließen. Dieser skizzierte Erwerbsverlauf wird sich kaum in trennscharfen Phasen widerspiegeln, in denen ausschließlich eine der genannten Strategie angewendet wird. Die Strategien lösen einander also nicht vollständig ab. Vielmehr ist zu vermuten, dass sie mit unterschiedlicher Dominanz zu beobachten sind: In frühen Erwerbsphasen ist die Strategie dominant, den Plural durch lexikalische Mittel statt durch morphologische Markierungen am Nomen auszudrücken. Im weiteren Verlauf wird die Strategie, den Plural produktorientiert zu bilden, dominant und im Anschluss daran die Strategie, den Plural source-orientiert zu bilden. Dies veranschaulicht Abbildung 6. Je dunkler der jeweilige Balken eingefärbt ist, desto stärker ist die Strategie ausgeprägt.
Theoretische Grundlagen
Abb. 6: Strategien der Pluralbildung im Erwerbsverlauf.
Im Rahmen des gebrauchsbasierten Erwerbsmodells ist anzunehmen, dass das Voranschreiten des Erwerbsprozesses entscheidend von der Quantität und Qualität der gespeicherten Wortformen abhängt. So können Schemata für die Funktion Plural erst dann abstrahiert werden, wenn eine kritische Menge an Wortformen mit der Funktion Plural gespeichert wurde. Weiter können erst dann Paar-Schemata entwickelt werden, wenn zuvor mehrere einfache Schemata abstrahiert wurden, die dann assoziativ miteinander verknüpft werden können. Das bedeutet, dass die qualitative und quantitative Entwicklung des Lexikons eine zentrale Rolle für den Erwerbsfortgang darstellt. Wenn man davon ausgeht, dass das Lexikon mit zunehmender Erwerbsdauer anwächst, so stellt also der Zeitraum des Erwerbs die entscheidende Größe für den Entwicklungsfortgang dar. Monolingual deutschsprachige Kinder verfügen deshalb im Gegensatz zu gleichaltrigen Kindern mit DaZ, die später mit dem Deutscherwerb begonnen haben und die vor allem im Kindergarten und in der Schule Deutsch sprechen, über ein größeres (deutsches) Lexikon, das im Laufe der Grundschulzeit auch schneller anwächst als bei den Kindern mit DaZ. 82 Konkret ist deshalb zu erwarten, dass die monolingual deutschsprachigen Kinder im Erwerb der Schemata und Paar-Schemata weiter fortgeschritten sind als die gleichaltrigen Kinder mit DaZ. Deshalb sollte sich die Strategie, den Plural durch lexikalische Mittel auszudrücken, bei den monolingual deutschsprachigen Probanden dieser Studie kaum noch zeigen. Außerdem ist anzunehmen, dass bei ihnen die sourceorientierte Strategie bei der Pluralbildung deutlicher wird als bei den Kindern mit DaZ.
82 Landua u.a. (2008) fassen Forschungsergebnisse zusammen, die zeigen, dass DaZ-Lerner am Ende der Grundschulzeit über ein kleineres deutsches Lexikon verfügen als monolingual deutschsprachige Schüler.
Hypothesen
Wie in Abschnitt 2.3 dargelegt wurde, ist außerdem die Ausgangssprache der DaZ-Lerner als Einflussfaktor zu berücksichtigen. Aus dem Vergleich der Numerussysteme im Deutschen, Türkischen und Russischen lassen sich die folgenden Hypothesen ableiten: – Lerner mit türkischer Ausgangssprache verwenden die Singularform im Pluralkontext und drücken den Plural durch Zahlwörter oder Mengenangaben aus. Diese Strategie, die oben einer frühen Erwerbsphase zugeordnet wurde, zeigt sich länger und deutlicher als bei den Lernern mit russischer Ausgangssprache, da die morphologische Markierung der Funktion Plural am Nomen im Türkischen nicht obligatorisch ist. – Lerner mit türkischer und russischer Ausgangssprache vermeiden die Verwendung der sogenannten Nullmarkierung, da die Funktion Plural in beiden Sprachen nur durch overte Markierungen ausgedrückt wird. Für die türkischsprachigen Lerner gilt dies, sobald sie erkannt haben, dass die Pluralmarkierung im Deutschen im Unterschied zum Türkischen obligatorisch ist. – Lerner mit türkischer Ausgangssprache nutzen das Formeninventar zur Pluralbildung nicht in gleichem Maße wie Lerner mit russischer Ausgangssprache. Sie bilden ganz überwiegend nur besonders valide Pluralformen auf -(e)n, da sie aus ihrer Herkunftssprache das Prinzip der Eins-zu-EinsZuordnung von Form und Funktion kennen. – Lerner mit türkischer Ausgangssprache erkennen den Umlaut nicht als Merkmal einer Pluralform, da grammatische Funktionen im Türkischen nur durch Suffixe ausgedrückt werden. – Lerner mit türkischer Ausgangssprache entwickeln source-basierte Strategien später als Lerner mit russischer Ausgangssprache, da diese im türkischen Numerussystem keine Relevanz besitzen. Das Genus des Nomens wird nicht als relevantes Schemamerkmal verarbeitet, da diese Kategorie im Türkischen nicht existiert.
Empirische Untersuchung . Probanden Die Probandengruppe besteht aus 65 Grundschulkindern mit den Ausgangssprachen Russisch (42 Kinder) oder Türkisch (23 Kinder), die die erste bis vierte Klasse einer Grundschule der Region Münster oder dem Rheinland besuchen. An der Erhebung waren fünf Grundschulen beteiligt. In zwei der beteiligten Grundschulen wurde außerdem eine Kontrollgruppe von 20 monolingual deutschsprachigen Kindern zusammengestellt.
.. Sprachbiografische Angaben Zu Beginn der Datenerhebungen wurden bei allen Kindern mit russischer oder türkischer Ausgangssprache der Sprachstand im Deutschen festgestellt und sprachbiografische Angaben erhoben. Die Erhebung der sprachbiografischen Daten erfolgte mittels eines Fragebogens 83 in deutscher Sprache, den die Probanden der dritten und vierten Klasse weitgehend selbständig ausfüllten, während für die Probanden der ersten und zweiten Klassenstufe die Interviewerinnen den Fragebogen im Gespräch mit den Probanden ausfüllten. Mit diesem Fragebogen wurden Informationen a) zur Erstsprache b) zu Unterricht in der Erstsprache c) zu den in der Familie und mit Freunden gesprochenen Sprachen d) zur Selbsteinschätzung der Beherrschung der Erstsprache sowie des Deutschen e) zu den Sprachen, in denen Medien (Fernsehen, Radio, Bücher) rezipiert werden erhoben. 84 Aus diesen Angaben wird deutlich, dass die Probanden beider Sprachgruppen zum größten Teil in Deutschland geboren wurden und man deshalb nicht für alle Probanden mit Gewissheit sagen kann, ab welchem Alter genau der Deutscherwerb eingesetzt hat. In allen Familien wird aber Türkisch
83 Der Fragebogen wurde in Anlehnung an den Fragebogen entwickelt, der in dem Projekt Deutsch und PC eingesetzt wurde (Grießhaber o.J.). 84 Die Angaben aller Probanden sind im Anhang (Tabelle 21) aufgeführt.
Probanden
oder Russisch gesprochen. Der Fall, dass die Familiensprache nur Deutsch ist, wurde nicht genannt. Daraus lässt sich ableiten, dass die Probanden Russisch bzw. Türkisch als Erstsprache sprechen. Dies spiegelt sich auch in den Selbsteinschätzungen der Probanden über die Kenntnisse ihrer Ausgangssprache wider. Der Großteil schätzt seinen Kenntnisstand im Russischen oder Türkischen als mittel bis gut ein (100 bzw. 90%), nur sehr wenige Probanden mit russischer Ausgangssprache beurteilen ihre Sprachkenntnisse im Russischen als schlecht. Ein großer Anteil der Probanden mit türkischer Ausgangssprache hat darüber hinaus angegeben, Türkischunterricht zu erhalten (knapp 60%), was bei den Probanden mit russischer Ausgangssprache seltener angegeben wurde (knapp 25%). Insgesamt kann auch mit Blick auf die Sprachen, in denen Medien rezipiert werden und in denen mit Freunden kommuniziert wird, festgestellt werden, dass die Ausgangssprache im Leben der türkischsprachigen Probanden eine etwas größere Rolle spielt als bei den russischsprachigen Kindern. Aus diesen Angaben lässt sich der Schluss ziehen, dass für die Probanden dieser Studie gilt, dass sie Deutsch als Zweitsprache erwerben, da in ihren Familien die Ausgangssprachen Türkisch und Russisch eine wichtige Rolle spielen und ein intensiver Kontakt mit der deutschen Sprache höchstwahrscheinlich erst mit Eintritt in den Kindergarten oder gar in die Grundschule gegeben war. Nichtsdestotrotz hatten die Probanden wahrscheinlich schon vor dieser Zeit Kontakt zur deutschen Sprache, wobei jedoch der Input, der durch gelegentlichen Kontakt mit Sprechern des Deutschen vorhanden ist, zu gering ist, als dass auf dieser Basis der Erwerbsprozess des Deutschen in entscheidendem Maße hätte beeinflusst werden können.
.. Bildung homogener Gruppen Die Probanden wurden nach den beiden Kriterien Ausgangssprache und Klassenstufe in Sprechergruppen eingeteilt. 85 Die Probanden wurden nicht danach unterschieden, ob sie den Kindergarten in Deutschland besucht haben oder 85 Es wurde auch der Sprachstand der Probanden mittels C-Test in der dritten und vierten Schulklasse (vgl. Baur & Spettmann 2008a und b, Grotjahn 2006, Raatz & Klein-Braley 2002) und Profilanalyse in der ersten und zweiten Schulklasse (Grießhaber 2005, 2006, 2010) erhoben. Dementsprechend wurden die Probanden in einem ersten Schritt in solche mit fortgeschrittenem Erwerbsstand und eher niedrigem Erwerbsstand eingeteilt. Da sich bei der Auswertung der Daten jedoch kein Einfluss des Sprachstands gezeigt hat, wird dieses Kriterium im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Die Ergebnisse der Sprachstandsfeststellung sind in Tabelle 22 im Anhang aufgeführt.
Empirische Untersuchung nicht, da auch diejenigen, die ihn nicht besucht haben, weder bei der Sprachstandserhebung noch in den Datenerhebungen zur Pluralbildung Auffälligkeiten gezeigt haben. Bei einer Probandin der ersten Klasse handelte es sich eindeutig um eine Seiteneinsteigerin, die sich ganz am Anfang ihres Deutscherwerbs befand (ZLA, s. Tabelle 21 im Anhang). Ihre Daten wurden von der Auswertung ausgenommen. Tab. 7: Probandengruppen Ausgangssprache
Klassenstufe
Kürzel
Anzahl
Türkisch
-
T-
-
T-
-
R-
-
R-
-
D-
-
D-
Russisch Deutsch
Die Einteilung in Sprechergruppen wurde vorgenommen, um dadurch für die einzelnen Erhebungen eine höhere Anzahl an Datenpunkten zu gewinnen und zu verlässlicheren Ergebnissen zu kommen. Die Kriterien für diese Einteilung wurden gewählt, um den Einfluss der Ausgangssprache überprüfen zu können (Kriterium Ausgangssprache) und um im Querschnitt den Entwicklungsverlauf von der ersten bis zur vierten Schulklasse nachvollziehen zu können (Kriterium Klassenstufe). Für das Kriterium der Ausgangssprache gelten die Werte Russisch, Türkisch 86, Deutsch. Für das Kriterium der Klassenstufe wurden zwei Werte festgelegt: Probanden der ersten und zweiten Klasse wurden in einer Gruppe zusammengefasst, Probanden der dritten und vierten Klasse in der anderen. Diese Unterscheidung wurde getroffen, da Kinder im Laufe der Grundschulzeit eine große sprachliche (nicht zuletzt durch den Erwerb der Schrift-
86 Im Hinblick auf die Ausgangssprache Türkisch besteht häufig das Problem, dass Sprecher mit kurdischer Ausgangssprache aus verschiedenen Gründen als türkischsprachig eingestuft werden. Da die Probanden dieser Untersuchung aber selbst angegeben haben, Türkisch zu sprechen und dazu detailliertere Fragen beantworten konnten (z.B. wann und mit wem sie Türkisch sprechen) und da auch von Seiten der Schule und der Lehrer keine gegenteiligen Informationen vorlagen, kann tatsächlich von Türkisch als Ausgangssprache ausgegangen werden.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
sprache) und allgemein kognitive Entwicklung durchlaufen. Mit einer steigenden Klassenstufe gehen ein höheres Alter und damit auch eine längere Spracherwerbsdauer einher. So sind die Probanden der ersten beiden Klassenstufen in der Altersgruppe der sechs- bis siebenjährigen, die Probanden der dritten und vierten Klassenstufe in der Altersgruppe der acht- bis zehnjährigen anzusiedeln. 87 Die sich daraus ergebenden sechs Probandengruppen sind in Tabelle 7 abzulesen.
. Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen Um den oben genannten Fragestellungen nachzugehen, stehen prinzipiell verschiedene Methoden zur Auswahl. Für diese Untersuchung wurde mit den vorgestellten Probanden eine Kombination aus drei verschiedenen Erhebungsverfahren durchgeführt: Es wurden drei Mal im Abstand von etwa vier Wochen Pluralformen zu gegebenen Singularformen elizitiert (Elizitierungsverfahren), die Probanden sollten eine gegebene Wortform als Singular- oder Pluralform interpretieren (Interpretationsverfahren) und schließlich in Gruppenarbeit aus drei gegebenen Pluralformen die Form auswählen, die ihnen als die beste erschien (Auswahlverfahren). Wie Chaudron (2006: 763) darstellt, werden die in der (Zweit)Spracherwerbsforschung angewendeten Methoden der Datengewinnung in der Literatur häufig klassifiziert als entweder natürliche oder experimentelle, wobei sich die natürlichen Methoden dadurch auszeichnen, dass sie prototypischerweise Beobachtungen des authentischen Sprachgebrauchs darstellen, durch die Daten vom qualitativen Typ erhoben werden. Diese Daten werden z.B. von Brown (2004: 487) in Anlehnung an Reichardt & Cook (1979) als „real“, „rich“ und „deep“ beschrieben und sind vor allem im Gegensatz zu quantitativen Daten zu verstehen, die sich wiederum dadurch auszeichnen, dass sie exakt messbar und numerisch sind. Es handelt sich bei den gewonnenen Daten meist um Sprachproduktionsdaten, deren Auswertung interpretativ erfolgt. Die Datenerhebung verläuft möglichst ohne Intervention von Seiten des Forschers, das Vorgehen ist hypothesenbildend. Die Argumentation erfolgt aus den Daten heraus, also induktiv. Oft handelt es sich bei natürlichen Erhebungsmethoden um Longitudinalstudien mit einer kleinen Probandenzahl. Charakteristisch für die experimentellen Methoden hingegen ist, dass Daten dekontextualisiert erhoben 87 In nur wenigen Fällen weicht das Alter der Probanden von dem normalen Durchschnittsalter einer Klassenstufe ab.
Empirische Untersuchung werden, also außerhalb einer authentischen Kommunikationssituation. Die gewonnen Daten sind quantitativer Art und es handelt sich dabei sowohl um Sprachproduktions- als auch Sprachrezeptionsdaten, die mithilfe statistischer Methoden ausgewertet werden. Ein hohes Ausmaß an Intervention von Seiten des Forschers ist gegeben. Die Auswertung der Daten erfolgt hypothesentestend, die Argumentation ist theoriegeleitet, also deduktiv. Es handelt sich meist um Querschnittstudien mit einer großen Anzahl an Probanden (vgl. Brown 2004, Chaudron 2006). Wie Brown (2004: 488) darlegt, ist die dargestellte Dichotomie jedoch besser als Kontinuum zu verstehen, wobei in verschiedenen Methoden der Datenerhebung Charakteristika des einen sowie des anderen Pols kombiniert werden können. In der Literatur werden drei große Datenerhebungstypen unterschieden, die sich auf dieser Skala anordnen lassen und unter denen verschiedene Methoden subsumiert werden: die Beobachtung, die Elizitierung und das Experiment (vgl. z.B. Chaudron 2006, Kauschke 2012). Diese Erhebungstypen bringen jeweils spezifische Vor- und Nachteile mit sich: Methoden, die unter dem Typ Beobachtung zusammengefasst werden, sind als natürliche Erhebungsmethoden zu charakterisieren. Für diese Studie wäre es bspw. möglich gewesen, die Probanden in einer authentischen, von der Forscherin unbeeinflussten Kommunikationssituation aufzunehmen und die dort geäußerten Pluralformen zu analysieren. Der Vorteil eines solchen Vorgehens liegt darin, dass man ein Abbild der natürlichen, spontanen Sprachproduktion erhält. Die Daten sind also unbeeinflusst von Effekten, die durch eine Methode, bei der der Forscher stärker eingreift, entstehen können. Ein solcher Effekt wäre bspw. das monitoring, also das Überwachen der eigenen Sprachproduktion durch die Probanden. Trotz dieses Vorteils wurde in dieser Untersuchung nicht mit einer solchen Methode gearbeitet, da sie auch etliche Nachteile aufweist: Erstens können nur Aussagen über die Strukturen getroffen werden, die in diesen authentischen Kommunikationssituationen auch tatsächlich geäußert werden. Wenn also bspw. bestimmte Pluralformen nicht verwendet werden, so kann über diese Formen keine Aussage getroffen werden. Dies führt häufig zu großen Datenlücken, die nur mit einem großen zeitlichen und materiellen Aufwand gefüllt werden können. Die Konsequenz daraus ist, dass in Studien, die mit dieser Methode arbeiten, oft eine Beschränkung auf wenige Probanden gegeben ist, da der Aufwand bei einer großen Probandengruppe kaum noch zu bewältigen ist. Eine Generalisierung der Ergebnisse ist dann aber nur noch bedingt möglich. Ein weiterer Nachteil dieser Methode ist, dass die Datenauswertung interpretativ erfolgen muss. In Bezug auf den Plural wäre z.B. in vielen Fällen nicht entscheidbar, ob es sich um eine Pluralform mit Nullmarkierung oder um eine Singularform handelt. Schließlich sind Aussagen über die rezepti-
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
ve Seite der Sprachverarbeitung nur sehr eingeschränkt möglich, indem bspw. die Reaktionen der Interaktionspartner auf sprachliche Äußerungen ausgewertet werden. Methoden, die am anderen Pol des Kontinuums liegen, werden unter dem Typ Experiment zusammengefasst und stellen in allen Punkten das Gegenteil von Beobachtung dar. Die Erhebungsbedingungen sind stark kontrolliert und das erhobene Verhalten der Probanden ist in keine natürliche Interaktion eingebettet. Häufig werden in Experimenten keine längeren eigenen Sprachproduktionen erhoben, stattdessen wird die Verarbeitung sprachlicher Stimuli anhand messbarer Reaktionen untersucht. Die Reaktionsmöglichkeiten der Probanden sind dabei jeweils genau vorgegeben. Ein Beispiel für diese Art von Erhebung sind decision tasks, in denen die Probanden sich zwischen verschiedenen Optionen entscheiden müssen. Dieses Vorgehen wurde z.B. in der Studie von Korecky-Kröll u.a. (2012) angewendet, in der den Probanden Pluralformen vorgespielt wurden und sie daraufhin entscheiden mussten, ob es sich bei den Formen um existierende Pluralformen des Deutschen handelt. Zusätzlich zur Antwort wurde auch die Reaktionszeit gemessen, was bei experimentellen Methoden der Datenerhebung ebenfalls gängig ist. Zwei der Verfahren, die in dieser Untersuchung zur Datenerhebung durchgeführt wurden, lassen sich diesem Datenerhebungstyp zuordnen, wenngleich keine Reaktionszeitmessung vorgenommen wurde und die Erhebungsbedingungen nicht vollständig kontrolliert waren: das Interpretationsverfahren, bei dem die Probanden bei einer gegebenen Wortform entscheiden sollten, ob es sich um einen Singular oder einen Plural handelt, sowie das Verfahren, bei dem die Probanden aus drei gegebenen Pluralformen zu einem ebenfalls gegebenen Singular die beste auswählen sollten. Mit dem Interpretationsverfahren wird die perzeptive Verarbeitung von Wortformen getestet. Dieses Verfahren zielt in erster Linie darauf ab, zu überprüfen, ob die Lerner Pluralschemata abstrahieren, die sich im Hinblick auf ihre Validität, wie sie durch die Wortschatzanalyse ermittelt wurde, unterscheiden. Außerdem wird mit dieser Erhebung untersucht, wie die drei Schemakomponenten Artikel, Endung und Umlaut zusammenwirken. Bei dem Auswahlverfahren steht das Ziel im Vordergrund, die angenommenen Strategien durch metasprachliche Kommentare der Probanden zu belegen. Gleichzeitig soll überprüft werden, ob die Probanden unabhängig vom Singular die Pluralform auswählen, die das valideste Schema repräsentiert (produktorientiert) oder ob sie die Pluralform auswählen, die mit dem gegebenen Singular ein starkes Paar-Schema abbildet (source-orientiert). Die folgenden Gründe waren für die Auswahl dieser experimentellen Verfahren der Datenerhebung ausschlaggebend: Durch die Festlegung der Probanden auf ganz bestimmte Reaktionsmöglichkeiten (im
Empirische Untersuchung Interpretationsverfahren die Entscheidung für Singular oder Plural, im Auswahlverfahren die Entscheidung für eine der vorgegebenen Pluralformen) erhalten die erhobenen Daten genau die Informationen, die benötigt werden. Die Erhebung ist dadurch im Gegensatz zu Erhebungen des Typs Beobachtung sehr effizient. Da sich die Probanden nur für eine vorgegebene Option entscheiden können, ist das Verhalten außerdem eindeutig interpretierbar, der Interpretationsspielraum bei der Datenauswertung ist somit minimiert. Schließlich sind durch experimentelle Verfahren auch Aussagen zur rezeptiven Seite der Sprachverarbeitung möglich, in diesem Fall konnte also gezielt getestet werden, wie die Probanden gegebene Wortformen im Hinblick auf die Numerusinformation interpretieren. Da Aussagen über die Sprachperzeption, wie oben bereits erwähnt, bei Erhebungsverfahren des Typs Beobachtung kaum möglich sind, wurde in Kauf genommen, dass ein experimentelles Erhebungsverfahren eine künstliche Situation erschafft, in der Probanden kontextlosgelöst Aufgaben erfüllen, die kaum mit den Aufgaben vergleichbar sind, mit denen sie in authentischen Kommunikationssituationen konfrontiert sind. Bei diesem Argument gegen experimentelle Methoden der Datenerhebung ist aber ganz prinzipiell zu bedenken, dass der Einfluss bestimmter Faktoren nur dann gezielt überprüft werden kann, wenn man diese Faktoren isoliert und eben nicht in einer authentischen Kommunikationssituation, in der eine Vielzahl an Einflussfaktoren zusammenwirkt, untersucht. Prinzipiell besteht vor allem bei Probanden im Grundschulalter die Gefahr, dass sie die Teilnahme an experimentellen Datenerhebungen aufgrund der hohen Künstlichkeit verweigern oder aber bei der Bearbeitung der Aufgaben Strategien entwickeln, die vom Ziel der Erhebung abweichen, bspw. die Strategie, immer dieselbe Antwortoption auszuwählen. Eine komplette Verweigerung der Teilnahme kam jedoch bei den in dieser Studie durchgeführten Verfahren nicht vor und Testsets, bei denen offensichtlich andere Strategien die Reaktionen der Probanden bestimmt haben, wurden aussortiert. Die dritte große Gruppe von Datenerhebungsverfahren, die Elizitierung, liegt zwischen den Polen der natürlichen und der experimentellen Verfahren. Die Bandbreite an Verfahren, die hier zuzuordnen sind, ist recht groß und reicht von Elizitierungsverfahren, die einer Beobachtung sehr ähnlich sind (z.B. die Elizitierung von Äußerungen zu einem Bildimpuls) hin zu Verfahren, die einem Experiment nahekommen. Prinzipiell zeichnen sich Elizitierungen dadurch aus, dass Aufgaben zur gezielten Erhebung bestimmter sprachlicher Phänomene konstruiert werden. Die hier durchgeführte Elizitierung ist auf dem Kontinuum zwischen natürlichen und experimentellen Erhebungsverfahren nahe am Pol der Experimente anzusiedeln. Da die Antwortmöglichkeiten der Probanden aber
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
nicht vorgegeben waren, sie also selbst Pluralformen produzieren sollten, ist das Verfahren weniger kontrolliert als bspw. das Interpretationsverfahren und wird deshalb nicht als typisches Experiment eingestuft (vgl. auch Penke 2006). Mit dem Elizitierungsverfahren wurde das Ziel verfolgt, die postulierten Strategien bei der Pluralbildung – lexikalische Markierung, produkt- und sourceOrientierung – nachzuweisen und auf die Erwerbsdauer abzubilden. Außerdem wird der Einfluss der Ausgangssprache auf die Pluralbildung überprüft. Da Elizitierungen Merkmale sowohl natürlicher als auch experimenteller Datenerhebungsmethoden tragen, vereinen sie auch deren Vor- und Nachteile in sich: So ist es möglich, durch Elizitierungen gezielt die zu untersuchenden Strukturen zu erheben, wobei die Erhebungssituation weniger stark kontrolliert ist als in reinen Experimenten. Die eigenständige Produktion von Pluralformen zu vorgegebenen Singularformen entspricht den Anforderungen in einer authentischen Kommunikationssituation eher als bspw. die Auswahl einer Form aus gegebenen Optionen. Dies ist auch der Grund, warum dieses Verfahren neben den beiden experimentelleren Erhebungsmethoden in dieser Studie durchgeführt wurde. Die Nachteile von Elizitierungen liegen darin, dass Äußerungen produziert werden können, die nicht die gewünschten Daten enthalten, z.B. Pluralformen nach Mustern, die im Deutschen nicht existieren. In dieser Untersuchung kam dies jedoch nur selten vor. Als ein weiteres Argument gegen Elizitierungen wird in der Literatur genannt, dass höhere kognitive Anforderungen an die Probanden gestellt werden als in authentische(re)n Kommunikationssituationen, was sich dahingehend auswirkt, dass Probanden in Elizitierungen mehr Abweichungen von der Zielsprache produzieren als in der Spontansprache (vgl. Laaha 2011, Dressler 2012). Da es in dieser Untersuchung aber nicht darum geht, ob Pluralformen richtig oder falsch gebildet werden, sondern die Strategien im Vordergrund stehen, ist dieses Argument nicht ausschlaggebend. Mit der Entscheidung für eine Elizitierung war es möglich, eine große Menge an relevanten Daten zu erheben, ohne dabei zu einer maximal künstlichen Methode zu greifen, in der die Probanden keine eigenen Äußerungen produzieren. In allen drei Verfahren wurde mit Kunstwörtern gearbeitet, d.h. mit Wörtern, die den phonotaktischen Strukturen deutscher Nomen entsprechen, aber keine realen deutschen Wörter darstellen. Dies hat gegenüber der Arbeit mit existierenden Wörtern den Vorteil, dass den Probanden das Item, das sie verarbeiten müssen, nicht bekannt sein kann. Bildet ein Lerner bspw. eine zielsprachliche Pluralform zu einem realen deutschen Nomen (z.B. Blume – Blumen), so kann nicht entschieden werden, ob der Lerner diese Pluralform zuvor holistisch als Chunk abgespeichert und nun lediglich reproduziert hat oder ob er die Pluralform selbständig, durch Anwendung einer Strategie, kreiert hat. Das
Empirische Untersuchung heißt, dass bei der Arbeit mit realen Wörtern nur von der Zielsprache abweichende Pluralformen Aufschluss geben können über die angewendeten Strategien. Bildet ein Lerner bspw. den Plural Blüme zum Singular Blume, so ist es nahezu ausgeschlossen, dass diese Form holistisch abgespeichert wurde. An dieser Stelle könnte dann die Strategie des Lerners analysiert werden, die zu dieser Pluralbildung geführt hat. Der Nachteil bei der Arbeit mit existierenden Wörtern liegt also darin, dass nur von der Zielsprache abweichende Pluralbildungen analysiert werden können, was die Datenmenge erheblich verringert. Im Gegensatz dazu kann bei der Verarbeitung von Kunstwörtern (produktiv und rezeptiv), die die Probanden nicht kennen können, davon ausgegangen werden, dass jeder Antwort ein kreativer Prozess zugrunde liegt, der Aufschluss über die Verarbeitung komplexer morphologischer Formen bietet (vgl. schon Berko 1958). Die Menge an auswertbaren Daten ist also um ein Vielfaches größer. Kritiker des Einsatzes von Kunstwörtern weisen darauf hin, dass deren Verarbeitung kognitiv sehr anspruchsvoll sei und sich dadurch in Erhebungen mit Kunstwörtern Phänomene zeigen, die im Umgang mit realen Wörtern nicht (mehr) auftreten. Dem ist entgegenzuhalten dass durch die Bearbeitung von Kunstwörtern der Umgang mit unbekannten Wörtern simuliert wird. Dies ist wiederum eine Situation, die DaZ-Lernern im Grundschulalter nicht unbekannt sein dürfte. Abbildung 7 veranschaulicht die Verortung der drei Erhebungsmethoden auf dem Kontinuum von natürlichen zu experimentellen Methoden.
