Straftatbegriff und Diskurstheorie: Eine Untersuchung zu Grund und Grenzen staatlicher Strafgewalt [1 ed.] 9783737013734, 9783847113737


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German Pages [209] Year 2022

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Straftatbegriff und Diskurstheorie: Eine Untersuchung zu Grund und Grenzen staatlicher Strafgewalt [1 ed.]
 9783737013734, 9783847113737

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Schriften des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien

Band 12

Herausgegeben von Arndt Sinn

Simon Maly

Straftatbegriff und Diskurstheorie Eine Untersuchung zu Grund und Grenzen staatlicher Strafgewalt

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5367 ISBN 978-3-7370-1373-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel: Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie I. Die Abkehr von der theokratischen Strafrechtsbegründung . . . . II. Strafe im frühen Vernunftrecht und Kontraktualismus . . . . . . III. Der Sozialvertrag bei Kant und die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Rechtsgut bei Birnbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Einfluss der hegelschen Philosophie in der Strafrechtswissenschaft ab 1840 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Wiederaufleben des Güterschutzgedankens bei Binding . . . VII. Der Verbrechensbegriff bei von Liszt . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die weitere Entwicklung der Debatte im südwestdeutschen Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kapitel: Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung I. Rechtspositivistische Strafrechtsbegründung . . . . . 1. Grundannahmen rechtspositivistischer Theorien . 2. Ein positivistischer Straftatbegriff . . . . . . . . . . 3. Hans Kelsens Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . 4. Angelsächsischer Rechtspositivismus . . . . . . . . 5. Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie . . . . . . . a) Die Rechtsphilosophie von 1932 . . . . . . . . .

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1. Kapitel: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die materielle Rechtsgutstheorie . . . . . . . . . . . . . . II. Die Kritik an der materiellen Rechtsgutstheorie und ihre Alternativentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methodik und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . .

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Inhalt

b) Die Radbruchsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Anwendung der Radbruchschen Formel in den sog. Mauerschützen-Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Stellungnahme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung . . . . . . 1. Unmittelbar und mittelbar kontraktualistische Strafrechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung . . . . . a) Unmittelbare Herleitung eines Verbrechensbegriffs aus der Idee des Gesellschaftsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der reelle Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . bb) Der hypothetische Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . (1) John Rawls Theorie der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare Bezugnahme auf die Idee des Gesellschaftsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die naturrechtliche Dimension des Grundgesetzes in den Beratungen des Parlamentarischen Rats . . . . . . . bb) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Empiristische Strafrechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Systemtheoretische Strafrechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . 1. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . 2. Systemtheoretische Strafrechtsbegründung . . . . . . . . . . . 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel: Die Diskurstheorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorie des kommunikativen Handelns . . . . . . . . . . . . a) Kommunikatives und strategisches Handeln . . . . . . . . b) System und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sprechakttheorie und Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . 3. Der Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Diskursprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Universalisierungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . c) Die allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen und die Diskursregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Habermas Auseinandersetzung mit dem jungen Hegel . .

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Inhalt

II.

Diskurstheorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die formale Begründung der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . a) Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsbegründung auf Grundlage des Erkenntnis-, Durchsetzungs- und Organisationsproblems bei Alexy . . . 2. Die inhaltliche Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die logische Genese von Rechten aus dem Demokratieprinzip bei Habermas . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmittelbare diskurstheoretische Begründung von Menschenrechten bei Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie . . 1. Kommunikatives Handeln und die Begründung der Diskursregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns . . . b) Transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln c) Universalpragmatische Begründung der Diskursregeln . . . d) Transzendental-empirische Begründung der Diskursregeln . e) Eigenständige Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reduktion des Geltungsanspruchs auf den Maßstab der Plausibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die funktionale Notwendigkeit kommunikativen Handelns in demokratischen Rechtsstaaten . . . . . . . dd) Die Plausibilität der Diskursregeln . . . . . . . . . . . . 2. Zu den subjektiven Rechten und den konstitutionellen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kritik Armin Engländers . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der individualistische und der intersubjektivistische Gehalt subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die diskurstheoretische Bedeutung der Grundrechte . . . . 3. Zum Verhältnis von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . a) Die Möglichkeit der Erkenntnis moralischer Normen . . . . b) Der ursprüngliche Zusammenhang von Recht und Moral . .

5. Kapitel: Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung . . . . . . . I. Die Wirkungen der Straftat im diskursethischen Konzept . . II. Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ein diskurstheoretischer Straftatbegriff . . . . . . . . . . . . 1. Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Strafrechtskritik im praktischen Verfassungsdiskurs . . . . . a) Zur Stellung und Potenz der Kriminalpolitik . . . . . . . . b) Die mit der Strafe verbundenen Grundrechtseingriffe . . . c) Zur Limitierung des ius puniendi auf die Bestätigung und die Garantie des kommunikativen Gehalts subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zum ultima-ratio Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsabwägung 6. Kapitel: Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kollektive Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafrechtlicher Moralschutz . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Strafrechtlicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 2021 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück als Dissertationsschrift angenommen. Sie ist das Ergebnis einer seit der Schulzeit bestehenden Begeisterung für die Philosophie und meines ungebrochenen Interesses an strafrechtlichen Fragestellungen. Dass aus der Idee der Arbeit Wirklichkeit wurde, verdanke ich maßgeblich meinem geschätzten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn, der mir die Gelegenheit gab, das Thema und den Inhalt der Arbeit zu entwickeln. Für die zahlreichen Impulse, Anregungen, Diskussionen, die Unterstützung und die intellektuelle Freiheit, die ich während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung der Universität Osnabrück genießen durfte, bin ich ihm äußerst dankbar. Die zahlreichen fachlichen Gespräche, aber auch die persönlichen Momente bleiben mir in bester Erinnerung. Ohne die vielfältige Unterstützung meiner Freunde und Familie und meiner Kolleginnen und Kollegen hätte ich diese Arbeit nicht realisieren können. Besonderer Dank gilt deshalb Lars Bojen, Rolf Bovermann, Johanna Breuer, Lennart Dornieden, Kathrin Eickmeier, Esther Heckmann, Caroline Hilbring, Mona Hillebrand, Jörg Juretzka, Vera Kildentoft, Erich Maly, Uriel Möller, Sabine Rudka, Hibbi Saar sowie Cora und Verena Thielen. Ihnen allen und nicht zuletzt meiner Mutter Sigrid Maly ist diese Arbeit gewidmet.

1. Kapitel: Einleitung

»Es geht nicht um die grammatische Form von normativen Allsätzen, sondern darum, ob wir alle wollen können, daß eine strittige Norm unter den jeweils gegebenen Umständen allgemeine Verbindlichkeit (Gesetzeskraft) erlangt. (…) Dabei werden die Inhalte, die im Lichte eines Moralprinzips geprüft werden, nicht vom Philosophen, sondern vom Leben erzeugt.«1

Enthielte die grammatische Form eines Strafrechtssatzes eo ipso eine dezisionistische normative Kraft, so bestünde für die Strafrechtswissenschaft kein Anlass, sich mit Grund und Grenzen ihres eigenen Beschäftigungsgegenstandes zu befassen. Woher der Staat sein ius puniendi bezieht und unter welchen Voraussetzungen er auf ein menschliches Fehlverhalten mit dem Instrumentarium der Kriminalstrafe reagieren darf, sind jedoch zwei gegenwärtig breit und kontrovers diskutierte Fragen.2 Auf dem Prüfstand steht hier in erster Linie die sog.

1 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9 (21). 2 Vgl. dazu aus den letzten Jahren nur Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 336ff.; Beckemper, ZIS 2011, 318ff.; Dubber, ZStW 117 (2005), 485ff.; Fiolka, Das Rechtsgut (2006); Frisch, NStZ 2016, 16ff.; Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009), S. 303ff.; ders., FS Roxin II (2011), S. 199ff.; Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1 Rn. 108ff.; Hassemer, FS Androulakis (2002), S. 207ff.; Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003); Hefendehl, Kollektive Rechtsgu¨ ter (2002), S. 5ff.; ders., GA 2007, 1ff.; Ho¨rnle, Grob ansto¨ ßiges Verhalten (2005), S. 11ff.; Jahn, GA 2007, 579ff.; Jakobs, FS Amelung (2009), S. 37ff.; Kindha¨user, FS Krey (2010), S. 249ff.; Koriath, GA 1999, 561ff.; Kru¨ger, Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff (2000); Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 145ff.; Martins, ZStW 125 (2013), 234ff.; Paeffgen, FS Wolter (2013), S. 125ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bu¨ rgers (2012), S. 127ff.; Renzikowski, in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung (2005), S. 115ff.; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 9 ff.; ders., GA 2013, 433ff.; Sta¨chelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998), S. 30ff.; Stratenwerth, FS Lenckner (1998), S. 377ff.; Stuckenberg, GA 2011, 653ff.; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24ff.; Vogel, StV 1996, 110ff.; Volk, FS Roxin II (2011), S. 215ff.; Wohlers, GA 2002, 15ff.; ders., Deliktstypen des Pra¨ventionsstrafrechts (2000), S. 213ff.; ders., GA 2012, 600ff.; Zabel, ZStW 122 (2010), 833ff.

12

Einleitung

materielle Rechtsgutstheorie3, also die These, dass jede strafrechtliche Sanktion dem Schutz eines als Rechtsgut bezeichneten Gegenstandes dienen muss.4 Die Aktualität dieser abstrakten Debatte exemplifiziert sich regelmäßig in zwei voneinander zu unterscheidenden Situationen. Erstens tritt sie nahezu immer vor und nach der Einführung neuer Straftatbestände auf den Plan: Konkrete strafgesetzgeberische Vorhaben oder Entscheidungen werden dann einer kritischen Analyse unterzogen. Als Beispiele aus den letzten Jahren seien hier nur die Verschärfung des Dopingstrafrechts5 und die Einführung des § 217 StGB6 genannt. Zweitens tritt die Rechtsgutstheorie regelmäßig in der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Strafvorschriften in Erscheinung, insbesondere dann, wenn sich auch das Bundesverfassungsgericht mit ihnen beschäftigt.7 Besonders intensiv brachen die Kontroversen um die Lehre vom Rechtsgüterschutz dabei als Reaktion auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests8 in die strafrechtliche und kriminalpolitische Debatte ein.9 Zuletzt wurde die Frage nach den Grenzen staatlichen Strafens etwa in den Diskussionen über § 103 StGB10, über die Strafvorschrift des Rindfleischetikettierungsgesetzes11 oder über § 217 StGB12 thematisiert.

3 Siehe zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der Theorie unten 1. Kap., I. (»Die materielle Rechtsgutstheorie«). 4 Vgl. dazu vorläufig die analytisch zutreffende Definition bei Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (617): »Zusammenfassen la¨sst sich der Kern dieses Denkens in einem normativen Prinzip und einer begrifflichen Voraussetzung. Das normative Prinzip (…) verlangt, dass strafbewehrte Verhaltensnormen, um als legitim gelten zu ko¨ nnen, mindestens ein Rechtsgut vor Verletzung oder Gefa¨ hrdung schu¨ tzen müssen. Und die begriffliche Voraussetzung besagt, dass nicht jedes beliebige Schutzobjekt einer strafbewehrten Verhaltensnorm unter den Begriff des Rechtsguts fällt.«; ausführlich unten 1. Kap., I. (»Die materielle Rechtsgutstheorie«). 5 Vgl. dazu nur Jahn, ZIS 2006, 57ff.; Greco, GA 2010, 622ff., Sternberg-Lieben, ZIS 2011, 583ff.; Prittwitz, FS Schiller (2014), S. 512ff.; Schild, FS Kargl (2015), S. 507ff. 6 Vgl. dazu – nicht nur aus Sicht der Rechtsgutsbefürworter – u. a. Brose, ZRP 2014, 235ff.; Duttge, NJW 2016, 120ff.; Engländer, FS Schünemann (2014), S. 583ff.; Hecker, GA 2016, 453 (463ff.); Hilgendorf, JZ 2014, 545 (550); Hillenkamp, KriPoZ 2016, 3 (9f.); Hoven, ZIS 2016, 1ff.; Kubiciel, ZIS 2016, 396ff.; Rosenau/Sorge, NK 2013, 108ff.; Roxin, NStZ 2016, 185ff. und Sinn, SK-StGB, § 217 Rn. 10ff.; das Bundesverfassungsgericht hat den Tatbestand mit Urteil vom 26. 02. 2020 für verfassungswidrig erklärt BVerfG, BeckRS 2020, 2216ff. 7 Vor allem BVerfGE 39, 1ff.; 88, 203ff. (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs); 90, 145ff. (Strafbarkeit des Cannabisbesitzes) und 120, 224ff. (Strafbarkeit des Geschwisterinzests). 8 BVerfGE 120, 224ff. mit abweichender Meinung Hassemer BVerfGE 120, 255ff. 9 Siehe dazu beispielsweise Androulakis, FS Hassemer (2010), S. 271ff.; Greco, ZIS 2008, 324ff.; Hörnle, NJW 2008, 2085ff.; Krauß, FS Hassemer (2010), S. 423ff.; Kubiciel, ZIS 2012, 282ff.; Roxin, StV 2009, 544ff. und zuletzt Harro, JA 2016, 361ff. 10 Einen guten Überblick darüber bietet Mitsch, KriPoZ 2016, 101ff. 11 Neben der Diskussion um die Bestimmtheit der Vorschrift, über die das BVerfG in NJW 2016, 3648ff. entschied, entwickelte sich eine Paralleldebatte über die sachliche Legitimation der Strafvorschrift; vgl. dazu Hamm, NJW 2016, 1537 (1538ff.). 12 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 6.

Einleitung

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Löst man die Diskussion von der Auseinandersetzung mit einzelnen Straftatbeständen, so lassen sich mindestens drei Topoi identifizieren, an denen sich die Rechtsgutsdebatte regelmäßig »abarbeitet«: die Legitimität sog. kollektiver Rechtsgüter13, die Berechtigung paternalisierender Strafgesetzgebung14 und die Zulässigkeit strafrechtlichen Moralschutzes15. Erstens geht es also darum, unter welchen Voraussetzungen der Staat solche Gegenstände, die nicht unmittelbar einem menschlichen Individuum zuzuordnen sind, mit den Mitteln des Strafrechts schützen darf. Zweitens steht zur Debatte, ob das Strafrecht auch den Einzelnen vor sich selbst schützen darf. Drittens stellt sich die Frage, inwieweit in einem zunehmend wertepluralistischen Zeitalter bestimmte Moralvorstellungen zum Anlass einer Pönalisierung genommen werden dürfen. Grundsätzlich ist zwar die Frage nach den legitimen Motiven des Strafrechtsschutzes von der Frage nach der legitimen zeitlichen Reichweite eines Straftatbestandes zu unterscheiden.16 So kann ein Strafgesetz beispielsweise solche Handlungen erfassen, die im nahen oder auch im entfernten Vorfeld der tatsächlichen Beeinträchtigung eines bestimmten zu schützenden Gegenstandes angesiedelt sind; er kann aber auch erst bei dessen Verletzung ansetzen.17 Die damit verbundene Diskussion wird gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit dem Phänomen der Strafbarkeitsvorverlagerung geführt.18 Sie ist aber eng mit der Rechtsgutsdebatte verwoben: Voraussetzung für die Bestimmung der legitimen zeitlichen Ausdehnung eines Straftatbestandes ist schon denklogisch die Identifikation eines legitimen Bezugspunktes. Um beantworten zu können, auf welchen Ausschnitt menschlichen Handelns der Staat sein ius puniendi erstrecken darf, muss folglich zunächst festgelegt werden, welche Gegenstände so bedeutend sind, dass er zu ihrem Schutz sein »schärfstes Schwert« schlagen darf. Der Grundstein für kritische Strafrechtsreflexionen sollte also ein Straftatbegriff

13 Siehe dazu grundlegend Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter (2002), aber z. B. auch Stratenwerth, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2013), S. 255ff. 14 Siehe dazu ausführlich den Sammelband von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht. Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten (2010); dort insbesondere Birnbacher, S. 11ff.; Bung, S. 27ff. und von Hirsch, S. 57ff. 15 Vgl. dazu ausführlich Hörnle, Grob anstössiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus (2005); dies., in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2013), S. 268ff. 16 Siehe dazu nur Sinn, in: ders./Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht (2011), S. 13, 16f. 17 Siehe dazu ausführlich Sinn, in: ders./Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht (2011), S. 13, 16f. 18 Grundlegend dazu Sinn/Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht (2011); außerdem Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts? (2010); dort insbesondere Puschke, S. 9ff.; Moeller, Definition und Grenzen der Vorverlagerung von Strafbarkeit (2018).

14

Einleitung

sein, aus dem sich ergibt, welche Elemente der Lebenswelt mit den Mitteln des Strafrechts protegiert werden dürfen. Ob und gegebenenfalls wie sich ein solcher Begriff bilden lässt, ist das Thema der vorliegenden Arbeit. Dafür wird im Folgenden zunächst ein Blick auf den aktuellen Stand der Debatte um die materielle Rechtsgutstheorie geworfen, um im Anschluss daran die Methodik und den Gang der Untersuchung zu erörtern.

I.

Die materielle Rechtsgutstheorie

Blendet man die vielen Verzweigungen19 aus, so lässt sich die Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz auf einen Grundgedanken zurückführen.20 Allen als »materiell«21, »systemkritisch«22, »systemtranszendent«23 oder »gesetzgebungskritisch«24 bezeichneten Ansätzen25 ist gemein, dass sie von der Existenz eines dem Strafrecht vorgelagerten, transzendenten Kernbestands zu schützender Gegenstände ausgehen und daraus abzuleiten versuchen, welche Objekte in den Schutz des Strafrechts gestellt werden dürfen.26 Hassemer fasst dieses Denken folgenderweise zusammen: »Die Aufgabenbestimmung des Strafrechts vom Rechtsgut her ist der – durch die Aufklärung inspirierte – Versuch, dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium seiner Entscheidung an die Hand zu geben und zugleich einen externen Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidung zu entwickeln.«27

19 Damit sind beispielsweise die abstrakten Diskussionen um die Identität von Handlungsobjekt und Rechtsgut [siehe zu den Ursprüngen Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 102ff.], um »vergeistigte Zwischenrechtsgüter« [vgl. dazu etwa Schünemann, JA 1975, 787 (793)] aber auch die Diskussionen um die Legitimität einzelner Straftatbestände gemeint (zuletzt etwa um § 217 StGB, vgl. dazu etwa Sinn, SK-StGB, § 217 Rn. 10ff.). 20 Vgl. dazu zuletzt den instruktiven Überblick bei Swoboda, ZStW 122 (2010), 24ff. 21 So etwa Marx, Zur Definition des Begriffs »Rechtsgut« (1972), S. 3. 22 Bspw. Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 342 und Ho¨rnle, Grob anstössiges Verhalten (2005), S. 11. 23 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 19. 24 So etwa Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (617) (»gesetzgebungskritisches Rechtsgutsdenken«). 25 Die Rechtsgutstheorie befürworten etwa Baumann/Weber/Mitsch, AT, 11. Aufl. (2003), § 3 Rn. 10ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter (2002), S. 19; Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn. 115ff.; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), § 1 Rn. 1; Kindha¨user, AT, 7. Aufl. (2015), § 2 Rn. 6; Kudlich, ZStW 127 (2015), 635ff. (»Gespräch mit einem Nachtmahr«); Lackner/Ku¨hl, Vor § 13 Rn. 4; Rengier, AT, 11. Aufl. (2019), § 3 Rn. 1; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 2 ff.; Rudolphi/Ja¨ger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 2; Wessels/Beulke/Satzger, AT, 49. Aufl. (2019), Rn. 6. 26 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 1. 27 Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn 115.

Die materielle Rechtsgutstheorie

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Im Kern geht es also darum, einen Begriff zu bilden, der auf einer über- oder vorpositiven Ebene beschreibt, was das Wesen des Verbrechens ist und welche Konsequenzen sich daraus für den Strafgesetzgeber ergeben.28 Dem steht der sogenannte systemimmanente, formelle Rechtsgutsbegriff gegenüber, der vor allem der Systematik des geltenden Strafrechts dient und das innere Strafrechtssystem beschreibt.29 Er umfasst nichts anderes als das rechtlich geschützte Gut und bringt das Werturteil der positiven Rechtsordnung zum Ausdruck.30 Dabei hat dieser Begriff innerhalb des positiven Rechts vielfältige Aufgaben. So fungiert er beispielsweise als Ausgangspunkt der von § 34 StGB geforderten Abwägung, hilft bei der Typisierung von Gefährdungs- und Erfolgsdelikten und bei der Definition und Anwendung von Vorverlagerungsbegriffen.31 In dieser Funktion als intrasystematischer Fluchtpunkt für die Beschreibung von Sinn und Zweck einer Strafnorm, als Grundlage für ein Ordnungsschema des positiven Strafrechts, ist der systemimmanente Rechtsgutsbegriff völlig unumstritten.32 Für den materiellen Rechtsgutsbegriff gilt das Gegenteil.33 Schon auf Seiten seiner Befürworter unterscheiden sich die Definitionen dessen, was mit dem Etikett »Rechtsgut« als legitimer strafrechtlicher Schutzgegenstand umschrieben wird.34 So bestimmt Hassemer die Aufgabe des Strafrechts vom Menschen her und bezeichnet als Rechtsgut ein »strafrechtlich schutzbedürftiges menschliches Interesse«35. Roxin hingegen bezieht sich innerhalb seiner Rechtsgutsdefinition stärker auf die verfassungsrechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Bei ihm sind Rechtsgüter »alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen (…), die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.«36 Schließlich heißt es bei Rudolphi: »Immerhin lassen sich (…) Rechtsgüter allgemein als für unsere verfas28 Bejaht man den Rechtsgutsbegriff muss folglich von einem äußeren und einem inneren Strafrechtssystem gesprochen werden; vgl. dazu Sinn, Die Nötigung im heutigen System des Strafrechts (2000), S. 53. 29 Vgl. grundlegend zur Unterscheidung etwa Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 19f.; außerdem Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), § 26 Rn. 3b und Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 4. 30 Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 7. 31 Vgl. dazu nur Krey/Esser, AT, 6. Aufl. (2016), § 1 Rn. 8 ff.; Roxin, AT I, § 2 Rn. 4.; außerdem Sinn, Die Nötigung im heutigen System des Strafrechts (2000), S. 53. 32 Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (32). 33 Vgl. dazu auch weiter unten 1. Kap., II. (»Die Kritik an der materiellen Rechtsgutstheorie und ihre Alternativentwürfe«). 34 Siehe zu den unterschiedlichen Definitionen etwa Jakobs, Rechtsgu¨ terschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 37. 35 Zuletzt Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn 144. 36 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 9.

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Einleitung

sungsgemäße Gesellschaft und damit auch für die verfassungsgemäße Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers unverzichtbare und deshalb werthafte Funktionseinheiten umschreiben.«37 Damit ist nur ein Ausschnitt unterschiedlicher Versuche gegeben, Grund und Grenzen des Strafrechts definitorisch zu erfassen. Weitere Definitionen lauten beispielweise: – »rechtlich geschützter abstrakter Wert der Sozialordnung«38 – »Eigenschaft einer Person, Sache oder Institution, die der freien Entfaltung des Einzelnen in einer rechts- und sozialstaatlich verfassten demokratischen Gesellschaft dient«39 – »Lebensgut, Sozialwert oder rechtlich anerkanntes Interesse, das wegen seiner besonderen Bedeutung fu¨ r die Gesellschaft Rechtsschutz genießt«40 – »werthafte soziale Funktionseinheit«41

II.

Die Kritik an der materiellen Rechtsgutstheorie und ihre Alternativentwürfe

An der Idee des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes wird in jüngster Zeit zunehmend Kritik geäußert.42 Eingewendet wird, dass die Rechtsgutstheorien ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden seien, den ausufernden Kriminalisierungs- und insbesondere Vorverlagerungstendenzen Grenzen zu setzen.43 Es mangele schon an Klarheit darüber, was unter dem Begriff des Rechtsguts überhaupt zu verstehen ist.44 Die Kritik entzündet sich aber vor allem an der Tatsache, dass das materielle Rechtsgutstheorem auf einen außerrechtlichen Maßstab angewiesen ist, der überhaupt nicht eigenständig zu entwickeln sei.45 Soweit dieser Maßstab in naturrechtlichen Reflexionen gefunden wird, stelle sich die Frage, warum die Rechtsgutstheoretiker die Auswahl-, Definitions- und Interpretationsmacht darüber haben sollten, wel37 38 39 40 41 42

Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 16. Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), S. 257. Kindha¨user, AT, 7. Aufl. (2015), § 2 Rn. 6. Krey/Esser, AT, 6. Aufl. (2016), § 1 Rn. 7. Rudolphi, FS Honig (1970), S. 151 (164). Siehe nur Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 385ff.; Frisch, FS Stree/Wessels, S. 71ff.; Jakobs, AT, 2. Aufl. (1993), Kap. 2 Rn. 16ff.; Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679ff.; Stuckenberg, GA 2011, 660ff.; von Hirsch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 22ff.; Wohlers, GA 2002, 13ff. 43 So etwa Frisch, FS Stree/Wessels, S. 69 (71f.) und Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 68ff. 44 Siehe dazu insbesondere Kru¨ger, Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff (2000); Walter, LK-StGB, Vor § 13 Rn. 9 und Koriath, GA 1999, 561ff. 45 So etwa Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 357ff.; Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 281ff.

Die Kritik an der materiellen Rechtsgutstheorie und ihre Alternativentwürfe

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che metarechtlichen Wertvorstellungen einem allgemein verbindlichen Strafrechtsbegrenzungskonzept zugrunde gelegt werden.46 Außerdem sei unklar, ob ein solcher generalisierbarer Maßstab in wertepluralistischen Gesellschaften überhaupt vorzufinden ist.47 Was die Materialisierung der Rechtsgutstheorie aus dem Verfassungsrecht48 angeht, ergäben sich ebenfalls zahlreiche Bedenken: Das Grundgesetz enthalte keine verbindlichen Vorgaben darüber, worum genau es sich bei einem Rechtsgut handelt.49 Dies führe letztlich dazu, dass sich der Zweck der Rechtsgutslehren umkehre. So konstatiert Swoboda: »Sobald man aber dazu übergeht, Strafrechtsgüter aus der Vielzahl der verfassungsrechtlichen Generalklauseln herauslesen zu wollen, (…) läuft man Gefahr, nahezu jeden vorpositiven materiellen Wert auf dem Umweg über die Verfassung zum Strafrechtsgut zu erheben.«50

Wenn man den Rechtsgutsbegriff lediglich »als Folgerung aus dem Verfassungsrecht« bezeichnet, fasse er außerdem »nur das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Überlegungen zusammen.«51 Insofern sei er überflüssig, weil er keinen »eigenständigen Beitrag« zu der Debatte leiste.52 Insgesamt wird an der liberalen Wirkmacht der Rechtsgutstheorie gezweifelt: Für jeden Straftatbestand lasse sich irgendein Rechtsgut auffinden oder konstruieren.53 Es wird gar moniert, die Rechtsgutstheorie habe nicht verhindern können, dass das Strafrecht zum Instrumentarium des nationalsozialistischen Regimes wurde.54 Schließlich sprächen auch normentheoretische Erwägungen gegen die Lehren vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz und offenbarten ein wesentliches Defizit, denn »vor der Frage der Zulässigkeit der Pönalisierung eines Verhaltens stellt sich allemal die Frage, ob das Verhalten (als Rechtsüberschreitung) überhaupt verboten werden kann.«55 Angesichts der vielen Gegenargumente verwundert es kaum, dass zahlreiche die Rechtsgutstheorie modifizierende oder sie gänzlich ersetzende Konzepte der Strafrechtsbegründung entwickelt wurden. Dabei hat Swoboda kürzlich drei unterschiedliche Kategorien identifiziert, unter die sich diese Entwürfe subsumieren 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (35). Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (35f.). Vgl. dazu ausführlich Engländer, ZStW 127 (2015), 616ff. Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2002), S. 68, 71. Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (36). Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (626). Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (626). Frisch, FS Stree/Wessels (1993), S. 69, 72; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (1997), S. 137f. Siehe dazu krit. Kudlich, ZStW 127 (2015), 635 (641f.). Frisch, NStZ 2016, 16 (22).

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Einleitung

lassen56: Erstens wird die Idee des strafrechtlichen Rechtsgutsdenken von einigen Autoren zwar grundsätzlich beibehalten, aber mit zusätzlichen Annahmen versehen. So wird die strafrechtliche Rechtsgutsdoktrin etwa von einigen Autoren auf Basis der Rezeption angloamerikanischer Strafrechtstheorien (insbes. des sog. harm and offence principle57) modifiziert58, oder um weitere strafrechtslimitierende Grundsätze, sog. mediating principles, ergänzt.59 Ferner wird das Rechtsgüterschutzprinzip von einigen Strafrechtswissenschaftlern auf der Grundlage ideengeschichtlicher, insbesondere aufklärerischer Axiome angereichert oder unmittelbar begründet.60 Zweitens lassen sich konkrete Gegen- oder zumindest Alternativentwürfe finden, darunter vor allem systemtheoretische Ansätze, die den mit der Straftat verbundenen Normgeltungsschaden fokussieren und darüber hinausgehende, außersystemische Schutzgüter ausblenden.61 Hier sind insbesondere die Arbeiten Jakobs zu nennen, wonach »(…) das eigentliche Strafrechtsgut nur die Norm sein kann, genauer, die geltende Norm, also die Norm als etablierte, wirkliche Orientierung leistende Institution (…).«62 Drittens wird vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber vereinzelt auch in der strafrechtlichen Literatur jede außerrechtliche 56 Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (37ff.); siehe aber auch Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 10. 57 Diese Prinzipien gehen auf den englischen Moralphilosophen John Stuart Mill zurück. In den 1980er Jahren hat der amerikanische Rechtsphilosoph Joel Feinberg den Ansatz Mills aufgegriffen und ihn in »The Moral Limits of Criminal Law« rezipiert und modifziert. Dabei vertritt er die These, dass eine menschliche Handlung zunächst einmal dann kriminalisiert werden darf, wenn das Verhalten schädlich für andere ist, und zwar für solche Interessen des anderen, die zu den wesentlichen Bedingungen seines Wohlergehens zählen (»welfare interests«). Daneben gehören aber auch belästigende Handlungen zu den Bereichen, die legitimerweise kriminalisiert werden dürfen (»offence principle«). Die Pönalisierung aufgrund paternalistischer Erwägungen (»legal paternalism«) sowie der strafrechtliche Schutz von Moralvorstellungen (»legal moralism«) seien jedoch grundsätzlich unzulässig; vgl. dazu v. a. von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das Harm Principle, in: Hefendehl/Von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2003), S. 13ff.; Zusammenfassung bei Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (37ff.). 58 Vgl. dazu v. a. von Hirsch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2003), S. 13ff. 59 Siehe dazu v. a. den Sammelband von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles. Begrenzungsprinzipien bei der Strafbegründung (2006); dort insbesondere dies., Einfu¨ hrung: Was sind Mediating principles?, S. 13 ff; aber auch Seelmann, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2003), S. 261ff. 60 Erwähnenswert ist hier insbesondere Tatjana Hörnles Bezugnahme auf die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs, siehe dazu Hörnle, Grob anstössiges Verhalten (2005), S. 65ff.; dazu Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (40f.) und Bernd Schünemanns Versuch einer unmittelbar kontraktualistischen Strafrechtsbegründung in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 133ff.; vgl. dazu ausführlich weiter unten 3. Kap., II. (»Kontraktualistische Strafrechtsbegründung«). 61 Vgl. dazu ausführlich unten 3. Kap., IV. (»Systemtheoretische Strafrechtsbegründung«). 62 Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 26.

Methodik und Gang der Untersuchung

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Strafrechtsbegrenzung abgelehnt.63 Die Legitimität eines Strafrechtssatzes sei dabei allein anhand der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beurteilen.64 Diese Haltung hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt im sog. Inzestbeschluss65 betont und gestärkt. Dort heißt es: »Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Er ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei (…).«66

Bereits dieser kurze Überblick hat deutlich gemacht, dass die Diskussion über einen materiellen, vorrechtlichen Straftatbegriff zwangsläufig zur rechtsphilosophischen Debatte um den Geltungsursprung des (Straf-)Rechts führt, denn hinter den Kontroversen um die Rechtsgutstheorie steht die Frage, ob die Legitimität einer Strafnorm an einer überpositiven, außerrechtlichen bzw. gesellschaftstheoretischen Vorstellung von der Strafwürdigkeit menschlichen Verhaltens zu bemessen ist, oder ob eine Strafnorm allein anhand ihrer intrasystematischen Konformität, insbesondere mit dem höherrangigem Verfassungsrecht zu beurteilen ist.

III.

Methodik und Gang der Untersuchung

Die eingangs bereits formulierte Fragestellung der Arbeit, ob und gegebenenfalls wie sich ein materieller Straftatbegriff bestimmen lässt, verlangt also die Auseinandersetzung mit den gesellschaftstheoretischen und philosophischen Axiomen, von denen aus der Begriff des Strafrechts entwickelt wird. Dabei beginnt die Arbeit mit der Darstellung der historischen Ursprünge der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz (2. Kapitel). Ausgehend von der – als Reaktion auf das theokratische Strafrechtsverständnis verstandenen – kriminalpolitischen Reformbewegung der Aufklärung (I) wird zunächst ein Blick auf die Grundannahmen der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung geworfen (II). Die Arbeit stellt sodann die Kritik an der bisherigen Idee des Gesellschaftsvertrags dar und zeigt, wie sich insbesondere die Philosophie Kants in der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs niederschlägt (III). Ausgehend von der 63 Vgl. dazu insbesondere BVerfGE 6, 32ff.; 45, 187ff.; 90, 145ff.; 92, 277ff.; 96, 10ff. und zuletzt 120, 224ff.; aus der Lit. insbesondere Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 331ff. und Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996). 64 Insbesondere BVerfGE 90, 145ff.; 120, 224ff.; aus der Literatur Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 514ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Weigend, FS Hirsch (1999), S. 932ff. 65 BVerfGE 120, 224ff. 66 BVerfGE 120, 224, 240.

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Einleitung

Auseinandersetzung Birnbaums mit Feuerbach (IV) rekonstruiert dieser Teil der Untersuchung zunächst in Kürze die Strafrechtsphilosophie Hegels (V) und zeigt sodann die erstaunliche inhaltliche Wandlungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs von Binding (VI), über Liszt (VII) bis zu den Neukantianern (VIII) auf. Im folgenden Kapitel werden die gegenwärtig vorgetragenen Möglichkeiten der Strafrechtsbegründung untersucht (3. Kapitel). Die aktuelle Diskussion lässt sich dabei im Wesentlichen auf rechtspositivistische (I), kontraktualistische (II), empiristische (III) und systemtheoretische (IV) Ansätze herunterbrechen, die jeweils in ihren Grundannahmen dargestellt und anschließend kritisch hinterfragt werden. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Arbeit nicht den Anspruch erhebt, sämtliche Konzepte der Rechtsbegründung bis in ihre tiefsten inhaltlichen Details, Verzweigungen und kritischen Reaktionen darzustellen und zu bewerten. Es geht darum, die jeweiligen Standpunkte, Thesen und Debatten in ihren Grundzügen konzeptionell greifbar zu machen und dabei zu identifizieren, was für das Erkenntnisinteresse der Arbeit von Bedeutung ist.67 Weil – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen – all diese Konzepte ernsthaften Einwänden ausgesetzt sind, wendet sich die Arbeit sodann der Diskurstheorie zu, um deren strafrechtstheoretisches Potential auszuloten (4. Kapitel). Dafür werden zunächst die allgemeinen Annahmen der Diskurstheorie (I) und der Diskurstheorie des Rechts (II) dargestellt, um sich anschließend kritisch mit ihnen auseinanderzusetzten und sie in Teilen zu ergänzen oder zu modifizieren (III). Auf dem in diesem Kapitel argumentativ abgesicherten, kommunikationstheoretischen Fundament wird anschließend (5. Kapitel) die Bedeutung der Straftat (I) und der Strafe (II) eruiert, um schließlich die Fragen nach dem Grund und den Grenzen staatlicher Strafgewalt beantworten zu können (III). Die Arbeit endet (6. Kapitel) mit einer Zusammenfassung (I), einigen aus der Arbeit zu ziehenden Schlussfolgerungen (II–IV) und einem Ausblick (V).

67 Der interessierte Leser wird in den Fußnoten an geeigneten Stellen weiterführende Verweise finden.

2. Kapitel: Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

Die historischen Wurzeln des kritischen Rechtsgutsdenkens liegen in der kriminalpolitischen Reformbewegung der Aufklärung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz Europa erfasst.68 Das aufklärerische Gedankengut richtet sich gegen das expansive und exzessive Strafen im noch immer theokratisch geprägten Staatswesen.69

I.

Die Abkehr von der theokratischen Strafrechtsbegründung

Der Fall des zwanzigjährigen Chevalier de la Barre vermittelt ein gutes Bild davon, mit welch »grausamer Härte«70 der Staat noch im Zeitalter Voltaires vermeintliche Angriffe auf die göttliche Autorität erwidert71: Im Jahr 1776 wird dem Chevalier de la Barre vorgeworfen, in Frankreich eine Kirche passiert zu haben, ohne dabei durch das obligatorische Hut-Abziehen seinen Respekt vor dem Gotteshaus zu zeigen. Sein »blasphemisches« Verhalten und seine Affinität zu den aufklärerischen Werken der damaligen Zeit rufen schnell die Strafjustiz auf den Plan: Der Franzose wird noch im selben Jahr in Paris zum Tode verurteilt. Vor dem Vollzug des Urteils wird ihm öffentlich die Zunge abgetrennt. Schließlich wird er in Abbéville hingerichtet. Gemeinsam mit einer Ausgabe von Voltaires »Dictionnaire Philosophique« wirft man seinen leblosen Körper auf den Scheiterhaufen und verbrennt ihn.

Normativ ist ein solches Vorgehen noch mit einem Strafzweckdenken verbunden, welches das ius puniendi auf die göttliche Autorität zurückführt.72 Im 68 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 16; ähnlich auch Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 6f. 69 Vgl. dazu Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 6ff. 70 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, 3. Aufl. (1983), § 151, S. 164. 71 Wiedergegeben nach Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 17 und Hertz, Voltaire und die französische Strafrechtspflege im 18. Jahrhundert (1887), S. 243f. 72 Vgl. dazu Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1983), § 149, S. 161f.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

deutschen Sprachraum äußert sich ein solches Rechtsverständnis besonders deutlich bei Benedict Carpzov. Staatliche Macht beruht hier auf der Anordnung und dem Willen Gottes, des »Legislator Summus«73: »Das Verbrechen hat nicht nur rechtliche Bedeutung als Verletzung staatlicher Normen, sondern ist stets auch Sünde wider Gott, (…). Die staatliche Strafe ist notwendig, weil Gott sie will, was zahlreiche Aussprüche der Lex divina bestätigen.«74

Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass die göttliche Straflegitimation der aus heutiger Sicht unmenschlichen Strafpraxis noch keine Grenzen setzen konnte, denn sie diente nicht als Limitierung, sondern fungierte als »ihre vollkommene Rechtfertigung und Zweckbegründung«.75 Schünemann fasst diesen Zusammenhang in zugespitzter Weise folgendermaßen zusammen: »In den auf religiösen Wahn gegründeten Gottesstaaten sollte das Strafrecht mehr oder weniger die Hölle schon auf Erden vorwegnehmen, weshalb die als Vergeltung präsentierte Strafe in Wahrheit bei den meisten Delikten in einem sich bis zum Sadismus steigernden Übermaß (»Overkill«) bestand.«76

II.

Strafe im frühen Vernunftrecht und Kontraktualismus

Schon im 17. Jahrhundert richten sich populäre Stimmen gegen die Idee der theokratischen Strafrechtsbegründung.77 Das theologische Naturrecht wird allmählich vom Vernunftrecht abgelöst; das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft, Staat und Recht wird nicht mehr unter Berufung auf einen göttlichen Willen erklärt, sondern durch die menschliche Vernunft, das denkende Individuum.78 Maßgeblichen Einfluss auf die Säkularisierung des Naturrechtsdenkens und der Straftheorie haben im deutschen Sprachraum etwa Grotius und Pufendorf.79 Was sich – wohl auch wegen des noch ungebrochenen kirchlichen Machtanspruchs – im 17. und 18. Jahrhundert »nur« als eine Reform des Denkens darstellt, entwickelt sich in der Aufklärung zum Handlungsprogramm.80 Das Vernunftrecht gilt nicht mehr nur als ein Erklärungsansatz für Bestehendes,

73 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, 3. Aufl. (1983), § 151, S. 163. 74 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, 3. Aufl. (1983), § 151, S. 163. 75 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, 3. Aufl. (1983), § 151, S. 164; vgl. dazu auch Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 17f. 76 Schünemann, ZIS 2016, 654 (656). 77 Vgl. zum Einfluss der französischen Aufklärungsphilosophen knapp Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 6f. 78 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 19. 79 Vgl. dazu Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtpflege, 3. Aufl. (1983), § 152f., S. 164f. 80 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 18.

Der Sozialvertrag bei Kant und die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs

23

sondern entfaltet eine kritische Handlungsmacht. Das moderne Naturrecht wird zum Grundsatz reformerischer Bewegungen. Dabei ist es insbesondere die Idee vom Gesellschaftsvertrag, die zum zentralen Begründungstopos für die Legitimität des Staates, die Reichweite individueller Rechte und die Bedeutung der Kriminalstrafe avanciert.81 Im frühen vernunftrechtlichen Kontraktualismus drückt sich das epistemologische Spezifikum aus, die Erkennbarkeit eines Gegenstandes müsse von den erfahrbaren Momenten des Gegenstands selbst herrühren.82 Die frühe aufklärerische Philosophie versteht die Gesellschaft daher als eine Vereinigung von Einzelnen (und nicht als ein abstraktes, metaphysisch legitimiertes Gebilde), deren Zusammenschluss ein aus der Erfahrung des denkenden Menschen hervorgehendes Bedürfnis nach Sicherheit zugrunde liegt.83 Und so ist es auch die Erfahrung, die den Schluss zulässt, dass ein friedliches und sicheres Zusammenleben nur in einem Zustand der gegenseitigen Achtung und Unverletzlichkeit der Lebenskreise des anderen möglich ist.84 Dieser Kontraktualismus nimmt für sich in Anspruch, über eine »deutliche Vorstellung von den faktischen Bedingungen sozialer Ordnung« zu verfügen.85 Die Verwirklichung dieser Bedingungen ist der einzige Grund für den Austritt aus dem Natur- in den Gesellschaftszustand. Der Staat hat damit den Zweck, die durch den Sozialvertrag geschaffenen friedlichen Bedingungen des Zusammenlebens zu garantieren, indem er einzelne davon abhält, die kontraktualistisch begründeten Rechte anderer zu stören. Zum Schutz dieses gesellschaftlichen Grundsteins ist der Staat mit dem Instrumentarium der Kriminalstrafe ausgekleidet. Amelung formuliert dies wie folgt: »Daher sind die strafrechtlichen Verbote, die die Aufklärer allein für legitim halten, nichts anderes als die zum Gesetz gewordenen Normen des Sozialvertrags.«86

III.

Der Sozialvertrag bei Kant und die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs

Gegen diese, auf realen Erfahrungswerten begründete Staatszwecklehre formiert sich schon bald Widerstand. Insbesondere Kant richtet sich gegen die erkenntnistheoretischen Grundlagen der bisherigen Lehre vom Gesellschaftsvertrag:

81 82 83 84 85 86

Vgl. dazu Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 9ff. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 18. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 19f. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 19. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 19. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 20.

24

Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

Nicht die Erfahrung an sich könne etwas begründen, sondern einzig die aprioristische Ableitung aus der reinen Vernunft87: »Die Qualität der Empfindung ist jederzeit bloß empirisch und kann a priori gar nicht vorgestellt werden. Aber das Reale, das den Empfindungen korrespondiert (…), stellt nur etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein enthält, und bedeutet nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewußtsein überhaupt.«88

Unterwirft der Mensch sich nun den Geboten seiner eigenen Vernunft (und nicht seiner Erfahrung), so ergebe sich daraus per se die Notwendigkeit der Befolgung des kategorischen Imperativs: »(…) handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; (…)«89

Dieses grundlegende ethische Prinzip resultiert bei Kant nicht aus einer äußerlichen Erfahrung oder einem externen Zwang, sondern aus dem freien Gebrauch der Vernunft: »Sittliches Handelns ist daher Handeln aus Freiheit, Selbstbestimmung durch Vernunft.«90

Zwar beschreibt Kant auch eine Freiheit, die der »politisch-bürgerlichen« vorausgeht, er sieht sie jedoch als eine »gesetzlose äußere (brutale) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen«, mit der »ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jedermann gegen jeden« einhergehe.91 Dieser ungesetzlichen äußeren Freiheit stellt Kant ein dem Menschen kraft seiner Vernunft angeborenes Menschenrecht92, einen »eigenen gesetzgebenden Willen«93 gegenüber: 87 Vgl. dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 30; Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs (1962), S. 16ff. 88 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1787), Akademieausgabe, Bd. III, S. 157. 89 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 231. 90 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 30. 91 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Akademieausgabe, S. 97. 92 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 315f.: [»(…) und man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen äusseren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.«]. 93 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 315f.

Der Sozialvertrag bei Kant und die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs

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»Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.«94

Der Mensch verfügt bei Kant über rechtliche Freiheit also nicht, weil sie sich aus der natürlichen Welt ergibt, sondern weil sie sich als ein Gebot der praktischen Vernunft erweist. Freiheit ist für ihn kein äußerliches Naturrecht, sondern ein intrinsisches, ein wahres Menschenrecht.95 Dem ethischen Gesetz des kategorischen Imperativs folgt demnach ein Rechtsprinzip gleichen Inhalts: »Handle so, dass der Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.«96

Den Unterschied zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten, also zwischen Legalität und Moralität, sieht Kant darin, dass das ethische Gesetz Einsicht als Motiv verlangt, die Rechtspflicht hingegen nur die äußere Übereinstimmung einer Handlung mit demselben Gesetz.97 Die aprioristische Methodologie Kants schlägt sich auch auf die Vergesellschaftung der Freiheit durch: Der Sozialvertrag wird als eine deontologische »Idee, nach welcher der Staat als rechtmäßig gedacht werden kann«98 begründet. Ihm entspricht keine faktische Übereinkunft von Individuen, er entspringt keinem historischen Ereignis. Er ist vielmehr ein Gebot aus dem Reich der Vernunft.99 In der Folge ist es vor allem Feuerbach, der die kantische Sozialphilosophie mit seiner Rechtsverletzungslehre in der strafrechtstheoretischen Gedankenwelt des

94 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 237. 95 Siehe zur Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität einerseits und Tugendpflichten und Rechtspflichten ausführlich Kühl, Die Bedeutung der kantischen Unterscheidungen von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten für das Strafrecht – ein Problemaufriss, in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie (2008), S. 182ff. 96 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 231. 97 Vgl. dazu Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 47 [»Eine Handlung, die mit dem Gesetz übereinstimmt (egal, aus welchem Motiv sie begangen wird), ist legal, eine Handlung die mit dem Gesetz übereinstimmt und überdies mit Rücksicht auf die Pflicht begangen wird, ist moralisch.«]. 98 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 315f. 99 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademieausgabe Bd. VI, S. 315: [»Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmässigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äussere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (imiversi), sofort wieder aufzunehmen (…).«].

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

19. Jahrhunderts platziert.100 Auch er begründet den Sozialvertrag nicht mit Argumenten, die sich aus der menschlichen Erfahrung ableiten lassen, sondern nur aus dessen Vernunft heraus: »Daß aber diese Absicht die Absicht aller Bürger, der Zweck, den sie in dem Staate zu erreichen suchten, der Zweck aller Staaten seyn solle, dieses, und also gerade das, was wir suchen, muß auf einem ganz anderen Wege, nemlich auf dem Wege der reinen Vernunft gesucht und gefunden werden. Der Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens darf dem Gebrauch der Freiheit eines jeden anderen vernünftigen Wesens nicht widersprechen. Das ist das letzte Gesetz der Gerechtigkeit, die Grundbedingung der Behauptung unserer vernünftigen Natur in der Welt der Erscheinungen.«101

Damit erhebt auch Feuerbach die Realisierung der Bedingungen des kategorischen Imperativs zur alleinigen Aufgabe des Staates. Die Idee des Gesellschaftsvertrags ist die Verrechtlichung einer im Vernunftreich existierenden Freiheitsidee in der realen Welt. In der Rechtsverletzungslehre spielt das Strafrecht die ausschlaggebende Rolle bei diesem Prozess, denn Feuerbach stellt einen konkreten Zusammenhang zwischen dem Strafrecht und der Idee des Gesellschaftsvertrags her: »Der Begriff des Verbrechens wird erst möglich im Staat, wo der Bürger, durch eine einem Strafgesetz unterworfene Rechtsverletzung, den Wechselvertrag zwischen ihm und dem Staate bricht.«102

Das Strafrecht dient damit bei Feuerbach dazu, den Übergang zum Gesellschaftszustand zu garantieren und zu sichern. Es dürfe sich deswegen nur auf solche Verhaltensweisen erstrecken, welche entweder die ursprünglichen Rechte des Staates (»delicta publica«103) oder die dem Einzelnen kontraktualistisch zugesicherten subjektiven Rechte (»delicta privata«104) verletzen.105 Das »Verbrechen im engsten Sinne« ist die »durch ein Strafgesetz bedrohte Verletzung unersetzlicher Rechte«.106 Verhaltensweisen, die andere Positionen berühren, stellen Feuerbach zufolge kein Verbrechen dar.107

100 Vgl. dazu insbesondere Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts (1801); ausführlich dazu aus heutiger Sicht Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009). 101 Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Bd. 1 (1798), S. 13. 102 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 26. 103 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 28. 104 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 28. 105 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 27. 106 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 27. 107 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 27 (»Durch dieses werden vollkommene, aber erst durch Polizeygesetze begründete Verbindlichkeiten gegen den Staat verletzt.«).

Der Sozialvertrag bei Kant und die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs

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Prima vista ist diese Rechtsverletzungslehre damit aus heutiger Sicht ein äußerst liberales Konzept. Doch darf nicht unbeachtet bleiben, dass in Feuerbachs Konzeption auch Verhaltensweisen, die sich nicht als eine solche Verletzung darstellten (insbesondere die Sittlichkeitsdelikte), als zum Teil massiv kriminalisierte »Polizey-Uebertretungen« den staatlichen Sanktionsmechanismen unterstehen.108 Aus diesem Grund wird der liberale Gehalt des Feuerbachschen Verbrechensbegriffs heutzutage auch unterschiedlich beurteilt.109 Wenngleich man das Polizeistrafrecht als Zugeständnis an den Zeitgeist verstehen mag110, ohne dessen Konzession Feuerbachs Konzept wohl an den Realitäten der Zeit gescheitert wäre, muss das freiheitssichernde Potential jedenfalls aus heutiger Sicht soweit relativiert werden, wie es in Feuerbachs Lehre zu einer subsidiären Kriminalisierung durch Übertretungstatbestände kommt. In diesem Zusammenhang sollte auch noch auf einen weiteren Aspekt in der Philosophie Feuerbachs hingewiesen werden. So deutlich wie Feuerbachs Verbrechenslehre auf der kantischen Philosophie beruht, so klar unterscheidet sich davon seine Straftheorie. Weil das Strafrecht als Teil allen Rechts bei Kant unweigerlich dem kategorischen Imperativ und damit einem ethischen Prinzip entspringt und weil das ethische Prinzip dem Reich der Vernunft entstammt, kann Strafe bei Kant überhaupt keinen empirischen Zweck, sondern nur einen ethischen Grund haben und ist insofern absolut: »Richterliche Strafe (…) kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat, denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt (…).«111

Wenngleich dies nicht ausschließt, dass mit der Strafe empirische Folgen einhergehen, schöpft sie ihre Legitimation jedoch nicht aus ihren faktischen Wir108 Vgl. dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 35ff. 109 Siehe dazu etwa Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 11 (»Die systematische Präzision des neuen Verbrechensbegriffs, die geeignet war, den Schutz des Individuums gegen Willkür und belastende Unklarheit zu verbürgen, darf deshalb wohl mit einigem Recht als Erfolg der aufgeklärten Wissenschaft und des liberalen Denkens bezeichnet werden.«); zurückhaltender Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 37 (»Einen rechtshistorischen Augenblick lang ist es jedoch mindestens eine theoretisch gesicherte Erkenntnis, daß die Aufrechterhaltung der Sittlichkeit als solche kein Zweck ist, zu dessen Erreichung der Staat seine Zwangsbefugnis einsetzen darf.«). 110 So etwa Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (26f.) und auch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 54f. 111 Kant, Einführung in die Metaphysik der Sitten, S. 331.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

kungen. Darin besteht der wesentliche Unterschied zu der Straftheorie Feuerbachs: Darin, dass die Strafe »nie bloß als Mittel« zu den Absichten eines anderen gedacht werden kann, stimmt Feuerbach Kant nur insofern zu, als dass er diesen Grundsatz für den Bereich des Strafvollzugs anerkennt.112 Er akzentuiert jedoch sodann die gesetzliche Strafdrohung und legitimiert diese mit empirischen Zwecken. Weil alle »Uebertretungen (…) ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit« haben, diene die Strafandrohung dadurch der Aufhebung dieses »sinnlichen Antriebs«, »dass jeder weiss, auf seine That werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches grösser ist als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur That entspringt.«113 Zweck der Strafdrohung ist bei Feuerbach damit die Ausübung eines psychologischen Zwangs auf die Allgemeinheit, der sich dergestalt auswirkt, dass dem sinnlichen Antrieb ein normatives Gewicht entgegengesetzt wird, welches zur Einsicht führt, die Begehung der Straftat zu unterlassen.114 Die Strafvollstreckung dient in diesem Konzept also nur noch der Verdeutlichung der Strafdrohung. Damit entfernt sich Feuerbach letztlich weit von Kant, denn wenn die Verhängung der Strafe den generalpräventiven Zwecken der Strafdrohung dient, so legitimiert sich die Strafe letztlich über die Zwecke der Strafdrohung und damit – wie gezeigt – empirisch. Bemerkenswert ist schließlich, dass sich der von Feuerbach artikulierte Grundsatz »nulla poena sine lege«115 in seiner Argumentation als Folgerung aus seiner Lehre vom psychologischen Zwang erweist, denn für Feuerbach begründet »lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz (…) den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe.«116 Soll der psychologische Zwang wirksam werden, so muss der Einzelne erkennen können, welche Reaktion ihn im Falle der Verletzung des Strafgesetzes erwartet, um seinem sinnlichen Antrieb ein normatives Gewicht entgegenzusetzen.117 Das Prinzip der Strafgesetzlichkeit dient

112 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 43. 113 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 13. 114 Vgl. auch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 43. 115 Vgl. dazu genauer Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 20 [»Hieraus fließen folgende, keiner Ausnahme unterworfenen, untergeordneten Grundsätze: I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege) (…) II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch das Daseyn der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine.) (…) III. Die gesetzlich bedrohte That (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali.«]. 116 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1801), § 20. 117 So auch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 47.

Das Rechtsgut bei Birnbaum

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damit bei Feuerbach der Absicherung seiner eigenen Lehre, der Sicherung des psychologischen Zwangs.118

IV.

Das Rechtsgut bei Birnbaum

Von strafrechtlich zu schützenden Rechtsgütern ist bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu vernehmen. Das ändert sich erst im Jahr 1834 nach dem Erscheinen eines Aufsatzes mit dem Titel »Über das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens«119. Dessen Autor Birnbaum setzt sich mit der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs auseinander und beabsichtigt zugleich, einen »natürlichen« Verbrechensbegriff zu formulieren, also »dasjenige, was nach der Natur des Strafrechts vernunftgemäß in der bürgerlichen Gesellschaft als strafbar angesehen werden kann, insofern es in einen gemeinsamen Begriff zusammengefasst wird.«120 Birnbaum legt seinen Überlegungen keine rein abstrakte Betrachtung nach der »Natur der Sache« zugrunde, er will den Verbrechensbegriff aus einer Perspektive betrachten, welche »(…) mehr die Rechtsanwendung als die Gesetzgebung betrifft (…).«121 Die Frage, ob sich das Verbrechen als Rechtsverletzung abbilden lasse, beantwortet er überdeutlich: »Daß nun das gemeine deutsche Strafrecht blos Rechtsverletzungen mit Strafe belege, wird wohl auch bei der Annahme des weitesten Sinnes dieses Wortes Niemand behaupten wollen«122

Für diesen Standpunkt führt Birnbaum zahlreiche Argumente an. Die historische Erfahrung habe gezeigt, dass das Strafrecht sich entgegen den Annahmen Feuerbachs nicht bloß auf Rechte, sondern auch auf Gegenstände beziehe, die ab-

118 Vgl. dazu auch Sinn, FS Wolter (2013), S. 503, 505; Dannecker, FS Roxin I (2001), S. 285, 288 (»Als geeignetes psychologisches Zwangsmittel sah er die Androhung von Strafe, und zwar durch ein geschriebenes, möglichst bestimmt abgefasstes, allgemeines und notwendiges Gesetz.«) und Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 47f.: (»Wichtig fu¨ r die weitere Strafrechtsentwicklung ist die Folgerung, die Feuerbach aus dem Mechanismus des psychologischen Zwangs zieht: Soll dieser wirksam werden, so muss der Tatgeneigte, um die Gegenmotive entwickeln zu können, genau wissen, was ihn im Falle der Tatbegehung erwartet. Dies setzt voraus, dass Straftat und Strafdrohung im Gesetz definiert sind, dass sie nicht ru¨ ckwirkend in Kraft gesetzt werden, dass sie bestimmt formuliert sind und dass sie nicht u¨ ber ihren Wortsinn hinaus, also nicht analog, ausgelegt werden.«). 119 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149ff. 120 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (155). 121 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (158). 122 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (149).

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

strakten, überindividuellen Werten entsprechen.123 Die von Feuerbach vorgenommene Einordnung entsprechender Delikte als Polizeiübertretungen betrachtet er außerdem als widersprüchlich: »Allein ist es nicht unlogisch, etwas als Unterart einer Gattung aufzuführen, was in dem Gattungsbegriff gar nicht enthalten ist? Daß dies aber Feuerbach gethan habe, wird kein Unbefangener in Abrede stellen.«124

Hinzu käme, dass Feuerbach überhaupt keine Leitlinien für die Differenzierung zwischen »Polizeiübertretungen« und »Verbrechen« angebe.125 Zuletzt sprächen jedoch vor allem terminologische Gründe gegen die Rechtsverletzungslehre, denn: »Dadurch, daß wir etwas verlieren oder einer Sache beraubt werden, die Gegenstand unseres Rechtes ist, daß uns ein Gut, welches uns rechtlich zusteht, entzogen oder vermindert wird, wird ja unser Recht selbst weder vermindert noch entzogen.«126

Die dem Subjekt zustehenden Rechte können also nicht verletzt werden, weil sie dem Opfer eines Verbrechens auch nach der gegen ihn verübten Tat noch zustünden: Das Recht selbst verletze der Täter durch seine Tat nicht.127 Es seien vielmehr die Gegenstände unserer Rechte »einer Entziehung oder Verminderung durch Handlungen Anderer unterworfen«128. Diese – wohl überwiegend terminologische – Kritik führt Birnbaum schließlich zu der für die Strafrechtstheorie so folgenreichen Annahme, dass »(…) wenn man das Verbrechen als Verletzung betrachten will, dieser Begriff naturgemäß nicht auf den eines Rechtes, sondern auf den eines Gutes bezogen werden muss.«129 Birnbaum versteht seine Güterlehre nicht als Ausdruck einer bestimmten Sozialphilosophie; er nimmt vielmehr 123 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (160f.) [»(…) es finde sich in der That bei allen Völkern, daß sie eben sowohl Gottesfurcht und gute Sitten, als die Erhaltung des äußerlichen Friedens (…) um ihrer selbst willen zu den Gegenständen rechneten, für welche der Staat sorgen sollte, und daß dies insbesondere in den Gesetzen liege, nach welchen Gotteslästerung und Blutschande eben sowohl bestraft werden, als Mord und Diebstahl (…).«]. 124 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (168). 125 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (169f.). 126 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (172). 127 Auch einzelne Taten, die bestimmte Güter vollständig »auslöschen«, rechtfertigen Birnbaum zufolge eine entsprechende Terminologie nicht, vgl. dazu Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (172) [»Zwar kann dadurch, daß wir des Lebens beraubt werden, nach der Natur der Sache nicht mehr von Ausübung unserer Rechte durch uns selbst die Rede seyn, und dadurch, daß uns eine uns gehörige bestimmte körperliche Sache zerstört wird, das Recht auf diese individuelle Sache nicht mehr als bestehen, sondern nur ein Recht auf ein Aequivalent uns zustehend angenommen werden. Allein solche einzelne Fälle, in welchen der gewöhnliche Sprachgebrauch nicht ganz unpassend seyn dürfte, rechtfertigen keineswegs den Sprachgebrauch im Allgemeinen (…).«]. 128 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (180). 129 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (175f.).

Das Rechtsgut bei Birnbaum

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für seine Theorie in Anspruch, unabhängig von bestimmten staatstheoretischen Überlegungen zu sein: »Wie man auch immer über Rechtsgrund und Zweck des Staates denken mag, es wird sich mit verschiedenen Ansichten hierüber vereinigen lassen, wenn man annimmt, daß es zum Wesen der Staatsgewalt gehöre, allen im Staate lebenden Menschen auf gleiche Weise den Genuß gewisser Güter zu gewährleisten, welche den Menschen von Natur gegeben oder eben das Resultat ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und des bürgerlichen Vereines sind. Es mag dahingestellt bleiben, ob der Mensch außer dem Staate in einem sogenannten Naturzustande schon Rechte habe oder nicht.«130

Kein Zweifel könne jedoch daran bestehen, dass es die Güter seien, welche die rechtliche Stellung des Einzelnen im Staat definieren.131 Deshalb sei auch für die Klassifikation der unterschiedlichen Verbrechen der Güterbegriff zugrunde zu legen. So gebe es Delikte, die »von der Art sind, daß durch dieselben zunächst bestimmte Personen an einem der durch die Staatsgewalt Allen zu garantierenden Güter verletzt werden.«132 Daneben gebe es »andere von der Art, daß die Handlung der Gesamtheit unmittelbar eines dieser Güter entzieht, vermindert oder gefährdet (…).«133 Erstere nennt Birnbaum »natürliche«, letztere »sociale« Verbrechen.134 Mit der so formulierten Güterlehre seien mehrere Vorteile verbunden: Wird das Gut als Gegenstand des Verbrechens verstanden, so könne zunächst einmal der Unterschied zwischen Verletzung und Gefährdung bestimmt werden.135 Ferner sei eine »Eintheilung (…) in Verbrechen gegen das Gemeinwesen und Verbrechen gegen Individuen« möglich.136 Zu ersteren gehörten auch die Sittlichkeits- und Religionsdelikte.137 Außerdem lasse sich »auch der Unterschied zwischen Versuch und Vollendung des Verbrechens auf eine natürlichere Weise bestimmen, als es nach dem unsicheren Begriff der Rechtsverletzung im gewöhnlichen Sinne möglich ist.«138 Die Bedeutung der Güterlehre Birnbaums wird heutzutage unterschiedlich beurteilt.139 Jedenfalls darf Birnbaum nicht als strafkritisch, den Strafzugriff des 130 131 132 133 134 135 136 137

Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (178). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). Vgl. dazu Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177): [»Wie ein Volk auch immer über den Werth religiöser und sittlicher Vorstellungen als ein unter die allgemeine Garantie zu stellendes Gemeingut des Volks denken mag, (…) immer wird eine Summe religiöser und sittlicher Vorstellungen als ein unter die allgemeine Garantie zu stellendes Gemeingut des Volks angesehen werden können (…)«.]. 138 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 149 (177). 139 Vgl. dazu etwa Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 45ff.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

Gesetzgebers begrenzender Denker verstanden werden, denn seine Perspektive auf das Strafrecht ist deskriptiv-ordnender, nicht normativer Natur: Die Idee des strafrechtlich geschützten Gutes basiert auf sprachlogischer-semantischer, nicht theoretischer Argumentation. Sie provoziert damit keinen Begründungszwang für das Strafrecht. Der Ausgangspunkt seines Rechtsgutsgedankens ist damit keineswegs strafrechtskritischer Natur. So rechtfertigt er beispielsweise die Kriminalisierung von unreligiösem oder unsittlichem Verhalten. Genau dieser Aspekt spiegelt sich in der heutigen Rezeption Birnbaums nieder, wenn es beispielsweise heißt, dass »an der Wiege des Rechtsgüterschutzgedankens der Wunsch nach Expansion des Strafrechts gestanden hat.«140

V.

Der Einfluss der hegelschen Philosophie in der Strafrechtswissenschaft ab 1840

Der Gütergedanke kann sich in der Strafrechtswissenschaft jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt durchsetzen. Besondere Beachtung finden Birnbaums Gedanken erst Ende des 19. Jahrhunderts bei Binding.141 In der Zwischenzeit avanciert die hegelianische Verbrechenslehre im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zum dominierenden Bezugsgegenstand der Strafrechtstheorie. Die Philosophie Hegels nimmt ab etwa 1840 großen und zugleich anhaltenden Einfluss auf die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts.142 Hegels Verständnis des Strafrechts ist nur vor dem Hintergrund der Grundannahmen seiner allgemeinen Philosophie zu verstehen. In der Phänomenologie des Geistes143 zeichnet er sein Bild von der Struktur der Weltgeschichte als dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese.144 Jede These provoziert notwendigerweise ihren Gegensatz (Antithese) und muss anhand dieser geprüft werden, bevor sie qualitativ gestärkt wiederkehrt (Synthese).145 Sämtliche Bereiche menschlichen Lebens sind in der Philosophie Hegels dadurch gekennzeichnet. Vormbaum bringt den Universalitätsanspruch der hegelschen Dialektik auf den Punkt: »Zu allem, was begrenzt ist, gibt es ein Gegenteil, von dem es in Frage gestellt wird und mit dem es sich auseinandersetzen muss.«146 140 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 53 mit weiteren Nachweisen. 141 Vgl. dazu unten 2. Kap., V. (»Das Wiederaufleben des Güterschutzgedankens bei Binding«). 142 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1983), § 267, S. 294. 143 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807). 144 Vgl. dazu ausführlich Schnädelbach, Hegel (1999), S. 47ff. 145 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 65. 146 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 65.

Der Einfluss der hegelschen Philosophie in der Strafrechtswissenschaft ab 1840

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Jede Position, bedarf also ihrer Negation, um als Negation der Negation zur Synthese emporgehoben zu werden. Dieses erkenntnistheoretische Fundament überträgt sich auch auf die Rechtsphilosophie Hegels, die er 1820 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entfaltet. Im Zentrum dieses Werks steht die Entwicklung der Rechtsidee in Abgrenzung zur Entwicklung des Begriffs: »Die Philosophie hat es mit Ideen und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu tun (…).«147

Als »Teil der Philosophie« habe auch die Rechtswissenschaft »daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriffe zu entwickeln (…).«148 Erkenntnistheoretisch gesehen basiert Hegels Rechtsphilosophie also auf einer dialektischen Entfaltung der Rechtsidee aus der »Vorstellung«149 und damit auf einer dialektischen, vor- bzw. überpositiven, vernunftrechtlich ausgerichteten Methodologie.150 Inhaltlich ist Hegels Rechtsphilosophie vom Topos der Freiheit des Willens als Grundlage der Rechtsidee beherrscht: »Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.«151

Die Idee des Rechts ist damit bedeutungsidentisch mit der Idee objektiver Freiheit: »Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein weil es das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freiheit ist.«152

Die allgemeine, abstrakte Idee der Freiheit bildet sich in der Idee des Rechts dadurch ab, dass der Einzelne als Person verstanden wird:

147 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 1. 148 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 2. 149 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 2 (»Indem so sein Inhalt für sich notwendig ist, so ist das Zweite, sich umzusehen, was in den Vorstellungen und in der Sprache demselben entspricht.«). 150 Vgl. dazu Hegel, Vorlesungen (1840), S. 172 (»Dem Naturrecht steht das positive Recht gegenu¨ ber. Es ist statutarisch, geordnet nach Willku¨ r, Zufa¨lligkeit, ohne die notwendigen philosophischen Begriffe des Rechts. Naturrecht, was die Rechte der Natur sind – falsch –; denn die Natur hat kein Recht – eigentlich sollte es Vernunftrecht heißen. Denn nach dem wo¨ rtlichen Sinne hieße Naturrecht, was Recht ist im Naturzustand, weil aber da kein Recht stattfindet, so wa¨ re es Recht des Sta¨ rkeren, Gewalt, Recht der Tiere.«). 151 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 4. 152 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 30.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

»In der Persönlichkeit liegt, daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (…) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß.«153

Die Persönlichkeit ist dabei gleichbedeutend mit der Rechtsfähigkeit: »Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.«154 Dabei geht es aber nicht um die Realisierung individueller Freiheit als schrankenlose Betätigung des subjektiven Willens, sondern um Freiheitsgarantien, die sich in einem dialektischen Prozess am Objektiven, am Allgemeinen, also am Vernünftigen messen und als dialektisch erzeugte und damit legitimierte Synthese zum Subjekt zurückkehren: »Die Hauptsache ist, daß die Freiheit, wie sie durch den Begriff bestimmt wird, nicht den subjektiven Willen und die Willkür zum Prinzip hat, sondern die Einsicht des allgemeinen Willens, und daß das System der Freiheit freie Entwicklung ihrer Momente ist.«155

Der freie Wille im Sinne seiner Objektivität (allgemeiner Wille) ist damit die Grundlage der hegelschen Rechtsphilosophie und des hegelschen Freiheitsbegriffs: »(…) wenn die Idee den alleinigen Inhalt des Geistes bildet, dann hat der subjektive Geist sein Ziel erreicht und geht in den objektiven Geist über. Dieser weiß seine Freiheit, erkennt, daß seine Subjektivität in ihrer Wahrheit die absolute Objektivität selbst ausmacht und erfasst sich nicht bloß in sich als Idee, sondern bringt sich als seine äußerlich vorhandene Welt der Freiheit hervor.«156

Dieser grundlegende Satz in Hegels Rechtsphilosophie führt zu einem Freiheitsverständnis, das die Begriffe des Objektiven und des Subjektiven im Sinne einer Synthese miteinander vereint, sie aber zugleich voneinander trennt. Sinn formuliert dies folgendermaßen: »In der Idee sind Subjektivität und Objektivität dasselbe, ebenso sind sie aber auch verschieden und in dieser Unterschiedenheit identisch.«157

Die Objektivierung des subjektiven Willens verlangt bei Hegel demnach vom rationalen Geist die »Beschränkung« des subjektiven Willens, als »Bedingung aus

153 154 155 156

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3. Aufl. (1830), Werke Bd. 10, § 444 Zusatz. 157 Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 235 mit Verweis auf Lesch, Der Verbrechensbegriff (1999), S. 112ff. und Schild, GS Tammelo (1984), S. 377 (387).

Der Einfluss der hegelschen Philosophie in der Strafrechtswissenschaft ab 1840

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welcher die Befreiung hervorgeht, (…).«158 Dann sind »Gesellschaft und Staat (…) die Zustände, in welchen die Freiheit (…) verwirklich wird.«159 Erst vor diesem Hintergrund erhellt sich Hegels Definition des Verbrechens, die er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts folgenderweise formuliert: »Der erste Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt, ist Verbrechen.«160

Die Deliktszurechnung ist damit zum einen dadurch gekennzeichnet, dass der Verbrecher frei, also Person ist.161 Das Verbrechen ist dann ein Selbstwiderspruch, »weil es eine That ist, durch welche der Handelnde sich die Basis des eigenen Daseins als einer sich selbst bestimmenden Persönlichkeit entzieht, weil es einen Zweck setzt, den der Handelnde, je nach seiner concreten aber allgemeinen Bedeutung, zugleich will und nicht will.«162 Zum anderen, und vor allem für die Frage nach dem strafrechtskritischen Potential der hegelschen Rechtsphilosophie von besonderer Bedeutung163, ist die Kennzeichnung des Verbrechens als Verletzung des Daseins der Freiheit in einem objektiven Sinn, als Verletzung des Rechts als Recht.164 Vor dem Hintergrund des hegelianischen Freiheitsverständnisses erklärt sich also, dass das Wesensmerkmal der Straftat in der Verletzung der Freiheit als objektiver Idee und damit in dem Angriff auf die Rechtsidee per se zu erblicken ist. In der Strafrechtswissenschaft blieb Hegels Straftheorie zunächst unbeachtet. Erst circa zwanzig Jahre nach Erscheinen der Grundlinien und neun Jahre nach seinem Tod bricht der hegelianische Idealismus in das deutsche Strafrechtsdenken ein und schlägt »eine ganze Generation von Juristen in ihren Bann«165. Bekannte Vertreter der sich nun etablierenden hegelianischen Strafrechtsschule sind etwa Abegg166, Hälschner167, Köstlin168 und Trendelenburg169. Dabei wird die 158 159 160 161

162 163 164 165 166 167 168 169

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1840), S. 52. Siehe dazu auch Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 278 [»Hegel vermag deshalb auch, die Tat mit der Strafe unmittelbar zu verknüpfen, ohne die Vergangenheit (die Tat) mit etwas Zukünftigem (Strafe) unmittelbar zu verbinden. Deshalb bietet Hegel eine Straftheorie an, während Feuerbach eine Strafandrohungstheorie unterbreitet.«]. Hälschner, System des Preussischen Strafrechts (1858), Erster Teil Bd. I, S. 218. Vgl. dazu ausführlich Wohlers/Went, in: von Hirsch (Hrsg.), Strafe – warum? Gegenwärtige Strafbegründungen im Lichte von Hegels Straftheorie (2011), S. 173, 179ff. Siehe dazu ausführlicher Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 279ff. Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 28, Fn. 1. Vgl. insbesondere Abegg, Lehrbuch der Strafrechtwissenschaft (1836). Vgl. insbesondere Hälschner, System des Preussischen Strafrechts (1858), Erster Teil Bd. I u. II. Vgl. etwa Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts (1845); ders., System des deutschen Strafrechts (1855). Vgl. etwa Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik (1860).

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

hegelianische Idee von der Verletzung des Rechts als Recht unterschiedlich stark rezipiert.170 Die wohl deutlichste Betonung171 findet sich bei Köstlin: »Das Verbrechen hat im Gegensatz zu jeder anderen Art von Unrecht seine Eigenthümlichkeit darin, dass es nicht bloss gegen eine bestimmte Erscheinung des Rechts, sondern gegen dessen Wesen gerichtet ist. Es negirt das Recht in seiner Allgemeinheit, es stellt den Grundsatz in Frage, auf welchem das angegriffene besondere Recht beruht.«172

Aus der Rezeption des hegelschen Verbrechensbegriffs resultiert sodann auch die Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafunrecht in der hegelianischen Strafrechtschule. Das Wesen des Verbrechens unterscheide sich »als solche von andere Formen des Unrechts dadurch, daß es das Recht an sich, als eine das menschliche Wollen und Handeln bestimmende sittliche Macht zu seinem Objecte hat (…).«173 Der Charakter des zivilen Unrechts hingegen liege darin, dass es nicht allgemein, sondern nur in der »Beziehung auf das Recht des Andern als Unrecht« wirkt, dass es »in allen Fällen nur relatives Unrecht ist.«174 Es betrifft demnach das »subjective Interesse«.175 Die in diesem Sinne unrechtmäßige Handlung ist ein Angriff auf die Person als Einzelnen, eine Negation des Besonderen »im Prädikat des Meinigen«, nicht hingegen »des Rechts als Recht«.176 Das Strafunrecht ist demnach Verletzung des objektiven Rechts, das bürgerliche Verletzung des subjektiven Rechts.177 An diesem Wesensmerkmal des Verbrechens hält die hegelianische Schule in ihrer weiteren Entwicklung im Grundsatz fest, befasst sich aber zunehmend auch damit, das »besondere Recht« vom allgemeinen zu trennen und ersteres genauer zu beschreiben.178 Der Fokus gerät dabei – in »einer sich von der hegelschen Grundkonzeption fortbewegenden Entwicklung«179 – auch auf das Verletzungsmedium. In diesem Prozess finden schließlich auch der von Birnbaum entwickelte Rechtsgutsgedanke und Feuerbachs Idee der Rechtsverletzung Eingang in die hegelianische Strafrechtstheorie. So heißt es etwa bei Hälschner: 170 Vgl. dazu ausführlich Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 31ff. 171 So Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 31. 172 Köstlin, System des deutschen Strafrechts (1855), § 6. 173 Hälschner, System des Preussischen Strafrechts, Erster Teil Bd. II (1858), S. 218. 174 Hälschner, System des Preussischen Strafrechts, Erster Teil Bd. II (1858), S. 1. 175 Hälschner, System des Preussischen Strafrechts, Erster Teil Bd. II (1858), S. 1. 176 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 35. 177 So auch Sinn, in: Gropp/Lipp/Steiger (Hrsg.), FS zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2006), S. 321, 332ff.; ders., Straffreistellung aufgrund von ¨ nver (Hrsg.), Das Schuldprinzip des tu¨ rkiDrittverhalten (2007), S. 242; ders., in: Duttge/U schen StGB im Spiegel des deutschen Strafrechts (2013), S. 65ff. 178 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 33f. 179 So Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 38.

Das Wiederaufleben des Güterschutzgedankens bei Binding

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»Wenn aber das Recht ein endliches Dasein, in welchem allein es für die verbrecherische That erfassbar ist, nur in der Form von Rechten und rechtlichen Gütern erlangt, so setzt das Verbrechen in allen Fällen die Beschädigung eines solchen rechtlichen Gutes voraus.«180

Damit findet aber allenfalls eine bereits bekannte Terminologie ihren Platz bei den Hegelianern, die Möglichkeit der Bildung eines materiellen Verbrechensbegriffs wird hingegen verneint.181 Die besonderen Rechte, die im Allgemeinen enthalten sind, seien historisch relativ und daher nicht abstrakt zu beschreiben.182 Unter dem Einfluss der hegelianischen Strafrechtsphilosophie des 19. Jahrhunderts verblasst das – zumindest im theoretischen Ansatz enthaltene – liberale Denken der Rechtsverletzungslehre mithin nicht vollständig, erschöpft sich aber in einer zunehmend relativistischen Konkretisierung des allgemeinen Willens.

VI.

Das Wiederaufleben des Güterschutzgedankens bei Binding

Ideengeschichtlich ist die sich anschließende, postidealistische Phase des 19. Jahrhunderts vornehmlich von den Gedanken eines naturalistischen Positivismus geprägt.183 Rasante technische Fortschritte und die Begeisterung für die Naturwissenschaften erklären den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fokus auf das Positive.184 Staats- oder moralphilosophische Überlegungen treten in den Hintergrund. Es geht darum, dem Seienden eine Legitimität aus sich selbst heraus zu verschaffen.185 Dieser Gedanke überträgt sich nun auch auf die Rechtswissenschaft: Die hegelianische Rechtsphilosophie gilt als überwunden und die Jurisprudenz avanciert unter den Einflüssen des Positivismus zur »Allgemeinen Rechtslehre«, einer »Philosophie«, die einzig das positive Recht in Augenschein nimmt.186 Die sich 180 Hälschner, System des Preussischen Strafrechts, Erster Teil Bd. II (1858), S. 214. 181 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 35. 182 So etwa Abegg, Temme und Geib; vgl. dazu Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 35. 183 Vgl. dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 53ff. 184 Siehe dazu Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1983), § 272, S. 303f. 185 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 53 (»Vor dem Anspruch der Naturwissenschaften erhält das Denken über das, was sein soll, den Makel des Subjektiven und Beliebigen, weil es seine Wahrheit nicht in einer unverrückbar erscheinenden Wirklichkeit ausweisen kann.«). 186 Vgl. dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 53, 61; Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1983), § 272, S. 303f.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

zuvor schon in der Restauration andeutende Entkleidung des Rechtsbegriffs von gesellschaftlichen und staatspolitischen Reflexionen kulminiert nun in einem ausgeprägten Rechtformalismus187: Die Rechtswissenschaft untersucht ihren Beschäftigungsgegenstand nicht mehr unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftlichen Bedeutung, vielmehr gilt es durch Abstraktion aus dem positiven Recht selbst seine Grundannahmen zu deduzieren. In der Strafrechtswissenschaft ist es vor allem Binding, der diesen Formalismus zum Dreh- und Angelpunkt seiner Strafrechtstheorie erhebt, den von Birnbaum entwickelten Begriff des Rechtsguts aufgreift und ihn fortan in der Terminologie der Strafrechtswissenschaft etabliert.188 In Bindings strafrechtstheoretischem Werk ist das Wesenselement des Verbrechens der Normverstoß. Normen sind die den Strafgesetzen gedanklich vorgelagerten staatlichen Imperative.189 Daraus ergibt sich die, für die Bestimmung des Verbrechensbegriffs wesentliche, Differenzierung zwischen darstellenden Normen und anordnenden Bestandteilen des Strafgesetzes: »Alle unsere Strafgesetze (…) weisen den gleichen zweiteiligen Bau auf. Von diesen zwei Teilen enthält der erste darstellende, die Voraussetzung des zweiten anordnenden. Die Anordnung lautet entweder: es solle Strafe eintreten oder nicht.«190

Die Rechtssätze, die der Verbrecher verletzt, sind nicht die anordnenden Vorschriften, sondern die Normen, »weil der Verbrecher nur den Satz übertreten kann, der ihm die Richtschnur seines Verhaltens vorschreibt.«191 Das Spezifikum des Delikts ist bei Binding also der Normverstoß, der im Zusammenspiel mit einer anordnenden Strafvorschrift zum Verbrechen wird.192 Bindings Verbrechensbegriff fundiert dabei auf der Annahme eines staatlichen subjektiven Rechts auf Gehorsam: »Allen diesen Pflichten ist gemeinsam, dass sie in der Unterordnung unter einen Befehlswillen bestehen – sie sind Pflichten des Gehorsams oder der Botmässigkeit (…)«193

187 Siehe dazu Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 39 und Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 53 (»Der Rechtspositivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts erwächst aber nicht mehr allein aus jener vorsichtigen Abwehr der Spekulation, die die Haltung der »gemäßigten« Positivisten der Restaurationsepoche bestimmt hatte, sondern entspringt einer tief empfundenen, kämpferischen Überzeugung, die weit selbstsicherer ist, weil sie sich aufs engste mit dem Zeitgeist verbunden hat.«). 188 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 1. Aufl. (1872). 189 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 1. Aufl. (1872), S. 6. 190 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 1. Aufl. (1872), S. 6. 191 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. (1916), S. 7. 192 Vgl. dazu auch Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (29). 193 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. (1916), S. 96.

Das Wiederaufleben des Güterschutzgedankens bei Binding

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Strafgesetze seien deswegen »bejahende Rechtssätze«194. Sie affirmierten das Recht des Staates bei verweigertem Normgehorsam zu strafen: »Die Strafe ist also das gegen den Delinquenten geltend gemachte Recht auf Befolgung der staatlichen Normen behufs notwendiger Bewährung der Autorität des jeweils verletzten Gesetzes.«195

Zur Differenzierung der verschiedenen Delikte akzentuiert Binding schließlich in einem weiteren Schritt den Zweck der Normen und erweitert sein formalistisches Konzept damit um ein materielles, vorrechtliches Moment: »Der Gesetzgeber sucht die tatsächlichen Bedingungen gesunden Gemeinlebens; (…) Und damit ist das Objekt des unmittelbaren Schutzbedürfnisses gefunden: dieses wird zum Objekt der Norm, seine Verletzung zur Straftat gestempelt.«196

Das Schutzobjekt bezeichnet Binding schließlich als »Rechtsgut«.197 Seine inhaltliche Konkretisierung erfährt der Begriff dann jedoch nicht durch eine genauere Untersuchung der »Bedingungen des gesunden Gemeinlebens«, sondern ganz im Geiste des avancierenden Rechtspositivismus aus der gesetzgeberischen Wertentscheidung, die sich im positiven Recht ausdrückt: »Rechtsgut ist vielmehr Alles, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung das positive Recht nach seiner Ansicht ein Interesse hat, was es deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.«198

Hier wird klar, dass Binding im Rahmen seiner rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung deutlich zwischen der positiven Norm als faktischer Erscheinung und den hinter ihr stehenden außerrechtlichen Zwecksetzungen, die er als »Bedingungen gesunden Gemeinlebens« bezeichnet, unterscheidet. Diese auch für den späteren Rechtspositivismus so charakteristische Trennung von Wirklichkeit und Sinn199 kann ihm argumentativ nur deshalb gelingen, weil er seiner Theorie ein legitimitätsstiftendes staatliches Recht auf Gehorsam zugrunde legt. Auch diese Methode ist charakteristisch für die Architektur positivistischer Theorien.200 Sie spiegelt sich sodann bei Binding in einem formal-logischen Begriff des Rechtsguts wider, der allein auf die gesetzgeberische Wertung als einziges »Motiv gesetzgeberischen Rechtsschutzes«201 abstellt.