Beobachtung
Elizitierung
Experiment
Elizitierung von Pluralformen Interpretationsverfahren Auswahlverfahren
Abb. 7: Erhebungsverfahren.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Die Wahl kontrollierter Erhebungsverfahren lässt nach den oben beschriebenen Charakteristika eine inferenzstatistische Auswertung der Daten erwarten. In dieser Untersuchung wurde darauf jedoch verzichtet, da sie in ihrer Anlage eher einer hypothesengenerierenden Arbeit entspricht, in der es darum geht, mit einer (im Vergleich zu bisher vorliegenden Studien in diesem Bereich) großen Anzahl von Probanden den Erwerb der Pluralbildung möglichst umfassend zu untersuchen. Das Ziel der Studie ist es dementsprechend nicht, aus bereits bestehenden Forschungsergebnissen abgeleitete konkrete Hypothesen auf ihr Zutreffen zu prüfen, sondern ein Modell zu entwickeln, in dessen Rahmen Ergebnisse aus bereits vorliegenden Arbeiten wie auch aus der eigenen Untersuchung erklärt werden können. Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Untersuchung könnten dann weitere Studien durchgeführt werden, in denen einzelne Teilaspekte isoliert in den Blick genommen und durch inferenzstatistische Analysen überprüft werden. In diesem Sinne sind die aufgestellten Hypothesen, die die Datendiskussion im Folgenden strukturieren, als Arbeitshypothesen zu verstehen. Tabelle 8 gibt einen Überblick über den zeitlichen Verlauf der Datenerhebungen. Die genauere Erläuterung der Verfahren erfolgt in den jeweiligen Abschnitten (3.2.1 bis 3.2.4). Tab. 8: Zeitlicher Verlauf der Datenerhebungen Zeitlicher Abstand (Wochen)
Erhebungsverfahren
Elizitierungsverfahren, Testset
Auswahlverfahren
Elizitierungsverfahren, Testset
Interpretationsverfahren
Elizitierungsverfahren, Testset
Im Folgenden werden jeweils das Verfahren, die konkreten Hypothesen sowie die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert.
.. Interpretationsverfahren: Die Wontel – Singular oder Plural? ... Methode und Testdesign In diesem Erhebungsverfahren, das an einem Testzeitpunkt etwa vier Wochen nach der zweiten Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern durchgeführt
Empirische Untersuchung wurde (vgl. Abschnitt 3.2.2), sollten die Probanden gegebenen Kunstwörtern die Funktion Singular oder Plural zuweisen. Mit dieser Erhebung wird also die perzeptive Verarbeitung der Formen untersucht: Die Frage ist nicht, wie Pluralformen gebildet werden, sondern wie Wortformen im Hinblick auf die Numerusinformation interpretiert werden. Dazu wurde den Probanden mündlich ein Kunstwort mit bestimmtem Artikel genannt, zu dem ihnen am Computer eine Powerpoint-Folie gezeigt wurde, die in der Mitte durch einen Querstrich geteilt war. Auf der einen Seite war ein Objekt einmal, auf der anderen Seite mehrmals abgebildet. Das genannte Item stand mittig über beiden Bildern (vgl. Abbildung 8).
Abb. 8: Beispiel für den visuellen Stimulus beim Interpretationsverfahren.
Die Aufgabe der Probanden bestand darin, zu entscheiden, zu welcher Abbildung das genannte Item passt. Diese Entscheidung konnten die Probanden entweder verbal äußern, indem sie bspw. antworteten, dass das Item zu „mehreren“ passt oder nonverbal, indem sie auf die jeweilige Seite des Bildschirms zeigten. Die Versuchsleiterin protokollierte die Antworten der Probanden auf einem vorbereiteten Protokollbogen. Das Testset bestand aus insgesamt 24
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Kunstwörtern mit den Endungen -en, -s, -er, -el, -e oder -ø. 88 Jede Wortstruktur wurde mit und ohne umgelauteten Stammvokal getestet sowie einmal mit dem Artikel der/das und mit dem Artikel die. 89 Tab. 9: Testset für das Interpretationsverfahren Artikel
die der/das
Umlaut
Wortendung -en
-s
-er
-el
-e
-ø
+
Grätten
Fülks
Bächter
Wöntel
Mäfte
Pröcht
-
Gratten
Fulks
Bachter
Wontel
Mafte
Procht
+
Stössen
Knölks
Grütter
Knäffel
Knümpe
Tröch
-
Stossen
Knolks
Grutter
Knaffel
Knumpe
Troch
... Hypothesen Mit dieser Erhebung soll die These überprüft werden, dass die Lerner Pluralschemata ausbilden, die sie in Abhängigkeit von ihrer Validität unterschiedlich stark mit der Funktion Plural assoziieren. Diese These wird bestätigt, wenn die Probanden die Items, die mit dem Artikel die präsentiert werden und nicht umgelautet sind, in dieser Reihenfolge zunehmend häufiger als Pluralformen interpretieren: -ø < -e < -el < -er < -s < -en. Da neben den Endungen auch der Artikel und der Umlaut als Komponenten der Pluralschemata definiert wurden, soll mit dieser Erhebung außerdem deren Zusammenwirken überprüft werden. Wie bereits kritisch angemerkt wurde, nimmt Köpcke keine Gewichtung der Komponenten vor. Es wird deshalb zunächst davon ausgegangen, dass die Merkmale additiv zusammenwirken: Je mehr Merkmale vorhanden sind, bzw. je höher ihre Validität für die Funktion Plural ist, desto eher wird die gegebene Form als Plural interpretiert. Formen, die mit den Artikeln der oder das präsentiert werden und nicht umgelautet sind, 88 Die Endung -ø bedeutet in diesem Fall, dass die Items monosyllabisch sind und keine spezifische Endung aufweisen. 89 Die hier getesteten Kunstwörter entsprechen denen des Elizitierungsverfahrens (vgl. Abschnitt 3.2.2) oder wurden leicht abgewandelt, um den gewünschten Formen zu entsprechen. Obwohl die Kunstwörter in derselben oder ähnlichen Form mehrmals Gegenstand der Bearbeitung durch die gleichen Probanden waren, konnte kein Wiedererkennungseffekt auf Seiten der Probanden festgestellt werden.
Empirische Untersuchung sollten mit zunehmender Validität der Endungen zunehmend als Pluralformen interpretiert werden. Formen, die die gleichen Eigenschaften aufweisen, aber zudem noch umgelautet sind, sollten etwas häufiger als Pluralformen interpretiert werden als ihre nicht umgelauteten Pendants. Formen, die mit dem Artikel die präsentiert werden, sollten wiederum häufiger als Pluralformen interpretiert werden als Formen, die mit den Artikeln der oder das präsentiert werden. Schließlich sollten die Formen, die mit dem Artikel die präsentiert werden und umgelautet sind, erneut häufiger als Pluralformen interpretiert werden als ihre nicht umgelauteten Entsprechungen.
... Ergebnisse Tabelle 10 gibt einen Überblick über die Ergebnisse der Erhebung. In der ersten Spalte sind die Endungen der Items aufgeführt, in der zweiten die Artikel, mit denen die Items präsentiert wurden. Die dritte Spalte gibt an, ob das Item umgelautet war oder nicht. In den folgenden Spalten ist angegeben, wie häufig die Probanden der jeweiligen Sprechergruppe das Item als Pluralform interpretiert haben. Die Werte sind Prozentangaben. In der ersten Zeile der Tabelle sind die Sprechergruppen aufgeführt mit der Angabe der Anzahl der Probanden in Klammern. In den Fällen, in denen diese Anzahl von der Gesamtanzahl der Probanden der jeweiligen Sprechergruppe abweicht (vgl. Tabelle 7), konnten die Ergebnisse einzelner Probanden nicht gewertet werden, weil die Aufgabe nicht verstanden wurde oder der Proband nicht an der Erhebung teilnehmen konnte. Da jedes Item pro Proband einmal getestet wurde, liegen für die Sprechergruppe T1-2 zu jedem Item sechs Datenpunkte vor, bei der Gruppe R1-2 sind es 17 usw. Die Ergebnisse werden schrittweise diskutiert: Zunächst wird gezeigt, dass die Hypothese, dass die Lerner Pluralschemata ausbilden, die sie in Abhängigkeit von ihrer Validität unterschiedlich stark mit der Funktion Plural assoziieren, bestätigt werden kann. Anschließend wird dargelegt, dass die Annahme, die drei Komponenten Endung, Umlaut und Artikel würden gleichwertig additiv verarbeitet, nicht haltbar ist. Es zeigt sich vielmehr, dass die Probanden zuerst den Artikel verarbeiten und nur wenn dieser keinen eindeutigen Hinweis auf Singular oder Plural gibt, auch die Endungen der Items berücksichtigen. Nur wenn auch diese keine eindeutige Interpretation zulassen, wird schließlich der Umlaut als weiteres Merkmal beachtet. Letzteres gilt allerdings nur für die russisch- und monolingual deutschsprachigen Probanden.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Tab. 10: Zuweisung der Funktion Plural (Angaben in %)
-ø
der/das die
-e
der/das die
-el
der/das die
-er
der/das die
-s
der/das die
-en
der/das
die
T- (N = )
R- (N = )
T- (N = )
R- (N = )
D- (N = )
D- (N = )
+UL
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- UL
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+UL
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- UL
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- UL
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+UL
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- UL
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,
+UL
,
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- UL
,
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,
Interpretation als Plural in Abhängigkeit von der Validität des Pluralschemas In den Abbildungen 9 bis 11 wird veranschaulicht, wie häufig die verschiedenen Items, die mit dem Artikel die und ohne Umlaut präsentiert wurden, von den verschiedenen Sprechergruppen als Plural interpretiert wurden.
Empirische Untersuchung
100
Interpretation als Pluralform: Items mit Artikel die, ohne Umlaut -ø
90 80
-e
70
%
60
-el
50
-er
40 30
-s
20 10
-en
0
T1-2
T3-4
Abb. 9: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Türkisch.
100
Interpretation als Pluralform: Items mit Artikel die, ohne Umlaut -ø
90 80
-e
70
%
60
-el
50
-er
40 30
-s
20 10
-en
0
R1-2
R3-4
Abb. 10: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Russisch.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
100
Interpretation als Pluralform: Items mit Artikel die, ohne Umlaut -ø
90 80
-e
70
%
60
-el
50
-er
40 30
-s
20 10
-en
0
D1-2
D3-4
Abb. 11: Interpretation der Items mit Artikel die und ohne Umlaut als Pluralformen, L1 Deutsch.
Wie zu sehen ist, wird in allen Sprechergruppen kein Item seltener als Plural interpretiert als die monosyllabischen Items. Dies entspricht der Vorhersage, da diese Items Schemata repräsentieren, die keinerlei Validität für die Funktion Plural aufweisen. Dass diese Items überhaupt bis zu 30% als Pluralformen interpretiert werden, ist darauf zurückzuführen, dass offenbar schon das Vorhandensein des Artikels die ausreichen kann, um die darauf folgende Form als Plural zu interpretieren. Demgegenüber werden Items auf -en von allen Sprechergruppen am häufigsten (zu 80 bis 100%) als Plural interpretiert. Auch dieses Ergebnis entspricht den Erwartungen, da diese Items das valideste Pluralschema repräsentieren. Alle anderen Items repräsentieren mehr oder weniger valide Pluralschemata und werden dementsprechend (meist) häufiger als monosyllabische Items, aber seltener als Items auf -en als Pluralformen interpretiert. In den Sprechergruppen T3-4 und R3-4 entspricht die Zunahme der Interpretation der Items als Pluralform dabei genau der zunehmenden Validität der abgebildeten Pluralschemata, also -ø < -e < -el < -er < -s < -en. Je valider das Pluraschema ist, das durch die Form abgebildet wird, desto eher entscheiden sich die Probanden für die Interpretation der Form als Plural. Dieses Ergebnis zeigt, dass bei den Lernern die Schemata in Abhängigkeit von ihrer Validität unterschiedlich stark mit der Funktion Plural verknüpft sind.
Empirische Untersuchung In den jüngeren Sprechergruppen mit DaZ, T1-2 und R1-2, ist diese Systematik etwas eingeschränkt erkennbar. Während Items auf -er, -s oder -en deutlich häufiger als Pluralformen interpretiert werden als Items, die monosyllabisch sind oder auf -e oder -el enden, entspricht die Häufigkeit der Pluralinterpretationen innerhalb dieser beiden Item-Gruppen nicht in allen Fällen dem ansteigenden Grad der Validität der Schemata: Bei T1-2 werden Items auf -e ebenso häufig als Pluralformen interpretiert wie monosyllabische Items und Items auf -er ebenso häufig wie Items auf -s. Bei R1-2 werden Items auf -e häufiger als Plural interpretiert als Items auf -el und Items auf -er häufiger als Items auf -s. In beiden Fällen würde die Validität der Pluralschemata das Gegenteil voraussagen. Die Probandengruppen dieses Alters unterscheiden damit zwar zwischen validen (-er, -s, -en) und weniger validen (-ø, -e, -el) Pluralschemata, eine feinere Differenzierung ist hingegen nicht gegeben. Ein Grund dafür könnte zum einen schlicht in der geringen Anzahl an Datenpunkten liegen: Die Abweichungen machen jeweils nur einen Datenpunkt aus. Bei mehr Probanden bzw. mehr Datenpunkten wären diese Abweichungen evtl. nicht aufgetreten. Zum anderen finden sich aber in beiden Gruppen Sprecher mit der kürzesten Erwerbsdauer. Die Abweichungen weisen darauf hin, dass die Schemata noch nicht vollständig ausgebildet wurden bzw. dass die Validität der Schemata, die weder eindeutig der Funktion Singular noch eindeutig der Funktion Plural zugeordnet werden können, aufgrund des kleineren Lexikons von der ermittelten Validität abweicht. Vor allem Schemata, die auf dem Kontinuum von gar nicht valide bis sehr valide dicht beieinander liegen, sind davon betroffen. Der Vergleich der jüngeren Sprechergruppen mit DaZ mit den älteren zeigt also, dass die Schemata im Erwerbsverlauf ausdifferenziert werden, so dass bei den älteren Sprechergruppen eine Interpretation der Formen vorliegt, die genau der ermittelten Validität der Schemata für die Funktion Plural entspricht. Auch in den Gruppen mit den monolingual deutschsprachigen Probanden (D1-2 und D3-4) liegt eine Abweichung von der erwarteten Systematik vor: Formen, die auf -e enden, werden von beiden Sprechergruppen häufiger (bei D3-4 sogar deutlich häufiger) als Pluralformen interpretiert als Formen auf -el, obwohl diese ein valideres Pluralschema repräsentieren. Warum werden die Items auf -el also in diesen Gruppen nur vergleichsweise selten als Pluralformen interpretiert? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich vor Augen führen, dass die Endung -el die einzige silbische Endung ist, die nicht als Pluralmarker im strukturalistischen Sinne segmentierbar ist. Das heißt, es gibt keine Pluralform im Deutschen, die sich allein durch die Endung -el von der zugehörigen Singularform unterscheidet (vgl. bspw. die Sessel – *der Sess aber die Kinder – das Kind). Diese Tatsache kann den Lernern allerdings erst bewusst werden,
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
wenn neben einfachen Schemata auch Paar-Schemata abstrahiert worden sind. Bei den Paar-Schemata findet sich keines, bei dem sich das Pluralschema durch eine zusätzlich angefügte Endung -el vom Singularschema unterscheidet. An dieser Stelle wird also deutlich, dass sich die monolingual deutschsprachigen Probanden nicht ausschließlich von der Validität der Schemata leiten lassen, sondern auch berücksichtigen, ob das charakteristische Schemamerkmal tatsächlich eine Pluralmarkierung darstellen kann. In ihrer Interpretation werden also Singular-Plural-Verbindungen und damit Paar-Schemata bedacht. Die Unterschiede zwischen den Sprechergruppen der jüngeren Probanden mit DaZ, der älteren Probanden mit DaZ und der monolingual deutschsprachigen Probanden bilden damit genau den erwarteten Erwerbsverlauf ab: In einem relativ frühen Erwerbsstadium erfolgt die Interpretation der unbekannten Wortformen weniger systematisch, weil die Schemata noch nicht vollständig abstrahiert sind und in ihrer Validität abweichen. Bei den fortgeschritteneren Lernern mit einer längeren Erwerbsdauer und einem größeren Lexikon erfolgt die Interpretation in Orientierung an der Validität der Schemata: Je valider ein Schema für den Plural ist, desto häufiger wird die Wortform, die dieses Schema repräsentiert, auch als Plural interpretiert. Bei den am weitesten fortgeschrittenen Lernern, den monolingual deutschsprachigen, wird nicht ausschließlich die Validität der Schemata berücksichtigt, sondern auch, ob es sich bei den Schemamerkmalen um segmentierbare Pluralmarker handelt. Dies wird bei den Lernern der dritten und vierten Klasse (D3-4) besonders deutlich. Dies ist nur möglich, wenn bereits Paar-Schemata ausgebildet wurden. Diese Ergebnisse wären in einem morphologischen Modell, das rein sourceorientierte Mechanismen beschreibt und davon ausgeht, dass Pluralformen lediglich als Ableitungen von Singularformen existieren, kaum erklärbar. Aus dieser theoretischen Perspektive hätte die Zuweisung der Funktion Singular oder Plural beliebig ausfallen müssen, da nicht angenommen wird, dass Sprecher eigenständige Repräsentationen für Pluralformen ausbilden. Die Probanden hätten somit keine Grundlage für die Interpretation der Items als Pluralformen. Aus dieser Perspektive wäre allenfalls zu erwarten gewesen, dass monosyllabische Items und solche auf -el, von denen kein potentielles Pluralsuffix segmentiert werden kann, seltener als Plural interpretiert werden als Items, die auf -e, -er, -s oder -en auslauten und die somit von den Sprechern als aus Stamm und Pluralsuffix zusammengesetzte Form interpretiert werden könnten. Für die systematische Zunahme der Zuweisung der Funktion Plural, wie sie die Daten zeigen, ist jedoch aus dieser Perspektive eine Erklärung schlicht nicht möglich.
Empirische Untersuchung Schemakomponenten: Artikel, Endung, Umlaut Für die Items, die mit dem Artikel die und ohne Umlaut präsentiert wurden, hat sich also gezeigt, dass die Interpretation als Plural in Abhängigkeit von der Validität der durch sie abgebildeten Schemata vorgenommen wird. Werden nun die Merkmale Artikel und Umlaut variiert, so sollten sich die in den Hypothesen (vgl. Abschnitt 3.2.1.2) genannten Abstufungen zeigen. Bei der Präsentation der Items mit den Artikeln der oder das wäre zu erwarten, dass sie zwar immer etwas seltener als Pluralformen interpretiert werden als die Items mit dem Artikel die, dabei aber weiterhin die Abhängigkeit von der Validität der Pluralschemata erkennbar bleibt. Die Häufigkeit der Interpretation der Items als Pluralform sollte also aufgrund der graduellen Zunahme ihrer Validität nach wie vor graduell ansteigen. Wie sich aus Tabelle 10 ablesen lässt, ist dies jedoch kaum der Fall. Die Items werden stattdessen bis auf wenige Ausnahmen selten als Pluralformen interpretiert, ohne dass die erwarteten systematischen Unterschiede im Hinblick auf die Wortgestalt erkennbar werden. Auch die umgelauteten Items, die mit den Artikeln der oder das präsentiert wurden, wurden nicht systematisch häufiger als Plural interpretiert als die entsprechenden nicht umgelauteten Items. Das Ergebnis weicht damit deutlich von den Erwartungen ab. Dies kann damit erklärt werden, dass die Artikel der und das fast ausschließlich in Singularkontexten auftreten: Der Artikel das kommt in keiner Zelle des Pluralparadigmas vor, der nur im Genitiv, der erst spät erworben wird und deshalb für die Probanden dieser Untersuchung eine untergeordnete Rolle spielt. Ein Schema, das die Artikel der oder das beinhaltet, weist somit keine Validität für den Plural auf, ganz unabhängig von der Gestalt der nachfolgenden Wortform. Für die Probanden sind die Artikel der und das damit Signale, die so deutlich auf die Funktion Singular hinweisen, dass die Wortgestalt selbst keinen Einfluss auf die Interpretation des Items als Singular oder Plural nimmt. Auch wenn die Wortform ein sehr valides Pluralschema abbildet (Endung auf -en), wird sie also nicht häufiger als Pluralform interpretiert als eine Form, durch die kein valides Pluralschema realisiert wird. Bei den Items, die mit dem Artikel die präsentiert wurden, spielen die durch die Wortform abgebildeten Schemata hingegen sehr wohl eine Rolle, denn dieser Artikel tritt sowohl im Singular (bei Feminina) als auch im Plural auf. Damit liefert der Artikel allein noch kein deutliches Signal an die Probanden, ob die Form die Funktion Singular oder Plural trägt. Im Folgenden wird nun analysiert, ob der Umlaut bei den Items mit Artikel die als zusätzliches Merkmal einer Pluralform verarbeitet wird und die Formen deshalb häufiger als Plural interpretiert werden, wenn sie den Umlaut aufweisen. Wie der Tabelle 10 zu entnehmen ist, ist eine pauschale Antwort an dieser Stelle nicht möglich. Es muss vielmehr nach der Endung der Items und nach der
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Sprechergruppe unterschieden werden. Zunächst werden die Unterschiede zwischen den Items betrachtet: Bei den Items, die auf -s oder -en enden, werden die umgelauteten Formen nur in einigen Sprechergruppen und auch dort nur wenig häufiger als Plural interpretiert als die nicht umgelauteten Formen. Auch bei monosyllabischen Items ist nur vereinzelt zu beobachten, dass die Umlautung des Stammvokals dazu führt, dass die Items häufiger als Pluralformen interpretiert werden. Bei den anderen Items, also denen, die auf -e, -el oder -er enden, wird jedoch die Vorhersage erfüllt: Sind die Items umgelautet, so werden sie häufiger als Pluralformen interpretiert, als wenn sie nicht umgelautet sind. Die Unterschiede zwischen den Items können direkt auf die Verhältnisse im kindlichen Wortschatz zurückgeführt werden. In der Wortschatzanalyse im Abschnitt 2.2 wurde deutlich, dass der Umlaut die Validität von Pluralschemata mit den Endungen -e, -el und -er erhöht: Während Schemata dieser Gestalten ohne umgelauteten Stammvokal weder eindeutig der Funktion Singular noch der Funktion Plural zugeordnet werden können, erhöht der Umlaut die Validität dieser Wortgestalten für die Funktion Plural deutlich. So gibt es bspw. eine große Anzahl von Nomen des Schemas [die…-e], die der Funktion Singular zugeordnet sind. Wenn Nomen dieser Endung aber einen umgelauteten Stammvokal aufweisen, tragen sie deutlich seltener die Funktion Singular und dementsprechend häufiger die Funktion Plural. Im Gegenzug dazu erhöht der Umlaut die Validität von Schemata mit den Endungen -en oder -s nicht, da sie auch ohne Umlaut bereits eine sehr hohe Validität aufweisen. Monosyllabische Items weisen im analysierten Kinderwortschatz auch mit Umlaut keine Validität für die Funktion Plural auf. Das bedeutet also, dass der Umlaut nur dann zu einer häufigeren Interpretation des Items als Pluralform führt, wenn das Schema ohne Umlaut weder für den Singular noch für den Plural eine hohe Validität aufweist, sondern dazwischen liegt. Dieses Ergebnis gilt jedoch nicht für alle Sprechergruppen: Bei den türkischsprachigen Probanden zeigt sich auch zwischen den Items auf -e oder -el mit und ohne Umlaut kein Unterschied. Dies kann auf die Strukturen der Erstsprache zurückgeführt werden: Im Türkischen werden grammatische Funktionen ausschließlich durch Suffixe ausgedrückt, nicht durch eine Veränderung des Wortstamms. Die Ausgangssprache beeinflusst an dieser Stelle offenbar die Interpretation der Wortformen als Singular oder Plural. Insgesamt wurde deutlich, dass die Schemamerkmale Artikel, Endung und Umlaut entgegen den Erwartungen nicht gleichwertig additiv zusammenwirken. Der Artikel ist das Merkmal, das primär berücksichtigt wird: Ist der Artikel eindeutig der Funktion Singular zuzuordnen (also der oder das), so spielen die anderen Merkmale der Wortform (Endung und Umlaut) keine Rolle mehr für die
Empirische Untersuchung Zuweisung der Funktion Singular oder Plural: Das Item wird als Singular interpretiert. Nur wenn der Artikel die lautet und es damit keinen eindeutigen Hinweis darauf gibt, ob die Funktion Singular oder Plural zuzuweisen ist, werden die anderen Merkmale der Wortform betrachtet, und zwar zunächst die Endung. Ist die Endung wiederum sehr valide für die Anzeige der Funktion Plural (-en oder -s) oder Singular (-ø), so spielt das letzte Merkmal, der Umlaut, keine Rolle für die Zuweisung einer Funktion: Items auf -en oder -s werden, mit oder ohne Umlaut, ganz überwiegend als Plural interpretiert, monosyllabische Items hingegen als Singular. Erst wenn auch die Endung nicht eindeutig für einen Singular oder Plural spricht (-e, -el, -er), wird der Umlaut als weiteres Merkmal berücksichtigt: Umgelautete Items auf -e, -el und -er werden von den russisch- und monolingual deutschsprachigen Probanden häufiger als Plural interpretiert als die entsprechenden nicht umgelauteten Items.
... Zusammenfassung Die Untersuchung liefert drei Ergebnisse. Zum einen wurde deutlich, dass sich die Probanden bei der Interpretation unbekannter Wortformen als Singular oder Plural an der Validität der Pluralschemata orientieren. Die Ergebnisse für die Items, die mit dem Artikel die präsentiert wurden, zeigen, dass die Items entsprechend der zunehmenden Validität der durch sie repräsentierten Pluralschemata graduell häufiger als Pluralformen interpretiert wurden. Die These, dass Lerner Pluralschemata ausbilden, die unterschiedlich stark mit der Funktion Plural assoziiert werden, wird dadurch bestätigt. Dabei wurden auch Unterschiede zwischen den Sprechergruppen deutlich, die auf den vermuteten Erwerbsverlauf bei der Ausbildung der Schemata und Paar-Schemata zurückzuführen sind: Probanden mit der kürzesten Erwerbsdauer (T1-2 und R1-2) unterscheiden deutlich zwischen validen und weniger validen Pluralschemata, innerhalb dieser beiden Item-Gruppen entspricht die Häufigkeit der Interpretationen als Plural jedoch nicht immer der Validität der Schemata. Bei den Probanden mit längerer Erwerbsdauer (T3-4 und R3-4) hingegen zeigt sich exakt die erwartete graduelle Zunahme der Interpretation als Pluralform in Abhängigkeit von der zunehmenden Validität der abgebildeten Schemata. Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden (D1-2 und D3-4) zeigt sich darüber hinaus, dass auch die Singular-Plural-Paare, also die Paar-Schemata, bei der Interpretation eine Rolle spielen: Items auf -el werden trotz höherer Validität für die Funktion Plural seltener als Plural interpretiert als Items auf -e. Dies ist darauf zurückzuführen, dass -el keine vom Stamm segmentierbare Plural-
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
markierung darstellt. Es existiert also kein Paar-Schema, bei dem ein Singular ohne die Endung -el einem Plural mit eben dieser Endung zugeordnet ist. Das zweite Ergebnis ist, dass die Merkmale der Pluralschemata, also der Artikel die, der Umlaut und die Endungen, nicht gleichwertig additiv vom Sprecher verarbeitet werden. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass der Artikel das Merkmal ist, das primär berücksichtigt wird. Nur wenn dieser keinen eindeutigen Hinweis auf die Funktion liefert, wird auch die Endung der Wortgestalt berücksichtigt. Nur wenn auch diese uneindeutig ist, wird schließlich der Umlaut relevant. Dieses Ergebnis leistet damit einen Beitrag zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage nach dem Zusammenwirken der drei PluralschemaKomponenten Artikel die, Umlaut und Endung im Schema-Modell nach Köpcke: Die Elemente werden nicht einzeln und unabhängig voneinander als Merkmale einer Pluralform verarbeitet, in dem Sinne, dass sie additiv zu einer größeren Validität des Schemas beitragen, sondern sind nur in bestimmten Konstellationen relevant. Das dritte Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die Ausgangssprache der Probanden die Perzeption des Umlauts als Pluralmerkmal beeinflusst: Im Gegensatz zu den russischsprachigen Lernern behandeln die türkischsprachigen Probanden die umgelauteten Items prinzipiell nicht anders als die nicht umgelauteten Items. Sie verarbeiten den Umlaut also nicht als Pluralmerkmal, was auf die Strukturen der Erstsprache, in der grammatische Funktionen ganz überwiegend durch Suffixe ausgedrückt werden, zurückgeführt werden kann.
.. Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern: Die Mafte – viele …? ... Methode und Testdesign Das Design der in dieser Untersuchung durchgeführten Elizitierung ist an die Methode angelehnt, die Berko (1958) erstmals verwendet hat und die seitdem in mehreren Studien zur Verarbeitung komplexer Wortformen (Mugdan 1977, Köpcke 1988, 1993, Wegener 2008a) wiederholt und erprobt wurde. In dem Test von Berko wurden Kindern Bildkärtchen gezeigt, auf denen Fantasiewesen abgebildet waren. Diese Wesen wurden mit Kunstwörtern benannt, z.B. wug. Die Aufgabe der Kinder war es, den Plural zu diesen Wörtern zu bilden. Im Vorfeld der eigentlichen Datenerhebungen wurden zur Erprobung dieser Erhebungsmethode Pretests mit Probanden durchgeführt, die ebenso wie die eigentlichen Probanden dieser Untersuchung Grundschüler mit DaZ waren. In diesen Pretests wurde den Probanden ein Bild mit einem Fantasiewesen oder mit einem unbekannten Gegenstand gezeigt und diesem von der Versuchsleiterin ein
Empirische Untersuchung Kunstwort zugeordnet, z.B. Dies ist die Mafte. Anschließend wurde den Probanden ein Bild gezeigt, auf dem der gleiche Gegenstand bzw. das gleiche Wesen mehrmals abgebildet war, und der Proband wurde gefragt, „Was siehst du nun?“. Die erwartete Antwort war „Viele/mehrere/drei/die Maften“. Beim Pretest hat sich jedoch folgendes Problem gezeigt: Mehrere Probanden tendierten dazu, lediglich eine der neun möglichen Pluralmarkierungen für einen Großteil der ihnen präsentierten Items zu verwenden. Beispielsweise wurden alle Inputitems unverändert übernommen oder ausschließlich Pluralformen auf -n realisiert. In diesen Fällen kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Gestalt des Inputitems die Antwort des Probanden entscheidend beeinflusst hat. Um das Risiko eines solchen Verhaltens zu verringern, wurde das Erhebungsverfahren deshalb für die Erhebung mit den eigentlichen Probanden dieser Studie in den folgenden Punkten angepasst: 1. Den Probanden wurden vor Beginn der Präsentation der Kunstwörter die verschiedenen Möglichkeiten der Pluralbildung im Deutschen in Erinnerung gerufen. Dies geschah mithilfe von Bildimpulsen, durch die reale deutsche Pluralformen elizitiert wurden. Die Probanden wurden dabei von der Interviewerin aufgefordert, zu benennen, was sie auf den vorgelegten Bildern sehen. Dabei wurde die Verwendung jeder Pluralmarkierung genau einmal angeregt. Dieses Vorgehen diente vorrangig dem Zweck, den Probanden die Möglichkeiten der Pluralbildung in Erinnerung zu rufen. Darüber hinaus konnte so festgestellt werden, ob die Probanden über alle nativen Pluralbildungsmöglichkeiten verfügen. 2. Die Elizitierung der Pluralformen zu den Kunstwörtern wurde in einen kindgerechten Kontext eingebunden, um die Probanden von der Erhebungssituation abzulenken und die Motivation an der Teilnahme zu erhöhen: Die Interviewerin erklärte den Probanden, dass sie an einem Kinderbuch schreibe, in dem viele neue Wesen und Gegenstände vorkommen, für die neue Wörter erfunden wurden. Es wurde ihr aber lediglich mitgeteilt, wie das Wort für eins der Gegenstände oder Wesen ist, nicht aber das Wort für mehrere. Um diese Wörter zu finden, benötige sie die Hilfe des Probanden. Die Probanden zeigten durch die Einbettung des Elizitierungsverfahrens in diesen Kontext eine deutlich höhere Motivation bei der Durchführung. Außerdem wurde die Erhebung dadurch nicht als Testsituation empfunden. 3. Das Interview zur Elizitierung der Pluralformen wurde mehrmals unterbrochen, um die Probanden durch Fragen zu ihren Ferien, Wochenenden und ähnliches von dem Fokus der Erhebung abzulenken.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Die eigentlichen Erhebungen wurden von zwei Interviewerinnen mit den Probanden in Einzelinterviews am Computer durchgeführt. Den Kindern wurde zunächst eine Abbildung eines Fantasiewesens oder eines unbekannten Gegenstandes gezeigt. 90 Nach dem Bild wurde das Kunstwort, mit dem das Wesen oder der Gegenstand bezeichnet wurde, eingeblendet und von der Versuchsleiterin mit Nennung des definiten Artikels zwei Mal ausgesprochen. Anschließend wurde auf der folgenden Folie der gleiche Gegenstand bzw. das gleiche Wesen mehrmals abgebildet, und das Kind wurde gefragt, wie es nun viele Exemplare des Gegenstandes oder Wesens bezeichnen würde. Die Abbildung des Stimulusitems sahen die Probanden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr (vgl. Abbildung 12).
Abb. 12: Beispiel für den visuellen Stimulus bei der Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern.
Der Text der Interviewerinnen war nicht genau festgelegt, so dass es zu Variationen im genauen Wortlaut kam. Durch die offene Gestaltung wurde die Künstlichkeit der Situation abgeschwächt und ein Kommunikationskontext geschaffen, mit dem die Kinder aus dem Schulunterricht vertraut sind. Diese Erhebung wurde mit allen Probanden mit türkischer und russischer Ausgangssprache drei
90 Bei den Bildern handelt es sich größtenteils um ClipArt Zeichnungen oder andere gezeichnete Figuren. Es gab während der Testdurchführungen keine Hinweise darauf, dass die gezeigten Gegenstände oder Wesen den Probanden aus anderen Kontexten bekannt sind. Aus urheberrechtlichen Gründen werden die verwendeten Bildimpulse nicht abgedruckt.
Empirische Untersuchung Mal im Abstand von je etwa acht Wochen durchgeführt. 91 Dabei wurden in der ersten und letzten Erhebung dieselben Items verwendet (Testset 1). Beim zweiten Test dienten andere Items als Stimuli (Testset 2). Mit der monolingual deutschsprachigen Kontrollgruppe wurde jedes Testset nur einmal durchgeführt, wobei zwischen den beiden Erhebungen ebenfalls etwa acht Wochen lagen. Die Reihenfolge, in der die Items den Probanden präsentiert wurden, wurde variiert. Die Testitems, die den Probanden als Singularformen präsentiert wurden, wurden so ausgewählt, dass die in Beschreibungen des deutschen Numerussystems erfassten Merkmale (phonologische Struktur bzw. Auslaut und Genus) abgedeckt wurden. Als Testitems wurden vornehmlich Kunstwörter gewählt, die in der Untersuchung von Köpcke (1988, 1993) verwendet wurden. Diese wurden bereits im Rahmen jener Untersuchung darauf geprüft, bei den Sprechern keine spezifischen Assoziationen zu realen Wörtern hervorzurufen. Für diese Studie wurde zusätzlich getestet, ob die Items bei kompetenten Sprechern des Russischen und Türkischen Assoziationen zu realen russischen oder türkischen Wörtern evozieren. 92 War dies der Fall, so wurden die Items verändert und diese neuen Items daraufhin bei 40 monolingual aufgewachsenen deutschsprachigen Studierenden der Germanistik erneut auf Assoziationen getestet. Wurden in Folge dieser Ergebnisse neue Kunstwörter konzipiert, so wurde darauf geachtet, dass sie wie die restlichen Items in Übereinstimmung mit den im Deutschen möglichen Lautstrukturen stehen. Auf diese Weise wurden zwei Testsets à 17 Items zusammengestellt. Das Testset 1 (Tabelle 11) wurde beim ersten und dritten Erhebungszeitpunkt verwendet, das Testset 2 (Tabelle 12) beim zweiten. Jede phonotaktische Struktur wurde also durch zwei verschiedene Items abgedeckt. Tab. 11: Testset 1 zur Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern Testset Monosyllabia
-e
-el
-er
-en
-VV
M
Schlass
Manke
Trunkel
Knuker
Trauken
Trunta
N
Gocht
Flunde
Trolchel
Zorfer
Gratten
Siero
F
Trunt
Duhre
Knussel
Wuhrer
-
Kafti
91 In Einzelfällen kam es wegen Krankheit oder aus schulinternen Gründen zu geringen Abweichungen von diesen Zeiten. 92 Dazu wurde je eine Sprecherin des Russischen und des Türkischen befragt.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Tab. 12: Testset 2 zur Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern Testset Monosyllabia
-e
-el
-er
-en
-VV
M
Troch
Fulke
Knaffel
Grutter
Stossen
Treifa
N
Knolk
Knumpe
Spauchel
Knauker
Trunten
Wiero
F
Procht
Mafte
Wontel
Bachter
-
Kaftu
... Hypothesen Es wird angenommen, dass die Lerner bei der Pluralbildung zu den Kunstwörtern drei Strategien anwenden: – Statt den Plural durch morphologische Markierungen am Wort selbst zu kennzeichnen, verwenden sie lexikalische Elemente (Zahlwörter, Mengenangaben) und lassen das Item selbst unverändert (lexikalische Strategie). – Die Lerner bilden den Plural produktorientiert. Sie gehen also nicht von der Singularform aus und generieren daraus durch die Anwendung bestimmter Regeln eine Pluralform, sondern bilden den Plural im Abgleich mit gespeicherten Pluralschemata. Wenn eine Singularform vorliegt, die gleichzeitig auch ein Pluralschema abbildet, besteht deshalb die Tendenz, diese Form unverändert zu übernehmen. Dies geschieht umso eher, je valider das Pluralschema ist, dass durch diese Form abgebildet wird. Die produktorientierte Strategie äußert sich auch darin, dass die Lerner statt einer wenig validen Pluralform, die aufgrund eines starken Paar-Schemas zu erwarten wäre, eine validere Pluralform bilden, auch wenn diese kein starkes PaarSchema abbildet. Die besonders valide Form auf -(e)n wird also auch dann häufig produziert, wenn die gegebene Singularform Teil eines anderen Paar-Schemas ist und deshalb eigentlich einen anderen Plural erfordert, also -e bei monosyllabischen Nicht-Feminina, -ø bei Nicht-Feminina auf Pseudosuffix -el oder -er und -s bei Nomen auf unbetonten Vollvokal. Der Umlaut wird vornehmlich dann verwendet, wenn die Pluralform ansonsten ein wenig valides Pluralschema abbilden würde. – Die Lerner bilden den Plural source-orientiert. Die Pluralform wird in Abhängigkeit von Genus und Auslaut des Singulars gebildet, so dass ein starkes Paar-Schema abgebildet wird. Die Lerner gehen also nicht allein von den gespeicherten Pluralschemata aus, sondern von den Paar-Schemata. Der Plural auf -en wird deshalb häufiger für Feminina als für NichtFeminina gewählt. Für monosyllabische Maskulina oder Neutra wird der
Empirische Untersuchung Plural auf -e (bzw. -er), für Maskulina und Neutra auf -el, -er, -en der unveränderte Plural gewählt. Zu Items auf einen unbetonten Vollvokal wird der Plural auf -s gebildet. Diese drei Strategien sind in allen Sprechergruppen erkennbar, aber in Abhängigkeit von der Erwerbsdauer unterschiedlich stark ausgeprägt: Die lexikalische Strategie ist in frühen Erwerbsphasen dominant, also in den Sprechergruppen mit DaZ der ersten und zweiten Klasse. Die produktorientierte Strategie ist in einer mittleren Erwerbsphase besonders dominant, wobei sie mit steigender Erwerbsdauer zunehmend von der source-orientierten Strategie abgelöst wird. Die source-orientierte Strategie sollte sich bei den monolingual deutschsprachigen Probanden der dritten und vierten Klasse, die die am weitesten im Erwerb fortgeschrittene Probandengruppe darstellt, deshalb besonders deutlich zeigen. Es ist kein prinzipieller Unterschied zwischen den Sprechergruppen mit DaE und DaZ zu erwarten, sondern eher eine unterschiedliche Dominanz der drei Strategien, die wiederum durch die unterschiedlich lange Erwerbsdauer zu begründen ist. Aufgrund der verschiedenen Ausgangssprachen der DaZ-Lerner ist weiterhin anzunehmen, dass die Strategien bei Probanden mit türkischer und russischer Ausgangssprache unterschiedlich stark ausgeprägt sind, bzw. dass sich Spezifika zeigen, die sich nicht direkt auf eine der drei Strategien zurückführen lassen: – Die lexikalische Strategie zeigt sich bei den türkischsprachigen Lernern deutlicher als bei den Lernern mit russischer Ausgangssprache. – Lerner mit türkischer und russischer Ausgangssprache vermeiden Pluralformen, die sich nicht von der Singularform unterscheiden (Nullmarkierung). – Lerner mit türkischer Ausgangssprache nutzen die Möglichkeiten zur Pluralbildung nicht in gleichem Maße wie Lerner mit russischer Ausgangssprache. Sie bilden ganz überwiegend nur besonders valide Pluralformen auf (e)n. – Lerner mit türkischer Ausgangssprache verwenden den Umlaut nicht zur Pluralmarkierung – Lerner mit türkischer Ausgangssprache entwickeln source-basierte Strategien später als Lerner mit russischer Ausgangssprache. Das Genus des Nomens wird nicht als relevantes Merkmal von Paar-Schemata verarbeitet.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
... Ergebnisse Die Pluralformen, die die Probanden bei der Elizitierung gebildet haben, wurden für die Auswertung zunächst als Ganze notiert. In einem nächsten Schritt wurden diese Formen den Pluralmarkierungen zugeordnet. Für der Troch – die Tröche wurde also UL + -e notiert. Dabei kam es zu Fällen, in denen die Probanden durch Stammflexion zur Pluralform gelangt sind, wie z.B. bei der Fulke – die Fulker oder die Knussel – die Knussen. In diesem Fall wurde die Pluralgestalt analysiert: Wurde eine Gestalt produziert, die auf -er endet, wie bei Fulker, so wurde die Markierung -er notiert. 93 Außerdem wurden in manchen Fällen Formen gebildet, die keiner Pluralmarkierung bzw. keinem nativen Pluralschema zuzuordnen sind, wie z.B. das Knolk – die Knolki. Diese Bildungen werden in den Ergebnissen nicht aufgeführt, führen jedoch dazu, dass die Summe der verschiedenen Pluralbildungen nicht in allen Fällen 100% ergibt. Testsets, bei denen die Probanden in mindestens 80% der Fälle den Plural gleich, also z.B. immer auf -(e)n oder -s gebildet haben, wurden von der Auswertung der Daten ausgeschlossen 94, da dieses Verhalten vor allem für die Feststellung der sourceorientierten Strategie problematisch ist: Hat ein Proband alle Pluralformen auf s gebildet, so kann bei den Items, bei denen dieser Plural aus source-orientierter Sicht erwartbar ist (Items mit Endung auf unbetonten Vollvokal), nicht davon ausgegangen werden, dass diese Form aufgrund des charakteristischen Auslauts der Singularform gewählt wurde. Deshalb würde die Auswertung dieser Antworten, in denen mechanisch die immer gleiche Pluralgestalt produziert wird, zu verzerrten Ergebnissen führen. Diese Problematik besteht vor allem, wenn aus anderen im Rahmen dieser Untersuchung durchgeführten Erhebungen bekannt ist, dass der Proband über alle nativen Pluralgestalten verfügt, sein Antwortverhalten also nicht darauf zurückzuführen ist, dass ihm lediglich eine Pluralgestalt bekannt ist. Wie eine erste Auswertung der Daten gezeigt hat, sind zwischen den drei Testzeitpunkten kaum systematische Veränderungen festzustellen. Dies kann zum einen sicherlich darauf zurückgeführt werden, dass die Datenpunkte pro Erhebungszeitpunkt zu gering sind, da jedes Item nur einmal pro Proband getestet wurde. Zum anderen ist der Zeitraum von vier Monaten, in dem die drei Erhebungen durchgeführt wurden, aber wohl auch zu knapp bemessen, als
93 Das Auftreten dieser Pluralbildungen durch Stammflexion, bei denen die Probanden offensichtlich nicht eine Pluralmarkierung auswählen und an die gegebene Form suffigieren, zeigt, dass Schemata abgebildet werden. Im Falle vom Plural Fulker zu Fulke eines, das auf -er endet. 94 In der Gruppe T1-2 konnten 13 von 24 Testsets gewertet werden, T3-4: 34 von 45, R1-2: 27 von 51, R3-4: 59 von 75, D1-2: 13 von 20, D3-4: 17 von 20 (vgl. Tabelle 24 im Anhang).
Empirische Untersuchung dass Entwicklungen beobachtbar wären, zumal bei diesem kognitiv eher anspruchsvollen Testverfahren und bei Probanden, die nicht am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen, sondern bereits einen gewissen Sprachstand erreicht haben. Die Ergebnisse der drei Testzeitpunkte werden deshalb bei den folgenden Auswertungen addiert. Außerdem werden die Ergebnisse für Maskulina und Neutra im Folgenden zusammengefasst, da die Lerner nicht systematisch zwischen diesen beiden Genera unterschieden haben und es für diese Unterscheidung auch aus systemlinguistischer Perspektive kaum Gründe gibt. 95 Bei den Items, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, werden die Ergebnisse für Feminina und Nicht-Feminina addiert, da es auch hier aus systemlinguistischer Perspektive keine Gründe für eine Aufteilung nach Genus gibt und eine solche Unterscheidung auch in den Ergebnissen nicht abgebildet wird. Eine vollständige Übersicht über die Pluralbildungen der einzelnen Probanden zu den drei Erhebungszeitpunkten und allen Items findet sich im Anhang in Tabelle 23. Tabelle 13 ist nach Sprechergruppen gegliedert. Für jede Gruppe wird in Prozent angegeben, wie häufig die verschiedenen Pluralformen in Abhängigkeit von den Itemtypen gewählt wurden. Der Umlaut wird dabei erst einmal nicht berücksichtigt. 96 In der ersten Spalte sind die verschiedenen Itemtypen angegeben, unterteilt nach Feminina (F) und Nicht-Feminina (-F). Dahinter ist in Klammern angegeben, wie viele Datenpunkte jeweils für die Items vorliegen. Wie Tabelle 13 zu entnehmen ist, werden in allen Sprechergruppen alle Pluralmarkierungen 97 verwendet. Es ist nun im Folgenden zu prüfen, wie die Pluralformen über die Stimulusitems verteilt sind: Verwenden die Probanden sie überwiegend für Items, bei denen sie aufgrund eines starken Paar-Schemas erwartbar sind? Dies würde für eine source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung sprechen. Nach den oben formulierten Annahmen wird jedoch davon ausgegangen, dass den Pluralbildungen der Probanden weitere Strategien zugrunde liegen, zuvorderst die produktorientierte. 95 Lediglich beim Umlaut treten in der Zielsprache systematische Unterschiede zwischen Maskulina und Neutra auf. Im analysierten kindlichen Wortschatz treten Pluralformen auf -er zudem häufiger bei monosyllabischen Neutra als bei Maskulina auf. In den Ergebnissen werden diese Unterschiede jedoch nicht abgebildet. 96 Im Folgenden werden hauptsächlich die Endungen diskutiert. Der Umlaut wird nur an relevanten Stellen thematisiert, ansonsten wird von diesem Faktor abstrahiert. 97 Auch wenn nicht davon ausgegangen wird, dass die Lerner die Pluralmarkierungen isoliert speichern und zur Pluralbildung mit dem Singular verbinden, wird im Folgenden zur besseren Lesbarkeit von der Verwendung von Pluralmarkierungen gesprochen. Dies ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Probanden Plurale produzieren, die diese „Markierungen“ als Merkmale der realisierten Pluralschemata enthalten.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Tab. 13: Ergebnisse des Elizitierungsverfahrens T- -(e)n
-ø
-e
-er
-s
Monosyll. F (N = )
,
,
,
,
Monosyll. -F (N = )
,
,
,
,
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,
,
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,
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,
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,
,
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,
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,
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,
,
,
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,
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,
,
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-ø
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-er
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Monosyll. F (N = )
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Monosyll. -F (N = )
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-el -F (N = )
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,
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,
,
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,
,
-VV F/-F (N = )
,
,
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,
,
-(e)n
-ø
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-er
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,
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Monosyll. -F (N = )
,
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T-
R-
Empirische Untersuchung R- -(e)n
-ø
-e
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,
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-(e)n
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R-
D-
D-
Monosyll. F (N = )
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
D- -(e)n
-ø
-e
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-s
Monosyll. -F (N = )
,
,
,
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-e F (N = )
,
,
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-el F (N = )
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-er -F (N = )
,
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,
-en -F (N = )
,
,
,
-VV F/-F (N = )
,
,
,
,
,
Bei der folgenden Analyse der Pluralbildungen in Bezug auf die verschiedenen Stimulusitems wird in einem ersten Schritt analysiert, in welchen Fällen die Items unverändert übernommen wurden, d.h. nach welchen Prinzipien die sogenannte Nullmarkierung verwendet wurde. In einem zweiten Schritt wird die Verwendung der overten Markierungen analysiert, d.h. es werden die Fälle betrachtet, in denen die Pluralform eine andere Gestalt aufweist als die Singularform. Dabei wird jeweils deutlich, dass die Probanden sowohl die produktals auch die source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung anwenden, wobei letztere mit zunehmender Erwerbsdauer dominanter wird. Die lexikalische Strategie ist vor allem bei den Probanden mit DaZ der ersten und zweiten Klasse erkennbar.
Verwendung der Nullmarkierung In vielen Erwerbsstudien wird die Verwendung der sogenannten Nullmarkierung nicht systematisch analysiert, da Unsicherheiten bei der Interpretation bestehen. Häufig ist nicht klar entscheidbar, ob es sich bei einer Form, die dem Singular gleicht, tatsächlich um einen Plural handelt oder um einen Singular. In dieser Untersuchung stellt sich das Problem nicht, da es aufgrund des Erhebungsdesigns eindeutig war, dass tatsächlich Pluralformen realisiert wurden. Tabelle 14 ist ein Ausschnitt aus Tabelle 13 und fokussiert die Verwendung der Nullmarkierung für die verschiedenen Itemtypen. Die fett gedruckten Prozentwerte kennzeichnen die Items, bei denen aufgrund der existierenden PaarSchemata zu erwarten ist, dass das Item unverändert für den Plural übernommen wird.
Empirische Untersuchung Tab. 14: Verwendung der Nullmarkierung in %
Monosyll. -e -el -er
T-
T-
R-
R-
D-
D-
F
,
,
,
,
,
M/N
,
,
,
,
,
,
F
,
,
,
,
,
M/N
,
,
,
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,
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M/N
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,
F
,
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M/N
,
,
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,
,
,
-en
M/N
,
,
,
,
,
,
-VV
F/M/N
,
,
,
,
,
,
Die Analyse der Verwendung der Nullmarkierung bringt drei zentrale Ergebnisse: 1. Auch Items, bei denen die Nullmarkierung weder aus produkt- noch aus source-orientierter Perspektive erwartbar ist, werden von Probanden der Gruppen T1-2 und R1-2 häufig unverändert übernommen. Hier zeigt sich die lexikalische Strategie bei der Pluralbildung. 2. Items, bei denen die Nullmarkierung aufgrund der Paar-Schemata gleichermaßen erwartbar (Nicht-Feminina auf -el, -er, -en) oder nicht erwartbar ist (Monosyllabia, -e, -VV, Feminina auf -el, -er) ist, werden unterschiedlich häufig unverändert übernommen: Je valider das Pluralschema ist, das durch das Stimulusitem abgebildet wird, desto häufiger übernehmen die Probanden das Item unverändert. Der Umlaut wird demgegenüber umso häufiger verwendet, je geringer die Validität des abgebildeten Pluralschemas ist. Dies ist durch die produktorientierte Strategie der Pluralbildung zu erklären. 3. Nicht-Feminina auf -el und -er werden häufiger unverändert übernommen als Feminina desselben Auslauts; Dies ist auf die source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung zurückzuführen. Im Folgenden werden diese drei Punkte schrittweise diskutiert.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Lexikalische Strategie In verschiedenen Studien zum Erst- und Zweitspracherwerb wurde gezeigt, dass Lerner in einer frühen Erwerbsphase dazu tendieren, den Plural nicht durch morphologische Markierungen am Nomen selbst, sondern nur durch lexikalische Mittel wie Zahlwörter oder Mengenangaben zu kennzeichnen (vgl. z.B. Bittner (1999) für den monolingualen Erstspracherwerb und Marouani (2006) für den frühen Zweitspracherwerb). Wie die Ergebnisse in Tabelle 14 zeigen, übernehmen die türkischsprachigen Probanden der Klasse 1-2 (T1-2) monosyllabische Items und Items auf -e zu 35 bis 55% unverändert, was deutlich über den Anteilen der anderen Sprechergruppen liegt. Bei den russischsprachigen Probanden dieser Altersgruppe (R1-2) liegt der Anteil der Nullmarkierung bei diesen Items etwas niedriger, aber immer noch deutlich über dem der anderen Sprechergruppen. 98 Die betroffenen Items bilden Singularschemata ab, die keine Paar-Schemata mit gleichlautenden Pluralformen bilden. Das heißt, im analysierten kindlichen Wortschatz sind monosyllabischen Singularformen und solchen auf -e nie Pluralformen zugeordnet, die die gleiche Gestalt aufweisen. Der Grund für den hohen Anteil der Nullmarkierung kann also nicht in den Paar-Schemata und der darauf beruhenden source-orientierten Strategie liegen. Auch bilden die betroffenen Items keine validen Pluralschemata ab. Besonders die monosyllabischen Items weisen keinerlei Validität für die Funktion Plural auf. Auch eine produktorientierte Strategie, bei der die Probanden die Pluralbildung im Abgleich mit einem Pluralschema vornehmen, kann das Ergebnis also nicht erklären. Die häufige Verwendung der Nullmarkierung zeigt vielmehr, dass die Probanden dieser Sprechergruppen die lexikalische Strategie verfolgen: Sie drücken den Plural durch lexikalische Elemente aus und markieren das Nomen selbst nicht für den Plural (z.B. viele Trunt, mehrere Trunt etc.). Der Anteil der Verwendung solch lexikalischer Elemente für monosyllabische Items liegt bei den Sprechergruppen T1-2 und R1-2 bei immerhin 60 bis fast 90%. In den Fällen, in denen noch nicht einmal ein lexikalisches Element verwendet wird, wird offenbar schon die Setzung des Artikels die als ausreichend empfunden, um die Funktion Plural anzuzei-
98 Dieses Ergebnis wird noch deutlicher, wenn man die von der Auswertung ausgenommenen Tests betrachtet: Von den elf Testsets, die bei der Gruppe T1-2 bei der Auswertung nicht berücksichtigt wurden, werden in neun Fällen die Singularformen durchgängig unverändert übernommen. Bei der Gruppe R1-2 trifft dies auf 12 von 24 Testsets zu. In allen anderen Sprechergruppen liegt die Anzahl der Testsets, in denen auf die sogenannte Nullmarkierung fokussiert wurde, weit darunter: T3-4: 3 von 11, R3-4: 3 von 16, D1-2: 2 von 7, D3-4: 2 von 3.
Empirische Untersuchung gen. 99 Diese Strategie ist erwerbstheoretisch darauf zurückzuführen, dass die Probanden in dieser Erwerbsphase noch nicht genügend Wortformen gespeichert haben, um daraus stabile Schemata für die Funktion Plural zu abstrahieren, die produktiv zur Pluralbildung von Kunstwörtern zur Verfügung stehen. Dementsprechend übernehmen die Probanden mit DaZ der dritten und vierten Klasse (T3-4 und R3-4), die eine längere Erwerbsdauer aufweisen als die Probanden der ersten und zweiten Klasse, diese Items deutlich seltener unverändert. Auch der Vergleich mit den monolingual deutschsprachigen Probanden der ersten und zweiten Klasse (D1-2) bestätigt diese Annahme: Da diese Probanden im gleichen Alter eine längere Erwerbsdauer aufweisen als die Probanden mit DaZ, sind bereits stabilere Schemata ausgebildet worden, so dass die Probanden nicht mehr in gleichem Maße auf die lexikalische Strategie der Pluralbildung zurückgreifen. Wie angenommen wurde, zeigt sich diese Strategie bei den türkischsprachigen Probanden deutlicher als bei den russischsprachigen Probanden des gleichen Alters. Dies lässt sich auf den Einfluss der Erstsprache zurückführen: Im Türkischen ist die Pluralmarkierung in vielen Kontexten optional, so dass die Singularform als numerusneutrale Form verwendet werden kann. Dieses Wissen übertragen die türkischsprachigen Probanden offenbar auf das deutsche Pluralsystem, so dass die lexikalische Strategie dominanter ausgeprägt ist als bei den russischsprachigen Probanden. Produktorientierte Strategie Die getesteten Items lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Zum einen solche Items, für die die Nullmarkierung aufgrund der zielsprachlichen Paar-Schemata erwartbar ist. Dies sind Nicht-Feminina auf -el, -er und -en. Zum anderen Items, für die die Nullmarkierung aufgrund der Paar-Schemata nicht erwartbar ist: Monosyllabische Items, Items auf -e und unbetonten Vollvokal sowie Feminina auf -el und -er. Aus einer source-orientierten Perspektive wäre dementsprechend zu erwarten, dass die Probanden die Nullmarkierung gleichermaßen häufig für Items verwenden, bei denen sie erwartbar ist und gleichermaßen selten für Items, bei denen sie nicht erwartbar ist. Tatsächlich ist es aber so, dass die Probanden die Nullmarkierung innerhalb dieser beiden Itemgruppen in sehr unterschiedlichem Ausmaß verwenden. Abbildung 13 veranschaulicht diese Tatsache
99 Dies wird gestützt durch die Ergebnisse des Interpretationstests (3.2.1).
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
zunächst für Items, bei denen die Verwendung der Nullmarkierung aufgrund der Paar-Schemata erwartbar ist. 100
100
Verwendung von -ø bei Nicht-Feminina, die auf -el, -er, -en enden
90
-el
80 70
%
60
-er
50 40 30 20
-en
10 0
DaZ 1-2
DaZ 3-4
D 1-2
D 3-4
Abb. 13: Verwendung der Nullmarkierung bei Nicht-Feminina auf -el, -er, -en.
Wie Abbildung 13 verdeutlicht, wird die Nullmarkierung zu maximal 90% verwendet. Dieses Ergebnis könnte zunächst einmal so interpretiert werden, dass die Probanden generell Pluralformen vermeiden, die sich nicht vom Singular unterscheiden. Vor allem bei den Probanden der Gruppe DaZ 3-4, die die Nullmarkierung nur zu maximal 70% verwenden, liegt dieser Schluss nahe. Eine Begründung für dieses Ergebnis könnte im Rahmen der Natürlichkeitstheorie zu finden sein, genauer gesagt in dem Prinzip der Ikonizität. Wie in Abschnitt 2.1.3 erläutert wurde, wird angenommen, dass Sprecher eine Form bevorzugen, bei der ein Mehr an Semantik auch durch ein Mehr an phonetischem Material ausgedrückt wird. Eine Pluralform sollte also mehr phonetisches Material aufweisen als eine Singularform, was bei der Nullmarkierung gerade nicht gegeben ist.
100 Da zwischen den Gruppen T1-2 und R1-2 einerseits sowie T3-4 und R3-4 andererseits kaum Unterschiede bestehen, sind die Ergebnisse dieser Gruppen in Abbildung 13 zu DaZ 1-2 und DaZ 3-4 zusammengefasst.