194 195 196 197 198 199 200

Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. (1916), S. 96. Binding, Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 6. Aufl. (1902) S. 190. Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. (1890), S. 339. Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. (1916), S. 193. Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. (1916), S. 193. Siehe dazu weiter unten 3. Kap., I. (»Rechtspositivistische Strafrechtsbegründung«). Siehe zur Grundnorm in Kelsens Reiner Rechtslehre weiter unten 3. Kap., I. 2. e) (»Die Grundnorm«). 201 Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. (1890), S. 339.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

Anders aber als die späteren Rechtspositivisten202 begibt sich Binding noch auf die Suche nach den »vorpositiven Merkmalen des Delikts«.203 Für den Juristen bleibe dabei aber »nur Resignation übrig«204, denn hinter »Verbot und Gebot beginnt (…) für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel.«205

VII.

Der Verbrechensbegriff bei von Liszt

Gegen Bindings formal-positivistische Ausrichtung der Rechtswissenschaft wendet sich alsbald »sein größter Gegenspieler«206 von Liszt. In seiner berühmten Berliner Antrittsrede moniert er den fehlenden Wirklichkeitsbezug der Jurisprudenz: »Man mag sie als Kunst bezeichnen (ars aequi ac boni) oder als Fertigkeit, wie man will. Mir kommt es nicht auf den Namen, sondern auf die Tatsache an, daß die Aufgabe der theoretischen Jurisprudenz in der logischen Verknüpfung der Begriffe sich erschöpft.«207

Als Wissenschaft könne sie jedenfalls nicht bezeichnet werden, denn für den Begriff der Wissenschaft sei zu fordern, »daß sie sinnfällige Erscheinungen in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang untersucht«208: »Die Strafrechtswissenschaft hat daher zunächst die Erscheinung, die wir Verbrechen nennen, auf ihre Ursachen zurückzuführen und aus diesen zu erklären.«209

Als Anknüpfungspunkt für diesen »gesetzmäßigen Zusammenhang«, in dem das Verbrechen steht, für dessen Ursache, übernimmt von Liszt den schon von von Ihering ausgerufenen Zweckgedanken210 in die Kriminalwissenschaft und untersucht zunächst den Funktionalismus pönalisierender Imperative.211 In seinem berühmten Marburger Programm212 nimmt von Liszt dabei eine – aus heutiger 202 203 204 205 206 207 208 209 210

Insbesondere Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960). Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 2, 2. Aufl. (1914), S. 159. Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 2, 2. Aufl. (1914), S. 160. Binding, Die Normen und Ihre Übertretung, Bd. 2, 2. Aufl. (1914), S. 160f. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 82. von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze (1905), Bd. 2, S. 78. von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze (1905), Bd. 2, S. 77. von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze (1905), Bd. 2, S. 289. Siehe dazu vor allem Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 5. Aufl. (1916) und Bd. 2, 5. Aufl. (1916). 211 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (17) (»Aber die Entwicklung der rechtlichen und sittlichen Norm, die Abschätzung der Handlung in ihrem rechtlichen und sittlichen Wert, die Reaktion in der Form der objektivierten Rechtsstrafe ist bedingt durch die Erfahrung und durch den in ihr gewonnenen Zweckgedanken.«). 212 von Liszt, ZStW 3 (1883), S. 1ff.

Der Verbrechensbegriff bei von Liszt

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Sicht nahezu verstörend wirkende213, an den Darwinismus angelehnte214 – Analyse der Entwicklungsgeschichte der Strafe vor. Schon immer sei es der unerkannte und unverstandene Zweck der Strafe gewesen, »die Lebensbedingungen nicht bloß des einzelnen, sondern der vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen« durch die Strafe zu schützen.215 Von Liszt legt hier die These zugrunde, dass jeder »(…) Fortschritt in der geistigen Entwicklung des Einzelindividuums wie der Menschheit (…)« darin bestünde, »(…) daß die Triebhandlung in die Willenshandlung sich umsetzt (…)«.216 Dabei sei es der Zweckgedanke, der die Willenshandlung von der Triebhandlung unterscheide.217 Für die Strafe bedeute dies, dass erst mit der »Objektivierung der Strafe, (…) mit dem vollen Übergang (…) auf den Staat (…) der entscheidende Schritt« getan sei.218 Von Liszt fasst diese Erkenntnis folgenderweise zusammen: »Das völlige Gebundensein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit.«219

Dabei seien es zum einen die objektiven staatlichen Imperative, welche die Lebensbedingungen der Gemeinschaft schützten, zum anderen aber auch die unmittelbare Strafsanktion: Die Strafe ist »ein zweischneidiges Schwert: Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung«220. Ganz im Gegensatz zu Binding knüpft von Liszt in seiner weiteren Argumentation an außerrechtliche Gegebenheiten an, denn die abstrakt-logischen am positiven Recht ausgerichteten Theorien ließen vermissen, dass mit dem Verbrechen »immer ein sinnfälliges Ereignis der Außenwelt, ein Geschehen an Menschen und Dingen, eine Veränderung nach den die Natur beherrschenden Kausalgesetzen«221 verbunden sei. Ausgehend von dieser Überzeugung legt von Liszt den Fokus seiner Überlegungen auf den Zweckzusammenhang zwischen

213 Dieser wertende Hinweis sei trotz des deskriptiven Charakters dieses Kapitels erlaubt; vgl. dazu nur von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (18) [»Der Trieb wird in den Dienst des Zweckes gestellt, die Handlung dem Zwecke angepasst. (…) jemehr endlich das ganze Handeln mit all seinen Teilakten sich seinem höchsten Zweck unterordnet, der vielleicht über das Dasein des Einzel-Individuums hinausreicht – um so vollkommener ist die Entwicklung, deren letztes Ziel: die völlige Einstimmung des Einzelwillens in den Allgemeinwillen als Ideal aufgegeben werden muß, aber gerade darum nicht gegeben ist.«]. 214 Das darwinistische Element im Marburger Programm benennt auch Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 83. 215 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (17). 216 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (17f.). 217 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (18). 218 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (18f.). 219 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (32). 220 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (32). 221 von Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (672).

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

dem Phänomen der Straftat und der staatlichen Strafreaktion, was sich sodann auch in seiner Untersuchung des Rechtsgutes niederschlägt: »Es ist klar, daß mit dem »Rechtsgute« der Zweckgedanke Einzug in das Gebiet der Rechtslehre hält, daß die teleologische Betrachtung des Rechts beginnt und die formallogische ihr Ende findet.«222

Weil das Verbrechen also bei von Liszt ein soziales, außerrechtliches Phänomen und nicht bloß eine gesetzgeberische Konstruktion ist, bedarf es zu seiner Untersuchung der »Gesellschaftswissenschaft, der systematischen Massenbeobachtung«.223 Dabei richtet von Liszt seinen Blick aber ausschließlich auf eine Untersuchung der Genese von Kriminalität und den sozialen Zweck der Strafe. Der Frage nach den konkreten gesetzgeberischen Grenzen, also danach, welcher Zweck eine Kriminalisierung legitimiert, geht er nicht weiter nach, denn ihm zufolge sei die »Betrachtung des Rechts unter dem Gesichtspunkt des Zweckes die Aufgabe der Politik, soweit es sich um Verbrechen und Strafe handelt, der Kriminalpolitik (…).«224 Damit ist auch von Liszts Rechtsgutsbegriff letztlich ein positivistischer. Inhaltlich bezieht er sich nicht auf die hinter den Strafgesetzen liegenden Zwecke, sondern umschreibt letztlich nicht mehr als die rechtlich geschützten Interessen. Dies wird besonders deutlich, wenn er formuliert: »Alles Recht ist der Menschen willen da; ihre Interessen, die der einzelnen wie der Gesamtheit, sollen geschützt und gefördert werden durch die Satzungen des Rechts. Die rechtlich geschützten Interessen nennen wir Rechtsgüter.«225

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Auch wenn der Begründungsgang völlig konträr verläuft, ist Binding und Liszt letztlich gemein, dass sie keine inhaltlichen Kriterien entwickeln, die den staatlichen Strafzugriff konkret limitieren; insofern lässt sich Binding einem formal-normlogischen Positivismus zuordnen, während von Liszts Konzept einem naturalistisch-soziologischen Positivismus folgt.226 Wenngleich sich beide in ihrer Methodik maßgeblich un-

222 von Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673). 223 von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 (32f.) (»Es gibt nur eine Methode, durch welche die Antwort auf diese Fragen mit unzweifelhafter Gewißheit gefunden werden kann: die Methode der Gesellschaftswissenschaft, die systematische Massenbeobachtung. Die Kriminalstatistik, das Wort im weitesten Sinne, kann uns allein zum Ziele führen. Wir müssen das Verbrechen als soziale Erscheinung, die Strafe als soziale Funktion untersuchen, wollen wir die rechtsgüterschützende, verbrechensverhütende Wirkung der Strafe mit wissenschaftlicher Bestimmtheit feststellen. Das ist der Boden, auf dem allein der Streit endgültig ausgetragen werden kann.«). 224 von Liszt, ZStW 13 (1893), 325 (357). 225 von Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673). 226 Sina, Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 40.

Die weitere Entwicklung der Debatte im südwestdeutschen Neukantianismus

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terscheiden, hat in beiden Konzeptionen der Staat die Definitionsmacht über strafwürdiges Unrecht.227

VIII. Die weitere Entwicklung der Debatte im südwestdeutschen Neukantianismus Die sich bei Binding bereits andeutende Tendenz der inhaltlichen Entkleidung des Rechtsgutsbegriffs findet ihren Höhepunkt schließlich im südwestdeutschen Neukantianismus.228 Kennzeichnend für den Neukantianismus ist der schon von Kant gelehrte Satz, dass aus dem Sein kein Schluss auf das Sollen gezogen werden kann.229 Dabei folgen die Neukantianer grundsätzlich dem transzendentalen Idealismus, wollen Kants Philosophie jedoch von allen psychologischen und metaphysischen Relikten bereinigen, um ein »einheitliches logisch-erkenntnistheoretisches System« zu erzeugen.230 Tragend für den Neukantianismus ist die sog. Wertlehre. Diese besagt: »Werte sind keine Wirklichkeiten, weder physische noch psychische. Ihr Wesen besteht in ihrer Geltung, nicht in ihrer Tatsächlichkeit.«231

Insbesondere die Vertreter der sog. südwestdeutschen neukantianischen Schule232 übertragen den kantischen Methodendualismus auf den Bereich strafrechtlicher Grundlagenreflexionen.233 Entsprechend ihres Untersuchungsgegenstandes versteht sich die neukantianische Rechtslehre als eine rein normative Wissenschaft.234 Ihr geht es deshalb um die Erforschung der Rechtsnormen im Wege der objektiven Sinndeutung.235 Vor allem Honig widmet sich der Idee des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes und gelangt dabei nach einer Analyse der Geschichte des Rechtsgutsdenkens zu dem Befund, dass sich ein materieller Verbrechensbegriff vom Schutzobjekt eines Straftatbestandes weder deduktiv 227 So auch Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 15. 228 Vgl. dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 126ff. 229 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 157. 230 Holzey, in: Ritter/Gründer/Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Neukantianismus, S. 751. 231 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1. Aufl. (1899), S. 89. 232 Siehe vor allem Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902); instruktive Zusammenfassung bei Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 126ff. 233 Siehe dazu ausführlich Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken: Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus und ihre Rezeption in der Strafrechtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts (2009). 234 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 157. 235 Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. (2015), S. 157.

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Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie

noch induktiv herleiten lasse.236 Die Bestimmung eines solchen Begriffs sei daher ein »Versuch am untauglichen Objekt«237. Sie resultiert in einer vollständigen Entmaterialisierung, die sich anhand des folgenden Zitates eindrücklich exemplifizieren lässt: »Indem ein jeder strafandrohender Rechtssatz der Verletzung oder Gefährdung eines für das Rechtsleben bedeutsamen Wertes vorzubeugen bestrebt ist, ist der Begriff des Schutzobjektes nur diejenige kategoriale Synthese, mit welcher juristisches Denken Sinn und Zweck der einzelnen Strafrechtssätze in komprimierter Form zu erfassen bestrebt ist.«238

Dieser teleologische Rechtsgutsbegriff ist die logische Konsequenz des neukantianischen Ansatzes. Als normative Wissenschaft kann sich die neukantianische Strafrechtsschule im Rahmen der Begriffsbildung überhaupt nicht auf das Handlungsobjekt beziehen, weil es dem Bereich des Faktischen zuzuordnen ist. Rechtsgut kann deswegen nur der »vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel« sein.239

IX.

Schlussfolgerungen

Damit sind konzeptuell die wesentlichen historischen Perspektiven der Bildung eines Verbrechensbegriffs aufgezeigt.240 Die Entwicklung des Rechtsguts vom Argumentationstopos einer liberalen, aufklärerischen Kriminalpolitik zur reinen »Abbreviatur des Zweckgedankens«241 bei den Neukantianern demonstriert zunächst einmal, dass die inhaltliche Auskleidung des Rechtsgutsbegriffs historisch beliebig ist. Am Begriff des Rechtsguts, aber auch allgemein an dem des Verbrechens lässt sich allenfalls die Veränderlichkeit der Rechtsidee explizieren. Bindende Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Diskussion lassen sich schon wegen der Vielfältigkeit der mit dem Begriff jeweils verbundenen Aussagen daraus nur schwerlich ziehen. Damit liegt die Vermutung nahe, dass die Rechtsgutstheorie begrifflich kein kritisches Potenzial besitzt, sondern vielmehr »die dogmatisch-formale Begründung für Ergebnisse ist, die aufgrund externer Maßstäbe gewonnen werden«.242 Wohlers formuliert diesen Befund anschaulich: 236 237 238 239 240

Siehe dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), S. 130. Honig, Die Einwilligung des Verletzten (1919), S. 85. Honig, Die Einwilligung des Verletzten (1919), S. 94. Honig, Die Einwilligung des Verletzten (1919), S. 85. Vgl. zum Rechtsgutsbegriff im nationalsozialistischen Strafrecht Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs »Rechtsgut« (1962), S. 70ff. 241 Grünhut, Festgabe Frank (1930), S. 1 (8). 242 Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2002), S. 281 (281).

Schlussfolgerungen

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»Die Delikte der Zauberei und der Hexerei sind nicht etwa deswegen abgeschafft worden, weil es an einem – begrifflich wie auch immer definierten – Rechtsgut fehlt, sondern deswegen, weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es die Phänomene der Zauberei und Hexerei überhaupt nicht gibt.«243

Weil der Begriff des Rechtsguts beliebig ist, wird er auch überfordert, wenn er als einziger Ausgangspunkt der Strafrechtsbegründung dienen soll. Er verschleiert die tatsächlichen normativen Argumentationsanstrengungen, die mit der Frage nach einem materiellen Verbrechensbegriff verbunden sind. Weil ein solcher immer nur die Spitze eines bestimmten Rechts- und Strafrechtsverständnisses ist, wird nun auch aus historischer Perspektive deutlich: Wer Grund und Grenzen des Strafrechts ausloten will, sollte dieses Vorhaben nicht unter begrifflichen Prämissen durchführen, sondern dessen normativen Grundlagen untersuchen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis lässt sich die Schwierigkeit erahnen, die heutzutage mit der Bildung eines materiellen Rechtsgutsbegriffs verbunden ist, denn im gegenwärtigen Zeitalter existieren keine von allen gleichsam konsentierten Weltbilder oder moralerzeugenden Instanzen, aus denen sich die Legitimation einer Rechtsordnung ohne Weiteres herleiten ließe.244 Habermas hat die Charakteristika des sog. nachmetaphysischen Denkens präzise beschrieben.245 Dabei kommt er unter anderem zu dem Schluss, dass die Philosophie nicht mehr über ein allumfassendes Erkenntnisprivileg verfügt und sie ein solches dementsprechend für sich auch nicht in Anspruch nimmt.246 Wie die gegenwärtig vertretenen Konzepte der Strafrechtsbegründung mit dieser Schwierigkeit umgehen, wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen.

243 Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2002), S. 281 (281). 244 Siehe dazu Rawls, Political Liberalism (2004) S. 4: (»Focusing on the first fundamental question, the course of democratic thought over the past two centuries or so makes plain that there is at present no agreement on the way the basic institutions of a constitutional democracy should be arranged if they are to satisfy the fair terms of cooperation between citizens regarded as free and equal. This is shwon in the deeply contested ideas about how the values of liberty and equality are best expressed in the basic right and liberties of citizens as to answer the claims of both liberty and equality.«). 245 Habermas, Rückkehr zur Metaphysik, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 11ff.; siehe dazu kritisch Gloy, Metaphysik – ein notwendiges Projekt?, in: dies. (Hrsg.), Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches? (2004), S. 25ff. 246 Habermas, Rückkehr zur Metaphysik, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 11 (14).

3. Kapitel: Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Die Ausführungen zur Geschichte des Verbrechensbegriffs haben gezeigt, dass die Bestimmung der Strafwürdigkeit einer Handlung immer auf bestimmten gesellschaftstheoretischen oder philosophischen Axiomen beruht, von denen aus allgemein der Begriff des Rechts und speziell der Begriff des Strafrechts entwickelt wird. Auf Grundlage dieser Erkenntnis werden nun die gegenwärtig vertretenen Verbrechenstheorien untersucht. Dabei lassen sich vier unterschiedliche, und zwar positivistische (I), kontraktualistische (II), empiristische (III) sowie systemtheoretische (IV) Denkansätze und Standpunkte voneinander unterscheiden.247 Diese Möglichkeiten der Strafrechtsbegründung werden im Folgenden jeweils einzeln dargestellt und anschließend kritisch beleuchtet, um letztlich beurteilen zu können, ob sie imstande sind, einen kohärenten Verbrechensbegriff zu bilden.

I.

Rechtspositivistische Strafrechtsbegründung

Den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Strafrechtsbegründung soll der Rechtspositivismus bilden.

247 Man könnte auch, wie es Alexy in Bezug auf die unterschiedlichen Modelle der Rechtsbegründung vorschlägt, eine Unterteilung in analytische, empirische und normative Strafrechtsbegründung vornehmen; vgl. dazu Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 (10); die hier vorgenommene, weniger abstrakte Unterteilung hat aber den Vorteil, dass sie auch die Systemtheorie erfassen kann, die sich nicht per se in eine der von Alexy gebildeten Kategorien einordnen lässt.

48 1.

Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Grundannahmen rechtspositivistischer Theorien

Kennzeichnend für die positivistischen Theorien des Rechts ist auf der Ebene der Begriffsbildung die sog. Trennungsthese. Der Rechtsbegriff ist demnach grundsätzlich so zu verstehen, dass er keine moralischen Elemente enthält bzw. diese nicht maßgeblich für die Idee des Rechts sind.248 Dem strikten Positivisten verbleiben damit nur zwei Merkmale, von denen aus er den Rechtsbegriff definitorisch erfassen kann: die Gesetztheit im Rahmen einer Zwangsordnung sowie die soziale Wirksamkeit von Normen.249 Die zahlreichen Interpretationen der Trennungsthese250 lassen sich auf verschiedene Gewichtungen dieser Bestandteile zurückführen.251 Charakteristisch für positivistische Rechtstheorien ist weiterhin auf der Ebene der Rechtsgeltung die absolute Vorrangthese. Sie folgt aus der Trennungsthese, denn wenn die moralische Richtigkeit kein Bestandteil des Rechts ist, so kann auch dessen Geltung nicht von ihr abhängig sein. Gerät das geschriebene Recht mit der materiellen Gerechtigkeit in Konflikt, gilt für den Rechtspositivisten demnach die These vom absoluten Vorrang des positiven Rechts. Hintergrund beider Thesen ist eine weitere Gemeinsamkeit sämtlicher positivistischer Rechtstheorien: Der Rechtsbegriff wird anhand externer, empirisch greifbarer Tatsachen – wie der sozialen Anerkennung oder des Vorhandenseins einer staatlichen Zwangsordnung – und nicht auf der Basis moralischer Prinzipien definiert.252 Dementsprechend offenbaren alle rechtspositivistischen Standpunkt ein »Bestreben (…), sich auf den festen Boden der Fakten zu begeben.«253 Insofern fundiert der positivistische Zugang auf der Betrachtung physischer und/oder psychischer Gegebenheiten, woraus sich dann auch sinnvoll eine wissenschaftstheoretische Unterteilung in analytische, soziologische oder psychologische Varianten vornehmen lässt.254 Eine weitere – für die vorliegende Arbeit besonders relevante – Unterscheidung bezieht sich auf die Frage, ob moralische Prinzipien überhaupt im Begriff des Rechts inkorporiert sind. So vertreten die Anhänger eines exklusiven Positivismus die These, dass moralische Richtigkeit notwendigerweise vom Begriff 248 So Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 (9); siehe auch Hoerster, ARSP Beiheft 37 (1990), 27 (27) (»Die These besagt, dass es gute Gründe dafür gibt, den Rechtsbegriff moralneutral, d. h. so zu definieren, daß keine moralischen Wertungen in diesen Begriff eingehen. Aus der Trennungsthese folgt: Ob eine bestimmte Norm oder Normenordnung Recht ist, hängt von Kriterien ab, die sämtlich außermoralischer Natur sind.«). 249 Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 (9). 250 Vgl. dazu etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), Rn. 466ff. und W. Ott, Der Rechtspositivismus (1976), S. 33ff. 251 Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 (9). 252 W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016), S. 5. 253 W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016), S. 6. 254 W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016), S. 6.

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des Rechts auszuschließen ist.255 Der inklusive Positivismus hingegen verneint sowohl den exklusiven Positivismus als auch den Nichtpositivismus, denn er sagt aus, dass moralische Prinzipien im Begriff des Rechts weder notwendigerweise aus- noch eingeschlossen sind.256 Das Verhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ist jedoch keine – wie es auf den ersten Blick scheinen mag – singulär rechtstheoretische Debatte, denn auf der Ebene der Rechtsanwendung kann die abstrakte Frage nach dem Zusammenhang von Recht und Moral praktisch relevant werden. Zum einen zeigt sich dies in Situationen, in denen das für den konkreten Sachverhalt entscheidungserhebliche positive Recht im Widerspruch zu einer überpositiven Wertvorstellung steht. Dann geht es um die Frage der Rechtsgeltung. Zum anderen kann sich der Rechtsanwender beispielsweise im Rahmen der Gesetzesauslegung der Frage ausgesetzt sehen, ob den abstrakten Begriffen des positiven Rechts ein überrechtliches Deutungsschema vorgeschaltet ist, das er bei der Auslegung des positiven Rechts zu beachten hat. Dann geht es um die Frage der Begriffsbildung.

2.

Ein positivistischer Straftatbegriff

Ausgehend von diesen Charakteristika ergeben sich für die positivistische Perspektive auf das Strafrecht verschiedene Konsequenzen. Exemplarisch lässt sich dies anhand eines Zitates von Hans Kelsen verdeutlichen. So heißt es in der zweiten Auflage seiner berühmten Reinen Rechtslehre257: »Nicht irgendeine immanente Qualität und auch nicht irgendeine Beziehung zu einer metarechtlichen, natürlichen oder göttlichen Norm (…) macht, daß ein bestimmtes menschliches Verhalten als Unrecht oder Delikt zu gelten habe; sondern ausschließlich und allein, daß es von der positiven Rechtsordnung zur Bedingung eines Zwangsaktes, das heißt einer Sanktion gemacht ist.«258

Bei einer solchen strikt positivistischen Sichtweise verkürzt sich die Bedeutung des Straftatbegriffs vollständig auf den Maßstab seiner Existenz. Strafwürdig ist die Verletzung bestimmter Ver- oder Gebote deshalb, weil sie das positive Recht durch die Verbindung mit einer Sanktionsnorm im Sinne der »Bedingung eines Zwangsaktes« als strafwürdig definiert. Die Legitimität einer Strafnorm verlangt 255 Vgl. dazu insbes. Raz, Authority of Law (2002); ders., in: ders. (Hrsg.), Ethics in the Public Domain (1994), S. 194ff.; ders., ARSP 82 (1996), 1ff.; siehe allgemein zur Unterscheidung Alexy, Ratio Juris 21 (2008), 281ff. 256 Vgl. dazu insbes. Coleman, Journal of Legal Studies XI (1982), 139ff.; ders., The Practice of Principle (2001); außerdem Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 90ff. und Székessy, Gerechtigkeit und inklusiver Positivismus (2003). 257 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960). 258 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 117.

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hier grundsätzlich nicht mehr als die Legitimität jeder anderen Rechtsnorm. Damit verlagert sich die Begründung des Strafrechts allein auf die rechtstheoretischen Grundannahmen, denn zu begründen bleibt nur die These, dass alles Recht seine Geltungskraft ausschließlich aus der Wirklichkeit, also aus seiner Existenz bezieht. Erkennen lässt sich ein vergleichbarer Standpunkt auf der rechtspraktischen Ebene derzeit vor allem in der bundesverfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung mit der materiellen Rechtsgutstheorie.259 Die in diesem Zusammenhang relevante Frage ist, ob dem Rechtsystem – wie es die Vertreter der Rechtsgutstheorie behaupten260 – ein überpositiver Begriff des Strafrechts vorgelagert ist, oder ob der Begriff des Strafrechts sich strikt positivistisch an der Entscheidung des Gesetzgebers zu orientieren hat. Mit dieser Thematik hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Verfahren261 und zuletzt im sog. Inzestbeschluss262 auseinandergesetzt. Insgesamt ist die Haltung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der materiellen Rechtsgutstheorie von einer ausgeprägten Skepsis bestimmt,263 was sich vor allem in dem Befund äußert, dass das Rechtsgüterschutzprinzip im Widerspruch dazu stehe, »(…) dass es nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ist, ebenso wie die Strafzwecke (…) auch die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen.«264 Strafrechtlich schutzwürdig seien deshalb nur »Gemeinschaftsbelange, die vor der Verfassung

259 Siehe insbes. BVerfGE 39, 1ff.; 88, 203ff. (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs); 90, 145ff. (Strafbarkeit des Cannabisbesitzes) und 120, 224ff. (Strafbarkeit des Geschwisterinzests); in seiner Entscheidung vom 26. 02. 2020 zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB (BVerfG, BeckRS 2020, 2216ff.) hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage überhaupt nicht thematisiert. 260 Siehe etwa Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), § 1 Rn. 1; Kindha¨user, AT, 7. Aufl. (2015), § 2 Rn. 6; Kudlich, ZStW 127 (2015), 635ff.; Lackner/Ku¨hl, Vor § 13 Rn. 4; Rengier, AT, 11. Aufl. (2019), § 3 Rn. 1; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 2 ff.; Rudolphi/Ja¨ger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 2; Wessels/Beulke/Satzger, AT, 49. Aufl. (2019), Rn. 6. 261 BVerfGE 39, 1ff.; 88, 203ff. (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs); 90, 145ff. (Strafbarkeit des Cannabisbesitzes) und 120, 224ff. (Strafbarkeit des Geschwisterinzests). 262 BVerfGE 120, 224ff. 263 Entsprechende Tendenzen sind aber auch in der Literatur auszumachen, siehe etwa Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 514ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Weigend, FS Hirsch (1999), S. 932ff. 264 BVerfGE 120, 224, 241f. (»Diese Befugnis kann nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers ›anerkannte‹ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie findet ihre Grenze vielmehr – auf dem Gebiet des Strafrechts wie anderswo – nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt.«); vgl. zu diesem Aspekt auch Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 385ff.

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Bestand haben.«265 Daraus ergibt sich, dass die Legitimitätskontrolle des Bundesverfassungsgerichts in materieller Hinsicht auf die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit eines Strafgesetzes beschränkt bleibt. Dem Übermaßverbot komme »wegen des in der Androhung, Verhängung und Vollziehung von Strafe zum Ausdruck kommenden sozialethischen Unwerturteils (…) als Maßstab für die Überprüfung einer Strafnorm besondere Bedeutung zu.«266 Dazu führt das Bundesverfassungsgericht weiter aus: »Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet – bei Androhung von Freiheitsstrafe auch im Hinblick auf die Gewährleistung der Freiheit der Person durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (…), dass eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient (…) Das Strafrecht wird als ›ultima ratio‹ des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.«267

Wenngleich das Bundesverfassungsgericht das Strafrecht als die »ultima ratio des Rechtsgüterschutzes« bezeichnet, bildet sich die materielle Rechtsgutstheorie jedoch nicht in der vorzunehmenden Abwägung ab. Bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will, ist der Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht zufolge grundsätzlich frei, denn es gesteht ihm bei der Festlegung der relevanten Kriterien eine erhebliche Einschätzungsprärogative zu.268 Straftatbestände können sich folglich allenfalls dann als verfassungswidrig erweisen, wenn ihnen evident grundgesetzeswidrige – beispielsweise rassistische, menschenverachtende oder demokratiefeindliche269 – Zwecksetzungen zugrunde liegen.270 Als Zwischenergebnis lässt sich demnach festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht das »Ob« der Strafbarkeit nur in den allerseltensten Fällen beanstanden würde.271 Überrechtliche oder vorkonstitutionelle Überlegungen finden keinen Eingang in die gerichtliche Kontrolle. Die Grenzen, denen der Strafge265 266 267 268

BVerfGE 90, 145, 175. BVerfGE 120, 224, 240. BVerfGE 120, 224, 239f. Siehe dazu nur BVerfGE 120, 224, 240 (»Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren steht dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu, welcher vom Bundesverfassungsgericht je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann.«); dazu allgemein Weigend, FS Hirsch (1999), S. 917, 923ff. und ausführlich Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 164ff. 269 So Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (45). 270 Siehe dazu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 140ff. 271 So Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (45f.).

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setzgeber bei seiner Motiv- und Begriffsbildung unterliegt, ergeben sich damit zwar aus dem Grundgesetz, faktisch ist er jedoch vor allem in Anbetracht seiner Einschätzungsprärogative bis zur evident verfassungswidrigen Zielsetzung völlig frei. Weil das Bundesverfassungsgericht den Bereich der strafgesetzgeberischen Motivbildung insoweit einer Legitimitätskontrolle nahezu vollständig entzieht, entspricht seine Haltung zumindest bezüglich der Frage nach den zulässigerweise mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Gegenständen einem strikt rechtspositivistischen Standpunkt.272 Dem Begriff des Strafrechts sieht das Bundesverfassungsgericht also kein überrechtliches Prinzip vorgeschaltet, das sich in der verfassungsgerichtlichen Überprüfung abbilden ließe. Anders als es der Bundesgerichtshof auf der Ebene der Rechtsgeltung in Extremfällen anerkannt hat273, wird für die gerichtliche Überprüfung von Straftatbeständen kategorisch die Relevanz überpositiver Grundsätze verneint. Ob sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020 zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB274 eine Änderung dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis ergibt, ist derzeit noch nicht abzusehen, aber wohl zu bezweifeln, da die Idee eines materiellen Rechtsgüterschutzes innerhalb der Entscheidung an keiner Stelle thematisiert wird. Um der Frage nach der Berechtigung eines solchen, positivistischen Straftatbegriffs nachzugehen, werden im Folgenden verschiedene rechtspositivistische Ansätze dargestellt und anschließend kritisch untersucht. Hinzuweisen ist darauf, dass die Arbeit nicht den Anspruch erhebt, sämtliche Spielarten des Rechtspositivismus bis in ihre Einzelheiten zu beleuchten.275 Es soll mit Blick auf das strafrechtstheoretische Erkenntnisinteresse vielmehr darum gehen, die grundsätzlichen Perspektiven darzustellen und nachvollziehbar zu machen, um sie einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine Darstellung der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, bevor sich die Arbeit den angelsächsischen Varianten des Rechtspositivismus zuwendet und anschließend die Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs und ihre rechtspraktischen Implikationen beleuchtet, um schlussendlich zur Frage nach der Berechtigung eines positivistischen Straftatbegriffs zurückzukehren.

272 Ähnlich auch Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (45f.). 273 BGHSt 39, 1ff.; 168ff.; 199ff.; 353ff.; 40, 48ff.; 113ff.; 218ff.; 241ff.; 41, 10ff.; 101ff.; 149ff.; 42, 65ff.; 356ff.; siehe dazu aus der Literatur insbesondere Alexy, Mauerschützen (1993); Amelung, GA 1996, 51ff.; Dannecker, Jura 1994, 585ff.; H. Dreier, JZ 1997, 421ff.; Gropp, NJ 1996, 393ff.; Günther, StV 1993, 184ff.; Jakobs, GA 1994, 1ff.; H. Ott, in: FS Kaufmann (1993), S. 67ff.; Pawlik, GA 1994, 472ff.; Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag (1998); ¨ ztu¨ rk/Gropp (Hrsg.), Maßnahmen gegen Organisierte Kriminalität im Sinn/Gropp, in: O Rechtsstaat – Möglichkeiten und Grenzen – (2003), S. 213ff. 274 BVerfG, BeckRS 2020, 2216ff. 275 Einen guten Überblick bietet etwa W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016).

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3.

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Hans Kelsens Reine Rechtslehre

Der bekannteste Vertreter des Rechtspositivismus im deutschsprachigen Raum ist der Österreicher Hans Kelsen, dessen Reine Rechtslehre ihm den Ruf eines »Juristen des Jahrhunderts«276 eingebracht hat. Wie schon die von ihm gewählte Bezeichnung seiner Lehre deutlich macht, war es Kelsens Anliegen eine entideologisierte, methodisch klare Rechtslehre zu entwerfen. In dem Vorwort zur ersten Auflage der Reinen Rechtslehre von 1934 heißt es dazu: »Mehr als zwei Jahrzehnte ist es her, daß ich unternommen habe, eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart, weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln. Von allem Anfang an war dabei mein Ziel: Die Jurisprudenz, die – offen oder versteckt – in rechtspolitischem Raisonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben.«277

Kelsens Lehre fundiert zumindest in Form einer »wissenschaftstheoretischen Verbürgung«278 auf den Annahmen der neukantianischen Epistemologie279, die davon ausgeht, dass alles Wissen von der Wahrnehmung konstituiert sein müsse.280 Dabei sei es die Methode selbst, die das Wissen und das Verständnis von der objektiven Welt erzeugt.281 Eine homogene, epistemologische Perspektive ist auch für Kelsen der einzige Weg, ein einheitliches Verständnis der Rechtsidee zu entwickeln.282 Er folgt den Neukantianern auch insofern, als dass er die dualistische Trennung von Sein und Sollen zum zentralen Topos seiner Rechtslehre

276 Vgl. dazu ausführlich H. Dreier, in: Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993), S. 705ff. 277 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. (1934), Einleitung. 278 H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 33 [»Obwohl der Neukantianismus trotz wiederholter Berufung Kelsens auf diese philosophische Linie nicht in dem Ausmaß wie etwa für die Rechtslehre Cohens zu dem zentralen theoretischen Gestaltungsprinzip wird, stellt er für ihn doch die wissenschaftstheoretische Verbürgung dafür dar, die Rechtswissenschaft auf einem Niveau das dem der Naturwissenschaften ebenbürtig ist, etablieren zu können.«]; siehe aber auch S. 33 Fn. 40 [»Kelsen (…) bezieht sich ausdrücklich auf die Arbeiten Windelbands und Simmels; noch deutlicher wird der Bezug auf Cohen herausgestellt (…). Gleichwohl sollte der unmittelbare Einfluß neukantianischer Theoreme für das Gesamt der Theorie nicht überschätzt werden (…) Kelsen läßt sich nicht irgendeiner philosophischen Richtung einfach ›zuschlagen‹; seine Grundlegung des Rechts trägt eigene (und eigenwillige) Züge (…).«]. 279 Vgl. dazu Paulson, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle des Neukantianismus in der Reinen Rechtslehre (1998), S. 7ff. 280 Vgl. zur Erkenntnistheorie Kelsens ausführlich H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 27ff. 281 Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, WRS I, 3 (4); ders., Die Rechtswissenschaft als Norm- oder Kulturwissenschaft, WRS I, 37 (39). 282 Kelsen, Das Problem der Souveränität, 2. Aufl. (1928), S. 123.

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macht.283 Er leugnet nicht die Existenz beider Sphären284, er behauptet nur, dass es keine logisch-argumentativen Interferenzen zwischen beiden Systemen geben könne. Ein präskriptives Argument könne niemals aus einem deskriptiven Argument hergeleitet werden, ein deskriptives niemals aus einem präskriptiven.285 Für Kelsen gilt die These der »vollkommene Disparität von Sein und Sollen«.286 Kelsen leitet daraus eine klare Abgrenzung der Rechtswissenschaft von den Naturwissenschaften ab. Die Rechtserkenntnis beziehe sich auf Normen, also auf solche Sätze, die ausdrücken, »daß etwas sein oder geschehen, insbesondere daß sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten soll.«287 Sie sind bei Kelsen präskriptive »Willensakte mit Zwangscharakter«.288 Das Recht ist für ihn eine »Zwangsordnung«, also eine »normative Ordnung (…), die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen versucht, daß sie an das gegenteilige Verhalten einen gesellschaftlich organisierten Zwangsakt knüpft (…).«289 Die Kausalwissenschaften bezögen sich hingegen auf den Bereich der Entitäten und der Erforschung der zwischen ihnen bestehenden Kausalgesetze. Die Rechtswissenschaft ziele aber nicht auf eine »kausale Erklärung der Rechtsphänomene«290 ab: »In den Rechtssätzen, mit denen sie diese Phänomene beschreibt, wendet sie nicht das Prinzip der Kausalität, sondern ein Prinzip an, das man (…) als Zurechnung bezeichnen darf.«291

Tragend für die Reine Rechtslehre ist die strikte Abgrenzung des Rechts von der Moral und die daraus resultierende Ablehnung der Idee des Naturrechts. Moralische Gesetze weisen Kelsen zufolge zwar auch eine präskriptive Struktur auf, sie seien aber nicht mit Zwang, sondern mit der »Billigung des normentsprechenden und der Mißbilligung des normwidersprechenden Verhaltens« verbunden.292 Die Rechtfertigung des Rechts durch Moral sei »rechtswissenschaftlich unzulässig«293:

283 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 5 (»Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben.«). 284 Siehe etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 4f. 285 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 5. 286 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923), S. 7. 287 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 4. 288 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 4. 289 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 64. 290 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 86. 291 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 86. 292 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 64f. 293 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 71.

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»Denn die Rechtswissenschaft hat das Recht nicht zu legitimieren, hat die von ihr nur zu erkennende und zu beschreibende normative Ordnung, überhaupt nicht – weder durch eine absolute noch durch eine relative Moral – zu rechtfertigen.«294

Dem liegt Kelsens Annahme zugrunde, »daß es keine absoluten, daß es nur relative Werte, keine absolute, sondern nur eine relative Gerechtigkeit gibt, daß die Werte, die wir mit unseren normsetzenden Akten konstituieren und unseren Werturteilen zugrundelegen, nicht mit dem Anspruch auftreten ko¨ nnen, die Mo¨ glichkeit entgegengesetzter Werte auszuschließen.«295 Weil es der Reinen Rechtslehre aber um die Erkenntnis der Wirklichkeit geht296, fragt sie nach dem tatsächlichen, nicht nach dem richtigen Recht.297 »Sie betrachtet sich als Wissenschaft zu nichts anderem verpflichtet, als das positive Recht seinem Wesen nach zu verstehen.«298 Zentral für das Verständnis des positiven Rechts in der Reinen Rechtslehre ist ferner die strukturelle Beschreibung der Rechtsordnung durch die Metapher des Stufenbaus. Die Grundüberlegungen zur Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung stammen nicht von Kelsen selbst, sondern sind von seinem Schüler Adolf Merkl entwickelt und von Kelsen schließlich in seine Rechtstheorie integriert worden.299 Kelsen definiert Recht grundsätzlich als ein System von Normen, die sich zum einen dadurch definieren, dass sie menschliches Verhalten regeln, zum anderen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie »auf bestimmte für unerwünscht, weil sozial schädlich angesehene Umstände (…) mit einem Zwangsakt, das heißt mit einem Übel (…) reagieren.«300 Die »Eigentümlichkeit des Rechts« sei, dass es seine eigene Erzeugung regele.301 Eine Norm gelte nämlich aus dem Grund, dass sie »auf eine bestimmte, das heißt durch eine andere Norm bestimmte Weise erzeugt wurde«.302 Somit sei diese Norm der »Geltungsgrund für jene«. Die Beziehungen der Normen zueinander ließen sich nun metaphorisch mit dem Bild der »Über- und Unterordnung«303 darstellen: »Die die Erzeugung regelnde ist die höhere, die bestimmungsgemäß erzeugte ist die niedere Norm.«304 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304

Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 71. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 71. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 111. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 112. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 112. Siehe dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 130 mit weiteren Nachweisen. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 34. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228.

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Damit sei das Rechtssystem keine Ordnung von gleichrangigen, nebeneinanderstehenden Rechtsnormen, sondern ein »Stufenbau verschiedener Schichten« ebendieser.305 Ihre Einheit sei durch einen regresshaften »Zusammenhang hergestellt, der sich daraus ergibt, daß die Geltung einer Norm, die gemäß einer anderen Norm erzeugt wurde, auf dieser anderen Norm beruht, deren Erzeugung wieder durch andere bestimmt ist (…).«306 Dieser Regress endet in der sog. Grundnorm: »Die (…) Grundnorm ist sohin der oberste Geltungsgrund, der die Einheit dieses Erzeugungszusammenhanges stiftet.«307 Die Lehre von der Grundnorm revidiert Kelsen in seinen Schriften mehrmals.308 Jedenfalls fungiert sie in der Reinen Rechtslehre – wie Horst Dreier zusammenfassend beschreibt – »zum einen als notwendiger gedanklicher Fluchtpunkt einer jeden die Menge der Teilnormen zu einem Gesamtsystem zusammenfassenden Betrachtung (…), zum anderen als Geltungsgrund des positiven Rechts.«309 Sie ist die Antwort auf die Frage, wie in einem nicht auf naturrechtlichen Erwägungen basierenden Konzept die Gültigkeit der Rechtsordnung einer Begründung unterzogen werden kann.310 In der Reinen Rechtslehre versteht Kelsen sie als »Hypothese«, als »transzendentallogische Voraussetzung«.311 In Analogie zur kantischen Erkenntnistheorie fragt die Reine Rechtslehre danach, wie »eine nicht auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen beschreibbarer objektiv gültiger Normen möglich [ist.]«312 Die Antwort liege darin, die Geltung der Grundnorm schlicht vorauszusetzen, die Gültigkeit des obersten Satzes der Rechtsordnung mithin anzuerkennen und sich so den Verfassungsnormen entsprechend zu verhalten.313 Der Grundnorm komme die Aufgabe zu, »die objektive Geltung einer positiven Rechtsordnung, das ist der durch menschlichen Willensakte gesetzten Normen einer im großen und ganzen wirksamen Zwangsordnung zu begründen, das heißt: den subjektiven Sinn dieser Akte als ihren objektiven Sinn zu deuten.«314 Die Hypothese der Grundnorm ist notwendig, um die einzelnen Rechtsnormen eines 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314

Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 228. Vgl. dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 44; Olechowski, in: Ehs (Hrsg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung (2009), S. 47, 58f. jeweils mit entsprechenden Nachweisen. H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 42f. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 205; siehe dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), S. 43. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 204. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 205. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 205. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 205.