Empirische Untersuchung Während also bei den DaZ-Lernern der ersten und zweiten Klasse die Items aufgrund der lexikalischen Strategie noch häufig unverändert bleiben (s. oben), könnte man annehmen, dass die DaZ-Lerner mit längerer Erwerbsdauer dazu tendieren, eine Pluralform zu bilden, die mehr phonetisches Material aufweist als die Singularform. Als weiterer Grund für eine prinzipielle Vermeidung gleichlautender Pluralformen können die Strukturen beider Ausgangssprachen genannt werden. Wie dargestellt wurde, gibt es im Russischen und Türkischen keine Entsprechung zur Nullmarkierung im deutschen Numerussystem. Gegen diese Annahme einer prinzipiellen Vermeidung gleichlautender Pluralformen spricht aber, dass die Nullmarkierung keinesfalls bei allen Items gleichermaßen vermieden wird. Vielmehr werden die Items auf -en von allen Sprechergruppen mit Abstand am häufigsten unverändert übernommen (70 bis 90%). Die Items auf -er hingegen werden in allen Sprechergruppen seltener unverändert übernommen und die Items auf -el schließlich am seltensten. 101 Diese Unterschiede zwischen den Items können nicht durch die zielsprachlichen Paar-Schemata erklärt werden. Im kindlichen Wortschatz sind Nicht-Feminina auf auf -el, -er und -en fast immer gleichlautenden Pluralformen zugeordnet (vgl. Tabelle 3). Nomen dieser Strukturen verhalten sich also in Bezug auf die Pluralbildung vollkommen gleich. Wendeten die Probanden also konsequent die sourceorientierte Strategie an, hätten sie diese Items gleichermaßen häufig unverändert übernehmen müssen. Betrachtet man jedoch die Produkte, also die verschiedenen Pluralformen, die realisiert werden, so zeigt sich, dass die abgebildeten Pluralschemata von sehr unterschiedlicher Validität sind. Während Pluralformen, die auf -el enden, eine sehr geringe Validität für die Übermittlung der Funktion Plural aufweisen, ist diese bei Formen auf -er bereits etwas höher. Formen, die auf -en enden, weisen schließlich die größte Validität für die Funktion Plural auf (vgl. Abschnitt 2.2). Die Probanden dieser Untersuchung haben bei der Pluralbildung zu den Maskulina und Neutra, die auf -el, -er und -en enden, also das Stimulusitem umso häufiger unverändert übernommen, je valider die ihnen präsentierte Form für die Funktion Plural bereits war. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass für ein Item, das auf -el endet und damit keine große Validität für den Plural aufweist, entgegen dem starken Paar-Schema häufig eine Pluralform auf -n oder -s (vgl. dazu ausführlicher die Analyse der overten Markierungen im folgenden Abschnitt) gebildet wurde. Dadurch wurde eine Pluralform erzeugt, die diese Funktion deutlich besser zum Ausdruck bringt als es die aufgrund der Paar-Schemata erwartbare Form tun würde. Ein Item, das 101 Vergleichbare Ergebnisse weisen auch die Untersuchungen von Köpcke (1998), Behrens (2002), Wegener (2008a) und Ewers (1999) auf.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
auf -er endet, weist eine etwas höhere Validität für die Funktion Plural auf. Dementsprechend werden diese Items auch häufiger unverändert übernommen als Items auf -el. Da jedoch die Validität auch dieses Schemas noch nicht hoch genug ist, bilden die Probanden auch für diese Items häufig Pluralformen auf -s oder -n und erzeugen so validere Pluralformen, auch wenn dadurch kein starkes Paar-Schema abgebildet wird. Schemata, die auf -en enden, weisen die höchste Validität für die Funktion Plural auf. Dementsprechend ist der Anteil der Probanden, die diese validen Formen unverändert übernehmen, sehr hoch. Die Pluralbildung zu den maskulinen und neutralen Items, die auf -el, -er oder -en enden, bietet damit deutliche Evidenz dafür, dass die Lerner nicht ausschließlich vom Singular ausgehen, um die dazu passende Pluralform zu generieren, sondern dass sie sich auch von der Gestalt des Produkts, also der Pluralform selbst leiten lassen und danach streben, eine Form zu produzieren, die die Funktion Plural möglichst zuverlässig ausdrückt, und zwar weitgehend unabhängig vom Singular und den entsprechenden Paar-Schemata. Betrachtet man dabei die verschiedenen Sprechergruppen im Vergleich, so wird außerdem deutlich, dass diese produktorientierte Strategie kein vorübergehendes Phänomen ist, das im Laufe des Spracherwerbs vollständig aufgegeben wird: Dieses Muster zeigt sich auch bei den monolingual deutschsprachigen Probanden der dritten und vierten Klasse, die die Probanden mit der längsten Erwerbsdauer sind. Schließlich belegen die Daten von Köpcke (1993), dass selbst bei erwachsenen Sprechern des Deutschen diese Strategie erkennbar ist. Dennoch werden beim Vergleich der Sprechergruppen Verschiebungen deutlich. Bei den Probanden mit DaZ ist erkennbar, dass diejenigen der Klasse drei und vier die Items, die auf -el oder -er enden, seltener unverändert übernehmen als die Probanden der Klassen eins und zwei. Items, die auf -en enden, werden nur um wenige Prozentpunkte weniger unverändert übernommen. Es liegt also einerseits ein allgemeiner Rückgang in der Verwendung der Nullmarkierung vor, der auf die abnehmende Relevanz der lexikalischen Strategie zurückzuführen ist. Andererseits ist dieser Rückgang bei Items, die auf -el oder -er enden, deutlich stärker ausgeprägt als bei Items, die auf -en enden. Das heißt, dass vor allem die Items, die kein besonders valides Pluralschema abbilden, noch seltener unverändert übernommen werden als vorher. Die produktorientierte Strategie der Pluralbildung zeigt sich bei den älteren Probanden mit DaZ also deutlicher als bei den jüngeren. Bei der monolingual deutschsprachigen Kontrollgruppe der dritten und vierten Klasse hingegen nimmt der Anteil der Nullmarkierung bei den Items auf -el und -er im Vergleich zu den jüngeren Probanden zu. Sie bilden also häufiger Formen, die für die Funktion Plural zwar weniger valide, aber aufgrund der Paar-Schemata zu erwarten sind. Die produktorien-
Empirische Untersuchung tierte Strategie zeigt sich also bei der Gruppe D1-2 deutlicher als bei D3-4. Diese Verschiebungen entsprechen dem erwarteten Erwerbsverlauf: Bei den Probanden mit der kürzesten Erwerbsdauer (DaZ 1-2) zeigt sich die lexikalische Strategie besonders deutlich. Bei den Probanden mit einer mittleren Erwerbsdauer (DaZ 3-4 und D1-2) ist die produktorientierte Strategie besonders deutlich. Bei den Probanden mit der längsten Erwerbsdauer (D3-4) nimmt die produktorientierte Strategie zugunsten der source-orientierten Strategie ab. Auch bei den Items, bei denen die unveränderte Übernahme als Pluralform nicht erwartbar ist, zeigen sich systematische Unterschiede, die auf eine produktorientierte Strategie schließen lassen. Zum einen sind hier die Items zu betrachten, bei denen unabhängig vom Genus aus source-orientierter Perspektive zu erwarten wäre, dass das Item für den Plural verändert wird. Dies sind Items, die monosyllabisch sind, auf einen unbetonten Vollvokal oder Schwa enden. Wie bei der Analyse des kindlichen Wortschatzes deutlich wurde, werden Nomen dieser Struktur unabhängig von ihrem Genus nie einer gleichlautenden Pluralform zugeordnet. Wie Abbildungen 14 und 15 aber zeigen, werden auch diese Items nicht gleichermaßen häufig unverändert übernommen. 102 Vielmehr ist zu beobachten, dass die Items tendenziell zunehmend unverändert übernommen werden: Monosyllabische Items werden am seltensten unverändert übernommen. Items, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, werden bereits häufiger unverändert übernommen. Am häufigsten geschieht dies jedoch bei Items, die auf Schwa enden. 103 Auch für dieses Verhalten kann keine zufriedenstellende Erklärung gefunden werden, wenn man die Paar-Schemata und eine source-orientierte Perspektive zugrunde legt. Betrachtet man jedoch die Formen selbst, so sind auch hier Unterschiede in der Validität, mit der die Funktion Plural übermittelt wird, festzustellen: Während ein monosyllabisches Item keine Validität für die Funktion Plural aufweist, ist diese bei Items, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, bereits etwas höher, da sie zumindest mehrsilbig sind. 104 Items, die auf Schwa enden, bilden ein Pluralschema ab und weisen deshalb die vergleichsweise größte Validität auf. Auch hier zeigen die Ergebnisse also, dass die Pro-
102 Die exakten Prozentwerte können aus Tabelle 14 entnommen werden. 103 Auch in anderen Untersuchungen wurde festgestellt, dass Lerner dazu tendieren, Nomen, die auf Schwa enden, unverändert für den Plural zu übernehmen anstatt die erwartbare Form auf -n zu bilden (vgl. z.B. Wegener (2008a) für den Zweitspracherwerb, Szagun (2006) für den Erstspracherwerb). 104 Bei der Endung auf -a liegt sogar phonetische Ähnlichkeit zu dem Pluralschema auf -er ([ɐ]) vor.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
banden die produktorientierte Strategie bei der Pluralbildung anwenden und die Items umso häufiger unverändert übernehmen, je valider das Pluralschema ist, das sie abbilden. Beim Vergleich der Sprechergruppen fällt auf, dass diese Systematik bei den Probanden der Gruppe T1-2 nicht erkennbar ist. Wie oben bereits festgestellt wurde, ist in dieser Gruppe die lexikalische Strategie besonders ausgeprägt. Es ist anzunehmen, dass dies der Grund dafür ist, dass sich die produktorientierte Strategie an dieser Stelle noch nicht zeigt. Schließlich sollen die Feminina auf -el und -er analysiert werden. Abbildung 16 zeigt, dass auch diese Items in Abhängigkeit von der Validität des Pluralschemas, das sie abbilden, unterschiedlich häufig unverändert übernommen werden: Feminina auf -el werden tendenziell seltener unverändert übernommen als Feminina auf -er.
Verwendung von -ø: Monosyll., -VV, -e 50 monosyll.
40 30 %
-VV 20 10
-e
0 T1-2
T3-4
R1-2
R3-4
Abb. 14: Verwendung der Nullmarkierung bei Monosyllabia, Items auf unbetonten Vollvokal und Schwa, L1 Türkisch und Russisch.
Empirische Untersuchung
Verwendung von -ø: Monosyll., -VV, -e 50 monosyll.
40 30 %
-VV 20 10
-e
0 D1-2
D3-4
Abb. 15: Verwendung der Nullmarkierung bei Monosyllabia, Items auf unbetonten Vollvokal und Schwa, L1 Deutsch.
60
Verwendung von -ø bei Feminina auf -el und -er
50
-el
%
40 30 20
-er
10 0
T1-2
T3-4
R1-2
R3-4
D1-2
Abb. 16: Verwendung der Nullmarkierung bei Feminina auf -el und -er.
D3-4
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Dass Feminina auf -el und -er überhaupt mit dieser Häufigkeit unverändert für den Plural übernommen werden, kann nur durch die produktorientierte Strategie erklärt werden: 105 Da die Gestalten [die…el] und [die…er] bereits Pluralschemata abbilden, sehen die Probanden hier keine Veranlassung, das Item zu verändern, obwohl die Paar-Schemata dies erwarten lassen. 106 Dieses Ergebnis trifft auf die Sprechergruppen T3-4 und D3-4 nicht zu. In diesen Sprechergruppen werden Feminina auf -el im Vergleich zu den anderen Sprechergruppen sehr häufig unverändert übernommen und auch häufiger als Feminina auf -er. Diese Abweichung kann mehrere Gründe haben: Bei der Gruppe D3-4 ist festzustellen, dass Feminina und Nicht-Feminina auf -el exakt gleich behandelt werden: Für beide Itemgruppen wird die Nullmarkierung zu 58,8% gewählt (vgl. Tabelle 14). Diese Sprechergruppe differenziert an dieser Stelle also nicht nach dem Genus der Items und behandelt alle Items auf -el gleich, was zu diesem vergleichsweise hohen Anteil an Nullmarkierung bei den Feminina führt. Bei der Gruppe T3-4 wird auch im Interpretationsverfahren (vgl. Tabelle 10) deutlich, dass Items auf -el häufiger als Plural interpretiert werden als in den anderen Sprechergruppen. Dies ist keine Erklärung, zeigt aber eine gewisse Konsistenz im Verhalten dieser Sprechergruppe.
105 Wie im Folgenden noch gezeigt wird, liegt der hohe Anteil der Nullmarkierung nicht etwa darin begründet, dass die Lerner nicht zwischen Feminina und Nicht-Feminina unterscheiden. 106 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass im analysierten kindlichen Wortschatz nur zwei Feminina auf -er vorkommen, von denen eines den Plural ohne overtes Suffix bildet (Mutter – Mütter). Die beiden vorkommenden Feminina auf -el bilden den Plural hingegen mit -n. Es ist jedoch kaum davon auszugehen, dass aufgrund des einen Vorkommens ein stabiles PaarSchema etabliert wird, das Feminina auf -er mit gleichlautenden Pluralformen verbindet.
Empirische Untersuchung
Pluralbildungen mit reinem Umlaut bei Items auf -el, -er oder -en 50
-el
%
40 30
-er
20 10
-en
0
T1-2
T3-4
R1-2
R3-4
D1-2
D3-4
Abb. 17: Pluralbildungen durch Umlaut bei Items auf -el, -er, -en.
Bisher wurde nicht berücksichtigt, ob die Probanden das Item umgelautet haben oder nicht. Analysiert man diesen Faktor, so ergeben sich weitere Evidenzen für die produktorientierte Strategie der Pluralbildung. Wie im analysierten Kinderwortschatz deutlich wird, kommt der reine Umlaut bei Nomen dieser Struktur gleichermaßen selten zur Pluralbildung vor. Wie Abbildung 17 107 zeigt, verwenden die Probanden den Umlaut zu diesen Items aber nicht gleichmäßig, sondern tendenziell am häufigsten, wenn die realisierte Form ansonsten einem wenig validen Pluralschema entspricht (-el) und seltener, wenn die realisierte Form auch ohne Umlaut bereits einem valideren Pluralschema entspricht (-er). Am seltensten wird der Umlaut schließlich bei den Items verwendet, die ein sehr valides Pluralschema abbilden (-en). Dabei zeigen sich auch hier sprechergruppenspezifische Besonderheiten: Die türkischsprachigen Probanden der Sprechergruppe T1-2 verwenden den
107 Feminina und Nicht-Feminina werden an dieser Stelle gemeinsam betrachtet, da in Bezug auf die Verwendung des Umlauts in den Daten kein systematischer Unterschied zu erkennen ist. Die Angaben in der Grafik beziehen sich auf die Grundgröße der durch (UL +) -ø markierten Pluralformen. Die Angabe von bspw. 25% bedeutet also, dass die Probanden ein Viertel der Formen, die durch (UL +) -ø gebildet wurden, umgelautet haben.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Umlaut so gut wie gar nicht, wohingegen die russischsprachige Vergleichsgruppe R1-2 den Umlaut vergleichsweise häufig verwendet. Dieser Unterschied kann auf die Strukturen der Erstsprachen zurückgeführt werden: Da im Türkischen grammatische Funktionen ganz überwiegend durch Suffixe ausgedrückt werden, nehmen die türkischsprachigen Probanden den Umlaut in einer frühen Erwerbsphase nicht als Mittel zur Pluralkennzeichnung wahr und verwenden ihn dementsprechend auch nicht. Dies entspricht den Ergebnissen des Interpretationsverfahrens, die im Abschnitt 3.2.1 vorgestellt wurden. Auch dort hat sich gezeigt, dass die türkischsprachigen Probanden den Umlaut nicht als Merkmal einer Pluralform verarbeiten. Source-orientierte Strategie Allein mit der lexikalischen und der produktorientierten Strategie können die Ergebnisse zur Verwendung der Nullmarkierung nicht vollständig erklärt werden. Einen deutlichen Hinweis auf die source-orientierte Strategie liefert der Vergleich der Feminina und Nicht-Feminina auf -el und -er. Wie aus Tabelle 14 hervorgeht, werden die Nicht-Feminina bis auf wenige Ausnahmen häufiger unverändert übernommen als die Feminina. Da die Nicht-Feminina entsprechende Paar-Schemata mit gleichlautenden Pluralformen bilden, Feminina hingegen nicht, ist diese Unterscheidung der Probanden auf eine sourceorientierte Strategie bei der Pluralbildung zurückzuführen: Sie bilden den Plural in Abhängigkeit von der Gestalt der Singularform, wobei das Genus berücksichtigt wird. Dabei zeigen die Ergebnisse sogar, dass die Probanden häufig auch dort nach Genus unterscheiden, wo es aus systemlinguistischer Perspektive keine Notwendigkeit gibt: Auch bei Monosyllabia und Items auf -e werden die Nicht-Feminina seltener unverändert übernommen als die Feminina. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Probanden das Genus als relevantes Kriterium für die source-orientierte Pluralbildung verarbeiten. Dies widerspricht den Ergebnissen von Wegener (2008a), in denen höchstens bei fortgeschrittenen DaZ-Lernern eine beginnende Verarbeitung der Genusinformation als Hinweis für die Pluralbildung zu bemerken ist. Auch Marouanis (2006) Schlussfolgerung, dass ihre Probanden (DaZ-Lerner mit arabischer Ausgangssprache) das Genus von Nomen nicht als Hinweis für eine entsprechende Pluralbildung verarbeiten, sondern sich rein am Auslaut, bzw. an der phonotaktischen Wortstruktur orientieren 108, kann für die Probanden dieser Studie nicht bestätigt werden. Entgegen der aufgestellten Hypothese berücksichtigen selbst Probanden mit türkischer
108 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Flagner (2008).
Empirische Untersuchung Ausgangssprache das Genus bei der source-orientierten Pluralbildung, obwohl diese Kategorie im Türkischen nicht existiert. Aus einer produktorientierten Perspektive ist dieser Unterschied zwischen den Genera nicht zu erklären. Aus dieser Perspektive hätte sich vielmehr zeigen müssen, dass Feminina aufgrund des Artikels die, der ein Merkmal eines Pluralschemas ist, eher unverändert übernommen werden als Nicht-Feminina, deren Artikel der oder das keine Merkmale von Pluralschemata sind. Dies kommt zwar vereinzelt vor, ist aber nicht systematisch und auch nicht auf Charakteristika bestimmter Sprecheroder Itemgruppen zurückzuführen. Verwendung der overten Markierungen Nachdem gezeigt wurde, welche Systematik sich hinter der Verwendung der sogenannten Nullmarkierung verbirgt, geht es nun um die Frage, welche Pluralformen die Probanden bilden, wenn sie das Item nicht unverändert übernehmen. Auch dabei werden sowohl die produkt- als auch die source-orientierte Strategie deutlich. 109 Erstere zeigt sich darin, dass für alle Items zu einem großen Anteil auch dann Pluralformen auf -n gebildet werden, wenn dies aufgrund der Paar-Schemata nicht zu erwarten ist, also bei monosyllabischen NichtFeminina, bei Nicht-Feminina auf -el oder -er und bei Items auf unbetonten Vollvokal. Die source-orientierte Strategie zeigt sich darin, dass Pluralformen auf -n häufiger für Feminina als für Nicht-Feminina gebildet werden, wie es den Paar-Schemata entspricht. Zudem werden bei allen Items zu einem großen Anteil genau die Pluralformen gebildet, die aufgrund der zielsprachlichen PaarSchemata vorherzusagen sind, auch wenn sie Pluralschemata von geringer Validität abbilden. Im Folgenden werden die verschiedenen Itemtypen nacheinander diskutiert. 110
109 Da sich die lexikalische Strategie dadurch auszeichnet, dass die Items gerade nicht overt für den Plural markiert werden, wird hier nicht auf diese Strategie eingegangen. 110 Betrachtet man die von der Auswertung ausgeschlossenen Testsets, so zeigt sich, dass die Probanden überwiegend Pluralformen auf -s oder -n gebildet haben, solche auf -e oder -er kamen nur vereinzelt vor. Dieses Ergebnis unterstützt die Annahme der produktorientierten Strategie, da die Probanden in diesen Fällen sehr valide Pluralschemata abgebildet haben.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Monosyllabische Items Tab. 15: Overte Pluralmarkierungen für Monosyllabia (Angaben in %) 111
T- T- R- R- D- D-
Genus
Datenpunkte
-(e)n
-e
-er
-s
F
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
,
,
,
M/N
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
,
,
F
,
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
,
,
F
,
,
M/N
,
,
,
In einem ersten Schritt werden die Ergebnisse diskutiert, die auf eine sourceorientierte Strategie bei der Pluralbildung zu den monosyllabischen Items hinweisen. Für die monosyllabischen Nomen des kindersprachlichen Wortschatzes wurde ermittelt, dass den Nicht-Feminina in den meisten Fällen Pluralformen zugeordnet sind, die auf -e enden, gefolgt von Pluralformen auf -er. 112 Selten werden diesen Nomen Pluralformen zugeordnet, die auf -s oder -en enden (vgl. Abschnitt 2.2). Das Paar-Schema, das monosyllabische Nicht-Feminina mit Pluralformen auf -e verknüpft, ist also besonders stark ausgeprägt. Wie die Ergebnisse in Tabelle 15 zeigen, werden für die monosyllabischen Nicht-Feminina diesem starken Paar-Schema entsprechend in den meisten Sprechergruppen am häufigsten Pluralformen gebildet, die auf -e enden. Diese Pluralbildungen sprechen für eine source-orientierte Strategie: Passend zu den Eigenschaften der Singularform (monosyllabisch, Nicht-Femininum) wird die Pluralform ausgewählt, die im Realwortschatz am häufigsten auftritt, obwohl das dadurch abge 111 Diese Tabelle ist ein Ausschnitt aus Tabelle 13. 112 Dabei hat die Analyse gezeigt, dass Pluralformen auf -er bei monosyllabischen Neutra sogar häufiger sind als solche auf -e. Dieser Unterschied zwischen Maskulina und Neutra wird jedoch in den Ergebnissen nicht abgebildet.
Empirische Untersuchung bildete Pluralschema keine hohe Validität besitzt. Dabei nimmt der Anteil dieser Pluralbildungen in allen Sprechergruppen (T, R, D) bei den älteren Probanden zu. Dies zeigt, dass die source-orientierte Strategie im Erwerbsverlauf dominanter wird: Die Probanden bilden zunehmend die Pluralform, die aufgrund des starken Paar-Schemas zu erwarten ist. Dabei ist ein Unterschied zwischen den Probandengruppen mit russischer und türkischer Ausgangssprache auszumachen: Die Probanden mit russischer Ausgangssprache bilden in beiden Altersgruppen häufiger den Plural auf -e als die Probanden mit türkischer Ausgangssprache. Dieser Unterschied weist darauf hin, dass die Strategie der source-orientierten Pluralbildung bei den russischsprachigen Probanden stärker ausgeprägt ist als bei den türkischsprachigen Probanden. Für monosyllabische Feminina wurden im kindersprachlichen Wortschatz zwei starke Paar-Schemata ausgemacht: Zum einen das Paar-Schema, das diese Singularformen mit Pluralformen auf -en verbindet, zum anderen das PaarSchema, das diese Formen mit Pluralen auf -e verknüpft. Der Unterschied zwischen Feminina und Nicht-Feminina besteht also darin, dass für die Feminina ein starkes Paar-Schema mit dem Pluralschema auf -en besteht, aber kein PaarSchema mit dem Pluralschema auf -er. Dieser Unterschied wird auch in den Ergebnissen abgebildet: Anders als bei den Nicht-Feminina sind bei den Feminina die Pluralformen auf -en diejenigen, die von allen Sprechergruppen am häufigsten gebildet werden. Die Probanden bilden diese Pluralformen auf -en häufiger für Feminina als für Nicht-Feminina und Pluralformen auf -er häufiger für Nicht-Feminina als für Feminina. Wie auch schon bei der Diskussion der Nullmarkierung wird also auch hier deutlich, dass die Probanden (auch die türkischsprachigen) nach dem Genus der Items unterscheiden. Dies ist ein deutliches Indiz für eine source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung. Andererseits sind die Pluralbildungen, die nicht auf ein starkes PaarSchema zurückzuführen sind, zu zahlreich, als dass sie vernachlässigt werden könnten. Bei den Nicht-Feminina fällt auf, dass die Pluralbildungen auf -en einen vergleichsweise hohen Anteil ausmachen (etwa 20 bis 40%). Im kindlichen Wortschatz kommen Pluralformen auf -en zu monosyllabischen NichtFeminina hingegen selten vor, so dass die häufige Bildung dieser Pluralform kaum auf ein starkes Paar-Schema zurückgeführt werden kann. Auch im Rahmen der Natürlichkeitstheorie sind Pluralformen auf -en in diesem Kontext weder als unmarkiert noch als produktiv zu werten. Vielmehr zeigt sich an dieser Stelle die produktorientierte Strategie der Pluralbildung: Die Probanden bilden eine Pluralform, die diese grammatische Funktion möglichst valide übermittelt, auch wenn sie kein starkes Paar-Schema mit der Singularform abbildet. Die produktorientierte Strategie wird auch bei der Analyse der Plural-
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
formen auf -er deutlich. Diese werden von den Probanden zu maximal 15% gebildet, obwohl für diese Form ein recht starkes Paar-Schema mit monosyllabischen Nicht-Feminina besteht. Die Probanden bilden also präferiert Pluralformen auf -en, die ein valideres Pluralschema abbilden und dispräferieren Formen auf -er, die zwar einem stärkeren Paar-Schema entsprechen, dafür aber ein weniger valides Pluralschema abbilden. Etwas anders liegen die Verhältnisse nur bei den Probanden der dritten und vierten Klasse mit türkischer Ausgangssprache. Von diesen Probanden werden Pluralformen auf -er insgesamt häufiger gebildet (25%) und genau so häufig wie Pluralformen auf -en. Dies lässt auf einen Einfluss der Ausgangssprache schließen: Pluralformen im Türkischen enden auf -ler oder -lar. Eine deutsche Form, die auf -er endet, kommt damit dem Schema einer türkischen Pluralform am nächsten. Es ist also zu vermuten, dass die Probanden mit türkischer Ausgangssprache häufiger Pluralformen auf -er bilden, da die dadurch erzeugte Pluralform Ähnlichkeiten mit einer türkischen Pluralform aufweist. Bei den Probandengruppen mit DaZ zeigt sich, dass die Pluralbildungen auf -en in den älteren Gruppen häufiger sind als in den jüngeren Gruppen. Ebenso wie auch die source-orientierte Strategie nimmt in diesen Sprechergruppen also auch die produktorientierte Strategie zu. Dass beide Strategien in den älteren Sprechergruppen deutlicher hervortreten als in den jüngeren, kann damit begründet werden, dass in den jüngeren Sprechergruppen die lexikalische Strategie noch recht dominant ist, wie bei der Analyse der Nullmarkierung gezeigt wurde. Während die jüngeren Probanden mit DaZ die monosyllabischen NichtFeminina häufig unverändert übernommen haben (bis zu 35%), ist dies bei den älteren Probanden kaum noch der Fall (max. 6%). Sie folgen stattdessen vermehrt der produkt- und der source-orientierten Strategie und konzentrieren sich dementsprechend auf die valideste Form und die, die dem starken Paar-Schema entspricht. Dabei kann jedoch nicht festgestellt werden, dass die türkischsprachigen Probanden den validen Plural auf -en im Vergleich zu den russisch- und deutschsprachigen Vergleichsgruppen besonders häufig bilden, wie zunächst aufgrund der erstsprachlichen Strukturen angenommen wurde. Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden wird hingegen deutlich, dass die produktorientierte Strategie bei den älteren Probanden weniger dominant ist als bei den jüngeren Probanden: Die Pluralbildungen auf -en werden weniger, stattdessen steigen die Pluralbildungen auf -e an. Dies zeigt sich auch bei den Feminina sehr deutlich: Während die jüngeren Probanden (D1-2) für Feminina ganz überwiegend Pluralformen auf -en bilden, ist der Anteil der Pluralformen auf -en und -e bei den älteren Probanden (D3-4) so gut wie ausgeglichen und entspricht damit ziemlich genau den Verhältnissen im kindlichen Wortschatz, in dem
Empirische Untersuchung sowohl Pluralformen auf -e als auch solche auf -en ein starkes Paar-Schema mit monosyllabischen Feminina bilden. Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden wird also deutlich, dass die source-orientierte Strategie mit zunehmender Erwerbsdauer dominanter wird. Schließlich ist der hohe Anteil der Pluralbildungen auf -s auffällig (bis zu 20%). Auch dieses Ergebnis kann kaum auf eine source-orientierte Strategie zurückgeführt werden, da nur wenigen monosyllabischen Singularen Pluralformen auf -s zugeordnet sind. Auch hier entscheiden sich die Probanden aber für eine Form, die ein valides Pluralschema abbildet. Hinzu kommt, dass monosyllabische Pluralformen auf -s vorwiegend für Fremd- und Lehnwörter sowie für Eigennamen vorkommen, vgl. Bars, Parks, die Tims etc. (vgl. Bittner & Köpcke 2012 und Wegener 2003). Die zu bearbeitenden Kunstwörter weisen insofern Ähnlichkeiten mit diesen Nomentypen auf, als dass sie den Probanden unbekannt sind, theoretisch also aus einer fremden Sprache stammen könnten und tlw. als Bezeichnung für Lebewesen eingeführt wurden, also als Eigennamen interpretiert werden könnten. Dies ist neben der recht hohen Validität der Pluralschemata auf -s sicherlich ein weiterer Grund für die häufige Bildung dieser Pluralformen. Um aber als Beleg für das DM-Modell gelten zu können, kommt die Bildung von Pluralformen auf -s zu selten vor. Wäre -s tatsächlich die einzige reguläre Default-Markierung, so hätte sie gerade bei einem Test mit Kunstwörtern noch viel häufiger verwendet werden müssen. Overte Pluralbildungen zu Items mit Endung auf unbetonten Vollvokal Tab. 16: Overte Pluralmarkierungen für Items auf unbetonten Vollvokal (Angaben in %) 113 Datenpunkte
-(e)n
-e
-er
-s
T -
,
,
,
,
T -
,
,
,
,
R -
,
,
,
,
R -
,
,
,
,
D -
,
,
,
,
D -
,
,
,
,
113 Diese Tabelle ist ein Ausschnitt aus Tabelle 13.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Die Probanden aller Sprechergruppe bilden für Items, die auf einen unbetonten Vollvokal auslauten, am häufigsten Pluralformen auf -s. 114 Zugleich ist der Anteil der Pluralbildungen auf -s für kein anderes Item so hoch (vgl. Tabelle 13). Dieses Ergebnis spricht für eine source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung: Die Probanden bilden für die Items, die auf einen unbetonten Vollvokal enden, präferiert die Pluralform, die ein starkes Paar-Schema mit dieser Singularform abbildet. Dass Pluralformen auf -s für diese Items besonders häufig gebildet werden, zeigt, dass die Probanden Pluralformen auf -s nicht prinzipiell präferieren, sondern nur bei diesem speziellen Itemtyp. Sie wählen die Pluralform also in Orientierung an Eigenschaften des Singulars, hier den Auslaut auf einen unbetonten Vollvokal. Auch für diese Itemgruppe ist damit aber erst ein Teil der Pluralbildungen erklärt. Neben Pluralformen auf -s bilden die Probanden auch für diese Items zu einem verhältnismäßig hohen Anteil Pluralformen auf -en (14 bis 23%). Sie flektieren das Item dabei nicht nach der Grundformflexion, sondern wenden die Stammflexion an (z.B. Kafti – Kaften). Dieses häufige Auftreten von Pluralformen auf -en ist umso erstaunlicher, als die Nomen des analysierten kindlichen Wortschatzes, die diesen Strukturen entsprechen, den Plural ausnahmslos mit -s bilden. Es ist also anzunehmen, dass die Probanden aus ihrem Wortschatz keine Evidenzen dafür haben, dass der Plural zu diesen Items mit -en gebildet werden könnte. Hinzu kommt, dass in diesem Fall sogar eine Struktur gebildet wird, die aus Perspektive der Natürlichkeitstheorie als markiert gilt: Wurzel (1994: 38) definiert für das Deutsche die Grundformflexion als systemdefinierende Struktureigenschaft. Stammflexion stellt für das Deutsche hingegen den markierten Fall dar (vgl. aber Harnisch 2001). Die Probanden bilden also bis zu 20% Pluralformen auf -en, obwohl es dafür keine PaarSchemata gibt und mit der Stammflexion auf einen als markiert geltenden Flexionsprozess zurückgreifen. Dies lässt sich wiederum nur mit der produktorientierten Strategie der Pluralbildung erklären: Durch Pluralbildungen wie Kaften zu Kafti erzeugen die Probanden eine Form, die zwar kein Paar-Schema mit dem Singular abbildet, dafür aber ein äußerst valides Pluralschema darstellt. Der Vergleich der Sprechergruppen ergibt ein ähnliches Bild, wie es schon bei den monosyllabischen Items deutlich wurde: Bei beiden Sprechergruppen mit DaZ sind bei den älteren Probanden sowohl Pluralbildungen auf -s als auch Pluralbildungen auf -en häufiger als bei den jüngeren Probanden. Auch hier zeigt sich also, dass sich die Lerner mit DaZ mit zunehmender Erwerbsdauer auf die valideste und die aufgrund der Paar-Schemata erwartbare Form konzentrie 114 Diese Pluralbildungen sind bei Items auf -o (Wiero und Siero) noch deutlich häufiger als bei den anderen, vgl. Tabelle 23 im Anhang.
Empirische Untersuchung ren: Sowohl die produkt- als auch die source-orientierte Strategie sind deutlicher ausgeprägt als bei den jüngeren Probanden. Auch hier ist jedoch nicht festzustellen, dass die türkischsprachigen Probanden Pluralformen auf -en noch deutlich häufiger bilden als russisch- oder monolingual deutschsprachige. Es zeigt sich also auch bei diesen Items nicht, dass die produktorientierte Strategie bei den Lernern mit türkischer Ausgangssprache ausgeprägter ist als bei den Lernern mit russischer Ausgangssprache. Bei den monolingual deutschsprachigen Gruppen ist hingegen auch hier zu beobachten, dass die produktorientierte Strategie abnimmt: Die älteren Probanden bilden Pluralformen auf -en deutlich seltener als die jüngeren Probanden. Schließlich bleiben noch Pluralbildungen auf -e und -er. Bei beiden wird zum Großteil wie auch bei -en Stammflexion angewendet, also bspw. Kafti – Kafte. Pluralbildungen auf -e stellen die Ausnahme dar und sind insgesamt zu vernachlässigen. Pluralbildungen auf -er sind etwas häufiger, kommen aber fast ausschließlich bei denjenigen Items vor, die auf -a enden (Trunta und Treifa), vgl. Tabelle 23 im Anhang. Diese Pluralbildungen können durch die phonetische Ähnlichkeit der Auslaute [a] und [ɐ] begründet werden: Die Items Treifa und Trunta klingen wie Treifer und Trunter und damit wie Pluralformen. 115 Auch in diesen Fällen wird also deutlich, dass sich die Probanden bei der Pluralbildung an einem Pluralschema orientieren. Overte Pluralbildungen zu Items auf offene oder geschlossene Schwasilbe (-e, -el, -er, -en) Wie die Ergebnisse (Tabelle 17) zeigen, sind Pluralbildungen auf -e und -er für diese Itemgruppen verhältnismäßig selten. Dies liegt darin begründet, dass Pluralformen im Deutschen typischerweise eine trochäische Struktur aufweisen. Wenn die Grundform bereits auf eine Schwasilbe auslautet, enthält die Pluralform deshalb keine zusätzliche Schwasilbe (*Amselen, *Fenstere). 116 Die Pluralbildung durch Suffigierung von -e oder -er ist deshalb aus phonotaktischen Gründen ausgeschlossen. Tatsächlich kommt der Fall, dass solche Pluralformen wie bspw. Knukere zu Knuker gebildet werden, kaum vor. Wenn die Probanden Pluralfomen auf -e oder -er zu diesen Items bilden, dann durch Stammflexion, also bspw. Knuke zu Knuker oder Mafter zu Mafte. Das Auftreten dieser Pluralbildungen, auch wenn sie selten sind, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Lerner nicht von der Grundform ausgehen, diese mit einer Pluralmarkierung 115 Vgl. auch die Analyse der Pluralbildungen zu den Items auf -er. 116 Vgl. Abschnitt 2.1.1.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
kombinieren und dadurch zu einer Pluralform gelangen, wie es in strukturalistisch orientierten Modellen impliziert wird: Die Pluralmarkierung -r gibt es nicht (Mafte – Mafter) und es kommt im Deutschen auch nicht vor, dass die Wortendungen -e, -el, -er oder -en abgetrennt und durch eine Pluralmarkierung ersetzt werden (Knuker – Knuke). Vielmehr zeigen auch diese Pluralbildungen, dass die Lerner produktorientiert vorgehen und eine Gestalt anstreben, die sie mit der Funktion Plural assoziieren, ohne dass diese notwendigerweise in Stamm und Pluralmarkierung segmentierbar ist. Tab. 17: Verwendung overter Pluralmarkierungen (in %) für Items auf offene oder geschlossene Schwasilbe 117 Sprechergruppe
Itemstruktur
Genus
Datenpunkte
-(e)n
-e
-er
-s
T -
-e
F
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
F
,
,
M/N
,
,
-en
M/N
,
,
-e
F
,
,
,
M/N
,
,
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
,
,
,
M/N
,
,
,
-en
M/N
,
,
,
,
-e
F
,
,
M/N
,
,
-el
-er
T -
-el
-er
R -
117 Die Tabelle ist ein Ausschnitt aus Tabelle 13.
Empirische Untersuchung
Sprechergruppe
Itemstruktur
Genus
Datenpunkte
-(e)n
-e
-er
-s
-el
F
,
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
,
M/N
,
,
,
-en
M/N
,
,
,
-e
F
,
,
,
M/N
,
,
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
,
,
F
,
,
,
M/N
,
,
,
-en
M/N
,
,
,
,
-e
F
,
,
M/N
,
,
,
F
,
M/N
,
,
,
,
F
,
M/N
,
,
-en
M/N
,
,
,
-e
F
,
,
,
M/N
,
,
,
F
,
M/N
,
,
,
F
,
,
,
,
M/N
,
,
,
M/N
,
,
-er
R -
-el
-er
D -
-el
-er
D -
-el
-er
-en
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Beim Vergleich der Pluralformen auf -n und -s fällt auf, dass Pluralformen auf -n deutlich häufiger gebildet werden als solche auf -s. Dies ist bei Items auf -e sowie bei den Feminina auf -el und -er nicht verwunderlich, da dies dem starken Paar-Schema entspricht: Nomen aller Genera auf -e sowie Feminina auf -el und -er sind mit Pluralformen auf -n verknüpft. Aber auch bei Nicht-Feminina auf -el und -er wird dieser Unterschied deutlich, obwohl es dafür kaum SingularPlural-Paare im analysierten Kinderwortschatz gibt, die als Vorbild für dieses Muster dienen könnten. Auch dieses Ergebnis weist damit auf eine produktorientierte Strategie bei der Pluralbildung hin, da die Lerner bevorzugt die Pluralform wählen, die das valideste Pluralschema abbildet. Dies ist bei Items auf -el deutlicher als bei jenen auf -er. Pluralformen auf -s werden im Vergleich am häufigsten für Items auf -er gebildet. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der Auslaut [ɐ] dem Auslaut auf einen unbetonten Vollvokal [a] sehr ähnlich ist. Nomen mit Auslaut auf -a wiederum sind häufig mit Pluralformen auf -s verknüpft. 118 Für Items auf -en schließlich kann unter Berücksichtigung der phonotaktischen Gegebenheiten keine Pluralform auf -en gebildet werden, hier bleibt nur -s. Die Tatsache, dass Pluralformen auf -e und -er gebildet werden sowie die Präferenz von Pluralbildungen auf -n gegenüber solchen auf -s zeugen also von der produktorientierten Strategie, die die Probanden bei der Pluralbildung verfolgen. Darüber hinaus wird jedoch auch bei diesen Items deutlich, dass auch die source-orientierte Pluralbildung eine Rolle spielt. Dies zeigt sich darin, dass Pluralformen auf -n nicht gleichmäßig häufig für alle Items gebildet werden. Vielmehr werden sie häufiger für Feminina als für Nicht-Feminina gewählt. Dies gilt bis auf wenige Abweichungen sogar für die Items auf -e, obwohl diese im Realwortschatz unabhängig vom Genus immer mit Pluralformen auf -n verknüpft sind. 119
... Zusammenfassung Die Analyse der Pluralbildungen, die die Probanden zu den gegebenen Kunstwörtern produziert haben, hat gezeigt, dass drei Strategien verfolgt werden: Die lexikalische Strategie zeigt sich vor allem bei Probanden mit DaZ der ersten und zweiten Klasse. Sie besteht darin, dass der Plural durch lexikalische Elemente statt morphologische Markierungen am Nomen ausgedrückt wird. Dadurch werden Items, bei denen dies weder aus produkt- noch aus source-orientierter 118 Vgl. auch die Analyse der Items auf unbetonten Vollvokal im vorigen Abschnitt. 119 Die Verschiebung der Strategien in Abhängigkeit von der Erwerbsdauer wurde bereits bei der Analyse der Verwendung der Nullmarkierung besprochen.
Empirische Untersuchung Perspektive zu erklären ist, häufig unverändert übernommen. In den anderen Sprechergruppen mit einer längeren Erwerbsdauer zeigt sich diese Strategie kaum noch. Die produktorientierte Strategie wird in allen Sprechergruppen deutlich: Items wurden in Abhängigkeit von der Validität der Pluralschemata, die sie abbilden, zunehmend häufiger unverändert übernommen, obwohl es dafür aus source-orientierter Perspektive keinerlei Motivation gibt. Auch haben die Probanden selbst dann sehr häufig Pluralformen auf -en gebildet, wenn diese mit dem jeweiligen Singular kein starkes Paar-Schema abbilden (monosyllabische Nicht-Feminina, Items auf einen unbetonten Vollvokal, NichtFeminina auf -el und -er). Die Pluralform, die aufgrund des starken PaarSchemas zu erwarten wäre, wurde also in diesen Fällen durch die validere Form auf -en ersetzt. Diese Formen auf -en wurden außerdem häufiger gebildet als andere mögliche Formen, wie solche auf -s oder -er und selbst dann, wenn dies nur durch Stammflexion möglich war (Kafti – Kaften). Darüber hinaus sind auch Pluralbildungen auf -e oder -er zu Items auf -e, -el, -er oder -en (Knuker – Knuke) nur durch die produktorientierte Strategie zu erklären, da die Lerner in diesen Fällen eindeutig keine in Stamm und Pluralmarkierung segmentierbaren Formen bilden, sondern eine Gestalt anstreben, die mit der Funktion Plural assoziiert wird. Diese Ergebnisse können im Rahmen eines Modells, das nur source-orientierte Strategien annimmt (strukturalistischer Ansatz, Natürlichkeitstheorie), nicht erklärt werden: Es werden gerade die Pluralformen häufig gebildet, die in den jeweiligen Kontexten als irregulär qualifiziert werden, als markiert oder weniger produktiv. Auch widersprechen diese Ergebnisse dem Dual-Mechanism-Model, da dieses vorhersagen würde, dass Pluralformen auf -s weitaus häufiger produziert werden, als dies tatsächlich geschehen ist. Neben der produktorientierten Strategie zeigt sich aber auch die source-orientierte Strategie in allen Sprechergruppen: Diese wird darin deutlich, dass die Pluralformen in Abhängigkeit vom Genus des Items gebildet wurden: Feminina wurden dementsprechend seltener unverändert übernommen als Nicht-Feminina und Pluralformen auf -en wurden häufiger für Feminina als für Nicht-Feminina gebildet. Diese Ergebnisse wiederum können aus einer rein produktorientierten Perspektive nicht erklärt werden: Wenn sich die Lerner ausschließlich an der zu produzierenden Gestalt orientieren, dürfte es keinen Unterschied machen, welches Genus das Item aufweist. Darüber hinaus haben die Probanden für monosyllabische Nicht-Feminina am häufigsten Pluralformen auf -e gebildet, wie es dem starken Paar-Schema entspricht. Auch die Tatsache, dass der Plural auf -s am häufigsten für Items auf unbetonten Vollvokal gebildet wurde, zeigt, dass sich die Lerner am Singular orientieren und den dazu passenden Plural bilden: Sie bilden Paar-Schemata ab. Es zeigt sich also, dass die Daten mit einem Mo-
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
dell, das sowohl produkt- als auch source-orientierte Strategien enthält, umfassender erklärt werden können als mit einem Modell, das nur eine der beiden Strategien erlaubt. Beide Strategien haben sich in allen Sprechergruppen gezeigt. Allerdings wurde deutlich, dass die Strategien in einigen Sprechergruppen dominanter sind als in anderen: In den Sprechergruppen mit DaZ der dritten und vierten Klasse (T+R 3-4) werden sowohl die produkt- als auch die source-orientierte Strategie deutlicher als in den jüngeren Vergleichsgruppen (T+R 1-2). Während bei den jüngeren Probanden die lexikalische Strategie noch recht dominant ist (vgl. die Analyse der Nullmarkierung), konzentrieren sich die älteren Probanden mit DaZ also stärker auf die valideste Pluralform und auf diejenige, die zum Singular passt, mit diesem also ein starkes Paar-Schema abbildet. Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden wurde hingegen deutlich, dass die produktorientierte Strategie bei den älteren Probanden zugunsten der sourceorientierten Strategie in den Hintergrund tritt. Diese Verschiebungen lassen sich auf den angenommenen Erwerbsverlauf abbilden. In einer frühen Erwerbsphase werden Wortformen holistisch gespeichert und mit den Funktionen Singular und Plural verknüpft. Die Zahl der gespeicherten Wortformen reicht noch nicht aus, um Schemata zu abstrahieren. Dies führt dazu, dass Lerner das Item häufig unverändert übernehmen: Statt morphologischer Mittel verwenden sie lexikalische Elemente, um den Plural anzuzeigen. Dieses Phänomen der lexikalischen Strategie zeigt sich dementsprechend dominant bei den Probanden mit DaZ der ersten und zweiten Klasse, die die kürzeste Erwerbsdauer aufweisen. Aus den konkret gespeicherten Wortformen werden im weiteren Erwerbsverlauf Schemata abstrahiert, die mit der Funktion Singular oder Plural verknüpft werden. Die produktorientierte Strategie der Pluralbildung ist in dieser Phase besonders dominant. In der Untersuchung zeigte sich diese Strategie dementsprechend bei den Probanden mit einer mittleren Erwerbsdauer besonders deutlich: bei den Lernern mit DaZ der dritten und vierten Klasse sowie bei den monolingual deutschsprachigen Probanden der ersten und zweiten Klasse. Auf Basis der einfachen Schemata werden Paar-Schemata abstrahiert. Das heißt, Schemata für die Funktion Singular werden mit Schemata für die Funktion Plural verknüpft. Die Lerner bilden den Plural vermehrt source-orientiert. Besonders deutlich hat sich diese Verschiebung weg von der produktorientierten hin zur source-orientierten Strategie bei den monolingual deutschsprachigen Probanden der dritten und vierten Klasse gezeigt, die die längste Erwerbsdauer aufweisen. Im Hinblick auf die vermuteten Unterschiede zwischen Probanden mit türkischer und russischer Ausgangssprache können nur einige der auf der Grund-
Empirische Untersuchung lage des strukturellen Vergleichs der Ausgangssprachen getroffenen Annahmen bestätigt werden: Es hat sich gezeigt, dass die lexikalische Strategie bei Lernern mit türkischer Ausgangssprache stärker ausgeprägt ist als bei russischsprachigen Lernern gleichen Alters. Außerdem verwendeten Lerner mit türkischer Ausgangssprache der Klasse 1-2 den Umlaut seltener als russischsprachige Lerner gleichen Alters. Die These, dass bei Lernern mit russischer Ausgangssprache die source-orientierte Strategie stärker ausgeprägt ist als bei Lernern mit türkischer Ausgangssprache und dass bei letzteren die produktorientierte Strategie dominanter ist, wird durch die Ergebnisse zu den monosyllabischen Nicht-Feminina gestützt. Die russischsprachigen Probanden haben für diese Items häufiger Pluralformen auf -e, die aufgrund des starken Paar-Schemas erwartbar sind, gebildet als die türkischsprachigen Probanden. Die Ergebnisse zu den anderen Itemtypen liefern jedoch keine Belege für diese These. 120 In Bezug auf die Verarbeitung der Genusinformation konnte, entgegen der Hypothese, kein Unterschied zwischen türkisch- und russischsprachigen Probanden festgestellt werden. Schließlich hat sich auch die Annahme nicht bestätigt, dass Lerner mit türkischer und russischer Ausgangssprache Pluralformen, die sich nicht von Singularformen unterscheiden, prinzipiell vermeiden.
.. Auswahl der besten Pluralform: Mänke, Manke oder Manken? ... Methode und Testdesign In diesem Erhebungsverfahren, das etwa vier Wochen nach der ersten Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern (vgl. Abschnitt 3.2.2) durchgeführt wurde, wurden den Probanden schriftlich Kunstwörter als Singularformen präsentiert und dazu eine Auswahl von je drei möglichen Pluralformen angeboten. Die Probanden sollten nun in Partner- oder Gruppenarbeit die beste Pluralform auswählen. Im Unterschied zum Elizitierungsverfahren müssen die Probanden hier also nicht eigenständig Pluralformen produzieren, sondern unter bereits gegebenen Pluralformen diejenige auswählen, die sie für die beste halten. Zwei Ziele wurden mit dieser Erhebung verfolgt: Zum einen sollten die Probanden durch die Partner- bzw. Gruppenarbeit dazu angeregt werden, ihre Gedanken in Bezug auf die Kriterien ihrer Auswahl zu äußern. Dadurch können sich Hinweise darauf ergeben, welche Strategien die Lerner verfolgen und an welchen Krite 120 Wie im Abschnitt 3.2.3 besprochen wird, zeigt sich bei dem Auswahlverfahren hingegen deutlich, dass bei den türkischsprachigen Lernern die produktorientierte Strategie dominanter ist.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
rien sie sich bei ihrer Entscheidung orientieren: Wählen sie die Pluralform aufgrund spezifischer Eigenschaften des Singulars, also source-orientiert, oder entscheiden sie sich unabhängig vom Singular für die valideste Pluralform und gehen also produktorientiert vor? Diese Methode kann als eine kindgerechte Variante der think-aloud protocols (vgl. z.B. Heine & Schramm 2007, Chaudron 2006) eingeordnet werden, mit denen versucht wird, nicht beobachtbare Denkprozesse erfassbar zu machen. Bei dieser Fragestellung geht es also um die metasprachlichen Kommentare der Probanden. Dieser Punkt wird gesondert im Abschnitt 3.2.4 diskutiert. Zweitens sollen auch die Ergebnisse dieser Erhebung selbst, also die ausgewählten Pluralformen, darüber Aufschluss geben, ob die Probanden bei der Auswahl der Form source- oder produktorientiert vorgehen oder ob beide Strategien eine Rolle spielen. Ein source-orientiertes Vorgehen lässt sich daran erkennen, dass die Probanden diejenige Pluralform auswählen, die zusammen mit dem gegebenen Singular ein starkes Paar-Schema darstellt. Produktorientierung hingegen ist dann gegeben, wenn die Probanden unabhängig von der Singularform die valideste Pluralform auswählen. Die Items, die den Probanden als Singularformen präsentiert wurden, entsprechen weitgehend denen, die für den Elizitierungstest (vgl. Abschnitt 3.2.2) verwendet wurden. 121 Jeder Strukturtyp wurde einmal als Bezeichnung für ein belebtes, einmal als Bezeichnung für ein unbelebtes Denotat präsentiert. Als Pluralformen standen zur Auswahl: Eine Form mit Endung auf -(e)n, eine gegenüber dem Singular unveränderte Form (bei Singularformen auf -e, -el, -er) oder eine Form mit Endung auf -e (bei monosyllabischen Singularformen) sowie eine Form mit Umlaut (bei Singularformen auf -e, -el, -er) oder eine Form mit Umlaut und Endung auf -e (bei monosyllabischen Singularformen). 122 Tabelle 18 gibt eine Übersicht über die getesteten Items.
121 Items, die in der Singularform auf einen unbetonten Vollvokal oder auf -en enden, wurden nicht in das Testset aufgenommen, da es sonst zu umfangreich geworden wäre. 122 Der Unterschied zwischen den Pluralformen für monosyllabische Singularformen einerseits und solche auf -e, -el, -er andererseits besteht in der Schwahaltigkeit der Pluralmarkierung. Die silbischen Varianten -en, -e und UL + -e werden gegeben, wenn das Item im Singular monosyllabisch ist, die unsilbischen Varianten -n, -ø und UL + -ø, wenn das Item im Singular bereits einen schwahaltigen Auslaut aufweist, wie es den phonologischen Regularitäten des deutschen Numerussystems entspricht (vgl. Abschnitt 2.1.1).
Empirische Untersuchung Tab. 18: Testset für die Auswahl der besten Pluralform Struktur/ Auslaut
Genus
belebt
Item Singular
Plural : UL + -e bzw. UL + -ø
Plural : -e bzw. -ø
Plural : -(e)n
-ø 123
M
+
Mank
Mänke
Manke
Manken
-
Schlass
Schlässe
Schlasse
Schlassen
+
Gocht
Göchte
Gochte
Gochten
-
Flund
Flünde
Flunde
Flunden
+
Trunt
Trünte
Trunte
Trunten
-
Duhr
Dühre
Duhre
Duhren
+
Knumpe
Knümpe
Knumpe
Knumpen
-
Knolke
Knölke
Knolke
Knolken
+
Fulke
Fülke
Fulke
Fulken
-
Trunte
Trünte
Trunte
Trunten
+
Mafte
Mäfte
Mafte
Maften
-
Bachte
Bächte
Bachte
Bachten
+
Traukel
Träukel
Traukel
Traukeln
-
Trunkel
Trünkel
Trunkel
Trunkeln
+
Grattel
Grättel
Grattel
Gratteln
-
Trolchel
Trölchel
Trolchel
Trolcheln
+
Truntel
Trüntel
Truntel
Trunteln
-
Knussel
Knüssel
Knussel
Knusseln
+
Knuker
Knüker
Knuker
Knukern
-
Sorer
Sörer
Sorer
Sorern
+
Zorfer
Zörfer
Zorfer
Zorfern
-
Kafter
Käfter
Kafter
Kaftern
+
Wuhrer
Wührer
Wuhrer
Wuhrern
-
Schrunker
Schrünker
Schrunker
Schrunkern
N
F -e
M N F
-el
M N F
-er
M
N
F
123 -ø steht für ein monosyllabisches Item ohne spezifischen Auslaut.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Abb. 18: Beispiel für einen Arbeitsbogen zur Auswahl der besten Pluralform.
Diese Erhebung wurde, wie auch die Elizitierung von Pluralformen zu Kunstwörtern, in den Kontext des Kinderbuchschreibens eingebettet (vgl. Abschnitt 3.2.2). Den Probanden wurde erklärt, dass man durch die Befragung vieler Kinder zu den Pluralformen der Wörter viele verschiedene Antworten erhalten habe. Man bitte sie nun darum, sich diese verschiedenen Vorschläge anzusehen und jeweils die Pluralform herauszusuchen, die sie für die beste hielten. Damit die Probanden möglichst ungestört und von der Versuchsleiterin unbeeinflusst zusammenarbeiten konnten, wurde diese Erhebung für eine schriftliche Bear-
Empirische Untersuchung beitung konzipiert. Aus diesem Grunde wurde sie nur mit den Probanden der dritten und vierten Klasse durchgeführt. Die Probanden erhielten 24 zusammengeheftete Seiten, auf denen jeweils in der oberen Hälfte ein Fantasiewesen bzw. Gegenstand mit einem Kunstwort (Singular) abgebildet war. In der unteren Hälfte war dieses Wesen bzw. dieser Gegenstand mehrmals abgebildet und darunter waren drei mögliche Pluralformen zur Auswahl gegeben (vgl. Abbildung 18). Die Abfolge der drei möglichen Pluralformen wurde ebenso wie die Reihenfolge der Items variiert. Die Probanden wurden explizit dazu aufgefordert, ihre Auswahl in ihrer Arbeitsgruppe zu besprechen und zu begründen. Während der Bearbeitung der Aufgabe war die Versuchsleiterin zwar anwesend, hat sich aber nach Möglichkeit zurückgehalten. 124 Die Gespräche der Probanden während der Bearbeitung der Aufgabe wurden aufgezeichnet. Die Gruppen, die diese Aufgabe gemeinsam bearbeiten sollten, wurden so zusammengestellt, dass Probanden der gleichen Ausgangssprache zusammenarbeiten konnten. Die Probanden der monolingual deutschsprachigen Gruppe haben die Aufgabe in Einzelarbeit gelöst.
... Hypothesen Es wird davon ausgegangen, dass sich bei der Auswahl der besten Pluralform sowohl produkt- als auch source-orientierte Strategien zeigen. Wählen die Probanden unabhängig vom gegebenen Singular am häufigsten die Pluralform auf -en aus, die das valideste Pluralschema abbildet, seltener die umgelauteten Formen auf -e, -el und -er, die weniger valide Pluralschemata abbilden und am seltensten die nicht umgelauteten Formen, die die wenigsten validen Pluralschemata repräsentieren, so ist dies ein Hinweis auf die produktorientierte Strategie. Wählen die Probanden die Pluralform hingegen in Abhängigkeit vom Singular, also bspw. Pluralformen auf -en häufiger für Feminina als für NichtFeminina und häufiger für Items auf -e als für monosyllabische Items oder solche auf -el oder -er, so ist dies ein Zeichen für die source-orientierte Strategie. Im Hinblick auf die verschiedenen Sprechergruppen ist anzunehmen, dass sich die produktorientierte Strategie bei den türkischsprachigen Probanden am deut-
124 Lediglich wenn die Probanden die Aufgabe ohne Diskussion lösten, wurden sie hin und wieder zur Begründung der gewählten Formen aufgefordert.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
lichsten zeigt, die source-orientierte Strategie hingegen deutlicher bei den russisch- und monolingual deutschsprachigen Probanden. 125
... Ergebnisse In Tabelle 19 sind die Ergebnisse der Erhebung zusammengefasst. Da die Probanden nicht systematisch zwischen Items, die auf belebte und Items, die auf unbelebte Denotate referieren, unterschieden haben, wird der Faktor Belebtheit im Folgenden bei der Auswertung nicht weiter berücksichtigt. Auch die Ergebnisse der maskulinen und neutralen Items werden zusammengefasst. 126 Die Tabelle ist nach den drei Sprechergruppen aufgeteilt und gibt für jede Sprechergruppe an, wie viele Datenpunkte pro Itemstruktur vorliegen und wie häufig die verschiedenen Pluralformen ausgewählt wurden (in Prozent). Die Probanden mit türkischer Ausgangssprache haben also bspw. für monosyllabische Nicht-Feminina zu 71,9% die Pluralform auf -en ausgewählt, zu 6,3% die nicht umgelautete Form auf -e und zu 21,9% die umgelautete Form auf -e. Tab. 19: Ergebnisse der Auswahl einer Pluralform aus drei gegebenen Vorschlägen L T Itemstruktur
-(e)n
-e/-ø
UL + -e/-ø
-ø M/N (N = )
,
,
,
-ø F (N = )
,
,
,
-ø gesamt (N = )
,
,
,
-e M/N (N = )
,
,
-e F (N = )
,
,
-e gesamt (N = )
,
,
125 Unterschiede zwischen den Altersgruppen können mit diesem Verfahren nicht überprüft werden, da nur die Probanden der dritten und vierten Klassenstufe beteiligt waren. 126 Die Zusammenlegung von Maskulina und Neutra entspricht der gängigen Darstellung des deutschen Numerussystems in source-orientierten Ansätzen. Nomen beider Genera verhalten sich in Bezug auf die Deklination insgesamt und die Pluralbildung im Besonderen weitgehend parallel. Auch in den Ergebnissen konnten keine systematischen Unterschiede zwischen diesen beiden Typen ausgemacht werden. Eine nach Belebtheit und den drei Genera aufgeschlüsselte Übersicht über die Ergebnisse befindet sich im Anhang (Tabelle 25).