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Systems, »denen die Bezeichnung Recht im Grunde noch gar nicht zukommt«, die aus sich heraus (insofern subjektiv) aber den Anspruch erhöben, diese Eigenschaft zu besitzen, als zu dem System zugehörig und damit objektiv als Recht zu begreifen.315

4.

Angelsächsischer Rechtspositivismus

Große Aufmerksamkeit hat der Rechtspositivismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im angelsächsischen Rechtskreis erfahren. Tragend für die angelsächsische Rechtsphilosophie ist das Werk des Philosophen Herbert Lionel Adolphus Hart, darunter vor allem sein 1961 in erster Auflage erschienenes Concept of Law. Methodisch steht Hart insbesondere unter dem Einfluss der analytical jurisprudence.316 Die analytische Rechtstheorie lässt sich mit Weinberger präzise mit drei Merkmalen charakterisieren: Sie basiert auf der Idee »phänomenaler Voranalysen«, von denen aus Thesen rational rekonstruiert werden, wobei insofern vor allem »die Systemeinheit des Rechts« akzentuiert wird.317 Harts Rechtstheorie hat erhebliche Resonanz und Kritik318 erfahren, die letztlich die bereits beschriebene Ausdifferenzierung exklusiv und inklusiv positivistischer Theorien hervorbrachte. Um diesen Prozess nachvollziehen zu können, werden zunächst die fundamentalen Annahmen der Hartschen Rechtstheorie dargestellt, um im Anschluss die Grundzüge der sich daraus ergebenden Debatte nachzuzeichnen. Harts Rechtsbegriff findet seinen Ausgangspunkt in der Kritik an der Rechtstheorie John Austins.319 Nach Austin sind alle Gesetze Zwangsanordnungen, die dem Einzelnen unter Androhung von Sanktionen Pflichten auferlegen (sog. command theory of law).320 Hart kritisiert diese Definition unter Bezugnahme auf seine Beobachtung, dass Gesetze nicht notwendigerweise Verpflichtungen für den Einzelnen schüfen.321 Sie enthielten ferner auch nicht immer 315 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 207f. 316 Vgl. dazu Pawlik, in: Griller/Rill (Hrsg.), Rechtstheorie: Rechtsbegriff – Dynamik – Auslegung (2011), S. 41, 42; Weinberger, Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 4 (1973), 356ff. 317 Weinberger, Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 4 (1973), 356 (357). 318 Siehe insbesondere Dworkin, Taking Rights Seriously (1977) und die Repliken von Coleman, Journal of Legal Studies XI (1982), 139ff. und Raz, Authority of Law (2002). 319 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (46). 320 Vgl. dazu Austin, Rechtsnormen als Befehle des politischen Machthabers, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 16ff. 321 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 40.

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Sanktionen als Folge von Fehlverhalten.322 Gesetze könnten dem Einzelnen gegenüber auch begünstigend wirken, indem sie beispielsweise Privaten rechtliche Befugnisse verleihen.323 Ebenso würden öffentlich-rechtliche Vorschriften Austins Ansatz widerlegen, was Hart am Beispiel von Zuständigkeitsregelungen deutlich macht.324 Obwohl die Normstruktur strafrechtlicher Gesetze auf Austins Definition zutreffe, ignoriere sein Rechtsbegriff die theoretische Vielfalt des Rechts, was zu einem grundlegenden Missverständnis führe.325 »Daher ist das wesentliche Element rechtlicher Zwangsgewalt nicht die Tatsache (…), daß dem Ungehorsam ein Übel folgt, sondern die Existenz eines Systems von Normen, das bestimmten Personen die Autorität verleiht, gewisse Verhaltensweisen zu verbieten und Übertretungen der Verbote mit den dem System eigenen Mitteln des Zwanges, der Repression oder der Strafe zu begegnen.«326

Hart führt gegen Austins commmand-theory of law weiter ins Feld, dass sie die mit dem Recht verbundenen Mechanismen der Sozialkontrolle verkenne.327 Dies macht er am Beispiel des Strafrechts deutlich. Der Zweck strafrechtlicher Normen liege in einer Verhaltenssteuerung.328 Von den Individuen einer Gesellschaft werde erwartet, dass sie sich aus eigenem Antrieb und ohne die Ausübung staatlichen Zwangs entsprechend der in den Strafgesetzen enthaltenen Ver- und Gebote verhielten.329 »Erst wenn das Recht diese Funktion nicht erfüllt, wenn also ein Rechtsbruch vorliegt, ist es Aufgabe der Staatsorgane, diesen Rechtsbruch festzustellen und die angedrohte Sanktion zu verhängen.«330

Charakteristisch für diesen Mechanismus sei, dass es den Individuen einer Gesellschaft freistehe, die in den Strafgesetzen enthaltenen Verbote anzuerkennen 322 323 324 325

326 327 328 329 330

Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 40. Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 40. Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 40. Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (53) (»So verhält es sich zum Beispiel mit der in der Verfassung der USA verankerten Pflicht des amerikanischen Präsidenten, über die ordnungsgemäße Ausführung der Gesetze zu wachen. Dennoch zögern wir auch in diesen Fällen nicht, von einer Amtspflicht oder rechtlichen Verpflichtung zu sprechen.«). Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (53). Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (54ff.). Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (54). Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (54). Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (54).

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und ihr Verhalten entsprechend anzupassen.331 Der alleinige Fokus auf die staatliche Übelszufügung verkürzt Hart zufolge also die Komplexität der Zweckbestimmung von Rechtsnormen. Hart führt dann als Gegenentwurf zu Austins command-theory of law seinen Rechtsbegriff als Vereinigung von Primär- und Sekundärregeln ein.332 Dabei macht Hart zunächst deutlich, dass Regeln aus zwei verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden können. Die Außenperspektive ist die eines Beobachters, der nicht zwingend vom Gesetz betroffen ist. Aus dieser Perspektive sei es möglich zu bewerten, ob eine bestimmte Regel üblicherweise von einer bestimmten Personengruppe befolgt wird.333 Es könne aber von diesem Standpunkt aus nicht erkannt werden, ob es sich um eine Rechtsregel handele oder bloß um die allgemeine Gewohnheit einer Gruppe.334 Dies ermögliche nur die Innenperspektive.335 Vor diesem Hintergrund führt Hart dann den Begriff des Rechts als Vereinigung von primären und sekundären Regeln ein. Verhaltensregeln, die Pflichten oder Verpflichtungen auferlegen, beschreibt Hart als Primärregeln, so zum Beispiel die Strafgesetze.336 Außerdem enthalte ein Rechtssystem aber auch Sekundärregeln. Diese Metaregeln bestimmten, »auf welche Weise man sich der prima¨ren Regeln schlu¨ ssig vergewissern [rule of recognition] kann, wie sie eingefu¨ hrt und wieder abgeschafft werden, wie man sie vera¨ ndert und wie man die Tatsache ihrer Verletzung schlu¨ ssig bestimmt.«337 Sekundäre Rechtsnormen im Sinne Harts sind also als »Regeln über Regeln« zu begreifen.338 Die elementarste sekundäre Regel sei die rule of recognition.339 Sie determiniere die Eigenschaften, die eine Norm aufweisen müsse, um als Rechtsnorm zu gelten.340 In modernen Gesellschaften mit komplexen Rechtssystemen sei ihr Inhalt vielfältig, aber sie enthalte üblicherweise »eine geschriebene Verfassung, legislative Erlasse und von Richtern entschiedene Präzedenzfälle.«341 Selten sei die rule of recognition ausdrücklich als solche erkennbar.342 Ihre Existenz werde durch die soziale Praxis die meiste Zeit in der Art und Weise demonstriert, wie 331 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (54). 332 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 90ff. 333 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 110. 334 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 110ff. 335 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 110ff. 336 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 99. 337 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 116. 338 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 116. 339 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 122f. 340 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 125. 341 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 123. 342 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 123.

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bestimmte Regeln von Gerichten, Beamten oder Privatpersonen festgelegt werden.343 Die rule of recognition moderner Rechtsordnungen enthalte im Regelfall legislative, judikative und gewohnheitsrechtliche Gültigkeitskriterien, mit deren Hilfe die Geltung von Primärregeln bestimmt werden könne.344 Anders als Kelsens Grundnorm345 ist die rule of recognition keine Hypothese. Verbindlich wird sie bei Hart erst dadurch, dass sie von den Inhabern staatlicher Gewalt tatsächlich anerkannt und angewendet wird und dass die primären Regeln, deren Verbindlichkeit sich aus der rule of recogniton speist, auch von den gewöhnlichen Bürgern befolgt werden.346 Die Geltungskraft einer Rechtsnorm folgt hier also nicht aus der Zwangsmacht des staatlichen Souveräns, sondern aus empirischen Tatsachen. Harts Begriff des Rechts kann demnach auch als soziologischer Positivismus bezeichnet werden. Ein weiterer Unterschied zur Reinen Rechtslehre lässt sich daran erkennen, wie Hart die Frage beantwortet, ob die rule of recognition als legitimierende Metaregel auch moralische Elemente enthalten könne. Während dies für die Grundnorm in der Reinen Rechtslehre schon aufgrund des neokantianischen Ansatzes ausgeschlossen ist347, vertritt Hart den Standpunkt, dass die rule of recognition neben den benannten rechtlichen auch überpositive Inhalte inkorporieren könne, dies aber nicht müsse.348 Als Beispiel führt er die Zusätze zur amerikanischen Verfassung an, die insofern auch Bedingung für die rechtliche Geltung eines Bundesgesetzes seien.349 Hart bezeichnet seine Theorie wohl deswegen auch im Nachwort zur zweiten Auflage seines Concept of Law als »weichen Positivismus«.350 Seine darüber hinausgehenden Ausführungen zum Verhältnis von Recht und Moral sind insgesamt differenzierter als diejenigen Kelsens. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass Moralvorstellungen einen erheblichen Einfluss auf das Recht moderner Staaten haben.351 So fließe die Sozialmoral entweder im Verfahren der Gesetzgebung in das positive Recht ein, oder sie finde Eingang in die Rechtsprechungspraxis.352 Dieser Befund sei auch daran 343 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 123. 344 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 123f. 345 Siehe dazu oben 3. Kap., I. 2. (»Hans Kelsens Reine Rechtslehre«); Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (46). 346 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 123f. 347 Siehe dazu oben 3. Kap., I. 2. (»Hans Kelsens Reine Rechtslehre«). 348 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 90ff. 349 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 90ff. 350 Hart, Begriff des Rechts, 2. Aufl. (2011), S. 329. 351 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (58ff.). 352 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (58).

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festzumachen, dass unbestimmte Begriffe des positiven Rechts schon sprachlich einen Bezug zur Moral aufwiesen, so dass entsprechende überpositive Vorstellungen beispielsweise über Generalklauseln in das positive Recht hineinwirkten.353 Hart hält diese »Verbindung« für eine evidente Tatsache: »Kein Positivist wird diese Tatsachen bestreiten. Und ebenso wenig wird er leugnen, daß die Stabilität von Rechtsordnungen teilweise auf derartigen Übereinstimmungen mit der herrschenden Moral beruht. Wenn dies mit der These einer notwendigen Verbindung von Recht und Moral gemeint sein soll, so ist nichts dagegen einzuwenden.«354

Ferner sieht Hart auch eine Verbindung von Recht und Moral in der Weise, dass die Rechtsanwendung per se »ein Minimum an Gerechtigkeit« verwirkliche.355 »Denn ein Minimum an Gerechtigkeit wird notwendigerweise immer dann verwirklicht, wenn menschliches Verhalten durch allgemeine Normen kontrolliert wird, die öffentlich verkündet und von den Gerichten angewendet werden. Die bloße Vorstellung, eine allgemeine Rechtsnorm anzuwenden, enthält also zumindest den Keim der Gerechtigkeit.«356

Trotz dieser Verbindungen zwischen Recht und Moral konzediert Hart für die Ebene der Rechtsgeltung, dass »(…) man auch solche Normen in gerechter Weise anwenden kann, die äußerst verwerflich sind.«357 Zunächst ermögliche ein weiterer Rechtsbegriff, der auch solche Normen als Recht versteht, die mit der herrschenden Sozialmoral unvereinbar sind, im Vergleich zu einem engeren Rechtsbegriff eine bessere Sensibilisierung des Bürgers gegenüber staatlichem Machtmissbrauch358: »Diese Einsicht, daß es jenseits der staatlichen Ordnung etwas gibt, auf das das Individuum zurückgreifen muss, um das Problem des Rechtsgehorsams für sich zu lösen, kann man sicherlich eher in denen wach halten, die an den Gedanken gewöhnt sind, daß Rechtsnormen ungerecht sein können, als in denen, die glauben, daß Unrecht niemals den Status von Recht erlangen kann.«359

353 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (58). 354 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (58). 355 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (61). 356 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (61). 357 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (58). 358 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (65). 359 Hart, Das positive Recht als System Recht und Moral (1977), S. 45 (65).

von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.),

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Darüber hinaus führt Hart als »noch stärkeres Argument« an, dass »ein Rechtsbegriff, der es erlaubt, die Ungültigkeit des Rechts von seiner Unsittlichkeit zu unterscheiden«, es ermögliche, »die Komplexität und Vielfalt« zu erkennen, die mit der Frage nach der Rechtsgeltung unmoralischer Normen einhergehe.360 Im Gegensatz dazu würde ein »enger Rechtsbegriff, der verwerflichen Normen die rechtliche Gültigkeit versagt, uns diesen Problemen gegenüber leicht blind [machen].«361 Um dies zu verdeutlichen, wendet sich Hart der Frage nach der strafrechtlichen Beurteilung nationalsozialistischer Gräueltaten zu, die nach dem derzeit geltenden positiven Recht kein strafrechtliches Unrecht darstellten.362 Hart konstatiert zunächst, dass entsprechende Taten offenkundig gegen die Moral verstießen.363 Er weist aber zugleich daraufhin, dass auch der nulla poena sine lege-Grundsatz möglicherweise eine moralische Norm sei.364 Würde man moralisch verwerfliche Normen von Vornherein aus dem Rechtsbegriff ausklammern und ihnen die Geltung absprechen, so bliebe unbeachtet, dass mit der rechtlichen Anerkennung des einen »Übels« (moralische Verwerflichkeit nationalsozialistischer Gesetze) zugleich ein anderes »Übel« produziert werde (Verstoß gegen den nulla poena sine lege-Grundsatz).365 Die Leistung eines solchen – zumindest auf der Ebene der Rechtsgeltung strikt positivistischen – Rechtsbegriffs fasst Hart schließlich folgenderweise zusammen: »Wenn unter extremen Umständen eine Wahl zwischen verschiedenen Übeln getroffen werden muss, so lässt sich dies mit den Mitteln der positivistischen Lehre jedenfalls nicht verschleiern.«366

Die wohl prominenteste Kritik an Harts Rechtsbegriff stammt von Ronald Dworkin.367 Dworkin vertritt einen nicht-positivistischen Ansatz und wendet gegen Hart vor allem ein, dass das Rechtssystem notwendigerweise neben Regeln

360 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 361 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 362 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 363 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 364 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). (»Aber die Moral verlangt möglicherweise auch, daß der Staat nur jene Übeltaten bestraft, die bereits zur Tatzeit mit Strafe bedroht waren. Diese Forderung ist enthalten in dem Grundsatz ›nulla poena sine lege‹.«). 365 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 366 Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (67). 367 Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 17ff.

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auch Prinzipien inkorporieren müsse.368 Dies ergebe sich insbesondere bei der richterlichen Rechtsanwendung: In komplexen Fällen (»hard cases«) müssten Richter auf moralische Prinzipien zurückgreifen, die über das positive Recht hinausreichten.369 Dabei sei das Auffinden der richtigen Lösung für Rechtsfragen, auf die das positive Recht keine eindeutige Antwort gibt, keine Ermessensentscheidung des Richters.370 Vielmehr stehe die Antwort bereits fest, der Richter müsse sie über die Anwendung überpositiver Prinzipien »bloß« identifizieren.371 Insofern stellt die richterliche Entscheidung bei Dworkin dann auch keine Rechtsschöpfung dar, sondern ist – ganz im Gegenteil – der Ausdruck bereits bestehender überpositiver Rechtsprinzipien. In dem Bestreben Hart gegen die Kritik Dworkins zu verteidigen, entwickelten sich fortan unterschiedliche Ausprägungen des Rechtspositivismus, die sich im Grundsatz mit der bereits beschriebenen Gegenüberstellung von inklusivem und exklusivem Rechtspositivismus beschreiben lassen.372 Vertreter des inklusiven Rechtspositivismus ist neben Hart selbst insbesondere Coleman.373 Wenngleich ihm zufolge begrifflich streng zwischen Recht und Moral zu differenzieren ist, lasse eine rechtspositivistische Konzeption durchaus zu, dass die rule of recognition moralische Prinzipien inkorporiert.374 Dies könne, müsse aber nicht der Fall sein.375 Jedenfalls sei die Inklusion einer irgendwie gearteten Sozialmoral keine konzeptionelle Charakteristik des Rechts: »The fact that law can serve a variety of legitimate human interests may ground the claim that law must be the sort of thing that can possess a normative power to create genuine duties and responsibilities or confer genuine rights and privileges. From this it hardly follows that that normative power represents a moral authority.«376

368 Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 22 (»I call a ›principle‹ a standard that is to be observed, not because it will advance, or secure an economic, political, or social situation deemed desirable, but because it is a requirement of justice or fairness, or some other dimension of morality.«). 369 Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 81ff. 370 Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 69ff. 371 Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 279ff. 372 W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016), S. 12. 373 Insbes. Coleman, Journal of Legal Studies XI (1982), 139ff.; ders., The Practice of Principle (2001), wenngleich es so scheint, als sei Coleman inzwischen Vertreter eines exklusiven Rechtspositivismus, sh. dazu Coleman, The Yale Law Journal, Vol. 121 No. 1 (2011), 2ff.; sh. außerdem Székessy, Gerechtigkeit und inklusiver Positivismus (2003). 374 Coleman, The Practice of Principle (2001), S. 147 [»It [inclusive legal positivism] does not assert that law must embody morality; nor that when law does embody morality, it must do so in virtue of a clause in the rule of recognition making morality a condition of legality.«]. 375 Coleman, The Practice of Principle (2001), S. 67ff. 376 Coleman, The Practice of Principle (2001), S. 133.

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Im Gegensatz dazu vertritt insbesondere Joseph Raz einen exklusiv positivistischen Standpunkt.377 Er leugnet zwar nicht, dass das Recht einen moralischen Sinn hat oder moralische Vorstellungen zum Ausdruck bringe.378 Wesentlich sei jedoch, dass das Recht in Anbetracht seines Zwecks, das gesellschaftliche Zusammenleben zu organisieren, einen Autoritätsanspruch erhebe und auf Normbefolgung ziele.379 Diesen Anspruch könne das Recht jedoch nicht erheben, wenn es einen Bezug zu den hinter ihm stehenden Wertvorstellungen enthalte, denn das Proprium des Rechts bestehe darin, dass es angesichts seines Autoritätsanspruch auch die Befolgung solcher Normen verlange, die mit Moralvorstellungen konfligieren.380 Insofern lässt sich in Raz Argumentation ein ethischer, nämlich funktionaler Grund für die begriffliche Ausblendung überrechtlicher Geltungsansprüche im Rahmen des Rechtsbegriffs identifizieren: »So for the law to be able to fulfill its function, and therefore to be capable of enjoying moral authority, it must be capable of being identified without reference to the moral questions which it pre-empts, i. e. the moral questions on which it is meant to adjudicate. This is the ethical rationale for the fact that the law is a social institution.«381

In anderen Worten kann also Raz zufolge eine Rechtsordnung Legitimität im Sinne von Autorität überhaupt nicht beanspruchen, wenn sie von einer weiteren normativen Instanz abhängig ist.382 Ganz im Gegenteil sei die Geltungskraft einer Vorschrift einzig anhand der vorhandenen sozialen Tatsachen zu bemessen383, was ihn zu seiner Quellentheorie führt.384 Den im Sinne eines sozialen Phänomens erkennbaren Geltungsursprung des Rechts erblickt Raz nämlich ausschließlich in den faktisch existenten Rechtsquellen: den gesetzgebenden und judikativen Akten sowie dem Gewohnheitsrecht.385 Eine juristische Theorie des Rechts ist bei Raz also nur dann akzeptabel, wenn der Mechanismus zur Identifikation von Rechtsinhalt und -geltung ausschließlich von den wertfrei beschriebenen Tatsachen menschlichen Verhaltens abhängig gemacht wird und die Rechtsanwendung selbst ohne Bezug zu moralischen Argumenten stattfindet.386 377 Insbesondere Raz, Authority of Law (1979); ders., in: ders. (Hrsg.), Ethics in the Public Domain (1994), S. 194ff.; ders., ARSP 82 (1996), 1ff. 378 Raz, ARSP 82 (1996), 1 (16). 379 Raz, Authority of Law (1979), S. 198. 380 Raz, Authority of Law (1979), S. 18; ders., in: Ethics in the Public Domain (1994), S. 202. 381 Raz, Authority of Law (1979), S. 18. 382 Raz, Authority of Law (1979), S. 39f. 383 Raz, Authority of Law (1979), S. 45ff. 384 Raz, Authority of Law (1979), S. 39ff. 385 Raz, Authority of Law (1979), S. 39f.; sh. dazu auch W. Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus (2016), S. 13 (»Mit andern Worten: Die Normen, die es zu überprüfen gilt, müssen aus der Gesetzgebung, aus richterlichen Entscheidungen oder Gewohnheit hervorgehen.«). 386 Raz, Authority of Law (1979), S. 39f. (»A jurisprudential theory is acceptable only if its tests for identifying the content of the law and determining its existence depend exclusively on

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Zusammenfassend formuliert Raz: »A legal system may lack legitimate authority. If it lacks the moral attributes required to endow it with legitimate authority then it has non. But it must possess all the other features of authority, or else it would be too odd to say that it claims authority. To claim authority it must be capable of having it, it must be a system of a kind which is capable in principle of possessing the requisite moral properties of authority.«387

Gemein ist den dargestellten positivistischen Ansätzen also, dass sie – freilich in unterschiedlichen Ausprägungen – die Legitimitätskriterien einer Rechtsordnung in den sozialen Tatsachen erblicken, die sich begrifflich in einer rule of recognition ausdrücken lassen. Weiterhin verbindet alle Ansätze – freilich ebenfalls mit unterschiedlicher Begründung – die These vom absoluten Geltungsvorrang des Rechts. Unterscheiden lassen sich die Ansätze danach, ob sie es für möglich erachten, dass die rule of recognition selbst moralische Elemente enthält. Während die Vertreter des inklusiven Rechtspositivismus dies bejahen, aber nicht als ein Wesensmerkmal des Rechts identifizieren, kennzeichnet den exklusiven Rechtspositivismus, dass er die obersten Gültigkeitskriterien des Rechts allein in den wertfreien sozialen Tatsachen erblickt.

5.

Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie

Radbruchs Philosophie steht wie Kelsens Reine Rechtslehre in der Tradition des Neukantianismus.388 Radbruch geht davon aus, »dass Wertbetrachtung und Seinsbetrachtung als selbstständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander« liegen.389 Darüber hinaus hat insbesondere die Werttheorie Emil Lasks Einfluss auf seine Philosophie.390 Ausgehend davon unterscheidet Radbruch die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen anhand ihres Verhältnisses zu Werten: Die Naturwissenschaften begreift er als wertfrei, die Ethik als wertend, die Kulturwissenschaften als wertbeziehend und die Religion als wertüberwindend.391

387 388 389 390 391

facts of human behaviour capable of being described in value-neutral terms, and applied without resort to moral argument.«). Raz, Authority of Law (1979), S. 39f. Vgl. dazu Paulson/Dreier, in: Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Studienausgabe (1999), S. 235, 236ff. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 13 (»Sollenssa¨tze, Werturteile, Beurteilungen ko¨ nnen nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur deduktiv auf andere Sa¨tze gleicher Art gegru¨ ndet werden.«). Vgl. dazu Neumann, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts (2005), S. 35ff. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 9f.

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a)

Die Rechtsphilosophie von 1932

Das Recht verortet Radbruch innerhalb der Kulturwissenschaften als »wertbezogene Wirklichkeit«.392 In seiner Rechtsphilosophie von 1932 definiert er es folgendermaßen: »Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen.«393

Der Radbruchsche Rechtsbegriff enthält demnach drei Elemente: die Wirklichkeit, die Idee (als den Rechtswert) und den Sinn. Mit der Wirklichkeit umschreibt Radbruch die faktische, positive Dimension des Rechts. Diese setzt er durch die Sinnthese in Bezug zur Rechtsidee, die ihm zufolge »keine andere sein [kann], als die Gerechtigkeit.«394 Die Beziehung zwischen beiden Elementen sieht Radbruch darin, dass das Recht »seinem Wesen nach einen Anspruch auf Gerechtigkeit« erhebt.395 Recht ist bei ihm also das Faktum, welches beansprucht, einem Wert zu dienen: »die Rechtsidee ist Wert, das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung.«396 Recht könne demnach ungerecht sein, »aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat gerecht zu sein.«397 Maßgeblich für die weitere Konkretisierung des Rechtsbegriffs ist Radbruchs Gerechtigkeitsbegriff. Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen konstatiert er, dass man zwar versucht sein möge, »(…) in der Gerechtigkeit nur eine Erscheinungsform des sittlich Guten zu erblicken.«398 Dies sei sie aber nur dann, wenn man sie als »menschliche Eigenschaft, als Tugend betrachtet«.399 Definieren – und damit objektivieren – könne man den Begriff der Gerechtigkeit aber nicht anders als »die Gesinnung, die auf objektive Gerechtigkeit gerichtet ist, so etwa wie die Wahrhaftigkeit auf die Wahrheit.«400 Diese objektive Gerechtigkeit bedeutet für Radbruch Gleichheit: »Gerecht aber im Sinne der objektiven Gerechtigkeit kann nur ein Verhältnis zwischen Menschen sein. Das Ideal des sittlichen Guten stellt sich in einem Idealmenschen, das Ideal der Gerechtigkeit in einer idealen Gesellschaftsordnung dar. (…) Gerechtigkeit in solchem Sinne bedeutet Gleichheit.«401

392 393 394 395 396 397 398 399 400 401

Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 11f. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 34. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 34. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 26. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 31. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe(1999), S. 12. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 35. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 35. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 35. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 35.

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Radbruch zufolge kann Gleichheit also nur in einem formalen Sinne definiert werden. Dabei bezieht er sich auf die Aristotelische Gerechtigkeitslehre und unterscheidet die ausgleichende Gerechtigkeit als absolute Gleichheit von der austeilenden Gerechtigkeit als relative Gleichheit.402 Gerechtigkeit in diesem Sinne beschreibe mit dem Ideal der Gleichheit allerdings nur die Form, auf die sich das Recht bezieht, nicht hingegen den Inhalt des Rechts. Demnach ist für Radbruch »Gerechtigkeit nicht das erschöpfende – wohl aber (…) das spezifische Rechtsprinzip«.403 Zur Gewinnung des Rechtsinhaltes müsse sodann ein zweiter Gedanke hinzutreten: die Zweckmäßigkeit. Während er die Gerechtigkeitsfrage mit dem Begriff der formellen Gleichheit losgelöst von jeglichen Zweckmäßigkeitserwägungen beantwortet, tritt »im Rahmen der Frage nach dem Zwecke des Rechts der Staat zum erstenmal in den Gesichtskreis unserer Betrachtungen.«404 Dies beziehe sich nicht auf die historisch-empirischen Erwägungen, die einer bestimmten Rechtsnorm zugrunde liegen, sondern auf die »überempirische Zweckidee, an der das Recht zu messen ist.«405 Diese Zweckidee erkennt Radbruch in drei absoluten Werten: den Individualwerten, den Kollektivwerten und den Werkwerten406, die jeweils auf individualistische, überindividualistische und transpersonale Auffassungen zurückzuführen seien.407 Die »letzten Ziele« der jeweiligen Werte fasst er mit dem Dreiklang von »Freiheit, Nation und Kultur« zusammen.408 Dem Individualwert sei »höchste Aufgabe des menschlichen Lebens die sittliche Einzelpersönlichkeit, höchste Aufgabe des Staates die Freiheit des Einzelnen, die es ihm ermöglicht, sich zur sittlichen Persönlichkeit auszubilden.«409 In ihrer liberalistischen Ausprägung seien »die Ausgangspunkte des staatsphilosophischen Denkens die Menschenrechte, die Grundrechte, die Freiheitsrechte des Einzelnen« als »Teilstücke seiner natürlichen, vorstaatlichen Freiheit, die mit dem unbedingten Anspruch auf Achtung in den Staat eingebracht werden (…).«410 Dem stehe die überindividuelle Zwecklehre gegenüber, die nicht von »Individuen und Summen von Individuen« sondern von »Individualitäten und

402 403 404 405 406 407 408 409

Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 36. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 37. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 54. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 54. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 55ff. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 54. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 58. Radbruch, Kulturlehre des Sozialismus (1922), Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd. 4, S. 51, 56. 410 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 67.

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Ganzheiten von Individualitäten« ausgehe.411 Sie fordere einen »reich gegliederten Staat« und »vielfältige Zwischenbildung zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen (…).«412 In der kollektiven Zwecklehre ist die Freiheit des Einzelnen »nicht die für alle gleiche Freiheit, die abstrakte Möglichkeit zu allem und jedem (…), sondern Freiheit, sich nach seiner begrenzten Eigenart zum Nutzen der Gesamtheit auszuwirken, nicht Freiheit von allem, sondern Freiheit zu etwas, also Freiheit ohne Gleichheit.«413 Die transpersonale Zwecklehre hingegen fokussiere weder das Individuum noch die Ganzheit von Individuen, sondern die Materialisierung menschlichen Schaffens in der Kultur.414 Die transpersonale Auffassung verfolge den »ästhetischen« und den »logischen Wert«, welcher sich »in den Werken der Wissenschaft und der Kunst als Werkwerten« offenbare.415 In der Auseinandersetzung mit den drei absoluten Werten arbeitet Radbruch heraus, dass die mit den jeweiligen Werten verbundenen Auffassungen nicht miteinander zu vereinbaren seien und sich demnach gegenseitig widersprächen.416 Daraus folgt für ihn, dass der Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffes letztlich relativistischer Natur ist: »Es heißt also sich entscheiden, ob man den Individual-, den Kollektiv- oder den Werkwerten in der Rangordnung der Werte die erste Stelle einräumen will.«417

Dieser Relativismus könne jedoch »nicht das letzte Wort der Rechtsphilosophie über die Geltungsfrage« bleiben.418 Das Recht »als Ordnung des Zusammenlebens« könne nicht »den Meinungsverschiedenheiten der Einzelnen überlassen bleiben.«419 An dieser Stelle schlägt Radbruch den Bogen zum Topos der Rechtssicherheit: »Damit tritt uns eine ebenbürtige Forderung an das Recht, ein dritter Bestandteil der Rechtsidee entgegen, die Rechtssicherheit. Die Sicherheit des Rechts fordert Positivität des Rechts: wenn nicht festgestellt werden kann, was gerecht ist, so muß festgesetzt

411 412 413 414 415

416 417 418 419

Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 70. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 70. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 70. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 70. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 57; um dies zu verdeutlichen, zitiert Radbruch unter anderem Nietzsche (»Große Menschen ohne Werke tun vielleicht mehr Not als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenleben zahlen muß.«). Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 55ff. (»Daß man nun allen diesen Werten gleichermaßen zu dienen nicht in der Lage ist, läßt sich leicht zeigen.«). Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 56. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 84. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 73.

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werden, was rechtens sein soll und zwar von einer Stelle, die, was sie festsetzt, auch durchzusetzen in der Lage ist.«420

Das Recht gewinnt seine Geltungskraft bei Radbruch also schon daraus, dass es Sicherheit zu leisten vermag; seine Geltung gründet sich auf die Tatsache, dass es eine Ordnung schafft, »(…) die dem Kampfe aller gegen alle ein Ende setzt.«421 Daraus leitet er letztlich eine »Grundnorm« ab, auf der die Geltung allen positiven Rechts beruhe: »Wenn in einer Gemeinschaft ein höchster Gewalthaber vorhanden ist, soll, was er anordnet, befolgt werden.«422

In Radbruchs Vorkriegsphilosophie bildet der neukantianische Werterelativismus also das zentrale Argument. Wenngleich Gerechtigkeit für Radbruch eine spezifische423 Determinante der Rechtsidee und damit für den Begriff des Rechts konstitutiv ist, lässt sich das Recht bei ihm begrifflich nicht in einem bestimmten normativen Inhalt erfassen, weil die zur Gewinnung eines solchen Inhalts existierenden Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte relativ sind. Zwar weist er mit dem Begriff der Gerechtigkeit eine moralische Kategorie als Bestandteil des Rechts aus und ist insofern nicht als Vertreter einer Trennungsthese zu verstehen, sein Argumentationsvorgang resultiert jedoch in einem absoluten Vorrang der Rechtssicherheit: »Aber wie ungerecht das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten mo¨ ge – es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfu¨ llt, den der Rechtssicherheit.«

Damit ist Radbruchs Vorkriegsphilosophie als positivistisch einzustufen.424 Verdeutlichen lässt sich dies vor allem anhand seiner Ausführungen zu der ausnahmslosen Bindung des Richters an das positive Recht: »Fu¨ r den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefu¨ hl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei.«425

Zwar betont Radbruch zugleich, dass diese absolute Geltung des positiven Gesetzes nicht ausnahmslos auch für den Einzelnen gelte. So könne es »Schand420 421 422 423 424

Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 73. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 83. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 83. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 37. So auch Alexy, The Argument from Injustice. A Reply to Legal Positivism (2002), S. 45 (»Before the era of National Socialism in Germany, Radbruch was a legal positivist – not in terms of justification, to be sure, but in terms of result, at any case where the judge is concerned.«). 425 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 45.

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gesetze geben, denen das Gewissen den Gehorsam verweigert«, für die Radbruch als Beispiel die Sozialistengesetze aus dem Jahre 1878 anführt.426 Dies weist Radbruchs Vorkriegsphilosophie jedoch keineswegs als nichtpositivistisch aus, denn auch wenn ein positives Gesetz vom Standpunkt des Einzelnen aus als illegitim gewertet wird, so verliert es aufgrund der bedingungslosen Gesetzesbindung des Richters seine Geltung nicht. b)

Die Radbruchsche Formel

Während der Richter in seiner Rechtsphilosophie von 1932 noch ausschließlich an das positive Recht gebunden ist, relativiert Radbruch seinen Standpunkt in dem 1946 erstmals erschienenen Aufsatz mit dem Titel »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«427. Die als Radbruchsche Formel bekannt gewordene Passage dieses Aufsatzes lautet: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges Recht‹, vielmehr entbehrt es u¨ berhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren, denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.«428

Diese wenigen, aber bedeutsamen Zeilen sind maßgeblich für die Interpretation und Einordnung der Nachkriegsphilosophie Radbruchs, denn bei der Beurteilung eines Konflikts zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit lässt der Text drei verschiedene normative Abstufungen erkennen, die zum Teil einen Wandel in Radbruchs Philosophie nach 1945 nahelegen. Erstens gilt weiterhin der Vorrang der Rechtssicherheit. Auch ungerechte und unzweckmäßige Rechtsnormen sind geltendes Recht. Insofern bleibt Radbruchs Rechtsphilosophie auch nach 1945 dem Vorrang der Rechtssicherheit verpflichtet. 426 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 84. 427 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), 105ff. 428 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), 105 (107).

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Der wesentliche Unterschied zu seiner Philosophie von 1932 liegt darin, dass Radbruch mit der zweiten Abstufung – der Unerträglichkeitsformel – den absoluten Charakter dieses Vorrangs aufhebt. Der Gedanke der Rechtssicherheit verdiene dann eine Einschränkung, wenn der Widerspruch des positiven Rechts zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, dass das Recht als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat. Vor dem Hintergrund des seiner Vorkriegsphilosophie immanenten Werterelativismus kann diese Stelle nur so ausgelegt werden, dass Radbruch sich nach 1945 mit dem »Maß der Unerträglichkeit« auf eine Ungerechtigkeitsdimension bezieht, die derart extrem ist, dass sie objektiv erkennbar also nicht mehr relativ, sondern absolut ist. Es liegt nahe, dass Radbruch diese absolute Idee der Gerechtigkeit nach dem zweiten Weltkrieg in den Menschenrechten erblickt, denn in seiner Schrift »Fünf Minuten Rechtsphilosophie« aus dem Jahr 1945 heißt es: »Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrecht erhalten kann.«429

In der Rechtsphilosophie von 1932 ordnet Radbruch die Menschenrechte den Individualwerten zu.430 Er erkennt sie dort aber noch nicht als das spezifische, die Gerechtigkeit konstituierende inhaltliche Merkmal, sondern begreift sie als eine Möglichkeit des Bekenntnisses unter vielen. Nach 1945 versteht er sie dann als absolute Werte, an denen »nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrecht erhalten kann«. Damit gewinnt Radbruchs Rechtsidee nach dem Zweiten Weltkrieg eine inhaltliche Dimension. Die Rechtssicherheit ist nun nicht mehr der einzige Zweck des Rechts, neben sie gesellen sich die Menschenrechte. Mit der Unerträglichkeitsformel hebt er die These vom absoluten Vorrang der Rechtssicherheit auf. Während Radbruch das Recht auf der zweiten Stufe als »unrichtiges«, immerhin aber noch als »Recht« bezeichnet, entbehrt das positive Gesetz gänzlich der Rechtsnatur, »(…) wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde (…).« Auch mit der Verleugnungsformel vollzieht Radbruch einen Wechsel in seiner Philosophie, denn er spricht den Menschenrechten nun einen absoluten, wertgebenden Charakter zu. Während er in 429 Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), Nachdruck in Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe, S. 209f. 430 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 67.

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seiner Vorkriegsphilosophie für den Begriff der formalen Gleichheit noch keinen Bezugsgegenstand erkannt hat, kann er das formale Prinzip nun mittels der Menschenrechte materialisieren. Angesichts der Tatsache, dass für Radbruch Gerechtigkeit in Form von Gleichheit die spezifische Rechtsidee ist, erklärt sich auch, dass Gesetze, die dieses Prinzip bewusst verleugnen, nach 1945 nicht nur unanwendbar, sondern überhaupt kein Recht sind. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Radbruch sowohl mit der Unerträglichkeits- als auch mit der Verleugnungsformel seine These vom absoluten Vorrang der Rechtssicherheit revidiert. Weil er nunmehr weder die Trennungsthese noch die absolute Vorrangthese vertritt, ist seine Nachkriegsphilosophie nichtpositivistisch. c)

Die Anwendung der Radbruchschen Formel in den sog. Mauerschützen-Prozessen

In einer Reihe von Verfahren hatte sich der Bundesgerichtshof damit zu befassen, wie auf der Ebene der Rechtsgeltung ein zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit auftretender Konflikt rechtlich zu lösen ist.431 Besondere Beachtung fanden dabei die nach der Wiedervereinigung ergangenen Entscheidungen zu den sogenannten Mauerschützenfällen.432 Besonders aufschlussreich sind dabei für den vorliegenden Zusammenhang zwei Rechtsfragen, die der Bundesgerichtshof in diesen Verfahren zu beantworten hatte. Erstens ging es um die Frage, ob der an der Grenze mit Tötungsvorsatz abgegebene Todesschuss von im Recht der DDR enthaltenen Erlaubnistatbeständen überhaupt gedeckt und dementsprechend gerechtfertigt war. Die zweite – sich bejahendenfalls – anschließende Frage bestand darin, ob auch die bundesrepublikanische Strafjustiz an entsprechende Rechtfertigungsgründe gebunden war, oder ob einer Verurteilung der Mauerschützen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG entgegenstand. Die Arbeit konzentriert sich im Folgenden auf die drei für das Thema der Arbeit besonders relevanten Mauerschützenentscheidungen. Im ersten in diesem Zusammenhang anhängigen Verfahren433 beschäftigte sich der 5. Strafsenat damit, ob der für die Todesschüsse als Rechtfertigungs431 Siehe u. a. schon BGHSt 2, 173ff.; 234ff. und BGHSt 3, 357ff. 432 BGHSt 39, 1ff.; 168ff.; 199ff.; 353ff.; 40, 48ff.; 113ff.; 218ff.; 241ff.; 41, 10ff.; 101ff.; 149ff.; 42, 65ff.; 356ff.; siehe dazu aus der Literatur insbesondere Alexy, Mauerschützen (1993); Amelung, GA 1996, 51ff.; Dannecker, Jura 1994, 585ff.; H. Dreier, JZ 1997, 421ff.; Gropp, NJ 1996, 393ff.; Günther, StV 1993, 184ff.; Jakobs, GA 1994, 1ff.; H. Ott, in: FS Kaufmann (1993), S. 67ff.; Pawlik, GA 1994, 472ff.; Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag (1998); ¨ ztu¨ rk/Gropp (Hrsg.), Maßnahmen gegen Organisierte Kriminalität im Sinn/Gropp, in: O Rechtsstaat – Möglichkeiten und Grenzen – (2003), S. 213ff. 433 BGHSt 39, 1ff.

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grund in Betracht kommende § 27 des Gesetzes über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (GrenzG-DDR) »wegen Verletzung auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer Betracht bleiben (…)« müsse.434 Der Senat erwähnt sodann die Radbruchsche Formel, konzediert jedoch anschließend, dass deren Übertragung auf den vorliegenden Fall »nicht einfach [sei], weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann.«435 Gleichwohl bliebe »die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist.«436 Mit der Berufung auf die Radbruchsche Formel und dem Hinweis auf eine universelle (»äußere«) staatliche Grenze deutet der Bundesgerichtshof an, dass er eine allgemeinverbindliche metarechtliche Grenze des positiven Rechts anerkennt. Allerdings macht er diese Überlegung dann nicht zur Grundlage seiner Entscheidung, denn es seien anders als noch bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts »nunmehr konkretere Maßstäbe« hinzugekommen, die der Senat in den internationalen Menschenrechtspakten erblickt.437 Unter Berücksichtigung der Artikel 6 (Recht auf Leben) und 12 (Ausreisefreiheit) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbpR) habe der in § 27 GrenzG-DDR bezeichnete Rechtfertigungsgrund »von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt.«438 Der Wortlaut des § 27 GrenzG-DDR habe eine menschenrechtsfreundliche Auslegung erlaubt, »die dem auch im Recht der DDR (eingeschränkt) vorhandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trug.«439 Demnach sei das Verhalten der Angeklagten schon nach dem Recht der DDR nicht vom Rechtfertigungsgrund des § 27 GrenzG-DDR erfasst gewesen, weshalb in der Verurteilung der beiden Angeklagten auch kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG liege, denn dieser schütze nicht das Vertrauen in eine Staatspraxis.440

434 435 436 437 438 439 440

BGHSt 39, 1, 14f. BGHSt 39, 1, 16. BGHSt 39, 1, 16. BGHSt 39, 1, 22. BGHSt 39, 1, 22. BGHSt 39, 1, 25. BGHSt 39, 1, 29f.

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In einem weiteren Verfahren441 ging es schließlich um Tötungen an der innerdeutschen Grenze, die vor dem Beitritt der DDR zum IPbpR geschehen waren. Aus diesem Unterschied zu den vorherigen Verfahren ergebe sich jedoch keineswegs, »dass die Rechtsauffassung des Senats zur Unwirksamkeit grob ungerechter und menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgründe unanwendbar wäre.«442 Der IPbpR habe seine Grundlage in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (AEMR).443 Obwohl sie kein Vertragsrecht sei und trotz der Tatsache, dass die DDR erst 1973, und damit nach dem Tatzeitpunkt Mitglied der Vereinten Nationen geworden ist, komme ihr auch für den vorliegenden Fall »ein hohes Maß an rechtlicher Bedeutung zu, als sie den Willen der Vo¨ lkergemeinschaft, Menschenrechte zu verwirklichen, und den ungefähren Inhalt dieser Menschenrechte zum Ausdruck« bringt.444 Wie der IPbpR könne die AEMR »als eine Konkretisierung dessen aufgefaßt werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden wird (…).«445 Der Senat bezieht sich innerhalb der weiteren Urteilsgründe dann allerdings auf die seit BGHSt 39, 1ff. geltende Rechtsprechungspraxis und verneint anschließend die Anwendbarkeit des im positiven Recht der DDR enthaltenen Erlaubnistatbestands. Wenngleich zu den vorherigen Verfahren keine maßgeblichen Unterschiede bestanden, sah sich der Bundesgerichtshof in BGHSt 41, 101ff. zu vertiefenden Ausführungen veranlasst. Im Unterschied zur bisherigen Rechtsprechung erklärt der Senat nunmehr ausdrücklich, dass er die Radbruchsche Formel fu¨ r anwendbar ha¨ lt.446 Angesichts des »hohen Wertes der Rechtssicherheit« müsse ihre Anwendung allerdings auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben.447 Einen solchen »extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen ›Unerträglichkeitsformel‹ (…) zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, (…)«, ergibt sich für den Senat sodann »bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes«.448 Als Gründe dafür werden u. a. »die Hintanstellung des Lebensrechts der Flüchtlinge«, »die besonderen Motive, die Menschen fu¨ r die Überquerung der innerdeutschen 441 442 443 444 445 446 447 448

BGHSt 40, 241ff. BGHSt 40, 241, 245. BGHSt 40, 241, 245. BGHSt 40, 241, 248. BGHSt 40, 241, 248. BGHSt 41, 101, 108. BGHSt 41, 101, 108. BGHSt 41, 101, 108.

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Grenze hatten« und »die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze (…), die durch Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl gekennzeichnet waren« angeführt.449 Die Besonderheit zu den vorherigen Verfahren liegt nun darin, dass der Senat sodann etwaige, im DDR-Recht in Betracht kommende Rechtfertigungsgründe unmittelbar aufgrund der Radbruchschen Formel für unanwendbar erklärt: »Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR – gleichviel, ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz 1982 zurückgeführt wurde – ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich bleiben.«450

Der Senat sieht in seiner Rechtsprechung keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG, denn das Rückwirkungsverbot schütze nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats- und Auslegungspraxis: »Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten.«451

Dies gelte erst recht dann, wenn »ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung gar nicht in Betracht kam.«452 Dies folge aus der Überlegung, dass eine Straffreistellung, »die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist.«453 Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass der Bundesgerichtshof in extremen Ausnahmefällen auf der Ebene der Rechtsgeltung einen Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zugunsten ersterer auflöst. Diese Rechtsprechungspraxis folgt der Nachkriegsphilosophie Radbruchs insofern, als dass sie von einem Vorrang der Rechtssicherheit ausgeht, aber in Fällen extremen Unrechts die Anwendung des positiven Rechts verneint. Dementsprechend wertet der Bundesgerichtshof auch das grundgesetzlich verankerte Rückwirkungsverbot als ein naturalistisches Prinzip, das seine Grenzen darin findet, dass es nicht das Vertrauen in positives Recht schütze,

449 450 451 452 453

BGHSt 41, 101, 108. BGHSt 41, 101, 108. BGHSt 41, 101, 111. BGHSt 41, 101, 112. BGHSt 41, 101, 112.

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welches derart gegen die Menschenrechte verstößt, dass es »überhaupt nicht Recht geworden ist.«454 Besonders bemerkenswert ist, dass das Gericht die Unanwendbarkeit einzelner Vorschriften des positiven DDR-Rechts damit begründet, dass sie gegen die in der AEMR enthaltenen Rechtspositionen verstoßen. Anders als der IPbpR ist die AEMR kein Vertragsrecht und insofern niemals von der DDR ratifiziert oder gar konkret umgesetzt worden. Die Unanwendbarkeit positivrechtlicher Normen folgt damit aus einer normativen Instanz, die außerhalb des Rechtssystems der DDR zu verorten war. Es bleibt aber zu betonen, dass die Mauerschützenfälle die Besonderheit aufweisen, dass das Strafrecht der BRD nach Maßgabe des § 315 Abs. 1 EGStGB auf Taten Anwendung fand, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik begangen wurden. Das Zurücktreten des strafrechtlichen Vertrauensschutzes und die daraus folgende Nichtberücksichtigung des positiven Rechts stehen in einem Kontext, in dem die entscheidungserheblichen Normen ihren Ursprung in einem anderen politischen und rechtlichen System haben. Dieser Aspekt wird auch in der entsprechenden Mauerschützen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts455 erkennbar, wenn es heißt: »Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG findet (…) seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden.«456

Dementsprechend sollten die dargestellten Entscheidungen in ihrer Bedeutung nicht in dem Sinne überhöht werden, dass sich ihnen ein grundsätzliches Bekenntnis zum Rechtsmoralismus entnehmen lässt. Trotzdem sind sie deshalb für das Thema der Arbeit bedeutsam, weil in ihnen die Einsicht zum Ausdruck kommt, die Geltung des positiven Rechts habe nicht grundsätzlich, aber immerhin in extremen Ausnahmefällen der normativen Kraft der Gerechtigkeit zu weichen.

6.

Stellungnahme und Kritik

Die vorstehenden Ausführungen haben die unterschiedlichen »Spielarten« des Rechtspositivismus zumindest strukturell nachgezeichnet. Festhalten lässt sich Folgendes: Keine positivistische Theorie leugnet, dass der Grund des Rechts 454 BGHSt 41, 101, 112. 455 BVerfGE 95, 96ff. 456 BVerfGE 95, 96, 132.

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moralischer Natur sein mag. Allerdings sind alle Ansätze von einer Skepsis gegenüber der Idee des Naturrechts getragen und wollen Recht und Moral konzeptionell voneinander trennen. Dementsprechend vertreten sämtliche Theorien vom positiven Recht die These des absoluten Geltungsvorrangs. Davon unterscheiden sich Radbruchs nicht-positivistische Nachkriegsphilosophie und ihre Rezeption in den Mauerschützen-Entscheidungen. Die positivistische Skepsis gegenüber der Idee des Naturrechts bildet sich vor allem auf der Ebene der Begriffsbildung unterschiedlich ab. Während beispielsweise Kelsen und Raz – freilich auf Grundlage einer unterschiedlichen Methodik – den Rechtsbegriff völlig frei von moralischen Elementen bilden (exklusiver Positivismus), erkennen Coleman und Hart zumindest die Möglichkeit an, dass die Rechtsidee auch begrifflich mit Moralvorstellungen zusammenhängt, sie identifizieren dies aber nicht als prägendes Element (inklusiver Positivismus) und akzentuieren diese Frage nicht. Maßgeblich für die vorliegende Arbeit ist insofern, ob der Begriff des Rechts und damit auch der Begriff des Strafrechts ausschließlich auf Grundlage des positiven Rechts gebildet werden kann, oder ob er – wie beispielsweise die personale Rechtsgutslehre behauptet457 – überpositive Prinzipien enthält bzw. enthalten sollte, die dann bei der Bildung eines Straftatbegriffs zu berücksichtigen wären. Insofern fokussiert die nun folgende kritische Auseinandersetzung die Frage der Begriffsbildung und nicht die Frage nach dem Geltungsvorrang des positiven Rechts, ohne letztere zu vernachlässigen, wenn sie untrennbar mit der Begriffsfrage verknüpft ist. Rufen wir uns in Erinnerung, welche »Spielarten« des Rechtspositivismus erkennbar wurden, so lässt sich zunächst feststellen, dass es für die Frage nach der Bildung eines materiellen Verbrechensbegriffs darauf ankommt, ob der Rechtsbegriff definitorisch überpositive Prinzipien enthalten kann. Geleugnet bzw. verneint wird dies letztlich nur von den Vertretern des exklusiven Rechtspositivismus. Sowohl der inklusive Positivismus als auch nicht-positivistische Konzepte erkennen auf der Ebene der Begriffsbildung die Bedeutung moralischer Wertvorstellungen an, wenngleich dieser Befund unterschiedlich stark gewichtet wird. Die für das Erkenntnisinteresse der Arbeit maßgebliche Frage lautet also letztlich, ob ein inklusiver Begriff des Rechts einem exklusiven vorzuziehen ist. Nur wenn dies der Fall ist, besteht konzeptionell überhaupt die Möglichkeit aus dem Begriff des Rechts überpositive Inhalte abzuleiten, aus denen sich dann ein materieller Verbrechensbegriff deduzieren ließe. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei ist zuallererst zu konstatieren, dass – schon aus pragmatischen Gründen – jede Rechtsordnung im Grundsatz zwangsläufig positivistisch ausgerichtet sein muss, weil sie sich selbst dekonstruieren würde, wenn die Geltung ihrer Sätze 457 Siehe dazu oben 1. Kap., I. (»Die materielle Rechtsgutstheorie«).

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ständig und unmittelbar von einer zweiten, inhaltlich fluktuierenden, parallelen Sollens-Ordnung abhingen.458 Diese Erkenntnis drückt sich begrifflich in der Idee der Rechtssicherheit aus und findet ihre normative Verankerung in der deutschen Rechtsordnung in Art. 20 Abs. 3 GG.459 Für den Bereich des Strafrechts ist die Idee der Rechtssicherheit besonders konstitutiv, weil der Einzelne und die Gesellschaft auf die Vorhersehbarkeit der staatlichen Strafreaktion angewiesen sind, was sich wiederum im Prinzip der Strafgesetzlichkeit in Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB ausdrückt.460 Ungeachtet dessen lassen sich allerdings mehrere Gründe dafür anführen, warum die besondere Bedeutung dieses Prinzips sich in der theoretischen Rekonstruktion des Rechtsbegriffs nicht als ein absoluter Wert abbilden sollte.461 458 Vgl. dazu nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), S. 308 (»Jede staatliche Rechtsordnung ist heute notwendig positivistisch.«). 459 Siehe dazu nur Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 88. EL (August 2019), Rn. 50ff.; vgl. zu einer in gewisser Weise relativierten Bedeutung des Prinzips der Rechtssicherheit für die höchstrichterliche Rechtsprechung aber zuletzt BVerfG, NJW 2015, 1867, 1868: »Höchstrichterliche Rechtsprechung ist jedoch kein Gesetzesrecht und erzeugt keine vergleichbare Rechtsbindung (…). Die über den Einzelfall hinausreichende Geltung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (…). Schutzwürdiges Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung kann daher in der Regel nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, insbesondere bei einer gefestigten und langjährigen Rechtsprechung entstehen (…)«. 460 Siehe dazu nur Schmitz, Müko-StGB, 3. Aufl. (2019), § 1 insbes. Rn. 27–102 mit zahlreichen weiterführenden Nachweisen. 461 Gegen den Rechtspositivismus wird oftmals das sog. »Hitler-Argument« vorgetragen, also der Vorwurf, er enthalte keine Abwehrmechanismen gegen Machtmissbrauch und totalitäre Systeme [siehe dazu ausführlich W. Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. (1992), § 23, S. 187ff.]. Weder der Rechtspositivismus noch der Nicht-Positivismus können jedoch für sich in Anspruch nehmen, in der Lage zu sein, totalitäre Systeme zu verhindern. Im Umkehrschluss können sie dem jeweils anderen Konzept ebenso wenig plausibel vorwerfen, solche gerade erst zu ermöglichen. Dass Hitlers Machtergreifung hätte verhindert werden können, »wenn die Vorstellung anerkannt gewesen wäre, daß die Verfassungslegitimität die Legalität begrenzt (…)« [Kriele, Recht und praktische Vernunft (1979), S. 128] ist genauso wenig erwiesen wie die Annahme, dass der »legale Verfassungsumsturz vielmehr ganz einfach dadurch zu verhindern gewesen [wäre], daß man gewisse demokratische Fundamentalnormen der Weimarer Verfassung von vornherein (…) für rechtlich unabänderbar erklärt hätte.« [Hoerster, ARSP Beiheft 37 (1990), 27 (29)]. Ein Wesensmerkmal des nationalsozialistischen Regimes war der Rechtsbruch – unabhängig davon, ob das Recht von der Moral zu trennen ist oder nicht. Das »Hitler-Argument« muss daher in der Auseinandersetzung zwischen Trennungs- und Verbindungsthese als deplatziert bezeichnet werden und soll an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet werden.

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Ein in diesem Zusammenhang überaus bedeutsamer Punkt ist zunächst einmal die Tatsache, dass der exklusive Positivismus es nicht zulässt, dem Recht eine generelle inhaltliche Sinnhaftigkeit zuzuschreiben.462 Kurzum gesagt: Die Tatsache, dass ein geschriebenes Gesetz überhaupt einen inhaltlichen Sinn hat, kann er nicht belegen, da im Rechtsbegriff selbst die sachlichen Gründe für die Existenz des positiven Rechts ausgeblendet werden. Finden moralische Prinzipien oder Wertvorstellungen bei der Definition des Rechts keinerlei Berücksichtigung, so kann auch der Sinn des Rechts nur formal, also materiell inhaltsleer, beschrieben werden, etwa mit der faktischen Geltung, der sozialen Wirksamkeit oder der tautologischen Formel, dass der Sinn des Rechts das Recht ist. Dabei werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass die definitorische Ausklammerung einer generellen inhaltlichen Sinnhaftigkeit des Rechts ernsthaften Einwänden ausgesetzt ist und deshalb abgelehnt werden sollte. Besonders anschaulich lässt sich dies anhand der Mechanismen der richterlichen Rechtsanwendung demonstrieren. Zu den unbestrittenen methodischen Anforderungen an das zuständige Gericht gehört es, außer in den Fällen, in denen das Gesetz eine eindeutige rechtliche Lösung des Falls bereithält, die entscheidungserhebliche Vorschrift auszulegen.463 Beispielsweise muss es die Reichweite eines Straftatbestandes oder eines zivilrechtlichen Anspruchstatbestands, einer verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage oder eines verfassungsrechtlich kodifizierten Grundrechts bestimmen. Lässt sich dies nicht eindeutig anhand des Wortlauts, der systematischen Stellung oder der Genese des anzuwendenden Gesetzes realisieren, ist das Gericht darauf angewiesen, den Gehalt des Gesetzes auf andere Weise zu konkretisieren. Völlig unbestritten dürfte insofern die Feststellung sein, dass der Richter kein »Subsumtionsautomat« ist.464 Dem Rechtsanwender verbleibt somit im Kanon der juristischen Auslegungsregeln »nur« noch die objektiv-teleologische Auslegung.465 Dafür muss sich das Gericht auf die Suche nach dem Sinn des Gesetzes begeben, wobei es im Rahmen seiner Recherche auf unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten 462 Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 29 (37ff.). 463 Sh. dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995), S. 133ff. 464 Die rechtshistorische Erforschung der Justiztheorie des 19. Jahrhunderts hat insofern sogar ergeben, dass es ein derart mechanisches Richterbild wohl tatsächlich nie gegeben hat; vgl. dazu ausführlich Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? (1986). 465 Sh. dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995), S. 153ff. insbesondere S. 153: [»Die Zwecke, die der Gesetzgeber durch das Gesetz zu verwirklichen sucht, sind in vielen, wenn auch nicht in allen Fa¨ llen, objektive Zwecke des Rechts, wie Friedenssicherung und gerechte Streitentscheidung, ›Ausgewogenheit‹ einer Regelung im Sinne optimaler Beru¨ cksichtigung der im Spiele befindlichen Interessen. Daru¨ ber hinaus verlangen wir eine Regelung, die ›sachgema¨ß‹ ist. Nur wenn man dem Gesetzgeber diese Absicht unterstellt, wird man im Wege der Auslegung zu Resultaten gelangen, die eine ›angemessene‹ Lo¨ sung auch im Einzelfall ermo¨ glichen.«].

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des Regelungszwecks stoßen kann.466 Wendete das zuständige Gericht eine solche Auslegung nicht an, so blieben nur zwei Konsequenzen: Entweder es erfindet einen telos oder es entscheidet überhaupt nicht.467 Beide Varianten sind in Anbetracht des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und des grundrechtsgleichen Rechts auf richterliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG offenkundig schon mit dem positiven Recht unvereinbar. Insofern stellt sich in der bezeichneten Situation die objektiv-teleologische Auslegung geradezu als Postulat des positiven Verfassungsrechts dar, obwohl sie aus der rechtspositivistischen Perspektive mitunter mit Skepsis betrachtet wird.468 Die Notwendigkeit und Unbedenklichkeit einer solchen Herangehensweise hat das Bundesverfassungsgericht in der sog. Soraya-Entscheidung469 betont: »Richterliche Ta¨ tigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsma¨ ßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.«470

Das Bundesverfassungsgericht geht also davon aus, dass dem Recht immanente Prinzipien, die positivrechtlich nicht kodifiziert sind, im Rahmen der richterlichen Entscheidung identifiziert, bewertet und schließlich berücksichtigt werden müssen.471 Zu betonen ist insofern, dass das Bundesverfassungsgericht also ungeschriebene Wertvorstellungen als dem Recht immanent ansieht und 466 Dies ist wohl auch der Aspekt, von dem aus Dworkin seine Prinzipientheorie entwickelt; vgl. dazu Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 81 (»But lawyers and judges, in arguing and deciding lawsuits, appeal not only to such black-letter rules, but also to the sorts of standards that I called legal principles, like, for example, the principle that no man may profit from his own wrong. This fact faces the positivist with the following difficult choice. He might try to show that judges, when they appeal to principles of this sort, are not appealing to legal standards, but only exercising their discretion. Or he might try to show that, contrary to my doubts, some commonly-recognized test always does identify the principles judges count as law, and distinguishes them from principles they do not. I argued that neither strategy could succeed.«). 467 Ähnlich Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 29 (38). 468 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), § 22 Rn. 818f. (»Wo das Gesetzt schweigt oder der Richter es korrigiert, kann er sich nicht auf eine ›objektive Auslegung‹ stützen. Er muß seine subjektive richterliche (Fall-)Normsetzung begründen. Die Richterrechtsnorm ist dann von der Qualität ihrer Begründung abhängig. Gegenüber den lange Zeit gepflegten Praktiken der ›objektiven Auslegung‹ aus ›sachlogischen Strukturen‹, der ›Natur der Sache‹, dem ›objektivierten Willen des Gesetzes‹ und ähnlichen Scheinargumenten ist daher eine kritische Theorie der Rechtsanwendung zu formulieren.« ). 469 BVerfGE 34, 269ff. 470 BVerfGE 34, 269, 287. 471 Vgl. dazu auch etwa BVerfGE 6, 32ff. (»Elfes«); 7, 198ff. (»Lu¨ th«); 25, 256ff. (»Blinkfu¨ er«).

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damit an dieser Stelle einen nichtpositivistischen Rechtsbegriff bildet. Der Richter muss sich dem Bundesverfassungsgericht zufolge dabei aber »von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft (…).«472 Das Gericht stellt ferner fest, dass dem Richter neben einer solchen – an moralischen Kriterien orientierten Auslegung – gar die »Aufgabe und Befugnis zu schöpferischer Rechtsfindung« obliegt, was »– jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden (…) ist.«473 Diese Erkenntnis ergibt sich für die Großen Senate des Bundesgerichtshofs sogar aus dem geschriebenen Gesetz: So heißt es in § 132 Abs. 4 GVG, dass der erkennende Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen kann, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Um schließlich zur Ausgangsfrage zurückzukehren, ist zu beurteilen, ob die Notwendigkeit einer objektiv-teleologischen Auslegung, ggf. sogar einer Rechtsfortbildung tatsächlich gegen den exklusiven Positivismus spricht. Dafür sollten auf Ebene der Rechtsanwendung zunächst zwei Konstellationen auseinandergehalten werden: Geht es um die Auslegung einfachrechtlicher Vorschriften, so wird das Gericht den Sinn des untersuchten Gesetzes gegebenenfalls anhand von höherrangigen Vorschriften bestimmen können. Das Gericht verlässt dann bei der Auslegung der entscheidungserheblichen Vorschrift die Sphäre des positiven Rechts nicht. Anders ist dies aber zu beurteilen, wenn auch Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der zur Auslegung herangezogenen höherrangigen Vorschrift keine eindeutige Antwort auf die Ursprungsfrage bereithalten. Der Rechtsanwender muss nun das geschriebene Recht verlassen, um den Sinn der Vorschrift zu ermitteln. Hat er ihn gefunden, kehrt er mit seinen Erkenntnissen zurück in das Reich der geschriebenen Gesetze und integriert dort durch seine Entscheidung den nun ermittelten Zweck des 472 BVerfGE 34, 269, 287 mit Verweis auf BVerfGE 9, 338, 349. 473 BVErfGE 34, 269, 287f. (»Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen (…). Das Bundesverfassungsgericht hat sie stets anerkannt (…). Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der ›Fortbildung des Rechts‹ ausdrücklich zugewiesen (…)« mit Verweis auf R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung (1971) und Redeker, NJW 1972, 409ff. und BVerfGE 34, 269 (287); BVerfGE 34, 269 (288); vgl. zur mitunter schwierigen Frage der Abgrenzung von teleologischer Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung grundlegend Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit (1952).

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Gesetzes. In dieser Konstellation muss das Gericht seine Auslegung also zumindest mittelbar außerhalb des positiven Rechts konkretisieren. Handelt es sich bei der unmittelbar entscheidungserheblichen Norm hingegen um eine verfassungsrechtliche Vorschrift, so führt eine ggf. erforderliche objektiv-teleologische Auslegung das Gericht direkt dorthin. Allein die Tatsache aber, dass der Richter in bestimmten Fällen zwangsläufig außerhalb des positiven Rechts nach dem Sinn eines Gesetzes sucht, muss per se noch kein starkes Argument gegen einen exklusiven Rechtspositivismus darstellen. Denn der Richter ersetzt das Gesetz nicht durch seinen persönlichen Standpunkt. Er muss den Sinn immer in Bezug zu der Vorschrift ermitteln.474 Insofern bildet seine Entscheidung nicht sein persönliches moralisches Urteil über das positive Recht ab, sondern eine begründete Argumentation in Bezug auf den Standpunkt des entscheidungserheblichen Gesetzes. Er argumentiert also noch immer in Bezug auf das positive Recht. Außerdem muss er berücksichtigen, dass seine Auslegung nicht gegen andere, insbesondere verfassungsrechtliche Vorschriften verstößt. Obwohl er es verlassen hat, bleibt der Richter noch immer im positiven Recht verankert. Er identifiziert den Sinn der Vorschrift also nicht losgelöst vom positiven Recht, sondern gerade in Bezug auf dieses. Erkennbar wird trotzdem, dass das positive Recht durch die objektiv-teleologische Auslegung unmittelbar einen Bezug zu inhaltlichen Überzeugungen erhält. Da die praktische Rechtsanwendung auf andere Erkenntnisquellen als das positive Gesetz zurückgreifen muss, ist zumindest die Rechtspraxis zwangsläufig mit der hinter der jeweiligen Norm stehenden Sozialmoral verbunden. Ein weitaus gewichtigeres Argument gegen den exklusiven Positivismus ergibt sich jedoch aus der abstrakteren Überlegung, dass der Richter in den oben beschriebenen Konstellationen zwangsläufig überhaupt nach einem Sinn der von ihm anzuwendenden Vorschrift suchen muss. Dies ergibt sich aus den folgenden Überlegungen. Den Ausgangspunkt dieser Betrachtung bildet eine These Rödls475, die im Folgenden weiterentwickelt werden soll. Rödl behauptet: »Um (…) den Standpunkt zum Gehalt des Normtextes herauszubringen, muss der Richter unterstellen, dass die Norm einen sinnvollen Gehalt hat. Wenn er nicht mit dieser Unterstellung arbeitet, vermag er überhaupt nichts herauszubringen. Die Auslegung eines jeden Rechtssatzes endete in völliger Desorientierung.«476

474 Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 29 (39). 475 Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 39ff. 476 Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 29 (40).

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Daraus lässt sich folgende These ableiten: Erst die Präsumption, das geltende Gesetz habe überhaupt irgendeinen inhaltlichen Sinn, der über die Tatsache seiner formalen Geltung hinausgeht, schafft den für die richterliche Rechtsanwendung notwendigen Zusammenhang zwischen Auslegung und positivem Recht. Lässt sich dieser Sinn dem Wortlaut, der Systematik oder der Entstehungsgeschichte nicht eindeutig entnehmen, so führt die Auslegung der Vorschrift ohne die Präsumption ihrer generellen Sinnhaftigkeit in eine Sackgasse, denn was bleibt dem Richter anderes, als dann zum positiven Recht zurückzukehren, um dort erneut festzustellen, dass die Rechtsfrage sich anhand des geschriebenen Rechts nicht lösen lässt? Die Konsequenz wäre, dass überhaupt keine Entscheidung ergeht, oder dass der Richter aus Verzweiflung einen Sinn erfindet. Dieser regressus ad infinitum löst sich nur dann auf, wenn man den Begriff des Rechts nicht rein formal definiert, sondern wenn das Recht selbst seine eigene inhaltliche Sinnhaftigkeit voraussetzt. Würde man nun in strikt positivistischer Manier diesen generellen Sinn erneut nur in der formalen Geltung der Vorschrift erblicken, führte dies wiederum zu einem regressus ad infinitum. Daraus ergibt sich, dass der Rechtsbegriff selbst eine irgendwie geartete inhaltliche Sinnhaftigkeit voraussetzen und damit enthalten muss.477 Dies wiederum impliziert, dass es für das Bestehen eines Gesetzes mindestens ein inhaltliches Argument geben muss. Lässt sich dieses im positiven Recht nicht identifizieren, so ist das Gesetz selbst ein regressus ad infinitum, wenn ihm kein genereller inhaltlicher Zweck unterstellt wird. Und da Sinnhaftigkeit bedeutet, dass es für einen Sachverhalt mindestens einen inhaltlichen Grund gibt, kann ihre Präsumption gar nicht anders erfolgen als moralisch. Nun könnte gegen einen solchen Rechtsbegriff vom positivistischen Standpunkt aus eingewendet werden, dass es ausreichend sei, anzuerkennen, dass dem positiven Recht – etwa im Prozess der Gesetzgebung – ein bestimmter inhaltlicher Grund und damit moralische Erwägungen vorgeschaltet sind, das Recht selbst aber davon unabhängig begriffen werden könne. Wie bereits erwähnt, leugnet soweit ersichtlich keine positivistische Theorie des Rechts die Möglichkeit eines moralischen Rechtsursprungs.478 Insofern bedeutet die positivistische These von der Moralneutralität des Rechts nicht, dass das, was Recht ist, nicht

477 Ähnlich Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 35 (»It will not do to say, that in a case like Henningsen the court is only ›morally‹ obliged to take particular [moral] principles into account, or that it is ›institutionally‹ obligated as a matter of judicial ›craft‹, or something of that sort. The question will still remain why this type of obligation (whatever we call it) is different from the obligation that rules impose upon judges, and why it entitles us to say that principles and policies are not part of the law but are merely extra-legal standars ›courts characteristically use‹.«). 478 Siehe dazu oben 3. Kap, I. 1. (»Grundannahmen rechtspositivistischer Theorien«).

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auch auf genuin moralische Vorstellungen oder Ideale zurückgehen könne.479 Dies erscheint prima vista auch nicht widersprüchlich. Dasselbe gilt für den Befund, dass eine positivistische Sichtweise daher sogar explizite Verweise auf Moralvorstellungen innerhalb der Rechtsordnung hinnehmen könne, ohne sich dem Rechtsmoralismus preisgeben zu müssen.480 Jedoch besteht auch unter Berücksichtigung dieser Konzessionen die Gefahr, dass der Richter – ungeachtet der Tatsache, dass die auszulegende Vorschrift gegebenenfalls auf moralische Vorstellungen zurückzuführen ist – vor dem Problem des infiniten Auslegungsregresses steht. Dies hat zwei Gründe. Erstens bedeutet das Anerkenntnis eines möglicherweise moralischen Ursprungs nicht, dass ein solcher auch vorgefunden wird oder tatsächlich besteht. Wenn dem geschriebenen Gesetz im Wege der grammatikalischen, systematischen oder genetischen Auslegung ein solcher Sinn nicht entnommen werden kann, steht der Richter vor dem Problem, dass er keinerlei Anknüpfungspunkt für seine Entscheidung im positiven Recht finden kann. Der exklusive Positivismus müsste also empirisch darlegen, dass jede Norm des positiven Rechts eine moralische Entstehungsgeschichte aufweist und sich diese auch inhaltlich rekonstruieren lässt. Ein solcher Versuch ist jedoch – soweit ersichtlich – bislang nicht unternommen worden und erscheint auch wenig erfolgversprechend. Zweitens kann sich der exklusive Rechtspositivismus die Frage nach einer generellen inhaltlichen Berechtigung des positiven Gesetzes aufgrund des formalen Rechtsbegriffs überhaupt nicht stellen. Selbst wenn sich für jedes positive Gesetz ein wertbezogener Ursprung identifizieren ließe, so hätte dieser zumindest in demokratisch organisierten Rechtsordnungen keinerlei Verbindlichkeit, wenn er im Anschluss nicht auch als Bestandteil dieses Gesetzes begriffen wird. Erst durch die verbindliche, abstrakte Anerkennung einer inhaltlichen Sinnhaftigkeit kann der Richter substantielle Anknüpfungspunkte dafür finden, wie das positive Recht in den beschriebenen Konstellationen auszulegen ist.481 Begreift man das Recht hingegen bloß formal als die Vereinigung aller positiven Gesetze, verbleibt dem Richter in dieser Konstellation wie gezeigt nur ein zirkulärer Rekurs auf das Gesetz, das die konkrete Rechtsfrage jedoch nicht lösen kann. Damit ist der exklusive Positivismus einem gewichtigen Einwand ausgesetzt. Eine Rechtstheorie, die auf der formalistischen These fundiert, dass erst das Recht einen Sollens-Satz zum Recht erhebt, die davon ausgeht, dass ein Satz nicht auch deshalb Recht werde, weil ihm irgendein inhaltlicher Grund zugrunde liegt, 479 Siehe dazu etwa Hoerster, ARSP Beiheft 37 (1990), 27 (28); ders., ARSP 79 (1993), 416ff. 480 Hoerster, ARSP Beiheft 37 (1990), 27 (28f.). 481 Ähnlich lässt sich Dworkins Argument von der notwendigen Anerkennung (moralischer) Prinzipien als Recht interpretieren; vgl. dazu Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 22ff.

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sondern erst und einzig dadurch, dass er Bestandteil einer wirksamen Rechtsordnung wird, kann eine generelle inhaltliche Sinnhaftigkeit des Rechts überhaupt nicht logisch unterstellen, da sie inhaltliche Gründe für das Recht definitorisch ausklammert. In Anbetracht der damit verbundenen Gefahr des infiniten Regresses bei der Rechtsanwendung kann eine Rechtstheorie überhaupt nicht sinnvoll postulieren, dass erst das Recht das Recht zum Recht erhebt. Ohne eine schon im Rechtsbegriff angelegte Präsumption der generellen inhaltlichen Sinnhaftigkeit endete also tatsächlich »die Auslegung eines jeden Rechtssatzes (…) in völliger Desorientierung.«482 Zumindest angedeutet erscheint eine solche Argumentation auch in der bereits zitierten Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dort heißt es: »Gegenu¨ ber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umsta¨ nden ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsma¨ ßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenu¨ ber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des mo¨ glichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung wu¨ rde die grundsa¨ tzliche Lu¨ ckenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist.«483

Insbesondere die Beschreibung der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als »Sinnganzes« macht deutlich, dass auch das Bundesverfassungsgericht von der Unabdingbarkeit der Anerkennung eines zumindest generellen inhaltlichen Rechtszwecks ausgeht. Festhalten lässt sich damit Folgendes: Die absolute Akzentuierung des Formellen durch die Exklusivisten in dem Bestreben, ein Höchstmaß an Rechtsicherheit zu garantieren, kann nur auf der Utopie einer absoluten Lückenlosigkeit des Rechtssystems basieren. Betrachtet man die Leistungsfähigkeit des positiven Rechts realistisch, führt ein formalistisches Rechtskonzept zu Rechtsunsicherheit und bewirkt damit gerade das Gegenteil des positivistischen Anliegens.484 Es zeigt 482 Rödl, in: Wasmaier-Sailer/Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte (2017), S. 29 (40). 483 BVerfGE 34, 269, 287. 484 Siehe dazu auch Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 248 [»Der Vorrang der Rechtssicherheit zeigt sich daran, wie der Positivismus mit schwierigen Fällen (hard cases) umgeht. An solchen Fällen zeigt sich besonders deutlich das hermeneutische Grundproblem, wie die Angemessenheit unvermeidlicher Selektionsentscheidungen zu rechtfertigen sei. Der Positivismus spielt dieses Problem herunter und analysiert dessen Folgen als Symptome einer unvermeidlichen Vagheit umgangssprachlicher Formulierungen. (…) Der Richter füllt seinen Ermessensspielraum durch juristisch nicht begründbare Präferenzen aus und orientiert seine Entscheidungen gegebenenfalls an moralischen Maßstäben, die durch die Autorität des Rechts nicht mehr gedeckt sind.«].

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sich also, dass ein realistischer und praktikabler Rechtsbegriff neben der unverzichtbaren und elementaren Idee der Rechtssicherheit zumindest auf die Präsumption eines guten Grundes angewiesen ist. Ein exklusivistisches Rechtsverständnis ist folglich schlicht und ergreifend nicht kompatibel mit den für das Funktionieren der im Rechtsstaat erforderlichen Mechanismen der richterlichen Rechtsanwendung. Unabhängig davon ist ein solcher rechtstheoretischer Standpunkt auch unvereinbar mit der ideellen Ausrichtung des Grundgesetzes und der Idee einer demokratisch verfassten Gesellschaft, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Unbenommen bildet die Idee des Rechtsstaats die Grundlage des Grundgesetzes und bringt insofern zum Ausdruck, dass es die Idee der Rechtssicherheit als fundamentalen, das Gesamtsystem charakterisierenden und elementaren Wert garantiert. Dabei stellen sowohl die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG als auch Art. 1 Abs. 3 GG die Unverletzlichkeit und Unabänderbarkeit der Bindung staatlicher Gewalt sicher. Aber schon das Grundgesetz selbst lässt erkennen, dass es vorkonstitutionelle, normative Implikationen enthält.485 Bereits die Präambel stellt einen Bezug zu außerrechtlichen Instanzen her, wenn es heißt, dass das Deutsche Volk sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen gegeben hat. Ebenso bringt Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck, dass sich die Verfassung aus der Idee der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und des Friedens begründet. Schließlich lässt sich auch die Formulierung »Gesetz und Recht« in Art. 20 Abs. 3 GG derart interpretieren, dass das Grundgesetz neben dem positiven Rechtsbegriff (Gesetz) noch einen weiteren normativen Bezugspunkt (Recht) hat.486 Dieser Interpretation folgt auch das Bundesverfassungsgericht in der bereits zitierten Soraya-Entscheidung: »Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an ›Gesetz und Recht‹ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig (…) und

485 Siehe ausführlich zur Legitimation des Grundgesetzes den Sammelband von Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996). 486 Vgl. dazu nur Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 20 Rn. 107 mit zahlreichen Nachweisen.

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immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch.«487

All dies zeigt, dass das Grundgesetz nicht auf einer kontingenten Grundnorm beruht, sondern dass es neben der Idee der Rechtssicherheit auch das Bekenntnis zu bestimmten nicht positivierten Werten enthält. Dieser Befund lässt sich zudem auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates stützen. In den Protokollen über die Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen fasst der Vorsitzende den Hintergrund des vorbereiteten Artikels 1 folgendermaßen zusammen: »Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird. Nur schien uns das Naturrecht in seinen einzelnen Sa¨ tzen noch zu unbestimmt, als daß man es mit der einfachen Anfu¨ hrung der Naturrechtsa¨ tze ha¨ tte bewenden lassen ko¨ nnen. Die Sa¨ tze des Naturrechts wurden daher in den auf Art. 1 folgenden Grundrechtsartikeln, auf die Abs. 3 verweist, aufgezeichnet und in die fu¨ r die unmittelbare Rechtsanwendung erforderliche Form gebracht. Diese Verweisung stellt fu¨ r die Auslegung fest – es ist wichtig, sich das klar zu machen –, daß die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann.«488

Insgesamt kann daraus Folgendes abgeleitet werden: Das Grundgesetz lässt sich durch die »verewigte« Rechtsstaatsgarantie zwar als ein grundsätzlich positivistisches Konzept identifizieren, sein Ursprung weist aber einen vorkonstitutionellen Wertbezug auf.489 Ausschlaggebend ist nun, dass dieser Wertbezug durch die ausdrückliche Bezugnahme im Recht selbst enthalten ist. Er ist nicht nur Rechtsursprung, sondern auch Rechtsinhalt. Der im Bonner Grundgesetz konstituierte Rechtsbegriff ist also nicht exklusiv positivistisch. Ein entsprechendes Rechtsverständnis stünde im Widerspruch zur Konstitution der höchsten legitimitätsstiftenden Rechtsnorm des Systems. Ob sich die besagten überpositiven Werte nun begrifflich erfassen lassen, ist ein Problem, das sich in erster Linie den Vertretern der Verbindungsthese stellt, mit der Trennungsthese aber zunächst einmal nichts zu tun hat490 und im weiteren Verlauf der Arbeit untersucht wird. Zusammenfassend sieht sich der exklusive Rechtspositivismus also dem berechtigten Einwand ausgesetzt, dass schon das Grundgesetz selbst als die erste tat487 BVerfGE 34, 269, 286f. 488 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993) S. 64; siehe ausführlich dazu weiter unten 3. Kap., II. 2. b) aa) (»Die naturrechtliche Dimension des Grundgesetzes in den Beratungen des Parlamentarischen Rats«). 489 Siehe dazu ausführlich weiter unten 3. Kap., II. 2. b) aa) (»Die naturrechtliche Dimension des Grundgesetzes in den Beratungen des Parlamentarischen Rats«). 490 Anders Engländer, Rechtstheorie 28 (1997), 437ff., der die begriffliche Möglichkeit des Rechtspositivismus aus der Kritik an Robert Alexys Interpretation der Verbindungsthese nachweisen will.

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sächliche Ebene im Stufenbau der Rechtsordnung einen inklusiven Rechtsbegriff statuiert. Ferner kann er auch die wertbezogenen Verfahren der Entstehung von Rechtsnormen nicht plausibel mit dem Recht in Verbindung bringen, was sich aus den folgenden Überlegungen ergibt: Im demokratischen Rechtsstaat entscheidet nicht der Einzelne, sondern die Gesamtheit aller mündigen Individuen über die Verteilung von Machtverhältnissen. Nun ist die Idee der Demokratie aber schon begrifflich auf die Mitwirkung des Einzelnen an staatlicher Machtausübung angelegt. Der Einzelne ist sowohl Autor als auch Adressat der Rechtsnorm.491 Damit stellt das Recht einen Bezug zu der eigenen Lebenswelt aller teilnehmenden Individuen her und hat damit immer auch einen subjektiven Wertbezug. Dieser lässt sich in pluralistischen Gesellschaften im Regelfall zwar keinem spezifischen Moralkodex zuordnen, er ist aber trotzdem vorhanden. Allein die Pluralität von Wertvorstellungen kann nicht dazu führen, im Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff ihre Existenz zu leugnen.492 Es ist nicht erklärbar, wie sich die im Rahmen der demokratischen Genese im Gesetz niedergeschlagenen inhaltlichen Gründe mit dem Moment der Rechtwerdung egalisieren sollen. Will man die Bürger einer demokratischen Gesellschaft nicht nur als Rechtsverpflichtete, sondern zumindest auch als mittelbare Rechtsautoren begreifen, so lässt es deren Perspektive überhaupt nicht zu, die Legitimität eines Gesetzes vollständig von seinen inhaltlichen Gründen abzukoppeln. Dies drückt sich beispielsweise auch im Rahmen der richterlichen Rechtsanwendung aus, denn zu den unbestrittenen richterlichen Methoden gehört die Auslegung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des anzuwendenden Gesetzes. Wenn der Richter die inhaltlichen Gründe, die dem Gesetz zugrunde liegen, berücksichtigen soll, dann ist das Gesetz über die Rechtspraxis unmittelbar mit seiner inhaltlichen Genese verknüpft. Wenngleich das demokratische Gesetzgebungsverfahren mit Sicherheit nicht die vollständige Überzeugung aller stimmberechtigen Bürger zum Ausdruck bringt, ist das Verfahren dadurch gekennzeichnet, dass um gute Gründe gerungen wird, um einen inhaltlichen Kompromiss zu erzielen. Der exklusivistische Wertnihilismus blendet die im Wege dieser Kompromissbildung sichtbar gewordenen Positionen und Überzeugungen zwar nicht im Ursprung, aber im Ergebnis aus. Leugnet man nun, dass ein positives Gesetz auch daraus seine Legitimation schöpft, dass es Ausdruck des wertbezogenen Entstehungsverfahrens ist und fokussiert allein die formale Tatsache, dass das Gesetz beschlossen 491 Siehe dazu ausführlich Günther, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik (1999), S. 83ff. 492 In diesem Sinne auch Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (1994), S. 37 (»Zudem laufen die rein formalen Rechtstheorien Gefahr, das Recht (…) für das strömende Leben unzugänglich zu machen.«).