Empirische Untersuchung
L T Itemstruktur
-(e)n
-e/-ø
UL + -e/-ø
-el M/N (N = )
,
,
-el F (N = )
,
,
-el gesamt (N = )
,
,
-er M/N (N = )
,
,
,
-er F (N = )
,
,
-er gesamt (N = )
,
,
,
Itemstruktur
-(e)n
-e/-ø
UL + -e/-ø
-ø M/N (N = )
,
,
,
-ø F (N = )
-ø gesamt (N = )
,
,
-e M/N (N = )
,
,
-e F (N = )
,
,
,
-e gesamt (N = )
,
,
,
-el M/N (N = )
,
,
-el F (N = )
-el gesamt (N = )
,
,
,
-er M/N (N = )
,
,
-er F (N = )
-er gesamt (N = )
,
,
Itemstruktur
-(e)n
-e/-ø
UL + -e/-ø
-ø M/N (N = )
,
,
,
-ø F (N = )
-ø gesamt (N = )
,
,
,
-e M/N (N = )
,
,
-e F (N = )
L R
L D
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
L D Itemstruktur
-(e)n
-e/-ø
UL + -e/-ø
-e gesamt (N = )
,
,
,
-el M/N (N = )
,
,
,
-el F (N = )
-el gesamt (N = )
,
,
,
-er M/N (N = )
-er F (N = )
-er gesamt (N = )
,
,
,
Die Ergebnisse werden schrittweise im Hinblick darauf diskutiert, ob sie für eine source- oder produktorientierte Strategie der Probanden sprechen. Produktorientierte Strategie Wie aus Tabelle 19 abzulesen ist, wählen die Probanden aller drei Sprechergruppen für fast alle Items am häufigsten die Pluralform mit Endung auf -en aus, auch wenn diese mit dem gegebenen Singularschema kein starkes PaarSchema bildet. Bei den monosyllabischen Nicht-Feminina bspw. wird die Pluralform auf -en zu 45 bis 70% gewählt, obwohl diese Nomentypen im analysierten Kinderwortschatz fast nie Pluralformen auf -en bilden. Diese häufige Wahl der Pluralform auf -en kann also nicht damit begründet werden, dass nicht feminine monosyllabische Singulare ein starkes Paar-Schema mit Pluralformen auf -en bilden. Auch bei den anderen Items, die kein Paar-Schema mit Pluralformen auf -en bilden (Nicht-Feminina auf -el und -er) fällt die Wahl erstaunlich häufig auf die Pluralformen auf -en. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Probanden weitgehend unabhängig von der Singularform präferiert die valideste Pluralform auswählen. Dies spricht für die Annahme, dass die Probanden bei ihrer Wahl produktorientiert vorgehen. Die häufige Wahl der Form auf -en könnte jedoch auch einen anderen Grund haben: Bei den Items auf -e, -el und -er ist dies die einzige Form, bei der ein Suffix als Pluralmarkierung segmentierbar ist. Die anderen gegebenen Pluralformen unterscheiden sich dagegen entweder nur durch den Umlaut oder gar nicht von der Singularform. Es wäre also möglich, dass die Probanden die Form auf -en nicht deshalb so häufig wählen, weil sie produktorientiert vorgehen und die valideste Form präferieren, sondern weil sie die Form auswählen, bei der die
Empirische Untersuchung Funktion Plural im Sinne der Natürlichkeitstheorie ikonisch markiert ist. Für die Items auf -e, -el und -er ist nicht entscheidbar, welche Strategie tatsächlich hinter der häufigen Wahl der Pluralform auf -en steckt. Bei den monosyllabischen Items haben die Probanden jedoch die Wahl zwischen Pluralbildungen auf -e und auf -en. Beide sind als gleichermaßen ikonisch zu werten, dennoch überwiegt auch hier die Wahl der valideren Pluralform auf -en. Dies spricht für die Interpretation, dass die Probanden produktorientiert vorgehen. Dieses Ergebnis stimmt außerdem mit den Ergebnissen des Elizitierungsverfahrens überein. Auch dort haben die Probanden Pluralformen auf -en auch für solche Items häufig gebildet, bei denen dies aufgrund der Paar-Schemata nicht zu erwarten war (z.B. monosyllabische Nicht-Feminina). Beim Vergleich der drei Sprechergruppen fällt auf, dass diese Fokussierung auf die Pluralformen auf -en bei den Sprechern mit türkischer Ausgangssprache besonders ausgeprägt ist: Bei allen Items wird diese Form zu 70 bis 90% gewählt. Bei den anderen beiden Sprechergruppen fällt der Abstand zwischen den Pluralformen auf -en und den anderen geringer aus. Entscheiden sich die Probanden nicht für die Form auf -(e)n, haben sie zwei weitere Formen zur Auswahl, die sich nur durch den Umlaut voneinander unterscheiden. Im analysierten kindersprachlichen Wortschatz tritt der Umlaut nur bei monosyllabischen Maskulina und Feminina, die den Plural auf -e bilden, häufig auf. Bei Neutra kommt er gar nicht vor, bei Nomen, die im Plural kein overtes Pluralsuffix aufweisen, ist er ebenfalls zu vernachlässigen. Gingen die Probanden also bei ihrer Wahl source-orientiert vor, so wäre zu erwarten, dass die umgelauteten Formen nur bei den monosyllabischen Maskulina und Feminina häufig ausgewählt werden. Bei allen anderen Items sollte die umgelautete Pluralform nicht häufiger gewählt werden als die nicht umgelautete Variante. Vor diesem Hintergrund ist es deshalb erstaunlich, dass die türkischund russischsprachigen Probanden die umgelautete Variante in fast allen Fällen der nicht umgelauteten Variante vorziehen. Auch dieses Ergebnis weist darauf hin, dass die Probanden bei der Auswahl der Pluralform produktorientiert vorgehen: Wie bereits dargestellt wurde, ist eine umgelautete Form mit der Endung -e, -el oder -er valider für die Funktion Plural als eine nicht umgelautete Form mit diesen Endungen. 127 Auch dieses Ergebnis kann aber im Licht der Natürlichkeitstheorie anders gedeutet werden: Bei der Wahl zwischen einer umgelauteten Form und einer nicht umgelauteten Form, die ansonsten die glei 127 Dies stimmt mit den Ergebnissen von Korecky-Kröll u.a. (2012) überein, in deren Studie ebenfalls festgestellt wurde, dass umgelautete Formen eher als Pluralformen akzeptiert werden als nicht umgelautete Formen.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
che Struktur aufweist, entscheiden sich die Probanden mit der umgelauteten Form für die ikonischere Form und vermeiden mit der nicht umgelauteten Form eine, die sich nicht vom Singular unterscheidet. Die Präferenz der umgelauteten gegenüber der nicht umgelauteten Form könnte also ebenso gut auf das Prinzip der Ikonizität zurückgeführt werden. Auch hier geben jedoch wieder die Ergebnisse zu den monosyllabischen Singularitems Aufschluss. Die Pluralformen zu diesen Items enthalten die vom Stamm segmentierbare Pluralmarkierung -e. Auch die nicht umgelautete Pluralform unterscheidet sich damit also vom Singularitem, noch dazu durch ein Suffix. Eine Pluralmarkierung, die suffigiert wird, gilt als ikonischer als eine Pluralmarkierung, bei der die Markierung sowohl durch ein Suffix als auch durch den Umlaut vorgenommen wird (vgl. Seifert 1988: 29). Würden die Probanden also die ikonischere Pluralform auswählen, müssten sie an dieser Stelle häufiger die nicht umgelautete Pluralform wählen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Auch für die monosyllabischen Singularitems wird die umgelautete Pluralform präferiert ausgewählt. 128 Dies zeigt, dass die Präferenz der Probanden für umgelautete gegenüber nicht umgelauteten Pluralformen tatsächlich darauf zurückzuführen ist, dass sie produktorientiert vorgehen und die validere Form bevorzugen. Bei den Sprechern mit türkischer Ausgangssprache zeigt sich dieses Ergebnis wiederum besonders deutlich, da sie die nicht umgelautete Form so gut wie gar nicht auswählen. Dieses Ergebnis kann zunächst als Widerspruch zu den im Abschnitt 3.2.1 diskutierten Ergebnissen verstanden werden. Dort wurde deutlich, dass die türkischsprachigen Probanden den Umlaut bei der Interpretation von gegebenen Wortformen als Singular oder Plural nicht als Pluralmerkmal verarbeiten. Diese unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich jedoch auf die verschiedenen Erhebungsverfahren und -ziele zurückführen: Während die Wortformen im Interpretationstest keiner Funktion zugeordnet waren, werden sie hier explizit als Pluralformen eingeführt. Wenn die türkischsprachigen Lerner also eine umgelautete Pluralform mit einer nicht umgelauteten, ansonsten aber gleichen Pluralform vergleichen, wählen sie die umgelautete Form als bessere Pluralform aus. Wenn sie jedoch Formen die Funktion Singular oder Plural erst zuweisen müssen, so wird der Umlaut nicht als ein Merkmal berücksichtigt, das einen deutlichen Hinweis auf die Funktion Plural bietet. Ein letzter Punkt, der zeigen soll, dass die Probanden bei der Wahl der Pluralform produktorientiert vorgehen, ist die Wahl der gegenüber dem Singular 128 Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden wird die umgelautete Form nicht in allen Fällen häufiger gewählt als die nicht umgelautete Form, sie wird aber zumindest nie seltener gewählt.
Empirische Untersuchung unveränderten Pluralform bei Items auf -el und -er: Für die Items auf -el wird die unveränderte Form in allen Sprechergruppen seltener ausgewählt als für Items auf -er. Dies gilt sogar für die türkischsprachigen Probanden, die die unveränderte Pluralform nie auswählen – lediglich bei den Formen auf -er kommt dies zumindest vereinzelt vor. Für diese Unterscheidung gibt es keine sourcebasierte Erklärung, da beide Itemtypen im analysierten Kinderwortschatz Pluralformen zugeordnet sind, die unverändert sind. Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen Nomen auf -el und Nomen auf -er. Erklärbar ist dieses Ergebnis allerdings, wenn man bedenkt, dass eine Form, die auf -er endet, ein valideres Pluralschema abbildet als eine Form, die auf -el endet (vgl. Abschnitt 2.2). Die Probanden wählen die unveränderte Pluralform also häufiger, wenn sie ein valideres Pluralschema darstellt. Auch in diesem Punkt stimmen die Ergebnisse mit denen des Elizitierungsverfahrens überein. Source-orientierte Strategie Nicht alle Ergebnisse lassen sich durch die produktorientierte Strategie erklären. Vielmehr wird an einigen Punkten deutlich, dass die Probanden die Pluralform in Abhängigkeit vom Singular auswählen. Zunächst soll noch einmal genauer auf die Auswahl der Pluralformen auf -en eingegangen werden. Wie bereits besprochen wurde, werden diese Pluralformen prinzipiell präferiert ausgewählt. Abstrahiert man vom Genus der Items, wird aber auch deutlich, dass diese Pluralform in Abhängigkeit von der Struktur des Singularitems, also von der Silbenanzahl und vom Auslaut, unterschiedlich häufig ausgewählt wird: Am häufigsten werden diese Formen von allen Sprechergruppen für Singulare gewählt, die auf -e enden (vgl. Tabelle 19). Die türkischsprachigen Probanden wählen -(e)n für die anderen Items nur etwas seltener aus, bei den russisch- und monolingual deutschsprachigen Probanden ist dieser Unterschied jedoch deutlicher. Singularformen auf -e und Pluralformen auf -en bilden im deutschen Numerussystem ein starkes Paar-Schema, wohingegen Singularformen mit anderen Endungen seltener Pluralformen auf -en zugeordnet werden. Dies weist darauf hin, dass die Lerner nicht ausschließlich produktorientiert vorgehen, sondern auch Eigenschaften des Singulars beachten, um die dazu passende Pluralform auszuwählen, also source-orientiert vorgehen. In den Ergebnissen des Elizitierungsverfahrens (Abschnitt 3.2.2) wurde deutlich, dass das Genus von den Probanden bei der source-orientierten Pluralbildung berücksichtigt wird. Wie aus Tabelle 19 ersichtlich wird, wählen die türkisch- und russischsprachigen Probanden die Pluralform auf -(e)n dementsprechend für feminine Items auf -er häufiger als für nicht-feminine Items dieser Endung. Bei den monolingual deutschsprachigen Probanden zeigt sich dieser
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Unterschied bei den Items mit der Endung -el. Vergleicht man aber, wie häufig Pluralformen auf -en insgesamt (unabhängig von der Endung) für Feminina im Gegensatz zu Nicht-Feminina ausgewählt wurden, so kann man nur bei den russischsprachigen Probanden tatsächlich einen Unterschied ausmachen: Diese wählen den Plural auf -en bei Feminina insgesamt zu 55,7%, aber bei NichtFeminina nur zu 49,7%. Bei den türkischsprachigen Probanden ist das Verhältnis hingegen umgekehrt: Der Plural auf -en wird für Nicht-Feminina insgesamt häufiger gewählt (81,1%) als für Feminina (78,1%). Bei den deutschsprachigen Probanden sind die Zahlen so gut wie identisch: 53,8% für Feminina, 53,5% für Nicht-Feminina. Diese Ergebnisse lassen deshalb nicht den Schluss zu, dass die Probanden das Genus bei dieser Erhebung systematisch berücksichtigt haben. Die phonologische Gestalt, d.h. die Silbenanzahl und der Auslaut, sind hier von größerer Bedeutung.
... Zusammenfassung Die Ergebnisse dieser Erhebung zeigen, dass die Probanden sowohl produkt- als auch source-orientierte Strategien anwenden, um die besten Pluralformen auszuwählen. Die produktorientierte Strategie zeigt sich darin, dass die Probanden prinzipiell die valideren Formen bevorzugen, also Formen auf -en vor umgelauteten Formen vor unveränderten Formen auswählen. Auch bei der Entscheidung zwischen Formen mit dem Pluralsuffix -en oder -e wird den valideren Formen auf -en die Präferenz gegeben. Zusätzlich wurden die unveränderten Formen häufiger bei Items auf -er als bei Items auf -el ausgewählt, was ebenfalls zeigt, dass die validere Form bevorzugt ausgewählt wird. Diese Ergebnisse sind im Rahmen eines rein source-orientierten Ansatzes nicht erklärbar. Aus Perspektive der strukturalistischen Modelle oder der Natürlichkeitstheorie hätte vielmehr die jeweils für den gegebenen Singular reguläre bzw. unmarkierte oder produktivere Pluralform gewählt werden sollen. Stattdessen zeigen diese Ergebnisse, dass sich die Lerner bei der Auswahl der besten Form an Pluralschemata orientieren. Die source-orientierte Strategie zeigt sich darin, dass die Pluralform auf -en am häufigsten bei den Items ausgewählt wurde, die ein starkes Paar-Schema mit dieser Form bilden: Items auf -e. Dieses Ergebnis wiederum zeigt, dass auch ein rein produktorientierter Ansatz zur Erklärung der Ergebnisse nicht ausreicht. Es wird also deutlich, dass die Lerner bei ihrer Wahl auch berücksichtigen, ob die gegebene Singularform und die Pluralform ein starkes Paar-Schema abbilden. Das Ergebnis des Elizitierungsverfahrens, dass das Genus des Nomens bei der source-orientierten Strategie ein relevantes Kriterium darstellt, wird in
Empirische Untersuchung dieser Erhebung nicht bestätigt. Es werden zwar vereinzelt Unterschiede zwischen Feminina und Nicht-Feminina deutlich, eine systematische und durchgängige Orientierung am Genus ist jedoch aus diesen Ergebnissen nicht ablesbar. Im Vergleich der drei Sprechergruppen zeigt sich, dass die produktorientierte Strategie bei den türkischsprachigen Probanden besonders dominant ist: Weitgehend unabhängig vom Singular wird die Pluralform auf -(e)n in allen Fällen am häufigsten ausgewählt. Diese starke Fixierung auf eine der drei Formen kann auf die Strukturen der türkischen Ausgangssprache zurückgeführt werden: Wie im Abschnitt 2.4.2 beschrieben wurde, gibt es im Türkischen nur eine Form der Pluralmarkierung, das Suffix -ler, sowie die phonologische Variante -lar. Welche dieser Varianten gewählt wird, ist eindeutig vorhersagbar: Enthält das Wort einen hellen Stammvokal, ist es -ler, bei einem dunklen Stammvokal -lar. Verschiedene Paar-Schemata wie im Deutschen oder auch im Russischen existieren also nicht. Im Türkischen sind die Eigenschaften des Singulars damit irrelevant für die Pluralbildung. Dies kann erklären, warum die türkischsprachigen Probanden so deutlich auf die valideste Pluralform fokussieren, anstatt sich für die Form zu entscheiden, die mit dem Singular ein starkes Paar-Schema abbildet. Bei den russisch- und monolingual deutschsprachigen Probanden hingegen zeigt sich die source-Orientierung deutlicher: Sie fokussieren weniger stark auf die valideste Form und wählen den Plural stattdessen stärker in Abhängigkeit vom jeweiligen Paar-Schema aus. Da auch im russischen Numerussystem verschiedene Paar-Schemata existieren, ist es gut nachvollziehbar, dass diese Probanden auch im Deutschen eher eine sourceorientierte Strategie anwenden als die Probanden mit türkischer Ausgangssprache. Dieses Ergebnis bestätigt damit die aufgestellte Hypothese, dass die türkischsprachigen Lerner die produktorientierte Strategie stärker nutzen als die russischsprachigen Lerner. Auch dieses Ergebnis weicht von denen des Elizitierungsverfahrens ab, in dem dieser Unterschied zwischen türkisch- und russischsprachigen Probanden nicht bestätigt wurde. Diese unterschiedlichen Ergebnisse im Hinblick auf die Verarbeitung des Genuskriteriums und auf die unterschiedliche Dominanz der Strategien je nach Ausgangssprache sind vermutlich auf die verschiedenen Aufgabentypen zurückzuführen. Die Aufgabe, die beste Pluralform auszuwählen, veranlasst die Probanden in stärkerem Ausmaß dazu, rein produktorientiert vorzugehen als die Aufgabe, zu einem gegebenen Singular eigenständig eine Pluralform zu bilden. Dies führt offenbar dazu, dass das Genus weniger Relevanz besitzt, da die source-orientierte Strategie insgesamt weniger angewendet wird und dass sich die türkischsprachigen Probanden ganz besonders auf die produktorientierte Strategie konzentrieren.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
.. Verbalisierung der Strategien Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, dass bei der Pluralbildung und auch bei der Auswahl einer Pluralform sowohl produkt- als auch source-orientierte Strategien eine Rolle spielen. Die Lerner wenden diese Strategien bei der Sprachverarbeitung an, ohne dass sie ihnen notwendigerweise bewusst sein müssen. Es handelt sich dabei also um implizites Sprachwissen. Wie in Abschnitt 3.2.3.1 dargestellt wurde, haben die Probanden den Auswahltest in Zweier- oder Dreiergruppen bearbeitet und wurden explizit aufgefordert, ihre Wahl zu diskutieren und zu begründen. Die Probanden sollten ihre Entscheidungen also metasprachlich kommentieren. Diese Aufgabe zielt folglich auf metasprachliche Kompetenzen ab und ist kognitiv anspruchsvoller als das unkommentierte Bilden oder Auswählen von Pluralformen, da sie ein gewisses Maß an Sprachbewusstheit voraussetzt (zur Definition von Sprachbewusstheit vgl. z.B. Gornik 2014). Dementsprechend verwundert es wenig, dass nur einige Probanden ihre Entscheidungen tatsächlich diskutiert und begründet haben. Auch wenn deshalb zwar keine systematische Auswertung der Kommentare stattfinden kann, sind die vorliegenden Äußerungen der Probanden dennoch sehr aufschlussreich für die Frage, welche Strategien bei der Auswahl einer Pluralform verfolgt werden. 129 Die verbalisierten Strategien lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Zum einen wurden Begründungen geäußert, in denen nur die Pluralformen selbst berücksichtigt wurden, nicht die dazugehörige Singularform. Zum anderen wurde mit dem Verhältnis von Singular- und Pluralform argumentiert, das heißt, die Probanden haben nicht nur die Pluralform selbst, sondern auch die Singularform berücksichtigt. Ein recht häufig vorkommender Spezialfall dieser letztgenannten Kategorie besteht darin, dass die Probanden explizit solche Pluralformen ablehnen, die sich nicht vom Singular unterscheiden. Begründungen in Bezug auf die Pluralformen Eine der am häufigsten geäußerten Begründungen für die Auswahl einer Form war, dass diese sich am besten anhöre, was die folgenden Beispiele veranschaulichen:
129 Im Fokus steht dabei nicht die Frage nach der Entwicklung metasprachlicher Kompetenzen oder nach dem Zusammenhang von implizitem und explizitem sprachlichen Wissen. Vielmehr werden die Begründungen der Probanden für die Auswahl einer bestimmten Pluralform als weitere Belege für die Anwendung der identifizierten Strategien gewertet.
Empirische Untersuchung weil man da mehrere hören kann und sich das besser anhört (Gespräch von SÖK und LAN, L1 Türkisch, Begründung für die Auswahl der Form Trolcheln zum Singular das Trolchel) das klingt einfach schöner (Gespräch von SÖK und LAN, L1 Türkisch, Begründung für die Auswahl der Form Fulken zum Singular das Fulke) Diese Art der Begründung zielt allein auf die Gestalt der Pluralform ab, ohne dass der gegebene Singular berücksichtigt wird. Eine weitere Begründung, die vereinzelt von Probanden geäußert wurde, ist, dass Pluralformen ein bestimmtes Merkmal aufweisen müssen: weil wenn das immer viel ist, dann kommt immer ein -n (Gespräch von LÖC und RRN, L1 Türkisch, Begründung für die Auswahl der Form Zorfern zum Singular das Zorfer) muss ja mit ü; die Mehrzahl ist immer ü oder ä (Gespräch von NOS und NII, L1 Russisch, Begründung für die Auswahl der Form Wührer zum Singular die Wuhrer) Auch diese Äußerungen zeigen, dass die Pluralformen unabhängig vom Singular beurteilt werden. Die Probanden nennen ganz bestimmte Charakteristika, die eine Pluralform aufweisen muss. Diese Äußerungen weisen auf eine produktorientierte Strategie bei der Auswahl einer Pluralform hin: Unabhängig von der Singularform entscheiden sich die Probanden für die Pluralform, die sich ihrer Meinung nach am besten anhört oder die bestimmte, ihrer Meinung nach charakteristische, Merkmale aufweist. Ob die gewählte Pluralform mit der gegebenen Singularform ein starkes Paar-Schema abbildet, wird nicht berücksichtigt. Begründungen unter Berücksichtigung der Singularform Eine relativ häufige, nur von türkischsprachigen Probanden geäußerte Begründung ist, dass die Form, die im Vergleich zum Singular unverändert ist, nicht gewählt werden sollte. Mit dieser Begründung drücken die Probanden das Bedürfnis aus, einen Plural zu wählen, der sich durch eine overte Markierung am Nomen vom Singular unterscheidet.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
weil das heißt Trunte und Trunte und Trunte ist das Gleiche (Gespräch von SÖK und LAN, L1 Türkisch, Begründung für die Auswahl der Form Trunten zum Singular das Trunte) der Knumpe – die Knumpe sind fast gleich, nur der Begleiter ist anders; die heißen gleich, warum sollte ich das dann nehmen? (Begründung von LRL, L1 Türkisch, für die Auswahl der Form Knumpen zum Singular der Knumpe) An dieser Stelle wird also die Relevanz des Ikonizitätsprinzips deutlich, dessen Wirksamkeit allerdings durch die Analyse der Pluralbildungen bzw. der Auswahl der Pluralformen nicht bestätigt wird (vgl. auch die Diskussion im Abschnitt 3.2.3.3). An dieser Stelle weicht also entweder das explizite Sprachwissen vom impliziten Sprachwissen ab, oder aber es muss angenommen werden, dass dem Prinzip der Ikonizität zumindest in dieser Erhebung doch eine gewisse Relevanz zukommt, auch wenn dadurch nach wie vor nicht erklärt werden kann, warum für monosyllabische Items die Pluralform auf -en vor der auf -e präferiert wird und die umgelautete Form vor der nicht umgelauteten. Dass diese Begründung nur von türkischsprachigen Probanden geäußert wurde, kann auf die Struktur der Ausgangssprache zurückgeführt werden: Im Türkischen werden alle grammatischen Funktionen overt realisiert. Dies führt offenbar auch im Deutschen zu dem (verstärkten) Bedürfnis, die Pluralform durch einen overten Marker von der Singularform unterscheiden zu können. Des Weiteren wurde zur Begründung der Wahl einer Pluralform vereinzelt das Singular-Plural-Paar genannt, ohne jedoch zu verbalisieren, warum zu diesem Singular gerade die gewählte Pluralform passt. Typische Äußerungen dafür sind: Klar: der Knuker – die Knuker (Gespräch von NET und AES, L1 Russisch, Begründung für die Auswahl der Form Knuker zum Singular der Knuker) weil das die Trunkel heißt und Trunkeln finde ich dann besser als Trünkel und Trunkel (Gespräch von SÖK und LAN, L1 Türkisch, Begründung für die Auswahl der Form Trunkeln zum Singular der Trunkel) Dabei wird jedoch in keinem Fall geäußert, welche Eigenschaft des Singulars genau dafür verantwortlich ist, dass die jeweilige Pluralform gewählt wurde.
Empirische Untersuchung Auch die Intonation der Sprecher (vorstellbar wäre eine besondere Betonung des Artikels oder des Auslauts) gibt keinen Aufschluss darüber. Diese Äußerungen geben also nur einen sehr vagen Hinweis darauf, dass die Singularform in irgendeiner Art und Weise für die Auswahl der Pluralform relevant sein muss. In wenigen Fällen haben die Probanden die Wahl der Pluralform auch mit Analogiebildungen zu real existierenden Pluralbildungen im Deutschen begründet. Schlässe; wie das Schloss – die Schlösser (Gespräch von MIZ und MGN, L1 Türkisch, Gespräch über die Auswahl der Form Schlassen zum Singular der Schlass) All diese Äußerungen, bei denen die Singularform berücksichtigt wird, zeigen, dass die Pluralformen nicht in allen Fällen und ausschließlich produktorientiert ausgewählt werden. Vielmehr beachten die Probanden bei ihrer Wahl auch die Singularform und treffen ihre Entscheidung in Abhängigkeit von dieser Form. Diese Äußerungen weisen also auf eine source-orientierte Strategie bei der Auswahl der besten Pluralform hin. Dabei wurde besonders das Bedürfnis der Probanden deutlich, eine Pluralform zu wählen, die sich vom Singular unterscheidet, bei der die Pluralmarkierung also ikonisch ist. Spezifischere Gründe, die mit linguistischen Analysen des Numerussystems in Einklang stehen, wie Auslaut und Genus der Singularformen, wurden nicht verbalisiert. 130 Zusammenfassend belegen die Äußerungen der Probanden also die angenommenen Strategien der source- und der produktorientierten Auswahl einer Pluralform. Bei der produktorientierten Strategie wählen die Probanden die Pluralform weitgehend unabhängig von der ebenfalls präsentierten Singularform aus. Bei der source-orientierten Herangehensweise hingegen berücksichtigen die Probanden die Singularform und wählen eine Pluralform aus, die ihnen in Relation zum Singular am besten erscheint. Die metasprachlichen Kommentare zeigen, dass sich die Probanden diese Strategien zu einem gewissen Grad bewusst machen können. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die verbalisierten Strategien nicht in allen Fällen mit den unbewusst angewandten Strategien übereinstimmen. Besonders auffällig ist dies beim Ikonizitätsprinzip. Dieses
130 Die Nicht-Verbalisierung dieser Kriterien heißt jedoch nicht, dass diese auch tatsächlich keine Rolle bei der Entscheidung der Probanden spielen. Vielmehr wurde in den vorangegangenen Analysen gezeigt, dass die Probanden das Genus und den Auslaut der Items bei der Pluralbildung durchaus berücksichtigen. An dieser Stelle kann nur festgehalten werden, dass diese Kriterien nicht den Grad an Bewusstheit aufweisen, dass sie auch verbalisiert werden.
Methoden und Ergebnisse der Untersuchungen
Prinzip konnte in den Pluralbildungen und in der Auswahl der Pluralformen nicht belegt werden, wird aber explizit als Begründung genannt. Andersherum konnte in den Datendiskussionen gezeigt werden, dass Auslaut und Genus der Singularform für die source-orientierte Pluralbildung berücksichtigt werden, obwohl diese Kriterien in den Äußerungen nicht genannt werden.