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wurde und nun mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann, so wird die Verbindung zwischen dem Recht und seinen Erzeugern begrifflich aufgehoben. Ein gegenteiliges, inklusivistisches Verständnis kann selbstverständlich nicht bedeuten, dass ein Gesetz, das gegen eine gegebenenfalls herrschende Sozialmoral verstößt, grundsätzlich illegitim und damit unwirksam ist. Auch für Nicht-Positivisten ist – wie die Ausführungen zur Philosophie Radbruchs gezeigt haben – die Idee der Rechtssicherheit derart konstitutiv, dass sie nur in extremen Ausnahmefällen eine Relativierung erfährt. Die Anerkennung des Wertbezugs im Rechtsbegriff ist also für die Geltungsfrage kaum von Bedeutung. Relevant ist sie nicht nur für die richterliche Rechtsanwendung, sondern auch vor dem Hintergrund einer inneren Motivation und Überzeugung der Rechtsunterworfenen, was sich am Beispiel des Strafrechts besonders gut demonstrieren lässt. Ein Teilgebiet der Rechtsordnung, das die intensivsten staatlichen Eingriffe in subjektive Freiheitsrechte legitimiert, kann unter Ausblendung der Perspektive der Rechtsunterworfenen nicht adäquat verstanden werden. Die Mitglieder einer Gesellschaft übertragen dem Staat weitreichende Machtpositionen nicht zum Selbstzweck, sondern aus einer wie auch immer zu formulierenden Einsicht in die Notwendigkeit493, der sie im demokratischen Gesetzgebungsprozess mittelbar Ausdruck verleihen. Sichtbar wird diese Überzeugung innerhalb des Rechtssystems zum Beispiel494 im Zusammenhang mit dem strafgerichtlichen Schuldspruch: Wenngleich die These vom sozialethischen Unwerturteil selbst umstritten495 ist und auch der Abgrenzung von Kriminal- und Ordnungswidrigkeiten-Unrecht dienen soll496, bringt sie jedenfalls die unbestreitbaren moralischen Wirkungen des Schuldspruchs zum Ausdruck. Denn die strafrechtliche Verurteilung kann zu einer Stigmatisierung des Einzelnen als 493 Vgl. dazu weiter unten 5. Kap. (»Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung«) und allgemein Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (1994), S. 198 (»Ist das Recht aber Norm, dann kann es sich mit Legalität nicht begnügen, denn die Norm verlangt Moralität. Daß dem Recht die Rechtsgesinnung keineswegs gleichgültig ist, zeigt sich zum Beispiel sehr deutlich bei der Strafe, die einerseits die Besserung bzw. Resozialisierung des Rechtsbrechers anstrebt und andererseits den Anständigen in seiner rechtstreuen Gesinnung zu stärken sucht.«). 494 Siehe zu den übrigen »sozialethischen« Argumenten im Strafrecht Kühl, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 219ff. 495 Befürwortend etwa Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), S. 65; Kühl, in FS Eser (2005), S. 149, 153; Radtke, MüKo-StGB, Vor § 38 Rn. 14; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2016), § 3 Rn. 46; kritisch etwa Zaczyk, ZStW 123 (2011), 691 (698). 496 Siehe dazu nur BVerfGE 27, 18, 28 [»Zum Kernbereich des Strafrechts (…) gehören alle bedeutsamen Unrechtstatbestände (…). Der Bereich der Ordnungswidrigkeiten, in dem eine repressive Rechtskontrolle genügt (…), umgreift Gesetzesübertretungen, die nach allgemeinen gesellschaftlichen Auffassungen nicht als (kriminell) strafwürdig gelten (…) Fälle mit geringerem Unrechtsgehalt, die sich von den kriminellen Vergehen durch den Grad des ethischen Unwertgehaltes unterscheiden (…).«].

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Straftäter führen und in der Missachtung durch das gesellschaftliche Umfeld resultieren.497 Dieser Aspekt wird auch vom Bundesverfassungsgericht betont: »Jede Strafnorm enthält ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise, das durch den Straftatbestand und die Strafandrohung näher umschrieben wird. Konkretisiert wird dieses Unwerturteil im Einzelfall durch das strafgerichtliche Urteil, das den Angeklagten wegen einer bestimmten Tat schuldig spricht und daran die im Strafgesetz vorgesehene Sanktion knüpft.«498

Der Rechtspositivismus kann diesen Aspekt nicht plausibel erklären, weil dem Strafrecht aus seiner Sicht überhaupt kein genuines Werturteil der Gesellschaft innewohnt bzw. er dieses im Rahmen seiner Begriffsbildungen zwangsläufig ausblenden muss. Im Ergebnis hätte der kommunikative Bestandteil der Strafe keine Legitimationsgrundlage, denn es bliebe offen, wie der Staat den sozialethischen Vorwurf begründen will, wenn er in den Strafrechtssätzen überhaupt nicht enthalten ist. Dieses Problem äußert sich dann auch in der »strafrechtlichen« Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn es einerseits in Bezug auf die Grenzen des Strafrechts eine exklusiv positivistische Haltung an den Tag legt, andererseits aber das der Strafe zugrunde liegende gesellschaftliche Werturteil betont, kann nicht plausibel erklärt werden, warum das »Ob« des Strafrechts nicht auch anhand der sozialen Wirklichkeit zu bemessen ist. Damit lässt sich als Zwischenergebnis Folgendes festhalten: Der exklusive Positivismus kann den Wertbezug des Rechts insbesondere in Anbetracht der Mechanismen der richterlichen Rechtsanwendung, der ideellen Ausrichtung des Grundgesetzes und der Demokratizität des Rechtssetzungsverfahrens nicht bzw. nicht plausibel ausgrenzen, was für den Bereich des Strafrechts besonders schwer wiegt. Er ist der Ausdruck eines mit den normativen Strukturen der Gesellschaft nicht vereinbaren rechtlichen Moralnihilismus. Es sprechen daher viele Gründe dafür, den Rechtsbegriff selbst inklusiv zu bilden. Ob deshalb in Ausnahmefällen auch zwangsläufig die These vom Vorrang des Gesetzes aufzuheben ist (NichtPositivismus), ist eine andere Frage, die für das Erkenntnisinteresse der Arbeit (Begriffsbildung) nicht zwingend zu beantworten ist. Allerdings offenbaren sich in dieser Frage erhebliche Einwände auch gegen den inklusiven Positivismus. Erstens muss der inklusive Positivist die Frage beantworten, wie die Geltung des 497 Siehe dazu nur Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 123 (»Der Vorwurf wird also vor der Gesellschaft erhoben. Er hat Stigmatisierungsfunktion. Dies wird nicht zuletzt durch die Aufnahme der Verurteilung in das Bundeszentralregister dokumentiert. Schließlich kann über das Strafverfahren in den Medien berichtet werden. Auch wenn dem Angeklagten bis zur Rechtskraft des Schuldspruchs die Unschuldsvermutung zur Seite steht, ist er jedenfalls einer Straftat verdächtig. Sein ganzes soziales Umfeld und dadurch sein gesellschaftlicher Achtungsanspruch, sein Ruf verändern sich negativ.«). 498 BVerfGE 96, 245, 249.

Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung

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Rechts denklogisch unabhängig von den im Rechtsbegriff selbst angelegten moralischen Prinzipen sein soll, wenn er die These vom absoluten Geltungsvorrang aufrechterhalten will. Insofern müsste man den Begriff der Rechtssicherheit selbst als ein absolutes moralisches Prinzip verstehen. Dann bliebe allerdings keinerlei Raum für darüberhinausgehende, ethische Grundsätze, denn diese würden stets von der Idee der Rechtssicherheit überlagert, wenn das positive Gesetz zu ihnen im Widerspruch stünde. Insofern kann der Positivismus den Geltungsvorrang des positiven Rechts nicht logisch herleiten, wenn er inklusiv gebildet wird. Es müsste innerhalb der Debatte konsequenterweise zwischen einem Begriffspositivismus und einem Geltungspositivismus unterscheiden, was das Problem jedoch nur noch offenkundiger machen würde. Denn es bleibt völlig unklar, wie sich ein im Begriff enthaltenes Definiens (Moralvorstellungen) im Konfliktfall gänzlich egalisieren soll. Zweitens erscheint das von den Positivisten vorgebrachte Argument, die Anerkennung der Radbruchschen Formel sei eine Gefahr für das Prinzip der Rechtssicherheit499, empirisch nicht belegt. Nachdem der Bundesgerichtshof die Geltung des positiven Rechts in den oben beschriebenen Verfahren zugunsten von Gerechtigkeitserwägungen verneint hatte, ist es offenkundig nicht zu einer Erosion der Rechtssicherheit gekommen. Die Radbruchsche Formel wurde in weiteren Verfahren nicht angewendet und auch darüber hinaus scheint es – soweit ersichtlich – keinen empirischen Beweis dafür zu geben, dass die Verbindlichkeit des geschriebenen Gesetzes in der Folge relativiert worden ist. Damit lässt sich abschließend festhalten, dass ein positivistisches Rechtsverständnis ernsthaften und berechtigten Einwänden ausgesetzt ist. Ein solches Konzept sollte also allenfalls dann als Grundlage einer Strafrechtsbegründung erwogen werden, wenn sich herausstellt, dass auch alle wertorientierten Verbrechensbegriffe abzulehnen sind. Insofern wird im Folgenden untersucht, ob ein Straftatbegriff, der überpositive Prinzipien inkorporiert, logisch zu begründen ist.

II.

Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung

Wie die Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs gezeigt hat, sind zur Begründung des (Straf-)Rechts unterschiedliche moralphilosophische Positionen vertreten und auf das Strafrecht übertragen worden.500

499 Siehe nur Hart, Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (1977), S. 45 (66). 500 Siehe dazu oben 2. Kap. (»Die historischen Ursprünge der materiellen Rechtsgutstheorie«).

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Gegenwärtig lassen sich in diesem Zusammenhang fast ausschließlich501 kontraktualistische Konzepte ausmachen. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten Roxins und Schünemanns, die im Folgenden näher beleuchtet werden. Beide Autoren begründen das Strafrecht (zumindest auch) auf Grundlage aufklärerischer Gedanken.502 Sie bilden den von ihnen vertretenen Verbrechensbegriff jedoch in jeweils unterschiedlich starker Referenz zu der Idee des Gesellschaftsvertrags.503

1.

Unmittelbar und mittelbar kontraktualistische Strafrechtsbegründung

Unmittelbare Bedeutung erfährt diese Idee in der von Schünemann entwickelten Variante der Rechtsgutstheorie.504 Er sieht den »subarchimedischen Punkt« des Rechtsgüterschutzprinzips in dem »Grundgedanken einer aus der Idee des Gesellschaftsvertrages abgeleiteten Strafrechtsbegrenzung«.505 In der Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Idee des Rechtsgutsdenkens, namentlich mit den Gedanken Beccarias, Birnbaums, Kants und Feuerbachs kommt er zu der Schlussfolgerung, dass »sei es direkt oder aus der oder in einer (historisierend gelockerten) Anlehnung an die Denkfigur des Gesellschaftsvertrages« ein Verbrechensbegriff entwickelt werden könne.506 Dadurch ist für Schünemann ein »Raster dafür vorgegeben, was der Staat mit Mitteln des Strafrechts schützen darf und was nicht.«507 Dies seien »zunächst einmal die vom Einzelnen für seine freie Entfaltung von den anderen usurpierten Güter und sodann die von allen geteilten, für das gedeihliche Zusammenleben notwendigen Güter im Unterschied zu den vom Staat nicht zu dirigierenden und deshalb auch nicht als solche zu garantierenden (…) einzelnen religiösen oder sittlichen Lebensformen.«508 501 Siehe außerdem Kühl, in: Jung/Mu¨ ller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 139ff.; ders., in: Dann/Klippel (Hrsg.), Naturrecht – Spa¨taufkla¨ rung – Revolution (1995), S. 182ff. 502 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133ff. und Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7 f.; ders., FS Hassemer (2010), S. 573ff. 503 Vgl. dazu auch Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (622f., 628ff.). 504 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133, 133ff. 505 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133, 137f. 506 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133, 139. 507 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133, 141. 508 Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie (2002), S. 133, 141.

Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung

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Auch Roxin bezieht sich auf die Idee des Gesellschaftsvertrags, fokussiert aber die verfassungsrechtliche Ordnung als Ausgangspunkt seiner Strafrechtsbegründung. Er leitet den Rechtsgutsbegriff dabei aus den Aufgaben des Strafrechts ab. Letztere lägen darin, den Individuen einer Gesellschaft » (…) ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sichern.«509 Rechtsgüter seien demnach »alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen (…), die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.«510 Roxin versteht sein Konzept als liberales Denkmodell, das seine geistesgeschichtlichen Wurzeln in der Aufklärung hat.511 Deshalb legt er seinen Überlegungen dann auch die Idee des Gesellschaftsvertrages zugrunde: Zum Zwecke der Sicherung eines geordneten und friedlichen Zusammenlebens habe der Staat im Zuge eines Vertragsschlusses zwischen den »Bewohnern eines bestimmten Territoriums« das Recht zur Machtausübung übertragen bekommen.512 Da das Strafgesetz einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zur Folge hat, muss sich laut Roxin der staatliche Strafzugriff jedoch auf das beschränken, was zur Sicherung des Zusammenlebens erforderlich ist.513 Zudem habe der Staat die Menschenwürde, das Gleichheitsgebot und die übrigen Grundrechte zu respektieren; dies sei ebenfalls das »Ergebnis aufklärerischen Denkens.«514 Roxin erhebt keine prinzipiellen Einwände gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit. Dies ergibt sich schon daraus, dass er das Funktionieren eines staatlichen Systems als Bestandteil seiner Definition vom Rechtsgut begreift. Kritik formuliert er jedoch am möglichen Missbrauch dieses Begriffs durch den Gesetzgeber. Konstruiere dieser mit Hilfe unbestimmter, diffuser Begriffe ein Universalrechtsgut515, das 509 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7. 510 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7. 511 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 8; ders., FS Hassemer (2010), S. 573 (576) (»Zur Begründung eines modernen Rechtsgutskonzeptes erscheint es, wie noch darzulegen sein wird, aussichtsreicher, auf staatstheoretische Grundgedanken der Aufklärung zurückzugreifen, auf denen auch unser Grundgesetz noch beruht.«). 512 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 8; ders., FS Hassemer (2010), S. 573, 576 (»Rechtsgeschichtlich lässt sich ein solches Rechtsgutsverständnis aus der von den Staatstheoretikern der Aufklärung entwickelten Konzeption des Gesellschaftsvertrages ableiten, demzufolge die Bürger dem Staat eine Strafgewalt nur insoweit übertragen, als es zur Sicherung eines friedlichen und freien, ihre Menschenrechte wahrenden Zusammenlebens notwendig ist. Da das Grundgesetz, wie die meisten europäischen Verfassungen, auf diesen historischen Grundlagen beruht, sind es mehr die staatstheoretischen Errungenschaften der Aufklärung als die in epochenbestimmender Form nicht aufweisbaren Strafrechtskonzepte jener Zeit, an die ein verfassungsrechtlich fundiertes Rechtsgutsverständnis heute anknüpfen muss.«). 513 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7. 514 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7. 515 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7; Roxin führt in diesem Zusammenhang als Beispiele das »angebliche« Rechtsgut der »Volksgesundheit« im Betäubungsmittelstrafrecht und die

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

keinen Bezug mehr zu Individualinteressen erkennen lässt, sei die Grenze der vom Rechtsgüterschutzgedanken legitimierten Kriminalisierung überschritten.516

2.

Kritik der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung

Die von Roxin und Schünemann aufgestellten Thesen verlangen eine kritische Auseinandersetzung auf zwei Ebenen. Schünemanns aufklärerische Interpretation der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz kann sich nur dann als begründet erweisen, wenn die – dem Strafrecht seiner Meinung nach Grenzen und Legitimität stiftende – Idee des Gesellschaftsvertrags selbst in der Lage ist, die Normativität des Strafrechts widerspruchsfrei herzuleiten (a). Roxins Rechtsgutstheorie hingegen kann nur dann überzeugen, wenn gezeigt wird, dass das Grundgesetz tatsächlich auf einem kontraktualistischen Theorem basiert (b). a)

Unmittelbare Herleitung eines Verbrechensbegriffs aus der Idee des Gesellschaftsvertrags

Wesentlich für die kontraktualistische Denkweise ist die These, dass Normen gelten, weil sie im Rahmen fiktiver oder reeller Absprachen unter den Mitgliedern einer Gesellschaft vereinbart wurden.517 Die Vertragstheorie fundiert auf einer individualistischen Anthropologie, die den Menschen als ein interessengeleitetes Wesen sieht, das zur Nutzenmaximierung mit seinen Mitmenschen kontrahiert und auf diese Weise allgemeinverbindliche Regeln des Zusammenlebens festlegt.518 Eine vorkontraktualistische normative Ordnung existiert in der Idee des Gesellschaftsvertrags nicht.519 Im Zentrum des Kontraktualismus steht das Ziel, ein gesellschaftliches Ordnungsschema und das dazugehörige institutionelle Staats- und Rechtssystem aus einem wertfreien Zustand (Urzustand) heraus zu schaffen.520 Schon im 18. Jahrhundert greift der schottische Philosoph David Hume die Idee des Kontraktualismus scharf an521, da sie eine normative Ordnung weder durch einen reellen noch durch einen hypothetischen Vertragsschluss wider-

516 517 518 519 520 521

»Erfindung« eines Rechtsgutes der »Leistungsfähigkeit der Versicherungswirtschaft« für § 265 StGB an. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 10. Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (2); ausführlicher K. Ott, Moralbegründungen (2005), S. 218ff. Siehe dazu ausführlich Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit (2000), S. 68ff. K. Ott, Moralbegründungen (2005), S. 218. Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (2f.). Hume, Of The Original Contract (1748).

Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung

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spruchsfrei begründen könne.522 Auch Hegel ist skeptisch gegenüber der Idee des Gesellschaftsvertrags und kritisiert, sie habe »in das Staatsverhältnis (…) die größten Verwirrungen im Staatsrecht und in der Wirklichkeit hervorgebracht.«523 Um beurteilen zu können, ob diese Skepsis angebracht ist, sollten die zwei denkbaren Varianten unabhängig von einander reflektiert werden. aa) Der reelle Gesellschaftsvertrag Zum einen gilt es, die These des reellen Gesellschaftsvertrags, also die Annahme einer tatsächlichen autonomen Selbstverpflichtung der Individuen einer Gesellschaft, näher zu betrachten. Diese Form des Kontraktualismus wird heutzutage kaum mehr vertreten524, denn es bleibt völlig unklar, wie ein tatsächlicher Vertrag über die ursprünglich kontrahierenden Individuen hinaus intergenerationell verbindlich sein soll. Bezogen auf die strafrechtstheoretische Diskussion bleibt also die Frage offen, durch welche Legitimationskette der Strafgesetzgeber des 21. Jahrhunderts an Normen gebunden sein soll, deren Wirkmacht in Zeiten der Aufklärung interindividuell »vereinbart« wurde. Dies ließe sich nicht anders als mit einem zweifelhaften regressus ad infinitum525 erklären, der eine normative Ordnung allenfalls formell, jedoch keineswegs materiell begründen könnte. Fraglich bleibt weiterhin, welche Folgen es im Konzept des Gesellschaftsvertrags hat, wenn einzelne Individuen einer Norm widersprechen, sich an diese nicht gebunden fühlen, oder neue, für das Ziel ihrer Nutzenmaximierung attraktivere Übereinkünfte beschließen sollten.526 Legt man der Konstitution einer Gesellschaft die Idee des Vertrags zugrunde, führt dies zu der inakzeptablen Konsequenz, dass diese Subjekte dann von der normativen Grundordnung nicht erfasst würden. Aus gesellschaftlicher Sicht wären sie Unpersonen und so beispielsweise nicht mehr vom Schutzbereich der Grundrechte umfasst. Der reelle Gesellschaftsvertrag ließe sich dann nur unter Auferlegung eines Kontraktionszwangs aufrechterhalten. Dies hätte jedoch das absurde Ergebnis, dass der Ursprung subjektiver Rechte in einem Zustand der Unfreiheit zu finden ist. Im Realkontraktualismus ist die Idee der Freiheit deshalb eine contradictio in adiecto. bb) Der hypothetische Gesellschaftsvertrag Einige dieser Einwände lassen sich ausräumen, wenn der Gesellschaftsvertrag als ein hypothetisches oder fiktives Ereignis gedacht wird. Die Geltung des Rechts lässt sich so nicht aus einem Zwang, sondern etwa mit der – die Hypothese 522 523 524 525 526

Vgl. dazu ausführlicher Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (4ff.) Hegel, Grundlinien der Philsophie des Rechts, § 75. Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (6). K. Ott, Moralbegründungen (2005), S. 229. K. Ott, Moralbegründungen (2005), S. 229.

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

bildenden – menschlichen Vernunft begründen.527 Ein vielbeachtetes, ebenfalls kontraktualistisches Konzept528 hat der US-amerikanische Philosoph John Rawls in seinem Werk »Theorie der Gerechtigkeit« entwickelt. Quasi exemplarisch für moderne Vertragstheorien529 sollen deshalb Rawls Denkansätze in Bezug auf die Idee der Rechts- und Staatsbegründung einer kurzen Betrachtung unterzogen werden. (1) John Rawls Theorie der Gerechtigkeit Rawls Theorie basiert auf der Idee des reflektiven Gleichgewichts (»reflective equilibrium«), einem »Verfahren der ethischen Theorienbildung«, welches allgemeine, abstrakte ethische Annahmen wie Freiheit und Gleichheit mit moralischen Intuitionen konfrontiert, um in diesem Prozess zu einem normativen Einverständnis zu gelangen.530 In Rawls Konzeption entsteht die Ordnung einer Gesellschaft in einem fiktiven Urzustand, in dem alle Beteiligten den Konsens über eine gerechte Ordnung unter einem »Schleier des Nichtwissens« (»veil of ignorance«) erreichen.531 Die Menschen unter dem Schleier des Nichtwissens sind rational denkende und argumentierende, frei entscheidende und grundsätzlich eigeninteressierte, zwar sozialisierte, aber ansonsten an anderen Personen grundsätzlich desinteressierte Subjekte.532 Sie sind außerdem moralische Personen mit Gerechtigkeitssinn.533 In diesem Urzustand sind außerdem bestimmte Bedingungen vorauszusetzen: »Auf jeden Fall muss man den Urzustand so auffassen, daß man sich jederzeit seinen Blickwinkel zu eigen machen kann. Es darf keinen Unterschied machen, wann und 527 Siehe dazu knapp Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (9ff.). 528 Siehe dazu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 11 (»Mein Ziel ist es, eine Konzeption der Gerechtigkeit darzustellen, welche die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie sie etwa bei Locke, Rousseau und Kant vorgefunden wird, verallgemeinert und auf ein höheres Abstraktionsniveau hebt.«). 529 Vgl. dazu Engländer, ARSP 86 (2000), 2 (9ff.). 530 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 35ff., insbes. S. 37 (»Die Rechtfertigung einer bestimmten Konkretisierung des Urzustands hat aber noch eine andere Seite. Man muß prüfen, ob die Grundsätze die gewählt wurden, unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen oder sie auf annehmbare Weise erweitern.«). 531 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 159ff.; siehe dazu auch K. Ott, Moralbegründungen, S. 238 [»Der ›veil of ignorance‹ verdeckt das Wissen um die kontingente Individualität, d. h. das, was das Dasein einer Person spezifisch ausmacht, einschließlich ihrer vollständigen Konzeption des Guten. (…) Die Güterlehre, die Rawls zugrunde legt, soll neutral sein gegenüber Konzepten des Guten, in denen bestimmte Güter anderen vorgezogen werden.«]. 532 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 29, 160ff. 533 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 168 (»Eine weitere Voraussetzung soll gewährleisten, daß die Regeln genau eingehalten werden. Die Beteiligten sollen einen Gerechtigkeitssinn haben, und das soll unter ihnen allgemein bekannt sein. Diese Bedingung soll die Gültigkeit der Übereinkunft im Urzustand sichern«).

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durch wen das geschieht. Die Einschränkungen müssen so beschaffen sein, daß stets dieselben Grundsätze gewählt werden. Der Schleier des Nichtwissens ist dafür eine entscheidende Bedingung. Er gewährleistet nicht nur, daß die verfügbaren Kenntnisse von Bedeutung sind, sondern auch, daß es stets dieselben sind.«534

Menschen mit diesen Eigenschaften und unter diesen Bedingungen würden dann ein normatives Modell wählen, in dem subjektive Handlungsfreiheiten, formale Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit das Ergebnis sind.535 Die Prämissen einer Gesellschaft sind bei Rawls damit das Resultat eines fairen Verfahrens (»justice as fairness«536), welches aufgrund des »veil of ignorance« gewährleistet, dass niemand »durch die Zufälligkeiten der Natur bevorzugt oder benachteiligt wird.«537 Rawls versteht sein Modell jedoch nicht als eine faktische Rekonstruktion der Entstehung einer Gesellschaft, sondern als eine vermittelnde Idee, mit welcher unterschiedliche Überzeugungen zusammengebracht werden können, um ein besseres Selbstverständnis und eine breitere Akzeptanz von den normativen Grundannahmen zu ermöglichen.538 (2) Stellungnahme Ob dieses hypothetische vertragstheoretische Konzept ein Rechtssystem plausibel erklären kann, ist ebenfalls überaus fraglich. Dies hängt damit zusammen, dass es den Prozess der normativen Verständigung im wahrsten Sinne des Wortes verschleiert und weder die Eigenschaften des Menschen unter dem »veil of ignorance« beweisen, noch belegen kann, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft sich tatsächlich auf bestimmte Überzeugungen und Rechte einigen würden. Versteht man den Gesellschaftsvertrag als Hypothese, ist die Verbindlichkeit seines Inhaltes unter den Subjekten einer Gesellschaft ebenso hypothetisch. Die bloße Fiktion des Normativen ist eine schwache Prämisse, aus der heraus sich nicht erklären lässt, warum Menschen reellen Normen folgen sollten.539 Der US534 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 162. 535 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 336f. 536 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 29. (»Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß. Die Bezeichnung ›Gerechtigkeit als Fairneß‹ drückt den Gedanken aus, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden.«). 537 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (1988), S. 29. 538 Rawls, Political Liberalism (2005) S. 26 (»The original position serves as a mediating idea by which all our considered convictions, whatever their level of generality – whether they concern fair conditions for situating the parties or reasonable constraints on reasons, or first principles and precepts, or judgments about particular institutions and actions – can be brought to bear on one another. This enables us to establish greater coherence among all our judgments; and with this deeper self-understanding we can attain wider agreement among one another.«). 539 Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (623).

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin bringt das Problem auf den Punkt: »Ein hypothetischer Vertrag ist nicht einfach eine blasse Form eines wirklichen Vertrags; er ist u¨ berhaupt kein Vertrag.«540

Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass der Kontraktualismus in beiden Varianten nicht geeignet ist, die Normativität einer gesellschaftlichen Ordnung widerspruchsfrei und nachvollziehbar zu erklären, weil er entweder auf unplausiblen Prämissen beruht oder über die faktische Geltungskraft von Rechtsnormen nur spekulative Hypothesen aufstellt. b)

Mittelbare Bezugnahme auf die Idee des Gesellschaftsvertrags

Auf dem Prüfstand steht also dann noch die These, dass eine Herleitung des Rechtsgutsbegriffs durch die Behauptung möglich ist, dem Grundgesetz wohnten gewisse vorverfassungsrechtliche Annahmen inne, aus denen sich eine Begrenzung der staatlichen Strafgewalt auf Rechtsgüter deduzieren lasse, wie es Roxin behauptet541. Diese mittelbar kontraktualistische Strafrechtsbegründung hat jüngst Armin Engländer einer ausführlichen Kritik unterzogen.542 Dabei macht er drei Probleme aus, vor denen entsprechende Konzeptionen stehen: das »Identifizierungsproblem«, das »Beruhensproblem« und das »Neutralitätsproblem«.543 Vieles spricht für Engländers argumentationstheoretische Problemanalyse: Erstens müsste dargelegt werden, dass dem Grundgesetz tatsächlich vorverfassungsrechtliche Ideen zugrunde liegen (»Beruhensproblem«). Sollte dies gelingen, so muss gezeigt werden, welche Grundsätze dies sind (»Identifizierung«). Andernfalls lässt sich kein konkreter Begriff bilden. Drittens darf die These nicht mit anderen Bestimmungen des Grundgesetzes konfligieren. Sie muss also intrasystematisch kohärent sein, insbesondere muss sie sich mit dem Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität vereinbaren lassen (Neutralitätsproblem). Dass Vorstellungen der vorverfassungsrechtlichen Ideengeschichte Einfluss auf das Grundgesetz hatten und als solche in ihm inkorporiert sind, lässt sich nur dann bejahen, wenn nachgewiesen wird, dass die Entstehung des Grundgesetzes auf einem verbindlichen metarechtlichen Narrativ beruht. Dies ließe sich nun durch eine umfassende Würdigung aller gesellschaftstheoretischen und philo-

540 541 542 543

Dworkin, Bu¨ rgerrechte ernst genommen (1984), S. 253. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7 f.; ders., FS Hassemer (2010), S. 573ff. Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (629). Engländer, ZStW 127 (2015), 616 (629).

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sophischen Perspektiven auf die Legitimitätsfrage des Grundgesetzes erhellen.544 Ein solches Verfahren kann das Grundgesetz aber nur erklären, nicht jedoch beweisen, dass es tatsächlich auf ein naturalistisches Axiom zurückzuführen ist. aa)

Die naturrechtliche Dimension des Grundgesetzes in den Beratungen des Parlamentarischen Rats Deshalb soll das Problem an dieser Stelle rechtsmethodisch angegangen werden: Nur wenn eine genetische Interpretation ergibt, dass dem Grundgesetz eine bestimmte präkonstitutionelle These zugrunde liegt, kann sich auch die Rechtsgutstheorie über das Verfassungsrecht daraus materialisieren lassen. Der Parlamentarische Rat muss sich also bei der Ausgestaltung des Grundgesetzes an eindeutig zu identifizierenden – aus heutiger Sicht überpositiven – staats- und gesellschaftstheoretischen Annahmen orientiert haben. Um dies beurteilen zu können, werden im Folgenden die Protokolle über die Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen herangezogen.545 In den Beratungen spielte die naturrechtliche Dimension des vorzubereitenden Grundgesetzes vor allem im Zusammenhang mit der inhaltlichen Ausgestaltung der Menschenwürdegarantie eine Rolle.546 Die Grundsatzhaltung des Ausschusses zu dieser Frage kann als mehrheitlich bejahend bezeichnet werden. Der Vorsitzende von Mangoldt fasst die vorherrschende Stimmung in der dritten Sitzung am 21. September 1948 folgenderweise zusammen: »In der allgemeinen Aussprache im Plenum wurde wiederholt gefordert, daß wir zum Naturrecht zuru¨ ck mu¨ ßten. Dieser Ruf: Zuru¨ ck zum Naturrecht! besagt: Vor dem geschriebenen Gesetz gibt es Rechtssa¨ tze, die, ohne geschrieben zu sein, allgemein bindenden Charakter haben.«547

Daraus lässt sich zunächst einmal schließen, dass der Parlamentarische Rat den Grundrechten eine tendenziell naturalistische Deutung zugrunde legte, was auch das folgende Zitat belegt:

544 Siehe dazu ausführlich Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996). 545 Siehe dazu Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993). 546 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 34 (Zinn selbst vertritt anschließend den Standpunkt, »daß man sie (…) in einem gewissen Umfang in das Staatsgrundgesetz aufnehmen soll, wenn man sie als vorverfassungsma¨ ßiges Recht ansieht. Nach den Exzessen der staatlichen Macht in den vergangenen 12 Jahren haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt.«). 547 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 40.

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

»Angesichts der Intensita¨ t und Sta¨ rke, mit der das Naturrecht heute betont wird, hielten wir es zumindest fu¨ r zweckma¨ ßig, das Naturrecht nicht unberu¨ cksichtigt zu lassen.«548

Gleichwohl betont von Mangoldt aber in der vierten Sitzung am 23. September 1948 auch die damit verbundenen Schwierigkeiten: »Nun wissen wir, daß mit dem Naturrecht allein (…) bei der praktischen Verwirklichung der Rechte des einzelnen sehr wenig anzufangen ist.«549

Tendenziell affirmativ steht auch das Ausschussmitglied Weber der naturalistischen Grundrechtsbegründung gegenüber: »Auch ich bin der Meinung, daß in der Verfassung nur Grundrechte und Grundsa¨ tze einen Sinn haben, die der geschichtlichen Stunde entsprechen. Man kann nicht alles aus dem Naturrecht ableiten. Aber das Naturrecht ist gleichwohl wichtigste Grundlage.«550

Die sich in diesem Zitat jedoch schon andeutende Skepsis teilt auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der ebenfalls Mitglied des Ausschusses für Grundsatzfragen war: »Man hat heute viel vom Vorverfassungsrecht, von Naturrecht gesprochen. Wir sollten das nicht allzu stark betonen. Ich habe vor dem Naturrecht allen ihm gebu¨ hrenden Respekt. Aber das Naturrecht ist wohl mehr eine moralisch-pa¨ dagogische These.«551

Hier wird eine deutliche Skepsis in Bezug auf die praktische Möglichkeit spürbar, die abstrakte Naturrechtsidee in die konkreten Verfassungssätze zu übertragen. Dafür müsse der Schluss von der »moralisch-pädagogischen These« auf die »Form«, mit »der Klarheit des Juristischen« gelingen.552 Heuss habe vor sich selbst » eine innere Sorge, am Beginn eines Grundgesetzes mit einer vorstaatlichen Deklaration zu beginnen.«553 Er führt aus: »In der Determinierung, daß jeder Mensch von Natur aus eigene Rechte besitze, ist mir bei aller Wertscha¨ tzung des Naturrechtlichen ein Satz ausgesprochen, der in der Interpretation vollkommen freibleibend ist.«554 548 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 40. 549 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 68. 550 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 68. 551 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993). Theodor Heuss S. 44. 552 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 44. 553 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 67. 554 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 67.

Kontraktualistische Modelle der Strafrechtsbegründung

101

Deutlicher ausgeprägt ist dieser von Heuss betonte Aspekt bei Zinn. Von ihm heißt es in der vierten Sitzung am 23. September 1948: »Es ist an sich richtig, die Betonung der Vorverfassungsma¨ ßigkeit der Grundrechte fu¨ hrt zu einer gewissen Uferlosigkeit. Die Ru¨ ckkehr zum Naturrecht, die wir heute erleben, ist die Reaktion auf einen falsch verstandenen Rechtspositivismus.«555

Noch weitaus drastischere Bedenken gegenüber dem Naturrecht äußert schließlich Carlo Schmid: »Nicht zu allen Zeiten hat man an Rechte, die einem von Natur zustehen, so geglaubt, wie heute. (…) Die große Begeisterung fu¨ r das Naturrecht, die sich heutzutage u¨ berall manifestiert, ist eine Gegenbewegung gegen die absolute Abneigung des deutschen juristischen Positivismus gegen das Naturrecht, den man fu¨ r die Rechtsverleugnung unter dem Naziregime u¨ berhaupt verantwortlich macht, wobei ich mir nicht versagen mo¨ chte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ›Naturrecht‹ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen, ist eine gefa¨ hrliche Sache. Ich empfehle da jedem, Kant zu lesen und seinen Nachweis daru¨ ber, daß im allgemeinen jeder das Naturrecht zu bekunden pflegt, das ihm fu¨ r seine Lebenswu¨ nsche am beko¨ mmlichsten erscheint.«556

Trotz dieser kritischen Stimmen resultieren die Überlegungen des Grundsatzausschusses in einer vorsichtigen, vorkonstitutionellen Grundrechtsbegründung, die über Art. 1 ihren Eingang in das Grundgesetz finden soll. Von Mangoldt hält die Haltung des Ausschusses folgenderweise fest: »(…) es ist wichtig, sich das klar zu machen –, daß die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann.«557

Allerdings führe dies »(…) zu einer gewissen Beweglichkeit der Grundrechtssa¨tze, soweit die in den einzelnen Artikeln gewa¨hlte Formulierung diese ermo¨ glicht.«558 Das Naturrecht in diesem Sinne sei »nicht etwas fu¨ r alle Zeiten ewig Gleiches, sondern etwas Fluktuierendes.« So bestünde »(…) die Mo¨ glichkeit, die naturrechtlichen Auffassungen in die Grundrechte, wie sie hier gefaßt worden sind, stets neu hinein zu interpretieren.«559 555 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 66. 556 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 64f. 557 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 64. 558 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S 64. 559 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993). S. 64.

102

Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

bb) Fazit Zusammenfassend lasst sich daraus schlussfolgern, dass dem Grundgesetz tatsächlich eine rechtsnaturalistische Position zugrunde liegt. Es handelt sich um die Bezugnahme auf die grundsätzliche, abstrakte Idee vorkonstitutioneller Rechte, die in konkret ausgestalteten Grundrechten mündet. Dabei hat der Parlamentarische Rat dem Grundgesetz aber kein statisches metarechtliches Konzept zugrunde gelegt. Das Grundgesetz fundiert vielmehr auf einer dynamischen naturrechtlichen Vorstellung, die keinen zeitlosen, ewigen Inhalt hat. Eine naturalistische Verbrechensbegründung auf Grundlage des Grundgesetzes ist also keineswegs ausgeschlossen. Am »Beruhensproblem« scheitern überpositive Strafrechtsbegründungskonzepte folglich nicht zwangsläufig. Konkrete aufklärerische, vertragstheoretische oder transzendentalphilosophische Theoreme sind im Grundgesetz jedoch nicht inkorporiert. Deswegen scheitern Rechtsgutstheorien, die in der Verfassung eine bestimmte Idee erblicken, am »Idenitifzierungsproblem«. Sie legen dem Grundgesetz ein von ihnen (!) identifiziertes, konkretes präkonstitutionelles Konzept zugrunde, das es in dieser Form schlicht nicht enthält. Sie können das Strafrecht also nicht mit den von ihnen gesetzten Prämissen erklären, weil sie sich dazu einer Fehlinterpretation des Grundgesetzes bedienen. Sofern sie quasi »hilfsweise« auf die verfassungsrechtliche Verankerung ihrer Lehren verzichten, sind sie denselben Einwänden ausgesetzt wie unmittelbar kontraktualistische Strafrechtsbegründungen. Damit kann auch die Auffassung nicht überzeugen, der Verfassung wohne ein bestimmtes aufklärerisches Konzept inne, aus dem sich sowohl der Ursprungsgedanke des Strafrechts als auch dessen Grenzen ergeben. In Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes erweist sich diese Idee bei genauer Betrachtung als ein Anachronismus.

III.

Empiristische Strafrechtsbegründung

Neben den bisher erörterten Konzepten lassen sich in der Diskussion um den materiellen Verbrechensbegriff auch sozialwissenschaftliche, empiristisch ausgerichtete Strafrechtsbegründungsansätze ausmachen.560 Insbesondere die Arbeiten Hassemers folgen einem solchen Konzept.

560 Vgl. dazu ausführlich Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 57ff.

Empiristische Strafrechtsbegründung

1.

103

Darstellung

Hassemer gilt als einer der entschiedensten Verfechter des systemkritischen Rechtsgutsdogmas. Ausgehend von der Überzeugung, dass eine »Theorie zu Begriff und Funktion des Rechtsguts das materiale Substrat einer Theorie des Verbrechens ist«561, analysiert Hassemer in seinem Werk »Theorie und Soziologie des Verbrechens« die historische Entwicklung der Rechtsgutstheorie. Dabei beklagt er auch in Bezug auf die systemkritischen Rechtsgutstheorien eine defizitäre Beschränkung des »Fragehorizontes auf normativ-juristische Kategorien«562, die sich aus der »dogmengeschichtlichen Situation der Rechtsgutslehre«563 ergebe: »Die Trennung von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert war die philosophische Basis dieser Rechtstheorie (…). Für das Verständnis der Rechtswissenschaft führte von der Norm zur Wirklichkeit nur eine Einbahnstraße: Die Wirklichkeit erfuhr von der Norm ihre Bewertung, die Norm erfuhr von der Wirklichkeit nichts.«564

Um diesen fehlenden Wirklichkeitsbezug herstellen zu können, müsse eine Rechtsgutstheorie sich mit der Frage beschäftigen, »was in einer Gesellschaft als Verbrechen erscheint.«565 Die Strafwürdigkeit einer Handlung müsse deswegen daran bemessen werden, »welche Wertschätzung die Gesellschaft den Objekten zukommen läßt, die durch dieses Verhalten gefährdet oder verletzt werden.«566 Vor diesem Hintergrund konstituieren sich Hassemer zufolge Rechtsgüter anhand von drei Konstanten: der Häufigkeit abweichenden Verhaltens567, der Bedarfsintensität568 dadurch tangierter Güter und dem Bedrohungsmoment569 des abweichenden Verhaltens. Weil diese Elemente »sozial und kommunikativ konstituiert«570 seien, ließen sie sich nicht allein auf der Grundlage objektiver Wahrnehmung abbilden, sondern »vielmehr auf der Basis einer normativen gesellschaftlichen Verständigung«571:

561 562 563 564 565 566

567 568 569 570 571

Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 16. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 102. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 103. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 104. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 131. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 147 (siehe auch: »Eine Rechtsgutslehre, welche den Kontextbezug der Rechtsgüter, ihre Korrespondenz mit gesellschaftlichen Werterfahrungen aufhellen will, muß deshalb nach dem fragen, was in einer Gesellschaft als Verbrechen erscheint.«). Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 147ff. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 149ff. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 157ff. Hassemer, FS Kaufmann (1989), S. 85, 92. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 153.

104

Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

»Ob und wie Schutzobjekte gesellschaftlich in Erscheinung treten, ist nicht nur von den objektiven Funktionen dieser Objekte abhängig, sondern auch von einem ›normativen Gespinst‹, mit dem die soziale Werterfahrung diese Objekte und ihre Funktion überzieht.«572

Ausgehend von diesen Überlegungen bestimmt Hassemer die »Leitlinien einer rationalen Kriminalpolitik« auf Grundlage eines dualistischen Rechtsgutskonzepts, das nicht ausschließlich auf »anthropologische, rechts-, staats- oder verfassungstheoretische Grundvoraussetzungen« zurückgreift, sondern »das Ergebnis eines Zusammendenkens dieser Prinzipien mit den sozialen Phänomenen, für die sie gelten wollen«, darstellt.573 Tragend ist dabei Hassemers These, dass das Strafrecht »eine Formalisierung der Konfliktverarbeitung«, also »formalisierte Sozialkontrolle« sei, in der die Bestrafung »nicht als Einbruch instinktiver Abwehr, sondern als überlegte und vorhergesagte Antwort« erfolge.574 Diese Überlegungen fänden zum einen auf der Ebene der sozialen Zweckmäßigkeit, zum anderen aber auch in der Anwendung übergeordneter Rechtsprinzipien statt, beispielsweise der Grundsätze der Gleichbehandlung, der Schuldstrafe, der Verhältnismäßigkeit, der Erforderlichkeit strafrechtlicher Reaktion, konkretisiert in dem Prinzip »in dubio pro libertate«.575 Die Ausrichtung an der individualistischen Konzeption des Verfassungsrechts wird von Hassemer in späteren Veröffentlichungen576 zunehmend fokussiert. Sie äußert sich in einer personalen Rechtsgutslehre, nach welcher legitimer strafrechtlicher Schutzgegenstand nur jedes »strafrechtlich schutzbedürftige menschliche Interesse« sein könne.577 Damit ist ein menschliches Fehlverhalten Hassemer zufolge grundsätzlich nur dann als strafwürdig einzustufen, wenn es Individualinteressen verletzt oder gefährdet. Dies bedeutet für Hassemer aber nicht, dass der staatliche Strafzugriff sich dem Schutz von abstrakten, universellen Belangen (seien es staatliche oder soziale) generell entziehen müsse.578 Wesentlich sei, dass Kollektivrechtsgüter von Individual-

572 573 574 575 576

Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 153. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 192. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 196. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 196. Siehe v. a. Hassemer, FS Kaufmann (1989), S. 85ff.; ders., NStZ 1989, 553ff.; ders., StV 1995, 483ff.; ders., in: Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 2 (2001) S. 458ff.; ders., FS Androulakis (2003), S. 207ff.; ders., FS Roxin I (2001), S. 1001ff.; ders., in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 121ff. und Hassemer/ Neumann, NK-StGB, Vor § 1 ff. 577 Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn. 144; vgl. dazu auch ausführlich Hassemer, FS Kaufmann (1989), S. 90ff. 578 Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn. 133.

Empiristische Strafrechtsbegründung

105

interessen ableitbar sind.579 Hassemer hat auch hier noch die Gesellschaft im Blick, verknüpft seinen Ansatz aber mit einem anthropologischen Argument: Er versteht den Menschen nicht als ein isoliertes, sondern als ein »vergesellschaftetes« Wesen, das seine »Interessen und Güter nur in Gemeinschaft mit anderen, und das heißt: in gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen (…) wahren und verwirklichen kann.«580 Der strafrechtliche Schutz des Bestandes und des Funktionierens dieser Institutionen begründet sich daher aus dem Argument, dass die Entfaltung und Verwirklichung von Individualinteressen nur in einer intakten Gesellschaft funktionieren kann. Die personale Rechtsgutslehre erkennt beispielsweise als Rechtsgut der Urkundsdelikte nicht etwa »die Sicherheit des Rechtsverkehrs«, sondern ausschließlich »die Gesamtheit der am Rechtsverkehr Teilnehmenden und deshalb an der Integrität der Beweismittel Interessierten« an.581 Die in den Umweltschutzstraftatbeständen der §§ 324ff. StGB kriminalisierten Verhaltensweisen könnten nicht deswegen als strafwürdig bezeichnet werden, weil sie irgendeinen Eigenwert der Umwelt (beispielsweise saubere Luft, sauberes Wasser etc.) verletzen mögen, sondern nur dann, wenn die Umwelt als »Ensemble der menschlichen Lebensbedingungen« verstanden wird.582 Hassemer erkennt den Wert seiner Rechtsgutslehre aber nicht darin, dass sie »ein Passepartout für sämtliche rationes legis von Strafrechtsnormen« ist, sondern vielmehr in der »Potenz des Rechtsgutskonzeptes, ein gewichtiger Argumentationstopos für eine eher am Menschen orientierte, eher durchsichtige und nachprüfbare Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung zu sein (…).«583 Ähnliche Ausrichtungen lassen sich auch in anderen systemkritischen Rechtsgutskonzepten wiederfinden. So geht beispielsweise auch Rudolphi von der These aus, dass es dem Strafgesetzgeber obliege, »sozialschädliches Verhalten zu bekämpfen«.584 Ihm zufolge sind Rechtsgüter die für »unser sich im Rahmen der Verfassung bewegendes Gesellschaftsleben und damit auch für die verfassungsmäßige Stellung und Freiheit der einzelnen Bürger notwendigen sozialen Gegebenheiten.«585 Da im modernen Verfassungsstaat die Staatsgewalt allein von seinem Volk ausgeht, beschränke sich die Aufgabe des Staates darauf, »die für ein gedeihliches Zusammenleben freier Bürger in unserer verfassungsmäßigen Gesellschaft notwendigen Voraussetzungen zu schaffen und nach innen und außen

579 580 581 582 583 584 585

Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn. 134ff. Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn 138. Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn 134. Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1, Rn. 136. Hassemer/Neumann, NK-StGB, Vor § 1 Rn. 146. Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 1. Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 3.

106

Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

vor Angriffen zu schützen.«586 Der Schutz von Universalrechtsgütern ist danach nur dann legitim, wenn er sich als »notwendig erweist, um die für eine freie Entfaltung der Bürger notwendigen Voraussetzungen zu schaffen«, nicht hingegen wenn er dem Selbstzweck diene.587

2.

Kritik

Hassemers strafrechtstheoretisches Werk lässt sich als sozialwissenschaftliche Wende in der Rechtsgutsdebatte begreifen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Mittelpunkt seiner Konzeption die strafrechtliche Konfliktverarbeitung einer wirklichen, realen Gesellschaft steht, die sich in ihrer kriminalpolitischen Reflexion an rationalen, in der tatsächlichen Erfahrung wurzelnden Zweckmäßigkeitserwägungen, aber gleichzeitig auch an der freiheitlich-individualistischen Ausrichtung des Grundgesetzes orientiert.588 Fraglich bleibt, ob ein solcher Ansatz tatsächlich in der Lage ist, das Strafrecht plausibel zu machen und auf dieser Grundlage einen kohärenten Verbrechensbegriff zu bilden. Zunächst ist es als ein großer Verdienst Hassemers anzuerkennen, dass er den Geltungsursprung des Strafrechts in den realen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt, um die Beschreibung des Verbrechens von unrealistischen Fiktionen und Hypothesen zu lösen.589 Hassemer zeigt plausibel auf, dass die Konstituierung des Strafrechts auf der kommunikativen, gesellschaftlichen Ebene stattfindet, denn die Klassifikation eines Verhaltens als Straftat kann in einem demokratischen Rechtsstaat nur auf den Erfahrungen, Wertungen und dem Diskurs der Mitglieder einer Gesellschaft beruhen. Es sind damit nicht die Geisteswissenschaften, sondern die Individuen einer Gesellschaft, die durch die öffentliche politische Meinungsbildung und insbesondere die Ausübung ihrer Mitwirkungsrechte im demokratischen Rechtssetzungsverfahren einen Rechtssatz erzeugen. Die große Leistung Hassemers ist daher darin zu erblicken, dass er den gesellschaftlichen Prozess der normativen Verständigung als den Punkt herauskristallisiert hat, in dem im postmetaphysischen Zeitalter die Konstitution des Verbrechens stattfindet.

586 Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 1. 587 Rudolphi/Jäger, SK-StGB, Vor § 1 Rn. 1. 588 Ähnlich auch Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 25 (»Hassemers Ausgangspunkt ist die Gesellschaft, und zwar mit ihrer nicht nur postulierten, sondern wirklich stattfindenden sozialen Werterfahrung und ihrer gleichfalls stattfindenden Ausrichtung am Grundgesetz.«). 589 Siehe dazu unten 4. Kap., III. 4. (»Zu den subjektiven Rechten und den konstitutionellen Grundrechten«).

Empiristische Strafrechtsbegründung

107

Hassemers Werk macht jedoch nicht deutlich, was der gesellschaftliche Sinn von Normativität ist.590 Es wird nicht aufgezeigt, welche Prozesse der formalisierten Konfliktverarbeitung zugrunde liegen. Hassemer vertieft nicht, unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Kommunikation und normative Verständigung stattfinden. Der Konstitutionszusammenhang zwischen Gesellschaft und Strafrecht wird zwar hergestellt, aber dann nicht weiter erläutert, sondern auf den Begriff des Rechtsguts fokussiert.591 Es bleibt unklar, warum und unter welchen Voraussetzungen sich Kommunikation im Wege eines Prozesses normativer Verständigung letztlich im Strafrecht abbildet. Auch wenn er mit der Häufigkeit abweichenden Verhaltens, der Bedarfsintensität und dem Bedrohungsmoment drei Konstanten der sozialen Erfahrung identifiziert, wird nicht deutlich, wie sich diese Elemente letztlich in bestimmten Entscheidungen wiederfinden. Der Verbrechensbegriff bleibt bei Hassemer damit – wie von ihm selbst vorausgesehen – solange ein »normatives Gespinst«, bis sein Konstitutionszusammenhang geklärt ist. Dafür bedarf es aber einer gesellschaftstheoretischen Fundierung, die Hassemers Werk vermissen lässt. Dieser fehlende Bezug zu den sozialen, normativen Prozessen erklärt letztlich auch, warum Hassemer in der »Theorie und Soziologie des Verbrechens« keinen inhaltlichen Rechtsgutsbegriff bestimmt bzw. bestimmen kann, sondern ihn tendenziell offen lässt und sich auf die Formulierung der »Leitlinien einer rationalen Kriminalpolitik« beschränkt. Auch die personale Rechtsgutslehre kann ihre weitgehenden Forderungen gesellschaftstheoretisch nicht erklären. Wenn der Bereich strafrechtlichen Schutzes sich auf Individualinteressen beschränken soll, so muss auch transparent begründet werden, warum eine Gesellschaft den Strafzugriff in dem von Hassemer beschriebenen Prozess normativer Verständigung derart beschränkt.592 Wenn er dies nicht nur aus der sozialen Erfahrung, sondern auch aus den Wertungen der verfassungsmäßigen Ordnung begründen will, so müsste der Blick darauf gerichtet werden, welche Rolle die Wertungen des Grundgesetzes im Prozess gesellschaftlicher Normerzeugung spielen. Da dies nicht geleistet wird, bleibt Hassemers Rechtsgutsverständnis eine Fiktion über die soziale Erfahrung der Gesellschaft. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass auch Hassemer eine fundierte Strafrechtsbegründung nicht gelungen ist. Sein Fokus auf die soziale Erfahrung und auf die gesellschaftliche Kommunikation hat aber zu der wichtigen 590 So auch Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 61f. 591 Ebenso Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 61f. 592 Ähnlich wohl auch Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 25 (»Wie die ›Entfaltung des Einzelnen‹ in einer sittlich verlotterten Umgebung vor sich gehen soll, bleibt dabei allerdings ungesagt.«).

108

Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

Erkenntnis geführt, dass der Schlüssel zum Verständnis des Strafrechts in demokratischen Gesellschaften in den intersubjektiven, dialogischen Prozessen der normativen Verständigung zu finden ist.

IV.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

Die von Hassemer beschriebenen kommunikativen gesellschaftlichen Prozesse spielen vor allem in der Systemtheorie eine tragende Rolle. Niklas Luhmann gilt als der bedeutendste Vertreter dieser soziologischen Theorie. Ihre Grundannahmen sowie deren strafrechtstheoretische Rezeption durch Günther Jakobs werden im Folgenden zunächst dargestellt und im Anschluss mit Blick auf die Frage nach der Bildung eines überzeugenden Verbrechensbegriffs kritisch begutachtet.

1.

Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann

Der Ausgangspunkt in Luhmanns Gesellschaftstheorie ist die Differenzierung zwischen psychischen und sozialen Systemen. Dabei konstituieren sich psychische Systeme auf der Basis eines einheitlichen Bewusstseinszusammenhangs, während soziale Systeme auf einem einheitlichen Kommunikationszusammenhang beruhen.593 Die einzige Gemeinsamkeit beider Systeme ist der »Sinn«, als »die gemeinsame Errungenschaft«, die für beide »als unerla¨ ßliche, unabweisbare Form ihrer Komplexität und ihrer Selbstreferenz« bindend ist.594 »Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen. (…) Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt.«595

Soziale Systeme werden laut Luhmann von ihrer Umwelt durch den basalen Prozess der Kommunikation unterschieden.596 Kommunikation ist die Synthese von Mitteilung, Information und Verstehen.597 Die Gesellschaft ist nach diesem Verständnis als »das alle Kommunikationen umfassende soziale System, in dessen Umwelt es keine Kommunikationen, sondern nur Ereignisse anderer Art

593 Luhmann, Soziale Systeme, 3. Aufl. (1991), S. 92. 594 Luhmann, Soziale Systeme, 3. Aufl. (1991), S. 92. 595 Luhmann, Soziale Systeme, 3. Aufl. (1991), S. 92; ders., Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 54f. 596 Luhmann, Soziale Systeme, 3. Aufl. (1991), S. 192. 597 Luhmann, Soziale Systeme, 3. Aufl. (1991), S. 203.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

109

gibt« zu verstehen.598 Nun deutet dieses Zitat bereits einen ganz wesentlichen Bestandteil in Luhmanns Theorie an: Die Gesellschaft operiert ausschließlich mit Kommunikation und ist insofern ein operativ geschlossenes, autopoietisches System.599 »Auf der Ebene der eigenen Operationen gibt es keinen Durchgriff in die Umwelt, und ebenso wenig können Umweltsysteme an den autopoietischen Prozessen eines operativ geschlossenen Systems mitwirken.«600

Solche Systeme sind »zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen (…).«601 Das System produziert und reproduziert sich insofern selbst (Autopoiesis), als dass »es eigene Operationen im Rückgriff und Vorgriff auf andere eigene Operationen erzeugt und nur auf diese Weise bestimmen kann, was zum System gehört und was zur Umwelt.«602 Die Gesellschaft ist jedoch informationell offen gegenüber ihrer Umwelt und zudem durch den Mechanismus der strukturellen Kopplung mit ihr verbunden. Strukturelle Kopplungen entstehen dann, wenn »ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verläßt (…).«603 Externe Reize aus der Umwelt können die Gesellschaft allerdings nur über Bewusstseinssysteme (Ohren, Augen etc.) beeinflussen, wenn innerhalb der Gesellschaft über Ereignisse oder Zustände in der Umwelt kommuniziert wird.604 Da in Luhmanns Konzeption sämtliche soziale Systeme über die »Operation Kommunikation« als Vollzug von Gesellschaft zu begreifen sind605, ist auch das Recht ein der Gesellschaft zugehöriges, Gesellschaft vollziehendes Sozialsystem und damit eines ihrer Subsysteme. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Rechtssystem und Umwelt führt Luhmann aus: »Die Gesellschaft ist also nicht einfach die Umwelt des Rechtssystems. Sie ist teils mehr – insofern nämlich, als sie die Operationen des Rechtssystems selbst einschließt; und teils weniger insofern nämlich, als das Rechtssystem es auch mit der Umwelt des Gesellschaftssystems zu tun hat, vor allem mit mentalen und körperlichen Realitäten der Menschen, aber auch mit anderen physikalischen, chemischen, biologischen Sachverhalten, je nach den Ansichten, die das Rechtssystem für rechtlich relevant erklärt.«606

Was aber ist das dem Rechtssystem eigene Merkmal rechtlicher Operationen, rechtlicher Kommunikation? Luhmann sieht das Spezifikum des Rechtssystems 598 599 600 601 602 603 604 605 606

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 55. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998), S. 92ff. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998), S. 92. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 44. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 44. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 441. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 444. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 55. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 55.

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

in der binär codierten Kommunikation, »die eine Zuordnung der Werte ›Recht‹ und ›Unrecht‹ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation nimmt den Code als Form der autopoietischen Offenheit, des Bedarfs für weitere Kommunikation im Rechtssystem in Anspruch.«607 Das Rechtssystem ist also über diese binäre Codierung auch als Subsystem der Gesellschaft operativ geschlossen, denn es gibt »keinen Input von rechtlicher Kommunikation in das Rechtssystem, weil es überhaupt keine rechtliche Kommunikation außerhalb des Rechtssystems gibt.«608 Diese binäre Codierung ist das Konstitutionsmerkmal des Subsystems Recht. Um zu verstehen, welche Funktion das Recht in Luhmanns Systemtheorie ausübt, bedarf es eines Rückgriffs auf die von ihm konstatierte allgemeine Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und der in diesem Zusammenhang bedeutsamen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Das Zustandekommen von Kommunikation ist bei Luhmann ein unwahrscheinliches Ereignis.609 So formuliert er: »Warum soll aber gerade eine bestimmte Information und keine andere ein System beeindrucken? Weil sie mitgeteilt wird? Aber unwahrscheinlich ist auch die Auswahl einer bestimmten Information für die Mitteilung. Warum soll jemand sich überhaupt und warum gerade mit dieser bestimmten Mitteilung an bestimmte andere wenden angesichts vieler Möglichkeiten sinnvoller Beschäftigung? Schließlich: warum soll jemand seine Aufmerksamkeit auf die Mitteilung eines anderen konzentrieren, sie zu verstehen versuchen und sein Verhalten auf die mitgeteilte Information einstellen, wo er doch frei ist, all dies auch zu unterlassen?«610

Die Sprache als Medium des Verstehens und die Schrift als Medium des Erreichens allein sind nicht in der Lage, die Synthese von Mitteilung, Information und Verstehen, also Kommunikation und Anschlusskommunikation zu gewährleisten.611 Diese Leistung übernehmen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien als Erfolgsmedien. Dabei handelt es sich um eine »Zusatzeinrichtung zur

607 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 67. 608 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 69. 609 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998), S. 191; vgl. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 96. 610 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998), S. 190f. 611 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1998), S. 190f.: »Warum soll aber gerade eine bestimmte Information und keine andere ein System beeindrucken? Weil sie mitgeteilt wird? Aber unwahrscheinlich ist auch die Auswahl einer bestimmten Information für die Mitteilung. Warum soll jemand sich überhaupt und warum gerade mit dieser bestimmten Mitteilung an bestimmte andere wenden angesichts vieler Möglichkeiten sinnvoller Beschäftigung? Schließlich: warum soll jemand seine Aufmerksamkeit auf die Mitteilung eines anderen konzentrieren, sie zu verstehen versuchen und sein Verhalten auf die mitgeteilte Information einstellen, wo er doch frei ist, all dies auch zu unterlassen?«; vgl. auch Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 96.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

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Sprache, nämlich [einen] Code generalisierter Symbole, der die Übertragung von Selektionsleistungen steuert.«612 Sie ermöglichen es, »die Annahmebereitschaft fu¨ r Kommunikationen so zu erho¨ hen, daß die Kommunikation gewagt werden kann und nicht von vornherein als hoffnungslos unterlassen wird.«613 Innerhalb des Rechtssystems ist es das Medium der Macht, welches Kommunikation wahrscheinlich macht.614 Macht, so Luhmann, wird nur dann ausgeübt, »wenn gegenüber einer gegebenen Erwartungslage eine ungünstigere Alternativenkombination konstruiert wird.«615 Mächtige Kommunikation realisiert sich also dann, wenn die Kommunikation zwischen dem Befehl des Machthabers einerseits und der Unterwerfung des Machtunterworfenen andererseits durch negative Sanktionen wahrscheinlich gemacht wird.616 Weil sowohl der Machthaber als auch der Machtunterworfene beabsichtigen, negative Sanktionen zu vermeiden617, entfaltet das Medium der Macht nach Luhmann eine katalytische Funktion, indem durch die Androhung negativer Sanktionen die Annahmebereitschaft von Kommunikation erhöht wird, um die Realisierung der angedrohten Sanktionen zu verhindern.618 Die Funktion als Erfolgsmedium entfaltet Macht Luhmann zufolge aber in der bürgerlichen Gesellschaft nicht per se. Die Motivation zur Annahme mächtiger Kommunikation wird bei ihm erst durch Legitimität hergestellt, die sich wiederum an der binär codierten Kommunikation innerhalb des Rechtssystems misst.619 Erst die Differenzierung von Recht und Unrecht, also eine Zweitcodierung mächtiger Kommunikation, macht Kommunikation wahrscheinlich. Ohne diese Verbindung zum Legitimen bliebe Kommunikation immer noch unwahrscheinlich.620 In dieser wichtigen Eigenschaft des Rechts als Bestandteil des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht/Recht übernimmt das Rechts612 613 614 615 616 617

Luhmann, Macht (1975), S. 14. Luhmann, Liebe als Passion (1982). Vgl. dazu auch Sinn, FS Wolter (2013), S. 503, 506f. Luhmann, Macht (1975), S. 31f. Vgl. dazu auch Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 100. Vgl. dazu ausführlicher Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 101 (»Machthaber wie auch Machtunterworfener zielen im Prozess der Kommunikation darauf ab, die negative Sanktion zu vermeiden. Denn dem Machthaber kommt es darauf an, dass der Machtunterworfene die Kommunikation annimmt, er also durch Macht motiviert wird. Für den Machtunterworfenen bedeutet demgegenüber die Aussicht auf eine gegen ihn zu verwirklichende Sanktion das größere Übel, weshalb er gehorcht. Im Unterschied zum Machthaber befürchtet der Machtunterworfene die Sanktion aber stärker als der Machthaber.«). 618 Luhmann, Macht (1975), S. 20. 619 Vgl. dazu Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 101. 620 Vgl. dazu Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 101 (»Ohne den Bezug zur Legitimität würde es immer nur Machtkämpfe geben.«).

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

system Luhmann zufolge die Funktionen der Erwartungsstabilisierung in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht, der Verhaltenssteuerung und der Konfliktlösung.621 Dies bringt Luhmann folgenderweise zum Ausdruck: »Gibt es diese Erwartungssicherheit, kann man mit größerer Gelassenheit den Enttäuschungen des täglichen Lebens entgegensehen; man kann sich zumindest darauf verlassen, in seinen Erwartungen nicht diskreditiert zu werden. Man kann sich in höherem Maße riskantes Verhalten oder auch Mißtrauen leisten, wenn man dem Recht vertrauen kann.«622

Zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich diese Wirkungen ausschließlich in einem autopoietischen System realisieren können, wenn also »kein rechtlich relevantes Ereignis seine Normativität aus der Umwelt beziehen kann, sondern Geltung immer nur von Rechtskommunikation auf Rechtskommunikation übertragen werden kann, indem diese aneinander anknüpfen und sich so gegenseitig produzieren.«623 Damit ist letztlich Rechtssicherheit im Sinne eines durch Autopoiesis ausdifferenzierten Systems rechtlicher Kommunikation das konstitutive Merkmal in Luhmanns Rechtssoziologie.

2.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

Vor allem Jakobs hat das Strafrecht einer systemtheoretischen Deutung unterzogen, wenngleich er konzediert, seine Überlegungen unterschieden sich stellenweise von der Systemtheorie Luhmanns.624 Um Jakobs Gedanken zu rekonstruieren, bietet es sich an, die in seinen Überlegungen zentralen Begriffe und deren internen Zusammenhänge zu verdeutlichen.625 Der Ausgangspunkt dabei soll Jakobs Normverständnis sein. Er beschreibt die Norm als institutionalisierte soziale Erwartung.626 Maßgeblich ist, dass Jakobs die Gesellschaft, also das System, das die in der Norm verfestigten Erwartungen konstituiert, nicht subjektivistisch verstehen will:

621 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 157ff. 622 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 132. 623 Calliess, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts (2006), S. 57, 61. 624 Siehe aber auch Jakbos, ZStW 107 (1995), 844 (844) (»Die klarste Darstellung der Unterscheidung sozialer und psychischer Systeme mit Folgerungen für das Rechtssystem, freilich regelmäßig sehr weitem Abstand zum Strafrecht, findet sich gegenwärtig in der Systemtheorie Luhmanns. Selbst der flüchtige Kenner dieser Theorie wird jedoch schnell merken, daß die hiesigen Ausführungen ihr keineswegs konsequent, ja nicht einmal in allen Hauptsachen folgen.«). 625 So auch Sacher, ZStW 118 (2006), 574ff. 626 Jakbos, ZStW 107 (1995), 844 (859).

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

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»Dabei wird Gesellschaft, anders als es die (…) Philosophie bei Hobbes bis Kant meinte, nicht als ein System verstanden, das aus Subjekten zusammengesetzt werden kann (…).«627

Daher wendet er sich dem »gesellschaftlichen Gegenstück« des Subjekts, der Person zu. Wesentlich für den Begriff der Person ist die mit ihm verbundene Implikation, eine Rolle zu spielen; die Person ist folglich die Darstellung einer »gesellschaftlich verstehbaren Kompetenz«.628 Sowohl Person629 als auch Gesellschaft konstituierten sich über Normen.630 Ganz wesentlich, und die wohl deutlichste Zuwendung Jakobs zur Systemtheorie Luhmanns, ist sein Verständnis der Normgenese. Diese gehe nicht auf »individuelle Strebungen« zurück, sie entspringe einem »Deutungsschema (…), das (…) diese Strebungen einem übergreifenden Muster unterwirft, und zwar zum Vorteil der Gruppe (…)«.631 Diese normative Verständigung sei die Vergewisserung, über eine objektive, indisponible Determinante der Gesellschaft, das »Gewiß-Werden der Kommunikation«.632 Damit ist Jakobs zufolge die Gesellschaft die »Konstruktion eines Kommunikationszusammenhanges«.633 Allerdings könne dieser »immer auch anders sein, als er konkret gestaltet ist.«634 Jakobs erblickt die Leistung der Strafe nun darin, »dem Widerspruch gegen identitätsbestimmende Normen der Gesellschaft ihrerseits zu widersprechen.«635 Damit diene sie der Konfirmation gesellschaftlicher Identität. Sie bewirke dies in concreto am Einzelfall, sie sei aber auch in abstracto eine »Selbstvergewisserung«, denn sie drücke aus, dass die Gesellschaft an den durch sie geschützten Normen festhält: »Die Strafe ist in diesem Verständnis nicht nur ein Mittel der Erhaltung gesellschaftlicher Identität, sondern ist bereits diese Erhaltung selbst.«636

Damit entfernt sich Jakobs weit von den liberalen und aufklärerischen Implikationen des Rechtsgutsdenkens. Er fokussiert nicht einzelne Güter, sondern den in der Straftat enthaltenen Widerspruch gegen die Geltung der Norm: 627 Jakbos, ZStW 107 (1995), 844 (844). 628 Jakbos, ZStW 107 (1995), 844 (859). 629 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. (1999), S. 71 [»Eine Person entsteht nicht aus eigenem Entschluß, sondern dadurch, daß zumindest eine Norm in der Kommunikation als geltend behandelt, also wirklich wird (…)«]. 630 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. (1999), S. 71; ders., ARSP-Beiheft 74 (2000), 57 (60). 631 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. (1999), S. 63. 632 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. (1999), S. 64. 633 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 (848). 634 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 (848). 635 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 (845). 636 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 (845).

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

»Wenn (…) das eigentliche Strafrechtsgut nur die Norm sein kann, genauer, die geltende Norm, also die Norm als etablierte, wirkliche, Orientierung leistende Institution, dann ist der durch die Strafe zu beseitigende Konflikt nicht eine Aggression des Täters gegen ›Hinz‹ und ›Kunz‹ (…), sondern eine Aggression gegen die normative Struktur der Gesellschaft.«637

Der mit den Mitteln des Strafrechts zu schützende Gegenstand ist also kein von außen zu bestimmendes Rechtsgut, sondern die »Entta¨uschungsfestigkeit«, die »Garantie von Normen«638: »Die Garantie geht dahin, daß die Erwartungen, die zum Funktionieren des sozialen Lebens in der gegebenen und in der gesetzlich geforderten Gestalt unabdingbar sind, im Fall ihrer Entta¨uschung nicht preisgegeben werden mu¨ ssen. Man kann deshalb (…) die Entta¨uschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen (…) als das vom Strafrecht zu schu¨ tzende Gut definieren; dieses Gut wird nachfolgend das Strafrechtsgut genannt.«639

In einem systemtheoretischen Deutungsschema der Gesellschaft legitimieren sich die Strafrechtsnormen also durch ihren Beitrag zur Bestätigung eines gesellschaftlichen Systems: »Sie bilden das Orientierungsmuster fu¨ r soziale Kontakte, an das sich die Verhaltenserwartungen der Gesellschaft knu¨ pft. Sie definieren und stabilisieren die praktizierte Ordnung.«640

Damit ist aber über die konkrete Gestalt einer Gesellschaft, einer Rechtsnorm und damit auch einer Strafvorschrift nichts gesagt. Dieser notwendig aus der Beobachterperspektive eines Systemtheoretikers folgenden Konsequenz scheint Jakobs dadurch entgehen zu wollen, Normen durch einen »Filter der Sozialscha¨ dlichkeit« als strafrechtlich relevant zu identfizieren, »wobei die Normen, die diesen Filter passieren, teils Rechtsgu¨ ter schu¨ tzende Normen sind, teils Normen zur Herstellung von Rechtsgu¨ tern (…) und teils Normen zum Friedensschutz.«641 Wichtig sei nur, »daß die Strafbarkeit nicht an dem Wertwidrigen per se, sondern immer nur an der Sozialscha¨ dlichkeit ausgerichtet wird.«642 Dabei bliebe »die Grenze des Sozialscha¨ dlichen (…) freilich stets nur unscharf bestimmbar.«643

637 638 639 640 641 642 643

Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2012), S. 26. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 13. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 13. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 13. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 25. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 25. Jakobs, AT, 2. Aufl. (1991), Abschn. 2, Rn. 25.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

3.

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Kritik

Die große Errungenschaft der Systemtheorie im Allgemeinen ist, dass sie gesellschaftliche Zusammenhänge über das Medium der Kommunikation systematisch so präzise beleuchtet wie keine andere Denkweise. Sie erweist sich aber auch für die Beschreibung eines Strafrechtssystems als ausgesprochen wertvoll, weil sie dessen Bedeutung aus den kommunikativen Prozessen selbst und nicht vor dem Hintergrund eines axiomatischen Dogmas beobachten und analysieren zu vermag. Sie entgeht damit den argumentativ heiklen Fiktionen und schwachen Prämissen, die sich bisher bemüht haben, den Begriff des Strafrechts positivistisch, naturalistisch oder empiristisch zu präzisieren. Sie erlaubt aus einer externen Perspektive eine konzise Standort- und Funktionsbestimmung des Strafrechts, wie sie zuletzt Sinn reformuliert hat: »Strafrecht ist Kommunikationsmedium innerhalb der Gesellschaft. Es ist Spiegel der Gesellschaft und ihr Wegweiser. Strafrecht ist als Kommunikationsmedium notwendig geworden, weil die mit den Strafgesetzen umschriebenen und geschützten Güter knapp sind. Der handelnde Zugriff des einen wird zum Problem des anderen, und diese Situation bedurfte der Überführung in das allgemeinverbindliche Kommunikationsmedium ›Strafrecht‹. Erst dadurch wird die Handlungsselektion des einen in das Miterleben des anderen überführt und akzeptierbar.«644

Sie ist auch gerade deshalb für die Arbeit mit und an einem Strafrechtssystem unverzichtbar, weil sie das für das postmetaphysische Denken so charakteristische Erkenntnismedium der Kommunikation645 nicht außen vor lässt, sondern als zentrale Konstitutionsdeterminante moderner Gesellschaften hervorhebt. Die Systemtheorie ist aber überhaupt nicht darauf ausgelegt, einen materiellen Verbrechensbegriff zu bilden, weil sie sich auf die Beschreibung von Gesellschaften und das Verstehen ihrer Strukturen bezieht.646 Sie ist keine normative, sondern eine deskriptive Theorie.647 Aufgrund dieser Perspektive beabsichtigt sie die Entwicklung konkreter inhaltlicher Vorgaben überhaupt nicht. Aus der systemtheoretischen Beobachterperspektive lässt sich nur die prozedurale Rechtfertigung von Normen über das Medium der systeminternen Kommunikation beurteilen. Recht und Unrecht konstituieren sich qua kommunikativer Selbstreferenz, etwa durch vertikale Referenz zu früherer Kommunikation über die Verfassungsrecht- oder unrechtmäßigkeit. Die Systemtheorie kann etwa die Begriffe »Norm«, »Gesellschaft« und »Sozialschaden« in den

644 645 646 647

Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 110. Siehe dazu in diesem Abschnitt III. 2. (»Kritik«). Mastronardi, Juristisches Denken, 2. Aufl. (2003), S. 239. Mastronardi, Juristisches Denken, 2. Aufl. (2003), S. 239f.

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

kommunikationstheoretischen Zusammenhang Recht/Unrecht einordnen, aber sie dient nicht deren normativer Rechtfertigung. Sobald man die Systemtheorie jedoch entgegen ihres eigenen Anspruchs in eine normative Theorie umzudeuten versucht, kann sie allenfalls als soziologische Basis für einen exklusiven Rechtspositivismus648 dienen, der sich auf die Kongruenz innerhalb des Rechtssystems beziehen kann. Die Systemtheorie beschreibt die Geltung einer Rechtsnorm damit, dass sie in der systeminternen Kommunikation als Recht codiert wird. Diese Beschreibung kann jedoch »(…) nicht prinzipiell bestreiten, daß es richtig ist den Normen zu folgen und sich so zu verhalten, wie es das Rechtssystem vorschreibt.«649 Dies hängt damit zusammen, dass sie das Rechtssystem aus einer externen Beobachterperspektive beschreibt.650 Die interne Perspektive des Rechtsunterworfenen kann sie deswegen überhaupt nicht einnehmen.651 Die damit für die Frage nach der Bildung eines materiellen Verbrechensbegriffs entstehenden Probleme sollen im Folgenden anhand der Zirkularität bzw. Selbstreferenz der systemtheoretischen Argumentationsmuster verdeutlich werden. Kennzeichnend für die systemtheoretische Betrachtungsweise des Rechts sind tautologische Argumentationsmuster. Dies lässt sich anhand von Jakobs Strafrechtstheorie gut verdeutlichen: Die Aufgabe der strafrechtlichen Normen liegt ihm zufolge – wie gezeigt – darin, dem Verstoß gegen identitätsbestimmende Normen der Gesellschaft zu widersprechen, also der Bestätigung der Norm. Die Norm wiederum definiert Jakobs als die institutionalisierte Erwartung der Gesellschaft. Diese wiederum hat ihre Wurzeln in der normativen Verständigung, also in der Kommunikation der Gesellschaft über Normen. Der Ursprung der Norm ist damit die Norm selbst. Begibt man sich in diesem System auf eine die Legitimität des Strafrechts erzeugende Rechtsquelle, aus der man gegebenenfalls inhaltliche Kriterien für die Bildung eines Verbrechensbegriffs deduzieren könnte, so landet man zwangsläufig wieder beim Startpunkt, nämlich bei der Norm. Die Rechtsquelle selbst ist Luhmann zufolge der Begriff, »an dem die Selbstbeschreibung stoppt und [sich] weiteres Fragen verbietet.«652 Er verdeutlicht dies folgendermaßen:

648 Siehe dazu in diesem Kapitel I. 4. (»Angelsächsischer Rechtspositivismus«) und I. 6. (»Stellungnahme und Kritik«). 649 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 501. 650 Vgl. dazu ausführlich Sacher, ZStW 118 (2006), 574 (597ff.). 651 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 501 (»Teilnehmer, so wird erwartet, müssen sich systemloyal verhalten, was immer ihre subjektiven Momente, ihre Hintergedanken, ihr Ehrgeiz, ihre Interessen sein mögen.«). 652 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 526.

Systemtheoretische Strafrechtsbegründung

117

»Die Ausweitung der Anwendbarkeit dieses Begriffs fu¨ hrt bis an die Schwelle, an der man ebenso gut sagen ko¨ nnte: das Rechtssystem selbst ist die Rechtsquelle. Aber das kann nur ein externer Beobachter sagen. Das Rechtssystem selbst ist auf die Asymmetrie, auf die Stoppregel, auf die Symmetrieunterbrechung angewiesen, die mit der Metaphorik der ›Quelle‹ intendiert ist, ohne dass diese Intention (oder ›Funktion‹) ihrerseits als Grund, als ›Urquelle‹ genannt werden du¨ rfte.«

Daraus resultiert, dass das Bild der Rechtsquelle »die Funktion einer Kontingenzformel« hat.653 Und die unbedingte Notwendigkeit einer solchen tautologischen »Stoppregel« liegt darin, dass sie »etwas von außen gesehen Artifizielles und Kontingentes in der Innensicht des Systems als natu¨ rlich und notwendig erscheinen [lässt].«654 Das Rechtssystem ist also theoriebedingt darauf angewiesen, die Legitimität der Rechtsquelle nicht zu hinterfragen. Insofern kann auch der Begriff des Strafrechts bei Jakobs als Bestandteil des Rechtssystem ausschließlich intrasystematisch über Kommunikation in der Form Recht/Unrecht konkretisiert werden. Die für die Herleitung einer materiellen Verbrechtstheorie erforderliche Identifikation inhaltlicher, legitimitätsstiftender Kriterien, kann somit überhaupt nicht Bestandteil eines Rechtsbegriffs sein, da diese jenseits der »Stoppregel« des Rechtssystems liegen. Kurzum: Ein systemtheoretischer Straftatbegriff kann eine systemimmanente Rechtsgutstheorie655 plausibel beschreiben und herleiten. Eine systemtranszendente Begründung kann sie nicht leisten, was aber auch nicht ihr Anspruch ist. Dementsprechend können auch Jakobs Überlegungen zum Filter der Sozialschädlichkeit inhaltlich nur vage und unbestimmt bleiben, um über den schon begrifflich enthaltenen Bezug zur Gesellschaft (Sozialschädlichkeit) wieder den für die selbstreferentielle Kommunikation erforderlichen Zusammenhang zur Norm herzustellen. Neben dem bereits akzentuierten Potential für präzise intrasystematische Beschreibungen des Strafrechts bietet eine solche Sichtweise offenkundig auch den großen Vorteil, dass sie nicht darauf angewiesen ist, konkrete inhaltliche Strafrechtsbegründungskriterien herzuleiten, was – wie die Ausführungen zum Kontraktualismus gezeigt haben656 – ein argumentativ äußerst anspruchsvolles, wenn nicht gar unmögliches657 – Vorhaben zu sein scheint. Dem liegt Luhmanns genereller epistemischer Ansatz zugrunde, den er folgendermaßen formuliert:

653 654 655 656

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 526. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), S. 526. Siehe dazu oben 1. Kap., I. (»Die materielle Rechtsgutstheorie«). Siehe dazu in diesem Kapitel II. 2. (»Kritik der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung«). 657 Siehe dazu in diesem Kapitel II. 2. (»Kritik der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung«).

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Gegenwärtige Modelle der Strafrechtsbegründung

»Alles Verstehen hat mit zirkula¨ ren Sachverhalten zu tun, mit Sachverhalten, die in sich selbst auf sich selbst verweisen. Das gilt fu¨ r Texte, das gilt fu¨ r Personen. Daher trifft alles Verstehen auf eine innere Unendlichkeit«658

Versucht man nun von diesem Standpunkt aus den Begriff des Strafrechts inhaltlich zu präzisieren, indem man eine deskriptive Theorie in eine normative Theorie umdeutet, so kann auch nur ein zirkulärer Rechtsbegriff gebildet werden. Der Verweis auf eine »innere Unendlichkeit« ist jedoch – wie im Rahmen der kritischen Betrachtung des exklusiven Positivismus dargelegt wurde659 – sowohl für den Rechtsanwender als auch für den Rechtsunterworfenen eine unbefriedigende Antwort auf die unerlässliche Frage nach dem Sinn des (Straf-)Rechts.

658 Vgl. dazu ausführlich Sacher, ZStW 118 (2006), 574 (589f.) 659 Siehe dazu in diesem Kapitel I. 4. (»Angelsächsischer Rechtspositivismus«) und I. 6. (»Stellungnahme und Kritik«).

4. Kapitel: Die Diskurstheorie des Rechts

Nachdem aufgezeigt wurde, dass die bisherigen Legitimationsansätze entweder argumentativ scheitern oder für eine nichtpositivistische Strafrechtsbegründung schlicht ungeeignet sind, wird im Folgenden untersucht, ob eine diskurstheoretische Strafrechtsbegründung in der Lage ist, einen materiellen Straftatbegriff zu bilden und einer kritischen Prüfung standzuhalten. Bei der Diskurstheorie des Rechts handelt es sich um eine noch relativ junge Denkweise, welche den Topos der Rechtsgeltung nicht unter (ausschließlicher) Bezugnahme auf materiell-naturalistische Annahmen zu erklären versucht.660 Im Zentrum der Diskurstheorie steht vielmehr die prozedurale, kommunikationsorientierte Rechtfertigung von Normen durch den Mechanismus der Verständigung.661 Trotzdem – und darin liegt der wesentliche Unterschied zur Systemtheorie – nimmt die diskursethische Sichtweise des Rechts für sich in Anspruch, »die Spannung zwischen Faktizität und Geltung schon in ihren Grundbegriffen«662 zu inkorporieren und damit »(…) den Anschluß an die klassische Auffassung eines, wie immer auch vermittelten, internen Zusammenhangs zwischen Gesellschaft und Vernunft (…)«663 zu wahren. Wie in der Systemtheorie ist auch in der Diskurstheorie Kommunikation die zentrale Bezugsgröße. Anders als Luhmann begründen die Vertreter der Diskursethik die Geltung von Normen jedoch aus der intersubjektiven Perspektive (Diskurs) der Kommunikationsteilnehmer664 und nicht von außen durch die Betrachtung von Kommunikation innerhalb sozialer Systeme.

660 661 662 663 664

Vogel, FS Roxin I (2001), S. 105, 110. Vogel, FS Roxin I (2001), S. 105, 110. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 22. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 22f. Vgl. unten 4. Kap., I. (»Allgemeine Diskurstheorie«).

120

Die Diskurstheorie des Rechts

Insbesondere Jürgen Habermas, Robert Alexy und Klaus Günther haben die allgemeine Diskurstheorie in ihre Rechtsphilosophien integriert.665 Das Strafrecht ist bislang kaum aus diskurstheoretischer Sicht untersucht worden.666 Das strafrechtstheoretische Potential dieser Theorie soll deshalb im Folgenden ausgelotet werden. Dabei beginnen die Ausführungen mit einer auf das Notwendige beschränkten Darstellung der allgemeinen Diskurstheorie, bevor sie sich der Diskurstheorie des Rechts zuwendet.