Fazit und didaktischer Ausblick . Zusammenfassung der Ergebnisse Wie im theoretischen Teil dieser Untersuchung dargestellt wurde, fokussieren morphologische Modelle zur Darstellung des deutschen Numerussystems überwiegend auf source-basierte Regularitäten. Strukturalistische Ansätze untersuchen erst einmal rein deskriptiv, wie die Zuordnung der Pluralmarker zu den Nomen beschrieben werden kann. In Ansätzen im Rahmen der Natürlichkeitstheorie wird zwar darüber hinausgegangen, indem das System nicht lediglich beschrieben, sondern auch nach Gründen für dessen Organisation gefragt wird. Aber auch hier wird das Numerussystem grundlegend auf der Basis von sourceorientierten Regularitäten dargestellt. Für die Verarbeitung des Pluralsystems wird in diesen Ansätzen implizit oder explizit angenommen, dass der Sprecher die Pluralmarkierungen separat speichert und zur Produktion einer Pluralform diese Markierungen nach gewissen Regeln an den jeweiligen Wortstamm affigiert. Der Erwerbsprozess besteht also darin, die Pluralmarkierungen zu identifizieren und die Regeln für deren Distribution über die Nomen zu erkennen. Nach den Ansätzen der Natürlichkeitstheorie sind von der Zielsprache abweichende Pluralbildungen, wie sie im Erwerbsprozess auftreten, dadurch zu erklären, dass markierte Formen durch unmarkierte ersetzt werden, bzw. weniger produktive Formen durch produktivere. Im DM-Modell, das grundsätzlich ebenfalls diesen Prinzipien verhaftet ist, gilt nur die Pluralmarkierung -s als regulär. Hier wird angenommen, dass Abweichungen dadurch zustande kommen, dass irreguläre Marker durch den regulären -s-Plural ersetzt werden. Bei diesen Ansätzen stehen also die paradigmatischen Relationen von Singular- und Pluralformen im Fokus. Die Perspektive der Sprecher, die aus diesen Ansätzen hervorgeht, ist deshalb source-orientiert: Abhängig von bestimmten Eigenschaften des Nomens, vor allem Auslaut und Genus, bilden sie die nach den systematischen Regularitäten passende Pluralform. Im Schema-Modell wird hingegen eine andere Perspektive eingenommen: Das Numerussystem wird in Form von produktorientierten Schemata beschrieben. Die Frage, welches Nomen welchen Pluralmarker wählt, steht demgegenüber im Hintergrund. Entsprechend wird im Rahmen dieses Modells postuliert, dass Lerner im Spracherwerb phonologische Schemata abstrahieren und diese mit den grammatischen Funktionen Singular und Plural assoziieren. Sprecher sollten bei der Pluralbildung dementsprechend produktorientiert vorgehen. Das bedeutet, sie bilden einen Plural, indem sie ihn mit den im mentalen Lexikon gespeicherten, um einen Prototyp organisierten, Pluralschemata abgleichen.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Abweichungen von der Zielsprache können also dadurch begründet werden, dass eine Pluralform gebildet wird, die einem der gespeicherten Pluralschemata entspricht. Präferiert werden dabei Pluralformen, die ein besonders valides Pluralschema abbilden. Diese produktorientierte Herangehensweise ist im Kern auch im optimalitätstheoretischen Ansatz enthalten, wird jedoch in den bisher vorliegenden Analysen zum deutschen Numerussystem kaum eingelöst. Aus diesen Ansätzen ergeben sich also zwei Strategien, die Sprecher bei der Pluralbildung verfolgen: die source-orientierte sowie die produktorientierte Strategie. Es wurde aufgezeigt, dass beide Strategien im Rahmen des gebrauchsbasierten Netzwerkmodells ihren Platz haben. Im Erwerbsverlauf speichern Lerner zunächst Wortformen holistisch ab, bevor sie einfache Schemata abstrahieren, die mit den Funktionen Singular und Plural assoziiert werden. Erfolgt die Pluralbildung in Orientierung an diese einfachen Schemata, so liegt die produktorientierte Strategie vor. Bevor diese Schemata abstrahiert wurden, liegen keine Muster vor, an denen die Lerner sich bei der Pluralbildung orientieren können. Sie bilden Pluralformen deshalb entweder in direkter Analogie zu einer gespeicherten Form oder drücken den Plural aus, indem sie eine Mengenangabe oder ein Zahlwort vor das Nomen stellen, ohne das Nomen selbst zu verändern. Dies wurde als lexikalische Strategie bezeichnet. Nach der Abstraktion der einfachen Schemata erfolgt die Abstraktion von Paar-Schemata, die auf den einfachen Schemata beruhen und die paradigmatischen Relationen von Singular- und Pluralschemata abbilden. Erfolgt die Pluralbildung in Orientierung an diese Paar-Schemata, so wird die source-orientierte Strategie verfolgt. Dabei ist es aus theoretischer Perspektive entscheidend, dass die sourceorientierte Pluralbildung nicht bedeutet, dass die Sprecher vom Singularstamm ausgehen und diesen nach bestimmten Regeln in die entsprechende Pluralform umwandeln bzw. den entsprechenden Pluralmarker affigieren. Die Sprecher wählen die Pluralform vielmehr in Orientierung an dem jeweiligen Paar-Schema aus: Es wird also das Pluralschema abgebildet, das mit dem jeweiligen Singularschema ein starkes Paar-Schema darstellt. Die Überprüfung dieser Annahmen im empirischen Teil der Studie hat gezeigt, dass, erstens, Schemata ausgebildet werden, die unterschiedlich stark mit den grammatischen Funktionen Singular und Plural assoziiert sind. Dieses Ergebnis hat das Interpretationsverfahren erbracht, in dem die Probanden gegebene Wortformen (Kunstwörter) als Singular- oder Pluralformen interpretieren sollten. Die Probanden haben Kunstwörter, die mit dem Artikel die präsentiert wurden und die Endungen -ø < -e < -el < -er < -s < -en aufweisen, in eben dieser Reihenfolge graduell häufiger als Pluralformen interpretiert. Wie die vorangegangene Analyse des produktiven nominalen Wortschatzes von Grund-
Fazit und didaktischer Ausblick schulkindern gezeigt hat, sind Schemata mit diesen Endungen in genau dieser Reihenfolge von zunehmender Validität für die Übermittlung der Funktion Plural. Die Lerner interpretieren die Items also mit zunehmender Häufigkeit als Plural, je valider das durch sie abgebildete Pluralschema ist. Abweichungen von diesem Muster konnten auf den Erwerbsverlauf – Speicherung von Chunks, Abstraktion einfacher Schemata, Abstraktion von Paar-Schemata – zurückgeführt werden. Diese Ergebnisse wären in einem morphologischen Modell, das rein sourceorientierte Mechanismen beschreibt und davon ausgeht, dass Pluralformen lediglich als Ableitungen von Singularformen existieren, kaum erklärbar. Aus dieser theoretischen Perspektive hätte die Zuweisung der Funktion Singular oder Plural beliebig ausfallen müssen, da nicht angenommen wird, dass Sprecher eigenständige Repräsentationen für Pluralformen ausbilden. Die Probanden hätten somit keine Grundlage für die Interpretation der Items als Pluralformen. Darüber hinaus konnte mit dieser Erhebung zur Klärung des Verhältnisses der drei Schema-Komponenten Artikel, Endung und Umlaut beigetragen werden: Es hat sich gezeigt, dass der Artikel das Merkmal ist, das primär berücksichtigt wird. Nur wenn dieser keinen eindeutigen Hinweis auf die Funktion liefert (was nur bei dem Artikel die der Fall ist), wird auch die Endung der Wortgestalt berücksichtigt. Nur wenn auch diese uneindeutig ist (was bei den Endungen -e, -el und -er der Fall ist), wird schließlich der Umlaut relevant. Zweitens haben sowohl die Ergebnisse des Elizitierungs- als auch die des Auswahlverfahrens gezeigt, dass die Lerner sowohl die lexikalische Strategie als auch die produkt- und die source-orientierte Strategie bei der Pluralbildung anwenden. Diese Strategien werden zwar in allen Sprechergruppen deutlich, sind aber, abhängig von der Erwerbsdauer, unterschiedlich dominant. Die lexikalische Strategie zeigte sich im Elizitierungstest vorwiegend bei den Sprechergruppen mit der geringsten Erwerbsdauer (R + T 1-2). Bei diesen Probanden lag ein hoher Anteil an Pluralbildungen vor, bei denen die Singularform unverändert übernommen wurde. Betroffen sind hier unter anderem auch monosyllabische Stimuli und solche mit Endung auf -e. Dies kann weder mit der produktorientierten Strategie erklärt werden, da monosyllabische Items und solche mit Endung auf -e keine (validen) Pluralschemata abbilden, noch mit der sourceorientierten Strategie, da monosyllabische Items und solche mit Endung auf -e keine Paar-Schemata mit gleichlautenden Pluralformen bilden. Die produktorientierte Strategie konnte an verschiedenen Stellen nachgewiesen werden: Die Analyse der Verwendung der sogenannten Nullmarkierung hat gezeigt, dass diese nicht gleichermaßen häufig bei Items verwendet wurde, bei denen sie aufgrund der Paar-Schemata erwartbar ist (Nicht-Feminina mit
Zusammenfassung der Ergebnisse
Endung auf Pseudosuffix). Vielmehr wurden Maskulina und Neutra mit Endung auf -en am häufigsten unverändert übernommen, solche mit Endung auf -er etwas seltener und Maskulina und Neutra mit Endung auf -el am seltensten. Auch bei den Feminina mit Endung auf -el oder -er, bei denen die Nullmarkierung nicht erwartbar ist, wurde dieser Unterschied deutlich: Feminina auf -er wurden häufiger unverändert übernommen als Feminina auf -el. Schließlich haben die Probanden auch im Auswahlverfahren die unveränderte Pluralform häufiger für Items ausgewählt, die auf -er enden als für Items auf -el. Das Verhalten der Probanden ist in dieser Hinsicht also über die verschiedenen Erhebungsverfahren hinweg konstant. Dieses Ergebnis kann nicht dadurch erklärt werden, dass unveränderte Pluralformen (bzw. die Nullmarkierung) prinzipiell vermieden werden, da die Lerner dem Ikonizitätsprinzip entsprechend eine overte Kennzeichnung der Funktion Plural anstreben. Dies zeigt sich darin, dass die Formen auf -en durchaus zu einem sehr hohen Anteil (bis zu knapp 90%) unverändert übernommen werden. Das Ergebnis kann auch nicht durch eine source-orientierte Strategie erklärt werden, da Maskulina und Neutra auf -el, -er oder -en gleichermaßen Pluralformen wählen, die unverändert sind. Die unterschiedliche Behandlung dieser Items kann also nicht auf Unterschiede in den Paar-Schemata zurückgeführt werden. Betrachtet man aber die Pluralgestalten, die diese Items abbilden, so ist festzustellen, dass ein Nomen auf -el die geringste Validität für die Funktion Plural aufweist. Ein Nomen mit der Endung -er weist eine höhere Validität für den Plural auf und ein Nomen auf -en bildet das valideste Pluralschema ab. Die Lerner haben die Items also umso häufiger unverändert übernommen, je valider das Pluralschema ist, das sie abbilden. Sie haben sich bei der Pluralbildung also an den gespeicherten Pluralschemata orientiert und sind produktorientiert vorgegangen. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass auch monosyllabische Items, Items auf Vollvokal und Schwa graduell häufiger unverändert übernommen wurden. Auch hier zeigt sich, dass sich die Probanden an der Validität der abgebildeten Pluralschemata orientieren. Weitere Belege für die produktorientierte Strategie bei der Pluralbildung finden sich bei den Pluralformen, die eine andere Gestalt aufweisen als die Singularformen, die also nicht unverändert übernommen wurden. Im Elizitierungsverfahren haben die Probanden selbst dann sehr häufig Pluralformen auf en gebildet, wenn diese mit dem jeweiligen Singular kein starkes Paar-Schema abbilden, also bei monosyllabischen Nicht-Feminina, bei Items auf einen unbetonten Vollvokal und bei Nicht-Feminina auf -el und -er. Aus source-orientierter Perspektive hätten die Probanden für monosyllabische Nicht-Feminina überwiegend Pluralformen auf -e bilden müssen, für Items auf unbetonten Vollvokal
Fazit und didaktischer Ausblick Pluralformen auf -s und für Nicht-Feminina auf -el und -er unveränderte Pluralformen. Die Pluralform, die aufgrund des jeweils starken Paar-Schemas zu erwarten wäre, und die im Rahmen strukturalistischer Ansätze als regulär, im Rahmen der Natürlichkeitstheorie als unmarkiert oder produktiv klassifiziert wird, wurde also in diesen Fällen durch die validere Form auf -en ersetzt. Dieses Ergebnis kann deshalb im Rahmen source-orientierter Ansätze nicht erklärt werden, da Pluralformen auf -en in den genannten Kontexten weder regulär sind, noch unmarkiert oder produktiver als die anderen Formen. Dass der -sPlural, der im DM-Modell als einziger regulärer Marker gilt, sogar bei Items auf Vollvokal durch -en ersetzt wird, zeigt, dass dieses Modell zur Erklärung der Daten unangemessen ist. Auch im Auswahlverfahren wurde präferiert die Pluralform auf -en als beste Pluralform ausgewählt. Wurde diese Form nicht gewählt, dann wurde die umgelautete, und deshalb validere Form der nicht umgelauteten vorgezogen. Darüber hinaus sind auch Pluralbildungen auf -e oder -er zu Items auf -e, -el, -er oder -en (Knuker – Knuke) nur durch die produktorientierte Strategie zu erklären, da die Lerner in diesen Fällen eindeutig keine in Stamm und Pluralmarkierung segmentierbaren Formen bilden, sondern eine Gestalt anstreben, die mit der Funktion Plural assoziiert wird. Morphemgrenzen werden bei diesen Bildungen nicht beachtet. Der Vergleich der Sprechergruppen hat gezeigt, dass die produktorientierte Strategie bei den Gruppen der türkisch- und russischsprachigen Probanden der dritten und vierten Klassenstufe sowie bei der monolingual deutschsprachigen Vergleichsgruppe der ersten und zweiten Klassenstufe besonders dominant ist. Diese Gruppen weisen im Vergleich zu den anderen Gruppen eine mittellange Erwerbsdauer auf. Dies ist erwerbstheoretisch darauf zurückzuführen, dass sich diese Probanden in einer Phase befinden, in der die einfachen Schemata stabil ausgebildet wurden, die Paar-Schemata jedoch noch von geringerer Stabilität sind oder noch gar nicht ausgebildet wurden. Doch der produktorientierte Ansatz allein reicht nicht aus, um die Daten vollständig zu erklären. So wurde im Elizitierungsverfahren deutlich, dass die Probanden feminine und nicht feminine Items unterschiedlich behandeln: Pluralformen auf -en wurden häufiger für Feminina als für Nicht-Feminina gebildet und nicht feminine Items wurden häufiger unverändert übernommen als feminine Items. Bei einem rein produktorientierten Vorgehen hätte dieser Unterschied nicht auftreten dürfen. Es zeigt vielmehr, dass sich die Lerner an Eigenschaften des Singulars, der source, orientieren und die dazu passende Pluralform auswählen, also ein starkes Paar-Schema abbilden. Das Genus wird auch von DaZ-Lernern als Kriterium für die Pluralbildung verarbeitet. Beim Auswahlverfahren hat sich die Unterscheidung zwischen Feminina und Nicht-
Zusammenfassung der Ergebnisse
Feminina nicht in gleicher Weise gezeigt. Dies kann aber auf das Testdesign zurückgeführt werden, das die produktorientierte Strategie begünstigt und ist nicht als Gegenbeleg für die Verarbeitung des Genuskriteriums zu werten. Sowohl im Elizitierungs- als auch im Auswahlverfahren wurde außerdem deutlich, dass die Lerner nicht nur zwischen Feminina und Nicht-Feminina unterscheiden, sondern darüber hinaus in vielen Fällen gerade den Plural bilden/auswählen, der mit dem Singularschema ein starkes Paar-Schema abbildet: Im Elizitierungsverfahren wurden also für monosyllabische Nomen sehr häufig Pluralformen auf -e gebildet, für Items auf Vollvokal sehr häufig Pluralformen auf -s. Dies zeigt, dass die Probanden den Plural nicht rein produktorientiert und unabhängig vom Singularschema bilden, sondern dass sie gerade die Form häufig bilden oder auswählen, die mit dem gegebenen Singularschema ein starkes Paar-Schema abbildet. Diese Strategie ist besonders bei der monolingual deutschsprachigen Kontrollgruppe der dritten und vierten Klassenstufe dominant und nimmt auch bei den Lernern mit DaZ der dritten und vierten Klasse zu. Dies ist erwerbstheoretisch dadurch zu erklären, dass die source-orientierte Strategie erst bei Vorliegen von Paar-Schemata überhaupt möglich ist. PaarSchemata wiederum basieren auf einfachen Schemata, die also vorher abstrahiert worden sein müssen. Deshalb ist die source-orientierte Strategie bei den Probanden mit der längsten Erwerbsdauer (monolingual deutschsprachige Kontrollgruppe der dritten und vierten Klasse) am dominantesten, während bei den DaZ-Lernern gleichen Alters, die eine kürzere Erwerbsdauer aufweisen, auch die produktorientierte Strategie noch sehr dominant ist. Insgesamt hat die Datenanalyse also gezeigt, dass die Lerner sowohl die source- als auch produktorientierte Strategie anwenden, um einen Plural zu bilden, bzw. um die beste Pluralform auszuwählen. Ein morphologisches Modell, aus dem sich nur eine der beiden Strategien ableiten lässt, kann die Daten deshalb nur zum Teil erklären. Der Vorteil des Netzwerkmodells liegt also genau darin, dass in einem theoretischen Ansatz sowohl source- als auch produktorientierte Strategien und auch die lexikalische Strategie erfasst werden können, indem die Existenz von Chunks, einfachen und Paar-Schemata angenommen wird, die im Laufe des Spracherwerbs ausgebildet werden. Die aufgezeigten Unterschiede zwischen den Sprechergruppen bestätigen dabei den angenommenen Erwerbsverlauf von Chunks über die Abstraktion einfacher Schemata hin zur Ausbildung von Paar-Schemata. Die Analyse der metasprachlichen Kommentare der Lerner hat die Existenz der source- und produktorientierten Strategie bestätigt. Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass sowohl Strategien geäußert wurden, die sich durch die Analyse der Daten nicht belegen lassen (Ikonizitätsprinzip) als auch gewisse Strate-
Fazit und didaktischer Ausblick gien nicht geäußert wurden, die aber durch die Datenanalyse belegt werden konnten (Orientierung am Genus und Auslaut des Singulars). Das dritte Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist, dass die Daten der Probanden mit DaZ und der monolingual deutschsprachigen Kontrollgruppen sehr ähnliche Muster aufweisen: Die genannten Strategien sind also keinesfalls spezifisch für Lerner mit DaZ oder für monolingual deutschsprachige Lerner. Dennoch wurde an verschiedenen Stellen deutlich, dass die Ausgangssprachen der Lerner einen Einfluss auf die Verarbeitung des deutschen Numerussystems nehmen. Dabei konnten einige der erstsprachspezifischen Hypothesen bestätigt werden: So wurde deutlich, dass die lexikalische Strategie bei den türkischsprachigen Probanden stärker ausgeprägt ist als bei den russischsprachigen Probanden. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass im Türkischen die Pluralmarkierung am Nomen nicht obligatorisch ist, wenn durch den Kontext deutlich wird, dass es sich um den Plural handelt. Insbesondere bei vorangestellten Mengenangaben oder Zahlwörtern ist deshalb also eine Markierung des Plurals am Nomen selbst nicht notwendig. Dieses Prinzip wird offenbar auf das Deutsche übertragen, was dazu führt, dass die lexikalische Strategie stärker ausgeprägt ist. Beim Auswahlverfahren wurde außerdem deutlich, dass die produktorientierte Strategie bei den türkischsprachigen Probanden stärker ausgeprägt ist als bei den russischsprachigen Probanden: Die türkischsprachigen Lerner haben bei der Auswahl der besten Pluralform deutlich auf die Formen mit der Endung auf -en fokussiert. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es im Türkischen nur eine einzige Pluralgestalt gibt, mit einer phonologisch bedingten Variante. Source-basierte Generalisierungen zur Verknüpfung von verschiedenen Singular- und Pluralschemata sind also im Türkischen nicht notwendig. Dieser Unterschied wurde im Elizitierungsverfahren jedoch nicht deutlich. Insbesondere kann die These, dass die türkischsprachigen Lerner das Genus nicht für die Pluralbildung verarbeiten, als widerlegt gelten. Der Unterschied zwischen den Ergebnissen des Elizitierungs- und des Auswahlverfahrens wird darauf zurückgeführt, dass das Auswahlverfahren stärker zur Anwendung der produktorientierten Strategie verleitet als das Elizitierungsverfahren. Die These, dass Lerner mit türkischer und russischer Ausgangssprache Pluralbildungen mit der sogenannten Nullmarkierung vermeiden, hat sich ebenfalls nicht bestätigt. Einige Lerner äußerten zwar metasprachliche Kommentare, die diese These stützen, in den Pluralbildungen selbst wurde dieses Verhalten aber nicht deutlich. Ein weiterer Unterschied zwischen den Sprechergruppen besteht darin, dass die türkischsprachigen Probanden den Umlaut beim Interpretationsverfahren nicht als Pluralmerkmal verarbeiten und auch beim Elizitierungsverfahren erst ab einer fortgeschrittenen Erwerbsdauer (Klasse drei bis
Didaktischer Ausblick
vier) verwenden. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass grammatische Funktionen im Türkischen nur über Suffixe ausgedrückt werden. Diese Unterschiede zeigen also, dass die Lerner mit Deutsch als Zweitsprache das deutsche Pluralsystem zwar mit den gleichen Strategien verarbeiten, ihr ausgangssprachliches Wissen aber eine Folie darstellt, auf der das deutsche System analysiert und verarbeitet wird.
. Didaktischer Ausblick Aus den empirischen Ergebnissen und der theoretischen Modellierung zum Erwerb der Pluralbildung in der Zweitsprache Deutsch ergeben sich m. E. zwei Anknüpfungspunkte für die Unterrichtspraxis: Zum einen für den Umgang mit Abweichungen von der zielsprachlichen Pluralbildung im regulären Deutschunterricht, zum anderen für die Behandlung dieses Gegenstands im DaZFörderunterricht.
.. Zum Umgang mit Abweichungen von der zielsprachlichen Pluralbildung im Deutschunterricht 131 Der schulische Grammatikunterricht orientiert sich nach wie vor am geschriebenen Standard der deutschen Gegenwartssprache. Der Grund dafür liegt darin, dass die grammatische Kompetenz bei Kindern im Grundschulalter noch nicht voll entwickelt und demzufolge eine Orientierungshilfe notwendig ist. Dies gilt umso mehr für Schüler und Schülerinnen, die Deutsch als Zweitsprache lernen. Sie müssen auf ihrem Weg zur standardsprachlichen Norm besondere Unterstützung erfahren, wie es auch in den Bildungsstandards explizit gefordert wird: Für viele Kinder ist die deutsche Sprache nicht die erste und nicht die Familiensprache. Sie verfügen dadurch z.T. über andere sprachliche Erfahrungen und Kompetenzen als einsprachige Kinder. Der Deutschunterricht sollte dies auch für eine interkulturelle Erziehung aller Kinder nutzen. Bei manchen Kindern mit anderer Herkunftssprache müssen durch entsprechende Fördermaßnahmen Grundlagen für schulisches Lernen in der Unterrichtssprache Deutsch erst gesichert werden (KMK 2004: 6).
131 Dieser Abschnitt ist angelehnt an die Ausführungen in Köpcke & Wecker 2015.
Fazit und didaktischer Ausblick Vor diesem Hintergrund ist zu klären, ob es bei Lernern im Erwerbsprozess didaktisch angebracht ist, jede Abweichung von der Zielsprache zu korrigieren. Wenn dies vermieden werden soll, müssen Kriterien entwickelt werden, anhand derer die Lehrkraft entscheiden kann, in welchen Fällen eine Korrektur angebracht ist. Das Pluralsystem stellt in Teilbereichen selbst monolingual deutschsprachige Sprecher vor Herausforderungen, da es in etlichen Fällen keine eindeutige Norm für die Pluralbildung gibt. Wegener (2003: 125) nennt als einen der „langlebigsten Zweifelsfälle“ die Ersetzung des Nullplurals durch die overten Markierungen -n oder -s, wie sie typischerweise in der regional gefärbten Umgangssprache auftreten, vgl. die Onkels neben die Onkel, die Mädels neben die Mädel etc. Mit Köpcke (2011) kann man deshalb annehmen, dass es neben einer Menge sprachlicher Strukturen, die von Sprechern zweifelsfrei als akzeptabel und grammatisch klassifiziert werden (Hunde, Bälle etc.) und einer zweiten Menge an sprachlichen Strukturen, die die Sprecher einmütig als inakzeptabel und ungrammatisch klassifizieren würden (Hunden, Balls), eine dritte Menge sprachlicher Strukturen gibt, für die nur mehr oder weniger große Akzeptabilität und Grammatikalität gilt (Onkels, Mädels). Statt einer strikten Dichotomie zwischen normgerechten und nicht normgerechten Sprachformen ist also eher die Annahme eines Kontinuums gerechtfertigt, in dem abnehmende Akzeptabilitätsgrade zwischen den beiden Polen ‚normgerecht‘ und ‚nicht normgerecht‘ vermitteln. Bereits auf dieser Ebene ist die Lehrkraft vor Herausforderungen gestellt und kann begründete Korrekturentscheidungen im Prinzip nur dann treffen, wenn sie profunde Kenntnisse über das Pluralsystem und über aktuelle Wandeltendenzen hat. In Bezug auf DaZ-Lerner im Grundschulalter stellt sich das Problem des Umgangs mit Abweichungen von der grammatischen Norm auf einer anderen Ebene. Pluralbildungen wie Äpfels, Messers, Büchers, Hammern, Hammers 132 stellen keine mehr oder weniger akzeptierten Varianten dar, sondern würden von kompetenten Deutschsprechern einmütig zu der Menge der sprachlichen Strukturen gezählt werden, die nicht grammatisch und nicht akzeptabel sind. Aus sprachdidaktischer Sicht muss vor diesem Hintergrund gefragt werden, wie ein reflektierter und angemessener Umgang der Lehrkraft mit diesen Abweichungen von der Norm aussehen könnte. Zunächst einmal wird von ihr erwartet, dass sie ihre Schüler hinsichtlich der Ausprägung einer sprachlichen Norm 132 Diese Plurale wurden im Rahmen der Elizitierung von Pluralformen zu existierenden Nomen geäußert, bei der die Kinder benennen sollten, was sie auf einem Bild sehen, vgl. Kapitel 3.2.2.
Didaktischer Ausblick
an die geschriebene Standardsprache orientiert. Die Lehrkraft sieht sich hier in der Pflicht, bei jeder Verletzung einer Norm korrigierend einzugreifen, vor allem, wenn diese Fehler schriftsprachlich produziert werden. Dabei ist es jedoch mehr als fraglich, ob es bei Kindern mit DaZ tatsächlich didaktisch sinnvoll ist, Abweichungen von der Zielsprache unterschiedslos und prinzipiell zu korrigieren. In der Fremd- und Zweitsprachendidaktik werden Grammatikfehler längst als Diagnosefenster und als Etappen auf dem Weg zur Zielsprache angesehen und dementsprechend auch nicht prinzipiell korrigiert, wie die folgende Empfehlung zeigt: Fehler sind normaler, unvermeidlicher Bestandteil der sich entwickelnden Sprache und Zeichen des individuellen Lernfortschritts. Sie bedürfen der fachlichen Analyse nach Art und Veränderung des Sprachstandes, um daraus Hilfen zur Verbesserung des persönlichen Ausdrucks zu entwickeln. Die Lehrkräfte greifen dabei beratend und helfend ein, ohne jedoch ständig zu korrigieren (Senatsverwaltung Berlin 2002: 10).
Die Analyse der Daten hat gezeigt, dass DaZ-Lerner im Umgang mit dem deutschen Pluralsystem einfache und Paar-Schemata ausbilden und dementsprechend bei der Pluralbildung produkt- und source-orientierte Strategien nutzen. Pluralbildungen, die im Rahmen des Elizitierungsverfahrens produziert wurden und nicht den strukturalistisch beschriebenen Regularitäten des deutschen Pluralsystems entsprachen, konnten in vielen Fällen auf die produktorientierte Strategie zurückgeführt werden oder, in früheren Erwerbsphasen, auf die lexikalische Strategie (vgl. Abschnitt 3.2.2). Dieses Ergebnis zeigt sich auch bei der Analyse von Pluralbildungen zu existierenden Nomen (vgl. Köpcke & Wecker 2015). Von der zielsprachlichen Norm abweichende Pluralbildungen sind also nicht willkürlich, sondern folgen einer Systematik, die auf die ermittelten Erwerbsstrategien zurückzuführen ist. Konkret bedeutet das, dass Lerner zunächst dazu neigen, Pluralformen nicht morphologisch, sondern lexikalisch zu markieren, z.B. *viele Apfel. In der darauf folgenden Erwerbsphase ersetzen sie zielsprachliche Pluralformen bzw. bei Kunstwörtern regelhafte Pluralformen 133, wenn sie eher schwache Schemata abbilden, häufig durch Pluralformen, die starke Schemata repräsentieren. So wurden im Elizitierungsverfahren (vgl. Abschnitt 3.2.2) bspw. zu monosyllabischen Maskulina und Neutra recht häufig Pluralformen auf -en gebildet, statt, wie regelhaft zu erwarten gewesen wäre, 133 In Bezug auf das Elizitierungsverfahren, in dem mit Kunstwörtern gearbeitet wurde, kann man natürlich nicht von normgerechten oder nicht normgerechten Pluralbildungen im engeren Sinne sprechen. Gemeint sind hiermit Pluralbildungen, die nicht den strukturalistisch beschriebenen Regularitäten entsprechen.
Fazit und didaktischer Ausblick auf -e. Wie der Vergleich der verschiedenen Lernergruppen (DaZ-Lerner der ersten und zweiten Klasse, DaZ-Lerner der dritten und vierten Klasse, DaMLerner der ersten und zweiten Klasse, DaM-Lerner der dritten und vierten Klasse) gezeigt hat, werden die Strategien, die nicht unbedingt zur normgerechten Pluralbildung führen, im Laufe des Spracherwerbs weniger relevant und zunehmend von der source-orientierten Strategie abgelöst, die vermehrt zu den regulär erwartbaren Pluralformen führt. Man kann die Ergebnisse des Kunstwörtertests sicherlich nicht eins zu eins auf den Umgang mit realen Nomen übertragen, da in diesem Falle die Tokenfrequenz der Singular- und Pluralformen eines Nomens eine entscheidende Rolle für dessen Verarbeitung spielt. Pluralformen, die als nicht regulär gelten, wie z.B. Formen auf -er, werden z.B. häufig schon früh korrekt produziert, da die Nomen, an denen sie auftreten, oft hochfrequent sind (Kinder, Eier etc.) (vgl. Flagner 2008). Nichtsdestotrotz ist anzunehmen, dass die identifizierten Strategien auch beim Umgang mit realen Nomen eingesetzt werden, wenn die Pluralform nicht bereits holistisch gespeichert wurde. 134 Deshalb kann vorausgesagt werden, dass Pluralbildungen, die von der Norm abweichen, weil die Lerner entweder noch keine Schemata für die Pluralbildung abstrahiert haben (lexikalische Strategie) oder sich an einfachen Schemata orientieren (produktorientierte Strategie), auf einen normalen Erwerbsprozess schließen lassen und einen Einblick in den Entwicklungsstand geben können. Aus Studien zum Erwerb anderer grammatischer Bereiche, allen voran der Verbstellung, ist bekannt, dass die Reihenfolge, in der Erwerbsphasen im Zweitoder Fremdsprachenerwerb durchlaufen werden, auch durch gezielte Instruktion im Unterricht kaum zu verändern ist (vgl. Diehl u.a. 2000, Pienemann 1984). Im Hinblick auf das Korrekturverhalten von Lehrkräften bedeutet dies: Normabweichende Äußerungen, die auf eine bestimmte Erwerbsphase oder, wie hier gezeigt, auf eine bestimmte Erwerbsstrategie zurückzuführen sind, sollten nicht sanktioniert werden. Dies wäre nicht nur wenig sinnvoll, sondern kann kontraproduktiv wirken, da die Gefahr besteht, Lernern ihre Motivation zu rauben und sie zu entmutigen. Es sollte vielmehr bedacht werden, dass diese Normabweichungen Anzeichen dafür sind, dass sich der Lerner das grammatische System erschließt und die Abweichungen deshalb wichtige Etappen auf dem Weg zur sprachlichen Norm darstellen. Diehl u.a. (2000: 382) plädieren diesbezüglich für eine „realistischere Evaluierung: […] Es scheint uns sinnlos, Schülerleistungen negativ zu beurteilen wegen Fehlleistungen, die sie nach erwerbsmässigem
134 Dies wird in Köpcke & Wecker 2015 gezeigt.
Didaktischer Ausblick
Ermessen gar nicht vermeiden können“. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass, wie gezeigt wurde, keine der Strategien im Spracherwerb vollständig aufgegeben wird. Auch bei den monolingual deutschsprachigen Probanden der dritten und vierten Klasse wurde die produktorientierte Strategie deutlich und selbst bei erwachsenen Sprechern des Deutschen ist sie nachzuweisen (Köpcke 1993). Schließlich gilt es, erstsprachenspezifische Herausforderungen zu berücksichtigen. Wie sich gezeigt hat, erkennen und verwenden die Probanden mit türkischer Ausgangssprache den Umlaut später als Pluralmarkierung als die Probanden mit russischer Ausgangssprache. Dies kann auf ihre Erstsprache zurückgeführt werden, in der grammatische Funktionen durch Suffixe ausgedrückt werden, nicht durch Stammveränderung. Für Lerner mit türkischer Erstsprache ist es deshalb eine größere Herausforderung als für Lerner mit russischer Erstsprache, den Umlaut als Pluralmarkierung zu erkennen und einzusetzen. Lehrkräfte sollten solche Abweichungen von der Norm möglichst verstehen und einordnen können. Sie sollten sie nicht als Fehler, sondern als motivierte Entwicklungsschritte auf dem Weg zur standardsprachlichen Norm erkennen und sie deshalb tolerieren. Eine strikte Sanktionierung dieser Abweichungen ist weder aus sprachdidaktischer noch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sinnvoll. Stattdessen können solche nicht zielsprachlichen Pluralbildungen ein willkommener Anlass zur Reflexion über dieses sprachliche Teilsystem sein. Eine Möglichkeit wäre dabei auch, die Pluralbildung sprachkontrastiv, unter Einbeziehung der Herkunftssprachen zu thematisieren. 135
.. Plural als Unterrichtsgegenstand in der DaZ-Förderung Im regulären Deutschunterricht wird die Pluralbildung kaum so behandelt, dass es den DaZ-Lernern bei der Erschließung und dem Erwerb dieses grammatischen Teilsystems helfen würde. Ein Blick in Sprachbücher der Grundschule zeigt, dass im Hinblick auf die Kategorie Numerus folgende Aspekte thematisiert werden: Nomen können im Singular und Plural stehen (in der SprachbuchTerminologie Einzahl und Mehrzahl), die Artikelform im Plural lautet die, einige Nomen verändern im Plural nicht ihre Form (Nullplural), einige Nomen lauten im Plural um (vgl. die Sprachbücher Bausteine, Jo-Jo und Mobile für die zweite Klassenstufe). Übungen, die typischerweise angeboten werden, sind solche, in denen die Schüler Nomen im Singular und Plural aufschreiben oder Nomen, die 135 Ein ausgearbeitetes Konzept zur sprachvergleichenden Erarbeitung der Pluralbildung im Türkischen und Deutschen hat Schönenberg (2010) vorgelegt.
Fazit und didaktischer Ausblick im Singular und Plural vorgegeben werden, einander zuordnen sollen. Darüber hinaus finden sich vereinzelt Übungen, in denen erkannt werden muss, ob es sich bei einer Wortform um ein Nomen im Singular oder Plural handelt oder in denen Singular- und Pluralformen gegenübergestellt und miteinander verglichen werden sollen. Eine für DaZ-Lerner systematisch angelegte Erarbeitung der verschiedenen Pluralmarker oder Pluralschemata sowie Regularitäten der Zuweisung von Pluralmarker zu Nomen (oder Paar-Schemata) wird nicht angeboten. 136 Im DaZ-Unterricht hingegen ist die Pluralbildung, die in DaZ-Handreichungen immer auch als Stolperstein benannt wird (vgl. z.B. Rösch 2001: 22), ein typischer Unterrichtsgegenstand. Im Sprachbuch der die das, das explizit (auch) für die Bedürfnisse von DaZ-Lernern konzipiert ist, findet sich dementsprechend ein etwas differenzierterer Umgang mit der Pluralbildung: Die verschiedenen Möglichkeiten der Pluralbildung werden hier explizit erarbeitet und in tabellarischer Form festgehalten. In vielen Fördermaterialien für den DaZUnterricht steht weniger die systematische Erarbeitung als vielmehr die Memorierung einzelner Pluralformen im Vordergrund, was z.B. durch Memory-Spiele erreicht werden soll, in denen Singular-Plural-Paare gefunden werden müssen. In den Fördermaterialien Kiras Lernwelt (Cornelsen) bspw., die für die DaZFörderung im Anfangsunterricht der Grundschule konzipiert sind, wird die Pluralbildung mehrmals thematisiert. Im Zusammenhang mit verschiedenen inhaltlichen Themen werden die Pluralformen der für den jeweiligen Inhalt kommunikativ relevanten Nomen fokussiert, offenbar mit dem Ziel der Memorierung der Formen durch die Lerner. Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse dieser Studie wird für eine systematischere Herangehensweise plädiert, in der die identifizierten Strategien (produkt- und source-orientiert) berücksichtigt werden. Das Vorgehen, Pluralformen memorieren zu lassen, bildet aus Erwerbsperspektive einen sinnvollen Ausgangspunkt. Wie gezeigt wurde, abstrahieren Lerner aus holistisch gespeicherten komplexen Wortformen Schemata, die mit den grammatischen Funktionen Singular oder Plural assoziiert werden. Holistisch gespeicherte Pluralformen bilden also die Voraussetzung dafür, dass Pluralschemata überhaupt abstrahiert werden können. Im Einklang mit dem Erwerbsprozess, der über die Ausbildung von einfachen Schemata hin zur Verknüpfung dieser einfachen Schemata zu Paar-Schemata verläuft, sollte es in einem ersten Schritt darum gehen, die Abstraktion von Pluralschemata zu fördern. Dazu sollten die Plural 136 Das heißt nicht, dass es nicht vereinzelt Lehrkräfte geben mag, die dies trotzdem tun – den Regelfall wird es aber sicherlich nicht darstellen.
Didaktischer Ausblick
formen, die zu memorieren sind, jedoch gezielter ausgewählt werden, als es bislang in den meisten Materialien der Fall ist. Dabei gilt es zu beachten, dass DaZ-Lerner, im Unterschied zu (typischen) DaF-Lernern, im Alltag von der Zielsprache umgeben sind. Es ist deshalb damit zu rechnen (und dies wird auch durch die Untersuchungsergebnisse bestätigt), dass die Lerner sehr valide Pluralschemata ohnehin, d.h. auch ohne gezielte Förderung, ausbilden. In der DaZFörderung sollte man sich deshalb darauf konzentrieren, weniger valide Pluralschemata zu stärken, indem die zu memorierenden Nomen gezielt danach ausgewählt werden, dass sie wenig valide Pluralschemata abbilden. Andere Kriterien wie die kommunikative Notwendigkeit der Nomen sollten dabei natürlich nicht völlig außer Acht gelassen werden. Es ist aber möglich, solche Nomen auszuwählen, die beiden Kriterien gerecht werden. Durch die Memorierung von Pluralformen, die wenig valide Pluralschemata abbilden, kann in einem ersten Schritt der Aufbau von einfachen Schemata unterstützt werden. Dies muss nicht rein implizit erfolgen. Es kann durchaus sinnvoll sein, mit den Lernern zusätzlich induktiv zu erarbeiten, welche verschiedenen Pluralgestalten es im Deutschen gibt, so dass das bereits in Teilen vorhandene implizite Wissen durch explizites Wissen gestützt und ausgebaut werden kann. Ansätze, die in diese Richtung gehen, sind bspw. die Sortierung von Nomen im Plural nach ihren Endungen, wie es z.B. im Sprachbuch der die das für Klassenstufe drei (S. 23) vorgeschlagen wird. Wie Diehl (2000: 49) schreibt, ist die Vermittlung expliziten Wissens wahrscheinlich dann hilfreich, „wenn es zum ‚richtigen Zeitpunkt‘ vermittelt wird, d.h. dann, wenn der Lerner sich in der entsprechenden Erwerbsphase befindet, in der er für das vermittelte Regelwissen empfänglich ist, wenn also die erwerbsmässigen Voraussetzungen gegeben sind“. Wenn die Lerner sich in der Phase befinden, in der sie bei der Pluralbildung dominant die produktorientierte Strategie anwenden, so kann die explizite Formulierung der im Deutschen existierenden Pluralgestalten also eine Hilfe darstellen, auch die weniger validen Pluralschemata zu erwerben. Der Ausbau einfacher Schemata ist bei der Behandlung der Pluralbildung also der erste Schritt, der nicht übersprungen werden sollte, um zu gewährleisten, dass sich die Instruktion an den natürlichen Erwerbsprozessen orientiert. In einem zweiten Schritt sollte es dann darum gehen, Paar-Schemata auszubauen, so dass die Zuordnung von Singular- und Pluralform zielsprachlich erfolgen kann. Dieser Aspekt wird in den mir bekannten Materialien für den DaZUnterricht gar nicht berücksichtigt, vermutlich weil die Autoren die Überforderung der Lerner befürchten. Dem ist zu entgegnen, dass zunächst einmal keine abstrakte Formulierung von Regeln stattfinden sollte. Vielmehr sollte auch auf dieser Ebene zunächst implizit der Aufbau von Schemata unterstützt werden,
Fazit und didaktischer Ausblick indem z.B. viele Singular-Plural-Paare memoriert werden, die einem bestimmten Paar-Schema entsprechen. Ebenso wie bei den einfachen Schemata sollte auch an dieser Stelle der Fokus auf denjenigen Paar-Schemata liegen, die weniger stark sind. Starke Paar-Schemata, wie bspw. das, das Singularformen auf Schwa mit Pluralformen auf -en miteinander verbindet, werden aufgrund des sprachlichen Inputs außerhalb der Förderstunden wahrscheinlich auch von alleine ausgebildet, ohne dass es einer gezielten Förderung bedarf. Auch hier bietet es sich zu gegebener Zeit an, die vorhandenen Paar-Schemata explizit zu machen, um den Erwerbsprozess zu fördern. Ein anderer Punkt, der bei der DaZ-Förderung zu berücksichtigen ist, ist die Ausgangssprache der Lerner. Wie sich gezeigt hat, liegen zwar bei allen Lernergruppen die gleichen Strategien im Umgang mit dem Pluralsystem vor, aber es gibt dennoch kleine Unterschiede. Der wichtigste Unterschied, der sich über die verschiedenen Erhebungsmethoden hinweg gezeigt hat, ist, dass die Probanden mit türkischer Ausgangssprache den Umlaut später als die Probanden mit russischer Ausgangssprache als Pluralmarkierung erkennen. Vor diesem Hintergrund kann eine sprachvergleichende Behandlung des Pluralsystems, in dem die zentralen Charakteristika der Pluralbildung in den beteiligten Sprachen herausgearbeitet werden, eine sinnvolle Unterstützung des Lernprozesses darstellen.
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Index agglutinierend 27, 80 Ähnlichkeitsbeziehung 40f., 59, 61 Allomorph 9, 18, 21 Analogie 49, 53f., 59, 84, 160, 163 Artikel 7, 11, 41, 44, 64ff., 84, 93, 98ff., 106ff., 111, 121, 132, 160, 163f. assoziatives Netzwerk 24f., 40f., 52f., 56f., 59, 61 Ausgangssprache 69, 176 – Einfluss 73ff., 87, 168 Ausnahme 14ff., 21, 25f., 32, 48f., 51 Behaviorismus 24, 73 Belebtheit 145f., 149 Beobachtung 91ff., 96 Beschränkungen 36ff. – Markiertheitsbeschränkungen 36ff. – Treuebeschränkungen 36ff. Bildimpuls 94, 110f. Chunks 18, 47, 53, 95, 164, 167 Competition Model 42 C-Test 89 DaZ-Förderung 169, 173ff. decision task 93 Default 18, 21ff., 26, 136 Derivationssuffix 12, 14, 52 Dual-Mechanism-Model 20ff., 53, 136, 142, 162, 166 Elizitierung 92, 94ff., 99, 109ff., 115, 117, 144f., 147, 152, 154ff., 164ff., 170f. en-Plural 7ff., 18f., 22, 26, 29ff., 42ff., 54, 58, 65, 72, 80, 87, 113f., 117ff., 124ff., 129, 132ff., 141f., 145f., 148ff., 154ff., 158f., 165f., 168, 170f., 176 e-Plural 7ff., 18f., 22, 26, 29, 31, 33f., 42ff., 72, 113f., 117ff., 133ff., 138f., 141f., 144ff., 149f., 152f., 155, 159, 165ff., 172 er-Plural 7ff., 15f., 18f., 29, 34, 43f., 54, 85, 114, 116ff., 126, 132ff., 138f., 141f., 166, 172 Erstsprache 19, 69, 88
Erwerbsdauer 86, 91, 95, 104f., 108, 114, 119, 122, 124ff., 136f., 141ff., 164, 166ff. Experiment 92ff. Femininum 10ff., 22f., 29ff., 43, 55, 67ff., 79, 85, 106, 113, 116, 120, 122, 127ff., 134ff., 141f., 148, 152, 154ff., 165ff. Flexionsklasse 16, 28ff., 34, 37f. – instabil 29 – stabil 29 Fossilisierung 75 Fremdsprache 10, 69f. fusionierend 78 Gestalt 5, 35, 38, 41f., 45ff., 52, 56ff., 60, 106f., 109f., 115, 119, 121, 125, 129, 131, 139, 142, 155, 158, 164ff., 168, 175 Grundformflexion 28f., 137 holistisch 5, 19, 25, 40f., 51f., 59f., 64, 83, 95f., 143, 163, 172, 174 Identitätshypothese 74 ikonisch 28, 32, 42 Ikonizität 32, 38, 42f., 67, 123, 152f., 159f., 165, 167 Input 1 36f., 110 Input 2 6, 24f., 51, 53, 61, 71, 74, 76f., 89 Interlanguage-Hypothese 74f. irregulär 21ff., 25f., 41, 85, 142, 162 Item-and-Arrangement 5 Item-and-Process 5 Kognitive Grammatik 46, 52 Konstruktion 46ff., 51 konstruktioneller Ikonismus 27 Konstruktionsgrammatik 45ff., 51f. Kontrastivhypothese 73 Kunstwörter 18f., 25, 54f., 95ff., 109ff., 122, 136, 141, 144, 147f., 163, 171f. Markiertheit 15f., 19, 27f., 32 – markiert 13, 15f., 19, 27ff., 32, 39, 137, 142, 162
Index – unmarkiert 15f., 19, 28ff., 32, 34f., 39, 134, 155, 162, 166 Maskulinum 7, 10ff., 18, 29, 31, 33f., 52, 60, 65, 67f., 79, 85, 113f., 116, 124f., 133, 149, 152, 165, 171 – schwache Maskulina 12, 43 mentale Repräsentation 17, 20f., 26, 32 monosyllabisch 11ff., 29, 34, 57f., 60f., 65ff., 84f., 103ff., 107f., 112f., 117f., 120ff., 126ff., 131ff., 142, 144f., 148f., 151ff., 159, 164f., 167, 171 Morphem 9, 41, 46f., 51 Natürlichkeitstheorie 26, 31f., 34, 38f., 43, 56, 68, 123, 134, 142, 152, 155, 162, 166 Netzwerkmodell 40, 56, 59, 76, 163, 167 Neutrum 7, 10ff., 31, 67ff., 79, 85, 113f., 116, 124f., 133, 149, 152, 165, 171 Nicht-Femininum 13, 15f., 18, 22, 84, 113, 116, 120, 122ff., 129ff., 141f., 144, 148f., 151f., 154ff., 164ff. Norm 73, 169ff. Nullplural 7ff., 17f., 32f., 37, 41, 55, 80, 83, 87, 92, 113f., 117ff., 127ff., 131f., 134f., 141, 143, 145f., 149f., 164f., 168, 170, 173 Optimalitätstheorie 35ff., 56, 163 Prinzip der Konventionalität 46 Prinzip der Nicht-Kompositionalität 46 Prinzip der präferenten Flexionsklassenzugehörigkeit 29, 60 Prinzip der Systemangemessenheit 28 Produktivität 11, 30ff., 51, 60 – produktiv 30f., 134, 142, 155, 162, 166 – schwach produktiv 30f. – voll produktiv 30f., 33 produktorientiert 5f., 35, 38, 45, 55f., 58, 60, 83ff., 93, 95, 113f., 116, 119ff., 125ff., 129ff., 134f., 137ff., 141ff., 148, 151ff., 160, 162ff., 171ff., 175 Profilanalyse 89 Prototyp 44 prototypisch 5, 11f., 42, 45, 52, 54f., 58, 65 Pseudosuffix 13, 52, 84, 113, 165
Regel 5, 10, 14f., 17ff., 21f., 24ff., 30ff., 34f., 41, 45f., 52, 54f., 59, 61, 113, 162f., 175 regulär 20ff., 25f., 31, 41, 136, 155, 162, 166, 172 Salienz 42f., 67, 82 Schema 5f., 25, 41ff., 50, 52ff., 64ff., 76, 79, 83f., 86f., 93, 99ff., 103f., 106ff., 113, 121f., 124ff., 130, 132, 135f., 138, 141ff., 148, 151, 154f., 162ff., 167, 171f., 174 – einfaches Schema 58, 61f., 65, 77, 83f., 86, 105, 143, 163f., 166f., 171f., 174f. – first-order Schema 58 – Paar-Schema 58ff., 67ff., 77, 82ff., 93, 105, 108f., 113, 116, 119ff., 129, 131ff., 141ff., 151f., 154ff., 158, 163ff., 171, 174,175 – second-order Schema 58 Schema-Modell 39, 45, 47, 56, 83, 109, 162 Schwa 126ff., 138f. Segmentierung 9, 18f., 40, 51f., 63, 104f., 108, 139, 142, 151, 153, 166 Signalstärke 42ff., 67 source-orientiert 5, 35, 38, 45, 56, 58ff., 69, 79, 83ff., 93, 95, 105, 113ff., 119ff., 124, 126, 131ff., 141ff., 148f., 151f., 154ff., 160ff., 171f., 174 s-Plural 7ff., 12f., 15, 18f., 21ff., 25f., 29ff., 43f., 65, 72, 113f., 117ff., 124f., 132f., 136f., 139, 141f., 162, 166f., 170 Sprachbewusstheit 157 Spracherwerb 5f., 17ff., 23ff., 29f., 32f., 35, 37ff., 52ff., 59, 69, 83, 85f., 125, 162, 167, 172f. – bilingual 70f., 77 – Erstspracherwerb 26, 54, 59, 69ff., 75ff., 80ff., 121, 126 – gebrauchsbasierter Ansatz 6, 39, 52ff., 56, 59, 76f., 86, 163 – gesteuert 70, 76 – logisches Problem 24 – nativistischer Ansatz 23f., 53, 74 – prämorphologische Phase 53 – sukzessiv 70 – ungesteuert 70 – Zweitspracherwerb 18, 26, 54, 59, 69ff., 121, 126, 172 Sprachstand 88f.
Index
Sprachwissen 51f. – explizit 159 – implizit 157, 159 Stammflexion 28f., 115, 137f., 142 Strategie 19, 32, 55f., 59f., 72f., 77, 83ff., 93, 95f., 113ff., 119ff., 124ff., 129ff., 141ff., 148f., 151f., 154ff., 160, 163ff., 171ff. Strukturalismus 5f., 9, 14, 17, 20ff., 26, 31, 34, 37ff., 41, 56, 68, 83, 85, 104, 139, 142, 155, 162, 166, 171 think-aloud protocol 145 Tokenfrequenz 22, 42ff., 54, 61, 63, 172 Transfer 73ff. Transparenz 27, 82 Typefrequenz 12, 22, 42f., 54, 60f., 63, 66 Übergeneralisierung 19, 25f., 33, 54, 72
Umlaut 7ff., 15f., 29ff., 33ff., 42ff., 53, 65, 67f., 78f., 83, 87, 93, 99ff., 106ff., 113ff., 120, 130f., 144ff., 149ff., 164, 168, 173, 176 Uniformität 27f., 82 Universalgrammatik 24 Valenztheorie 47, 49 Validität 42ff., 60f., 66f., 80, 84, 87, 93, 99ff., 103ff., 113, 120f., 124ff., 130, 132, 134ff., 141ff., 145, 148, 151ff., 163ff., 175 Vokalharmonie 21, 80, 82 Vollvokal 11, 13, 15, 22, 68, 84, 113ff., 120, 122, 126ff., 132, 136f., 141f., 145, 165ff. Wortbildung 49ff. Zweitsprache 69ff., 73ff., 89, 169
Anhang Tab. 20: Produktiver Wortschatz im Grundschulalter. Zusammenstellung aus Pregel & Rickheit (1987) Auslaut
Genus
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
-chen
N
Häuschen
-ø 137
Kaninchen
-ø
Mädchen
-ø
Schwesterchen
-ø
Meerschweinchen -ø
Erde
-
Augenbraue
-n
Backe Beule
-e
F
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
-n
-n
Blume
-n
Cousine
-n
Decke
-n
Ecke
-n
Farbe
-n
Flasche
-n
Hexe
-n
Hose
-n
Katze
-n
Kette
-n
Kiste
-n
Klasse
-n
Krone
-n
Küche
-n
137 Für Nomen, die den Plural mit -ø bilden, werden keine Angaben zum Auftreten im CelexKorpus gemacht, da aufgrund der Formengleichheit nicht entscheidbar ist, ob es sich um Singular- oder Pluralformen handelt.
Anhang
Auslaut
-e
Genus
M
-e
N
-el
F
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Kurve
-n
Lampe
-n
Leine
-n
Lippe
-n
Mütze
-n
Nase
-n
Pfote
-n
Puppe
-n
Rose
-n
Sache
-n
Schlange
-n
Schleife
-n
Schule
-n
Seite
-n
Spange
-n
Spitze
-n
Stange
-n
Straße
-n
Strumpfhose
-n
Stunde
-n
Tante
-n
Tasse
-n
Wiese
-n
Woche
-n
Zunge
-n
Zipfelmütze
-n
Affe
-n
Hase
-n
Junge
-n
Löwe
-n
Auge
-n
Ende
-n
Schaukel
-n
Troddel
-n
Anhang
Auslaut
Genus
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
-el
M
Bommel
-ø
Igel
-ø
Onkel
-ø
Teufel
-ø
Zipfel
-ø
Vogel
UL
Kragen
-ø
Kuchen
-ø
Rücken
-ø
Streifen
-ø
Wagen
-ø
Krankenwagen
-ø
Morgen
-ø
Puppenwagen
-ø
Boden
UL
Garten Graben
-en
-en
-er -er
M
N
F M
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
UL
UL
Fernsehen
-
Essen
-ø
Weihnachten
-ø
Mutter
UL
Schwester
-n
Bauer
-n
Finger
-ø
Kasper
-ø
Kater
-ø
Keller
-ø
Meter
-ø
Pullover
-ø
Ritter
-ø
Roller
-ø
Sommer
-ø
Teller
-ø
Winter
-ø
Anhang
Auslaut
-er
-in
Genus
N
F
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Bruder
UL
Vater
UL
Futter
-
Wasser
-
Fenster
-ø
Pflaster
-ø
Freundin
-en
Königin Prinzessin
-en
-en
Unspez.
F
Polizei
-
Unspez.
M
Abend
-e
Urlaub
-e
Besuch
-e
Käfig
-e
König
-e
Zirkus
-e
Doktor
-en
Elefant
-en
Nachbar
-n
Cousin
-s
Unfall
UL + -e
Verband
UL + -e
Krokodil
-e
Gesicht
-er
Gewand
UL + -er
Mark
-
Milch
-
Schuld
-
(Auto)bahn
-en
(Eisen)bahn
-en
Frau
-en
Stirn
-en
Tür
-en
Uhr
-en
Unspez.
Monosyll.
N
F
Anhang
Auslaut
Monosyll.
138 Bänke 139 Banken
Genus
M
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Zeit
-en
Angst
UL + -e
Hand
UL + -e
Kuh
UL + -e
Maus
UL + -e
Nacht
UL + -e
Bank
UL + -e/en
138/ 139
Dreck
-
Sand
-
Schnee
-
(Mit)tag
-e
(Ohr)ring
-e
(Sonn)tag
-e
(Geburts) tag
-e
Arm
-e
Berg
-e
Bus
-e
Fisch
-e
Freund
-e
Hirsch
-e
Hund
-e
Punkt
-e
Schuh
-e
Stein
-e
Tag
-e
Tisch
-e
Weg
-e
Witz
-e
Herr
-en
Mensch
-en
Anhang
Auslaut
Monosyll.
Genus
N
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Ski
-er
Clown
-s
Schal
-s
Zoo
-s
Draht
UL + -e
(Fuß)ball
UL + -e
(Schnurr) bart
UL + -e
Arzt
UL + -e
Ball
UL + -e
Bart
UL + -e
Bauch
UL + -e
Baum
UL + -e
Fuß
UL + -e
Hals
UL + -e
Hof
UL + -e
Kopf
UL + -e
Rock
UL + -e
Schrank
UL + -e
Schwanz
UL + -e
Spaß
UL + -e
Stall
UL + -e
Stock
UL + -e
Stuhl
UL + -e
Wolf
UL + -e
Zahn
UL + -e
Zaun
UL + -e
Zug
UL + -e
Mann
UL + -er
Mund
UL + -er
Rand
UL + -er
Wald
UL + -er
Geld
-
Eis
-
Heu
-
Anhang
Auslaut
140 Dinge 141 Dinger
Genus
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Zeug
-
Bein
-e
Brot Haar
-e
-e
Jahr
-e
Kinn
-e
Knie
-e
Pferd
-e
Reh
-e
Schiff
-e
Schwein
-e
Stück
-e
Tier
-e
Zelt
-e
Ding
-e/-er
140/ 141
Bett
-en
Hemd
-en
Ohr
-en
Brett
-er
Ei
-er
Feld
-er
Kind
-er
Kleid
-er
Licht
-er
Nest
-er
(Fahr)rad
UL + -er
(Kranken)haus
UL + -er
Band
UL + -er
Blatt
UL + -er
Buch
UL + -er
Anhang
Auslaut
Nomen
Pluralmarker
Anzahl (Pregel & Rickheit)
Anzahl Celex Sg.
Anzahl Celex Pl.
Dach
UL + -er
Glas
UL + -er
Gras
UL + -er
Haus
UL + -er
Horn
UL + -er
Huhn
UL + -er
Loch
UL + -er
Rad
UL + -er
Tuch
UL + -er
Kaffee
-
Opa/Opi
-s
Papa/Papi
-s
Vati
-s
Auto
-s
Pony
-s
Mama/Mami
-s
Mutti
-s
Oma/Omi
-s
Pluraletantum
Ferien
-
Pluraletantum
Leute
-
Gesamt
Pluraliatantum
Singulariatantum
-VV
-VV -VV
Genus
M
N F
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
2 Anhang
Anhang
NARX
NARX
KET
2
3
1
NRS
3
2
NRS
KAM
1
2
KAM
3
KAM
RAIX
2
NRS
RAIX
1
1
RAIX
2
3
CAR
CAR
1
KET
NOS
3
KET
NOS
2
3
NOS
1
2
R3-4
NOF
2
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
R3-4
Gruppe
Test Proband
U+e
e
e
e
U+e
e
e
e
e
e
n
U+e
e
U+er
e
e
e
n
n
n
e
er
e
n
n
U+er
n
n
U+e
n
U+er
U+er
U+e
U+e
e
e
e
n
e
s
e
e
e
n
U+e
n
n
n
n
n
e
-
U+e
n
e
n
e
e
n
n
ø
n
ø
n
n
n
n
n
n
s
-
er
ø
s
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n
n
n
n
N
F
N
M
-e
monosyll.
ø
n
ø
n
U
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n
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U
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n
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n
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F
ø
ø
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n
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s
N
-el
ø
ø
ø
n
n
n
n
n
n
n
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M
n
n
n
n
U
n
n
n
n
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n
ø
ø
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n
F
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ø
ø
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n
n
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n
n
n
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N
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n
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ø
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ø
ø
U
ø
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s
s
M
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s
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n
ø
n
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ø
U
ø
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ø
n
n
n
F
ø
ø
ø
ø
ø
ø
ø
n
n
s
s
s
-
ø
ø
ø
ø
s
ø
ø
N
-en
ø
ø
ø
-
ø
ø
n
n
n
s
ø
U
U+e
s
e
e
ø
ø
s
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M
s
s
s
s
s
e
s
s
s
s
-
s
s
s
s
-
s
s
s
s
N
-VV
s
s
ø
n
n
n
s
n
n
s
-
er
er
s
e
er
n
n
s
s
M
s
s
s
n
n
e
s
s
n
s
s
s
s
s
e
e
n
n
s
s
F
4 Anhang
Anhang 5
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang
Anhang