I.

Allgemeine Diskurstheorie

Der allgemeinen Diskurstheorie liegt die Annahme eines moralischen Kognitivismus zugrunde667, also die These, dass es moralische Aussagen gibt, die es erlauben, »(…) eine Handlung nicht als regelkonform oder abweichend, sondern hinsichtlich der Regel selbst als ›richtig‹ oder ›falsch‹ zu beurteilen (…).«668 Der ethische Kognitivismus behauptet damit, dass sich der präskriptive Sinn eines Verbots oder einer Erlaubnis stets mit einem Geltungsanspruch der Form legitim oder illegitim verbindet.669

1.

Theorie des kommunikativen Handelns

Diese Annahme begründen Diskurstheoretiker mit der Theorie des kommunikativen Handelns. a)

Kommunikatives und strategisches Handeln

Deren Ausgangspunkt ist die These, dass sich die »Integration moderner Gesellschaften«, also die Herausbildung stabiler, sozialer Ordnungen nicht »aus der gegenseitigen Einwirkung erfolgsorientiert eingestellter Aktoren verstetigen

665 Vgl. dazu insbesondere Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992); Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995); ders., Theorie der juristischen Argumentation (1983) und Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht (1998). 666 Günther, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 210f.; Martins, ZIS 2014, 514ff. und Vogel, FS Roxin I (2001), S. 105ff.; machttheoretisch vgl. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 45ff. und insbes. S. 107ff. 667 Vgl. dazu Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 13f. 668 Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: ders. (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung (1999), S. 271, 272. 669 Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: ders. (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung (1999), S. 271, 272.

Allgemeine Diskurstheorie

121

(…)«670 lasse. Die Gesellschaft müsse »letztlich über kommunikatives Handeln integriert werden«671. Die Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln in der Diskurstheorie erfolgt anhand der Zielrichtung (»Koordination«) des Akteurs: »(…) strategisch nennen wir eine erfolgsorientierte Handlung, wenn wir sie unter dem Aspekt der Befolgung von Regeln rationaler Wahl betrachten und den Wirkungsgrad der Einflußnahme auf die Entscheidungen eines rationalen Gegenspielers bewerten. (…) Hingegen spreche ich von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über die Akte der Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, daß sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können.«672

Zweck des kommunikativen Handelns ist demzufolge die Herbeiführung normativer Einverständnisse. Strategische und kommunikative Handlungskoordinierung schließen sich dabei gegenseitig aus.673 Ein kommunikativ orientierter Akteur opfert die individuelle Nutzenmaximierung zugunsten der performativen Einstellung eines Sprechers, der sich mit einer zweiten Person über etwas verständigen will674: »Ohne diese Umstellung auf die Bedingungen des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs bliebe ihnen der Zugriff auf das Potential sprachlicher Bindungsenergien verwehrt.«675

Das kommunikative Handeln ist demnach strukturell dadurch geprägt, dass die Akteure mit ihren Sprachäußerungen Geltungsansprüche erhöben, die auf intersubjektive Anerkennung und damit auf ein normatives Einverständnis zielen.676 Die dazu erforderliche Integrationskraft (also die Fähigkeit zur Herbeiführung normativer Einverständnisse) liege in der Sprache, weil ihr das Telos der Verständigung eingeschrieben sei.677 Die Herstellung solcher Konsense sei jedoch 670 671 672 673

674 675 676 677

Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 43. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 43. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 2. Aufl. (1997), S. 385. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 69f. (»Sprechhandlungen können nicht in der doppelten Absicht ausgeführt werden, mit einem Adressaten Einverständnis über etwas zu erzielen und gleichzeitig bei ihm etwas kausal zu bewirken.«). Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 72. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 72. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 70. Vgl. dazu nur Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 18.

122

Die Diskurstheorie des Rechts

ausschließlich im Wege kommunikativen und damit nicht im Wege strategischen Handelns möglich.678 b)

System und Lebenswelt

Diese handlungstheoretischen Grundlagen wirken sich auf der gesellschaftlichen Ebene der Diskurstheorie in der Ausdifferenzierung von Gesellschaften in System und Lebenswelt aus.679 Der Bereich der Gesellschaft, dessen Herausbildung auf verständigungsorientiertes Handeln zurückzuführen ist, bildet die Lebenswelt, als »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln«.680 Diese umfasst Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit.681 Dem steht das System gegenüber, welches sich aus der nicht intendierten funktionalen Vernetzung der Handlungsfolgen strategischer Akte herausbildet.682 Während die Lebenswelt »durch einen normativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens« hergestellt werde, resultiere das System aus einer »über das Bewusstsein der Aktoren hinausreichende(n) nicht-normative(n) Regelung von Einzelentscheidungen.«683

2.

Sprechakttheorie und Geltungsansprüche

Die sprachtheoretische Grundlage der Diskurstheorie ist die von John L. Austin und John Searle entwickelte684 und von Habermas685 und Apel686 rezipierte und fortgebildete Sprechakttheorie. Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Annahme, dass »ein Sprecher mit einer Äußerung zugleich eine bestimmte Handlung 678 Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 70 [»Aus der Sicht von Sprechern und Hörern kann ein Einverständnis nicht von außen inponiert, nicht der einen Seite von der anderen auferlegt werden (…)«.]. 679 Vgl. dazu etwa ausführlich Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973), S. 9ff. 680 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 2. Aufl. (1997), S. 182. 681 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 2. Aufl. (1997), S. 214ff. 682 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 2. Aufl. (1997), S. 225f. (»Tatsächlich werden aber ihre zielgerichteten Handlungen nicht nur über Prozesse der Verständigung koordiniert, sondern auch über funktionale Zusammenhänge, die von ihnen nicht intendiert sind und innerhalb des Horizonts der Alltagspraxis meistens auch nicht wahrgenommen werden.«). 683 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 2. Aufl. (1997), S. 182. 684 Vgl. dazu Austin, How To Do Things with Words, 2 Aufl. (1977); Searle, Speech Act Theory and Pragmatics (1980). 685 Siehe dazu insbesondere Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63ff. 686 Siehe insbes. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie Bd. 2 (1973), S. 358ff.

Allgemeine Diskurstheorie

123

vollzieht, die beim Hörer in der Regel eine gewisse Wirkung erzielt.«687 Austin zufolge besteht ein Sprechakt aus einem lokutionären, einem illokutionären und einem perlokutionären Bestandteil. Der lokutionäre Sprechakt umfasst den Sachgehalt, also den bedeutungshaften Bestandteil einer Äußerung.688 Der illokutionäre Akt bezieht sich auf den mit der Äußerung verfolgten Zweck innerhalb eines konventionellen Rahmens.689 Perlokutionäre Akte vollziehen sich durch die Wirkungsweise des Gesagten.690 Habermas bedient sich Austins Sprechakttheorie und interpretiert sie im Sinne seiner Theorie des kommunikativen Handelns. Der illokutionäre Bestandteil eines Sprechakts, also der Verwendungssinn von Sprache liegt ihm zufolge in der Verständigung.691 Der Sprecher verfolge dabei zwei Ziele. Erstens solle der Hörer den Sinn der Äußerung verstehen und zweitens solle er das Gesagte als gültig anerkennen.692 Kommunikatives Handeln sei daher auf intersubjektive Anerkennung gerichtet: »Im Fall explizit sprachlicher Verständigungsprozesse erheben die Aktoren mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Ergebnisse) Bezug nehmen.«693

Habermas unterscheidet also drei unterschiedliche Geltungsansprüche, die sich anhand des Bezugspunktes einer Aussage klassifizieren lassen. Vollzieht der Sprecher eine Äußerung, die sich auf etwas Empirisches bezieht, erhebt er damit einen Wahrheitsanspruch über einen Gegenstand der objektiven Welt. Bezieht sich die Äußerung hingegen auf einen Bezugspunkt in der gemeinsamen sozialen Welt, erhebt er einen Richtigkeitsanspruch. Steht die Äußerung in Bezug zur eigenen subjektiven Welt des Sprechers, so handelt es sich um einen Wahrhaftigkeitsanspruch.

687 688 689 690 691

Vgl. dazu mit weiteren Nachweise Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 19. Austin, How To Do Things with Words, 2 Aufl. (1977), S. 112. Austin, How To Do Things with Words, 2 Aufl. (1977), S. 112. Austin, How To Do Things with Words, 2 Aufl. (1977), S. 112. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 66. 692 Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Aktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 63, 66. 693 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 68.

124 3.

Die Diskurstheorie des Rechts

Der Diskurs

Die auf intersubjektive Anerkennung gerichteten Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche werden im Diskurs auf den Prüfstand gestellt. Der theoretische Diskurs problematisiert Wahrheitsansprüche, der praktische Diskurs bezieht sich auf normative Geltungsansprüche.694 a)

Das Diskursprinzip

Der praktische Diskurs ist damit die Metaebene, auf der Akteure Richtigkeitsansprüche mit dem Ziel der normativen Verständigung erheben und sie problematisieren. Dabei müssen die Akteure die von ihnen formulierten Geltungsansprüche begründen: »Etwas tun sollen heißt, Gründe haben, etwas zu tun.«695 Da das illokutionäre Ziel der Sprechakte im kommunikativen Handeln der Konsens ist, ist Voraussetzung für die Gültigkeit der Norm die Akzeptanz der am Diskurs Beteiligten. Dies lasse sich in einem Diskursprinzip (D) folgenderweise formulieren: »(D): Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können.«696

Im praktischen Diskurs werden generalisierte Verhaltenserwartungen und allgemeine normative Aussagen, für die ein Geltungsanspruch erhoben wurde, folglich dann als gerechtfertigt anerkannt, wenn unter Berücksichtigung der Interessen aller ein Konsens über deren Gültigkeit hergestellt wird. Das Diskursprinzip beschreibt jedoch nur, ob eine Norm gültig ist, aber nicht warum sie gültig ist. Die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit alle Betroffenen der Norm zustimmen können, wird vom Diskursprinzip nicht beantwortet.697 b)

Der Universalisierungsgrundsatz

Die Operationalisierung von D (das wie) wird laut Habermas erst durch den Universalisierungsgrundsatz (U) ermöglicht: »Er besagt, – daß eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen 694 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 2. Aufl. (1997), S. 39. 695 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 59. 696 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 138. 697 Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 2. Aufl. (1997), S. 11, 59f.

Allgemeine Diskurstheorie

125

und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden könnten.«698

Eine Norm ist danach nicht schon dann gültig, wenn jeder Einzelne seine Interessen und Wertvorstellungen durch sie vertreten sieht, sondern erst wenn sie aus Sicht eines jeden von allen akzeptabel ist. Der Universalisierungsgrundsatz konstituiert damit für den praktischen Diskurs einen universellen Rollentausch der Diskursteilnehmer. Dabei handelt es sich Habermas zufolge um eine diskursive Form des kategorischen Imperativs, die sich trotz der Ähnlichkeiten allerdings in wesentlichen Punkten von der Idee Kants unterscheide.699 Zunächst basiere der Universalisierungsgrundsatz nicht auf dem kantischen Dualismus zwischen dem Reich des Intelligiblen und Phänomenalen: »Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischen wird zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb der kommunikativen Alltagspraxis selber bemerkbar macht.«700

Zudem überwinde die Diskursethik aufgrund der in ihr angelegten Intersubjektivität den »bloß innerlichen, monologischen Ansatz Kants«.701 Drittens, erhebe sie »den Anspruch, jenes Begründungsproblem, dem Kant letztlich durch den Hinweis auf ein Faktum der Vernunft – auf die Erfahrung des Genötigsteins durchs Sollen – ausweicht, mit der Ableitung von ›U‹ aus allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen gelöst zu haben.«702 c)

Die allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen und die Diskursregeln

Diese allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen fußen auf der Einsicht, dass die Herbeiführung normativer Einverständnisse nur realisierbar ist, wenn bestimmte grundlegendende Regeln für den Diskurs gelten. Um in einer Metapher Kelsens zu sprechen, stellen diese allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen die diskursethische Grundnorm dar. Habermas formuliert dies folgenderweise:

698 Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 2. Aufl. (1997), S. 11, 60. 699 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 20f. 700 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 20. 701 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 20f. 702 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 21.

126

Die Diskurstheorie des Rechts

»Die diskursethische Begründungsidee besteht also darin, daß sich der Grundsatz ›U‹, in Verbindung mit der in ›D‹ ausgesprochenen Vorstellung von Normenbegründung überhaupt aus dem impliziten Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen gewinnen läßt.«703

Zu ihrer Begründung führen Diskurstheoretiker unterschiedliche Argumente ins Felde.704 An dieser Stelle soll aus Gründen der Übersichtlichkeit zunächst nur Habermas Begründungsvorschlag referiert werden.705 Er führt die Begründung der Diskursregeln auf ein sog. universalpragmatisches Denkmodell zurück. Dabei geht er davon aus, dass Diskursregeln alternativlose, »unausweichliche Präsuppositionen« sind, die jeder Teilnehmer durch seinen Eintritt in einen Diskurs bereits sprachnotwendig anerkannt hat, wenn er mit dem Ziel der normativen Verständigung einen Diskurs führt.706 Jeder Sprecher setze diese Ideen bereits kontrafaktisch voraus: »Wenn jeder, der in Argumentationen eintritt, u. a. Voraussetzungen machen muß, deren Gehalt sich in Form der Diskursregeln (…) darstellen läßt; und wenn wir ferner wissen, was es heißt, hypothetisch zu erörtern, ob Handlungsnormen in Kraft gesetzt werden sollen; dann läßt sich jeder, der den ernsthaften Versuch unternimmt, normative Geltungsansprüche diskursiv einzulösen, intuitiv auf Verfahrensbedingungen ein, die einer impliziten Anerkennung von ›U‹ gleichkommen.«707

Der Inhalt der allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen lasse sich jedoch nicht exakt inhaltlich abbilden, sondern nur unter dem Vorbehalt der Fallibilität rekonstruieren.708 Eine für die Identifikation der Diskursregeln geeignete Prozedur sei das Explikationsverfahren durch performative Widersprüche.709

703 Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 2. Aufl. (1997), S. 11, 61. 704 Vgl. dazu unten 4. Kap, III. 2. (»Zur Begründung der Diskursregeln«). 705 Die noch folgende kritische Auseinandersetzung thematisiert auch die übrigen Begründungen der allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen; siehe dazu unten 4. Kap, III. 2. (»Zur Begründung der Diskursregeln«). 706 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 99f. (»Wenn es sich nun nicht nur um eine definitorische Auszeichnung einer Idealform der Kommunikation handeln soll, die in der Tat alles Weitere präjudizieren würde, muß gezeigt werden, daß es sich bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen handelt, sondern um unausweichliche Präsuppositionen.«). 707 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 103. 708 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 107. 709 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 100.

Allgemeine Diskurstheorie

127

»Die Präsuppositionen selbst können nun in der Weise identifiziert werden, daß man demjenigen, der die zunächst angebotenen Rekonstruktionen bestreitet, vor Augen führt, wie er sich in performative Widersprüche verwickelt.«710

Die auf diese Weise sichtbar werdenden Diskursregeln rekonstruiert Habermas dann folgenderweise711: 1. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 2. a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. 3. Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen. Das diskursethische Begründungsprogramm basiert also letztlich auf einer Form der kommunikativen Vernunft, einem intuitiven Regelwissen. Der verständigungsorientierte Akteur muss sich auf »pragmatische Voraussetzungen kontrafaktischer Art« einlassen.712 Inwiefern sich diese Idee von der Moralphilosophie des deutschen Idealismus unterscheidet, lässt sich am besten an Habermas Auseinandersetzung mit der Philosophie des jungen Hegel verdeutlichen. d)

Habermas Auseinandersetzung mit dem jungen Hegel

Die Diskursethik ist wie die hegelsche Philosophie dem Ansatz verpflichtet, einen Beitrag zum Bedürfnis moderner Gesellschaften nach Selbstvergewisserung zu leisten.713 Den Ursprung dieses Bedürfnisses erblicken sowohl Habermas als auch Hegel in dem für die Moderne charakteristischen Wegfall identitäts- und legitimitätsstiftender Weltbilder.714 So heißt es in Habermas »Philosophischem Diskurs der Moderne«:

710 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 100. 711 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53, 99. 712 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 119, 191. 713 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 27. 714 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 9f. (»Weil die transzendentale Reflexion, in der das Prinzip der Subjektivität gleichsam hüllenlos hervortritt, jenen Sphären gegenüber zugleich richterliche Kompetenzen in Anspruch nimmt, sieht Hegel das Wesen der modernen Welt in der kantischen Philosophie wie in einem Brennpunkt versammelt.«).

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Die Diskurstheorie des Rechts

»(…) die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen.«715

Systematisch ist auch Hegel dieser Idee der Selbstvergewisserung verpflichtet, denn der zentrale Impuls seiner Philosophie geht dahin, »dem Menschen die ihm fremd gewordene moderne Welt wieder anzuverwandeln; er soll sie als die seine verstehen lernen und dabei auch ihre Zerrissenheit aus einem höheren Gesichtspunkt heraus begreifen.«716 Habermas und Hegel stimmen weiter darin überein, dass sie die rein subjektzentrierten Philosophien der Aufklärung, wie sie etwa von Kant entwickelt wurden, ablehnen.717 Sie brechen mit der Idee der »einsamen Reflexion«, weil sie die für moderne Gesellschaften notwendige Integrationsleistung aus sich heraus nicht bewirken könne.718 Für Hegel ist »in diesen Philosophien nichts zu sehen, als die Erhebung der Reflexions-Cultur zu einem System; (…).«719 Die Subjektphilosophie Kants ist für ihn »nichts anderes als eine gewaltsame Herrschaft einer leeren und abstrakten Allgemeinheit gegenüber der alltäglichen Erfahrung des Individuums (…).«720 Das Verständnis vom Selbstbewusstsein entfernt sich damit bei Hegel von einem »Verha¨ltnis der einsamen Reflexion« zu einer »Dialektik des Selbstbewußtseins«.721 Das Ich ist für Hegel nicht nur eine »sich auf sich beziehende Einheit«, sondern auch ein »absolutes Bestimmtseyn, welches sich anderem gegenüberstellt, und es ausschließt (…).«722 Habermas erkennt in diesen Passagen aus den frühen Schriften Hegels in seiner Jenaer Zeit723 Spuren von der für seine Theorie des kommunikativen Handelns konstitutiven Intersubjektivität.724 Er betont »die ursprüngliche Einsicht Hegels (…) darin, dass Ich als Selbstbewusstsein nur begriffen werden kann, wenn es Geist ist, d. h. wenn es von der Subjektivität zur Objektivität eines 715 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 16. 716 Knapp, Herz und Vernunft – Wissenschaft und Religion (2014), S. 27. 717 Hegel, Glauben und Wissen (1802), Werke Bd. 1, S. 13ff.; Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 20f. 718 Hegel, Glauben und Wissen (1802), Werke Bd. 1, S. 13ff.; Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 9, 20f. 719 Hegel, Glauben und Wissen (1802), Werke Bd. 1, S. 13ff. 720 Jeong, Von der Subjektivita¨ t zur Intersubjektivita¨t (2003), S. 92. 721 Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1969), S. 9, 12f. 722 Hegel, Wissenschaft der Logik (1812), Bd. 2, S. 252. 723 Vor allem Hegel, Glauben und Wissen (1802), Werke Bd. 1, S. 13ff. 724 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 39 (»Hegel operiert in seinen frühen Schriften mit der versöhnenden Kraft einer Vernunft, die sich nicht bruchlos aus Subjektivität herleiten läβt.«).

Diskurstheorie des Rechts

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Allgemeinen übergeht, in dem auf Basis der Gegenseitigkeit die als nichtidentisch sich wissenden Objekte vereinigt sind.«725 Sowohl in Hegels Subjektbegriff als auch in seinem Begriff des Geistes sei die Idee der Intersubjektivität bereits inkorporiert gewesen: »Hegel hingegen u¨ berla¨ ßt sich der Dialektik von Ich und Anderem im Rahmen der Intersubjektivita¨ t des Geistes, in dem nicht Ich mit sich als einem Anderen, sondern Ich mit einem anderen Ich als Anderem kommuniziert.«726

Habermas konstatiert, dass Hegel in der weiteren Entwicklung »mit dem ihm eigenen Begriff des absoluten Wissens« »hinter die Intuitionen seiner Jugendzeit« zurückgefallen sei: »(…) er denkt die Überwindung der Subjektivität innerhalb der Grenzen der Subjektphilosophie. (…) Die Kritik an der zur absoluten Gewalt aufgespreizten Subjektivität verkehrt sich ironisch in die Schelte des Philosophen an der Beschränktheit der Subjekte, die ihn und den Gang der Geschichte noch nicht begriffen haben.«727 Als absolutes Wissen nehme Hegels Begriff der Vernunft »schließlich eine Gestalt an, die so überwältigend ist, daβ sie das anfängliche Problem einer Selbstvergewisserung der Moderne nicht nur löst, sondern zu gut löst: die Frage nach dem genuinen Selbstverständnis der Moderne geht im ironischen Gelächter der Vernunft unter.«728 Damit lässt sich als Zwischenergebnis vorläufig festhalten, dass die Philosophien Habermas und Hegels in ihrer Kritik der subjektzentrierten Aufklärungsphilosophie und zumindest auch im Ansatz in den Prämissen ihres Vernunftbegriffs übereinstimmen. Während Hegels Philosophie das Objektive und das Subjektive unter dem Begriff der absoluten Vernunft voneinander scheidet und zugleich miteinander vereint729, beruht die Diskursethik mit der in ihr angelegten Intersubjektivität auf einem Begriff der kommunikativen Vernunft.

II.

Diskurstheorie des Rechts

Nachdem die allgemeinen Annahmen der Diskurstheorie beleuchtet wurden, folgt nun die Darstellung der Diskurstheorie des Rechts in ihren Grundzügen. Dabei wird zunächst der von den Diskurstheoretikern hergestellte, formal-logi725 Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1969), S. 9, 13. 726 Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1969), S. 9, 12f. 727 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 33. 728 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), S. 33. 729 Vgl. dazu zum Beispiel Schnädelbach, Vernunft (2007), S. 111.

130

Die Diskurstheorie des Rechts

sche Zusammenhang zwischen Diskurs und Recht verdeutlicht.730 Dies betrifft die Frage nach der Notwendigkeit des positiven Rechts in einer Gesellschaft kommunikativ agierender Akteure, also die Begründung der Rechtsidee selbst. Anschließend wird erläutert, welchen Inhalt ein System der Rechte bei den Diskursethikern aufweisen muss und wie es sich herleiten lässt.

1.

Die formale Begründung der Rechtsidee

Die Rechtsidee selbst begründen Habermas und Alexy unterschiedlich. a)

Habermas

Habermas geht davon aus, »daß sich auf dem nachmetaphysischen Begründungsniveau rechtliche und moralische Regeln gleichzeitig aus traditionaler Sittlichkeit ausdifferenzieren und als zwei verschiedene, aber einander ergänzende Sorten von Handlungsnormen auftreten.«731 Recht und Moral stehen bei Habermas also in einem funktionalen Ergänzungsverhältnis.732 Die Notwendigkeit des Rechts ergibt sich seiner Ansicht nach primär aus den Realitäten des Diskurses. Gründe, die im Diskurs vorgebracht werden, seien »von Haus aus zweischneidig«, denn sie könnten die Akzeptanz von Geltungsansprüchen entweder bekräftigen (Konsens) oder entwerten (Dissens).733 Dem kommunikativen Handeln wohne also auch ein destabilisierender Effekt inne: »Die in die gesellschaftliche Realität einbrechende ideale Spannung geht darauf zurück, daß die Akzeptanz von Geltungsansprüchen, die soziale Tatsachen erzeugt und perpetuiert, auf der kontextabhängigen Akzeptabilität von Gründen beruht, die stets dem Risiko ausgesetzt sind, durch bessere Gründe und kontextverändernde Lernprozesse entwertet zu werden.«734

Habermas benennt zwei potentielle Strategien, um diesen Gefahren der Instabilität zu begegnen: die Eingrenzung und die Entschränkung kommunikativen Handelns.735

730 So auch Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 146 (»Die Notwendigkeit der Form des Rechts ist freilich nur die eine Seite der Sache. Die andere sind notwendige Anforderungen an dessen Inhalt und Struktur.«). 731 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 135. 732 So Günther, in: Koller/Hiebaum (Hrsg.), Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung (2016), S. 51, 57. 733 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 54f. 734 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 54. 735 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 55ff.

Diskurstheorie des Rechts

131

»Eingegrenzt wird das (…) Risiko durch jene intuitiven Gewißheiten, die sich fraglos von selbst verstehen, weil sie von allen kommunikativ verfügbaren und mit Absicht mobilisierbaren Gründen entkoppelt sind.«736

Solche Formen der Eingrenzung kommunikativen Handelns entstünden beispielsweise in den handlungskoordinierenden Weltbildern sakraler Institutionen oder idealisierter Autoritäten.737 Sie minimierten das Dissensrisiko, weil sie gewisse Kategorien von Gründen nicht auf den Prüfstand stellten. Zwar werde hier die Akzeptanz von Gründen diskutiert, nicht jedoch deren Akzeptabilität.738 Der Mechanismus der Sozialintegration sei unter solchen Bedingungen (noch) nicht vollständig den kommunikativ Handelnden zuzurechnen: »Erst in dem Maße, wie Normen und Werte kommunikativ flüssig gemacht (…) werden, fällt über die Werte, Normen und Verständigung vollzogene soziale Integration ganz den Leistungen der kommunikativ Handelnden anheim.«739

Ein solches entschränktes kommunikatives Handeln könne jedoch aus eigener Kraft die Aufgabe der Sozialintegration nicht verwirklichen, ohne sich selbst zu dekonstruieren, denn unter »modernen Bedingungen komplexer Gesellschaften, (…) entsteht jene paradoxe Situation, in der das entschränkte kommunikative Handeln die ihm zufallende Bürde der sozialen Integration weder abwälzen noch ernstlich tragen kann.«740 Sowohl Eingrenzung als auch Entschränkung von Kommunikationsstrukturen besäßen damit aus sich selbst heraus nicht die Potenz, den gesellschaftlichen Dissensrisiken zu begegnen.741 Prima vista führen sie die Diskurstheorie damit in eine Sackgasse. Im postmetaphysischen Zeitalter führe jedoch ein Weg heraus über die vollständige Positivierung des »bis dahin sakral gestützten und mit konventioneller Sittlichkeit verflochtenen Rechts (…).«742 Es werde ein System von Regeln geschaffen, das beide Einwirkungsstrategien auf das kommunikative Handeln »(…) miteinander verbindet und zugleich arbeitsteilig ausdifferenziert.«743 Damit sei ein – den an konkreten Weltbildern verhafteten Kommunikationseingrenzungen gleichwertiger – Mechanismus der Verhaltenssteuerung geschaffen, indem das positive Recht handlungskoordinierende Wertvorstellungen durch normstabilisierende, rechtlich verfasste Sanktionen ersetze.744 Deren Akzeptabilität hingegen sei wiederum abhängig von einem Entschrän736 737 738 739 740 741 742 743 744

Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 55. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 55. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 55. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 55f. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56.

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Die Diskurstheorie des Rechts

kungsmechanismus: dem Recht der Rechtsunterworfenen, in freier politischer Meinungs- und Willensbildung die Rechtsvorschriften, deren sanktionsgestützten Zwangswirkungen sie unterliegen, auch selber erzeugen zu können.745 Das ist die Idee der legitimationsstiftenden Selbstgesetzgebung. Damit sei auch die in der Rechtsnorm enthaltene Implikation von Faktizität und Geltung dargelegt: »Das Recht entlehnt seine bindende Kraft (…) dem Bündnis, das die Positivität des Rechts mit dem Anspruch auf Legitimität eingeht.«746

Diese funktionale Verbindung von Macht und Legitimation (Faktizität und Geltung) bezieht sich bei Habermas nicht nur auf das positive Recht selbst, sondern auch auf die politische Gewalt, die es durch Rechtsdurchsetzung und -anwendung ausführt.747 Die dadurch erzielte Bindung der öffentlichen Gewalt an das in legitimitätsstiftender Selbstgesetzgebung erzeugte Recht bringe die Idee des Rechtsstaates hervor: »Auf das Desiderat der rechtlichen Transformation der vom Recht selbst vorausgesetzten Gewalt antwortet die Idee des Rechtsstaates. In ihm nimmt die staatsbürgerliche Praxis der Selbstgesetzgebung eine institutionell ausdifferenzierte Gestalt an.«748

b)

Rechtsbegründung auf Grundlage des Erkenntnis-, Durchsetzungs- und Organisationsproblems bei Alexy

Auch Alexy begründet das Recht aus seiner Notwendigkeit heraus, allerdings ist seine Argumentationsführung nicht nur funktionaler, sondern auch normativer Natur, weil sie unmittelbar mit der Idee der Menschenrechte verknüpft ist.749 Alexy zufolge sei der »Verzicht auf die (…) begründete Einrichtung der Gesellschaft in der Form des Rechts Anarchie. In ihr aber wären die Menschenrechte nicht garantiert.«750 Die Existenz des Rechts ist bei Alexy demzufolge conditio sine qua non für die Existenz und die Realisierung von Menschenrechten. Insofern ist Alexys Rechtsbegründung funktionaler Natur und akzentuiert den Gedanken der Notwendigkeit von Menschenrechten. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er auch explizit zwischen Diskursregeln und Menschenrechten: Während im praktischen Diskurs die Rederegeln im 745 746 747 748 749

Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 56. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 57f. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 58. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 58. So auch Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 28; siehe dazu auch Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145 (»Die Notwendigkeit des Rechts lässt sich deshalb nicht nur mit Nützlichkeitserwägungen, sondern auch mit den Menschenrechten begründen.«). 750 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145.

Diskurstheorie des Rechts

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Mittelpunkt stünden, sei für den Bereich der Handlungskoordinierung die Idee der Menschenrechte heranzuziehen.751 Dafür müsse aber zunächst gezeigt werden, dass deren Verrechtlichung überhaupt notwendig ist.752 Um dies zu verdeutlichen, führt Alexy drei »Probleme« an. Zunächst benennt er das Erkenntnisproblem, welches für die Diskurstheorie daraus entstehe, »daß sie kein Verfahren bietet, das erlaubt, in einer endlichen Zahl von Operationen stets zu genau einem Ergebnis zu gelangen.«753 In einem zeitlich begrenzten Diskurs könnten demnach keine definitiven, endgültigen Ergebnisse begründet werden. Dies impliziert die Notwendigkeit rechtlich verfasster Entscheidungsmechanismen, beispielsweise in Form von Majoritätsregeln.754 Weil aber »die Einsicht in die Richtigkeit oder die Legitimität einer Norm etwas anderes ist als deren Befolgung«, stünde die Diskurstheorie außerdem vor einem Durchsetzungsproblem, das mit Hilfe der Rechtsidee zu lösen sei.755 Normative Einverständnisse enthalten innerhalb der Diskursethik keine intrinsische Handlungsmacht. Allein dass innerhalb praktischer Diskurse »Einsichten« erzielt werden, bedeute nicht zwingend die Motivation zu entsprechendem Verhalten.756 Daraus folge die »Notwendigkeit zwangsbewehrter Regeln und damit die Notwendigkeit des Rechts.«757 Das Recht leistet also bei Alexy die Durchsetzung der im Diskurs operationalisierten Vernunftmoral. Der letzte Grund für die Notwendigkeit des positiven Rechts hänge von den strukturellen, gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Organisationsproblem ab. Dieses folge daraus, dass in einer Gesellschaft ethische Postulate und wünschenswerte Zustände »allein durch individuelles Handeln und spontane Kooperation nicht hinreichend erfüllt oder erreicht werden können.«758 Alexy führt als Beispiele die Unterstützung von Arbeitslosen und die Hilfe für notleidende Länder an.759 Das Recht fungiert also in diesem Sinne bei Alexy auch als Organisationsmedium, um die Komplexität gesellschaftlicher Erwartungen in juridisch ausgestalteten Strukturen zu ermöglichen.760 Alexy fasst die Unerlässlichkeit des Rechts schließlich folgendermaßen zusammen: »Der Verzicht auf die 751 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 144. 752 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 144 (»Die Transformation der Menschenrechte in positives Recht ist nur dann notwendig, wenn es überhaupt notwendig ist, positives Recht zu haben.«). 753 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 144f. 754 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 755 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 756 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 757 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 758 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 759 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. 760 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145.

134

Die Diskurstheorie des Rechts

durch das Erkenntnis-, das Durchsetzungs- und das Organisationsargument begründete Einrichtung wäre Anarchie. In ihr aber wären die Menschenrechte nicht garantiert.«761

2.

Die inhaltliche Rechtsbegründung

Auch bezüglich der inhaltlichen Rechtsbegründung divergieren die Argumentationsführungen von Habermas und Alexy. a)

Die logische Genese von Rechten aus dem Demokratieprinzip bei Habermas

Habermas entfaltet sein System der Rechte auf der Grundlage eines diskursiv begründeten Demokratieprinzips. Weil die Gültigkeit einer Norm in der Diskurstheorie auch dessen moralische Akzeptanz voraussetzt, bedürfe es gewisser Voraussetzungen, unter denen gewährleistet ist, dass das Diskursprinzip auch für die Rechtsetzung gilt.762 Das Rechtssetzungsverfahren gestaltet sich deshalb bei Habermas als Spezialfall des praktischen Diskurses, in dem das Diskursprinzip die Gestalt des Demokratieprinzips annimmt: »Es besagt (…), daß nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem rechtlich verfaßten diskursiven Rechtssetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können.«763

Dieses Prinzip unterscheidet sich insofern von der Moral, als dass es die Möglichkeit der Operationalisierung, der Herstellung moralischer Geltungsansprüche, schon voraussetzt: »Unter der Voraussetzung, daß eine vernünftige politische Meinungs- und Willensbildung möglich ist, sagt das Demokratieprinzip nur, wie diese institutionalisiert werden kann – nämlich durch ein System von Rechten, welches jedermann die gleiche Teilnahme an einem solchen, zugleich in seinen Kommunikationsvoraussetzungen gewährleisteten Prozeß der Rechtssetzung sichert.«764

Diese »Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform« versteht Habermas dann als »eine logische Genese von Rechten, die sich schrittweise rekonstruieren läßt.«765 Diese beginnt mit der Anwendung des Diskursprinzips auf die noch

761 762 763 764 765

Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 145. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 141. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 141. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 142. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 154f.

Diskurstheorie des Rechts

135

abstrakte Idee der subjektiven Handlungsfreiheiten766 und endet vorläufig »mit der rechtlichen Institutionalisierung von Bedingungen für eine diskursive Ausübung der politischen Autonomie«767, von wo aus schließlich »rückwirkend die zunächst abstrakt gesetzte private Autonomie rechtlich ausgestaltet werden kann.«768 Die logische Genese eines Systems von Rechten bildet also bei Habermas einen »Kreisprozeß, in dem sich der Kode des Rechts und der Mechanismus für die Erzeugung legitimen Rechts, also das Demokratieprinzip, gleichursprünglich konstituieren.«769 Subjektive Handlungsfreiheiten, über deren Legitimität im praktischen Diskurs ein normatives Einverständnis gefunden wird (Diskursprinzip), können also bei Habermas rechtlich nur im Wege eines diskursiv ausgestalteten Rechtssetzungsverfahrens (Demokratieprinzip) umgesetzt werden. Umgekehrt ergeben sich dann aus der so hergestellten öffentlichen Autonomie bestimmte individuelle Rechte. Daraus leitet Habermas schließlich ein System abstrakt formulierbarer Rechte her: »Mit dem Begriff der Rechtsform (…) und dem Diskursprinzip (…) verfügen wir über die Mittel, die ausreichen, um jene Kategorien von Rechten in abstracto einzuführen, die den Rechtskode selber hervorbringen, indem sie den Status von Rechtspersonen festlegen: (1) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Rechts auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten ergeben (…) (2) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Status eines Mitgliedes in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen ergeben; (…) (3) Grundrechte, die sich unmittelbar aus der Einklagbarkeit von Rechten und der politisch autonomen Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes ergeben. (…) (4) Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung, worin Bürger ihre politische Autonomie ausüben und wodurch sie legitimes Recht setzen. (…) (5) Grundrechte auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für eine chancengleiche Nutzung der (1) bis (4) genannten bürgerlichen Rechte unter gegebenen Verhältnisse jeweils notwendig ist.«770

766 767 768 769 770

Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 155. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 155. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 155. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 155. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 155ff.

136

Die Diskurstheorie des Rechts

Mit diesem – auf einem diskursiv begründeten Demokratieprinzip begründeten – System von Rechten ist in Habermas Theorie schließlich gewährleistet, dass auch für den rechtlich-gesellschaftlichen Konstitutionsprozess das Diskursprinzip gilt. b)

Unmittelbare diskurstheoretische Begründung von Menschenrechten bei Alexy

Auch Alexy bezieht den notwendigen Inhalt des Rechts auf die Menschenrechte. Deren Herleitung sei dann gelungen, wenn gezeigt werden könne, dass einzelne, konkret zu bezeichnende Menschenrechte allein aufgrund der Diskurstheorie gelten und sich nicht erst aus einem bestimmten, tatsächlich praktizierten Diskurs ergeben.771 Er führt dazu drei unterschiedliche Argumente an: das Autonomie-, das Konsens- und das Demokratieargument. Dabei stünden diese drei Begründungen nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Ergänzungs- und Verstärkungszusammenhang.772 Das Autonomieargument besagt, »(…) daß derjenige, der ernsthaft an Diskursen teilnimmt, die Autonomie seiner Gesprächspartner voraussetzt, was das Bestreiten bestimmter Menschenrechte ausschließt.«773 Wer gesellschaftliche Konflikte im praktischen Diskurs durch die Herstellung normativer Einverständnisse aufarbeiten und lösen will, erkenne das Autonomieprinzip automatisch an: Er akzeptiere »(…) das Recht der anderen Diskursteilnehmer, ihr Verhalten nur an Prinzipien zu orientieren, die sich nach hinreichender Erwägung als richtig und deshalb gültig beurteilen.«774 Akteure, die genuin, in einem vollen Sinne ernsthaft an Diskursen teilnehmen, müssten das Autonomieprinzip also als notwendig voraussetzen. Eine Person, die hingegen überhaupt kein Interesse an einer Diskursteilnahme hat, müsse zumindest so tun, als ob sie die Idee der Autonomie auch innerlich anerkenne, um das Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung langfristig zu realisieren.775 Aus der Notwendigkeit des positiven Rechts auf der einen, des Autonomieprinzips auf der anderen Seite resultiere dann ein allgemeines Recht auf Autonomie als allgemeinstes Menschen- und Grundrecht, das sich folgendermaßen ausdrücken lässt:

771 772 773 774 775

Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 146. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 147. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 148. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 149f. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 151ff.

Diskurstheorie des Rechts

137

»Jeder hat das Recht, frei zu beurteilen, was geboten und was gut ist, und entsprechend zu handeln.«776

Dabei handele es sich jedoch nur um ein prima facie-Recht, das nicht schrankenlos gelte, sondern Prinzipiencharakter habe.777 Von diesem allgemeinen Recht auf Autonomie ließen sich dann mit Hilfe zweier unterschiedlicher Verfahren konkrete Grund- und Menschenrechte operationalisieren.778 Indem aufgezeigt wird, dass sie ein Spezialfall des abstrakten Autonomieprinzips sind, könnten individuelle Freiheitsrechte begründet werden.779 Daneben stünden Rechte, die für die Ausübung individueller Freiheit funktional notwendig sind, wie beispielsweise das Recht auf Schutz durch den Staat und soziale Grundrechte.780 Dabei drängt sich Alexy die Frage nach der Verteilung dieser Rechte auf. Diesen Aspekt untersucht er mit dem Konsensargument und stellt sodann die These auf, dass das Konsensprinzip eine Ergänzung des Autonomiegedankens erlaube.781 Es zeige auf, dass Gleichheit und Unparteilichkeit als das »zweite Element der liberalen Menschenrechtskonzeption« verstanden werden können.782 Das Demokratieargument fokussiert schließlich die tatsächliche Umsetzung des Diskursprinzips in der Gesellschaft. Durch die »Institutionalisierung demokratischer Prozesse der Meinungs- und Willensbildung« könne dieses »approximativ realisiert werden«.783 Dies sei wiederum nur dann möglich, wenn »politische Grund- und Menschenrechte gelten und mit hinreichend gleichen Chancen ausgeübt werden können.«784 Die Möglichkeit dieser Ausübung setze wiederum bestimmte nicht-politische Grund- und Menschenrechte voraus, wie bspw. das Recht auf Leben, auf ein Existenzminimum und Bildung.785 Alexys Verständnis der Menschenrechte lässt sich folgenderweise zusammenfassen: Ausgehend von dem allgemeinen Recht auf Autonomie, das im Diskurs selbst angelegt ist, lässt sich ein konkreter Katalog von Menschenrechten entfalten, der subjektive Handlungsfreiheiten und deren Realisierungsbedingungen rechtlich garantiert. Ergänzt werden diese Rechte durch das Gleichheitsprinzip, das sich aus dem diskurstheoretischen Universalisierungsgrundsatz 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785

Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 153. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 154. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 154. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 154. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 154f. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 155f. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 156. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 163. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 163. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 163.

138

Die Diskurstheorie des Rechts

ergibt. Weil sich das allgemeine Diskursprinzip schließlich nur in demokratisch verfassten Gesellschaften realisieren lässt, bedarf es der Verrechtlichung freier und gleicher Teilnahme am politischen Diskurs. Diese führt letztlich zurück zum Autonomie- und Konsensargument, weil demokratische Partizipation quasi eine Fundamentalvoraussetzung für die Geltung der Menschenrechte darstellt.

III.

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

Die kritische Auseinandersetzung786 wird sich auf die für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit wesentlichen Thesen der Diskurstheorie beziehen. Das sind zunächst die allgemeinen Voraussetzungen, die das Fundament der Theorie bilden, also die Idee des kommunikativen Handelns und die Begründung der Diskursregeln (1.). Anschließend wird die diskursethische Konzeption der subjektiven Rechte und der verfassungsrechtlich kodifizierten Grundrechte hinterfragt (2.). Zuletzt wird das in der Diskurstheorie inkorporierte Verhältnis von Recht und Moral kritisch untersucht (3.). Sofern sich im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen einzelne Annahmen der Diskurstheorie als widersprüchlich oder nicht plausibel erweisen, werden die kritischen Punkte entweder interpretativ klargestellt oder durch eigenständige Überlegungen und/oder Weiterentwicklungen einer Lösung zugeführt.

1.

Kommunikatives Handeln und die Begründung der Diskursregeln

Viele der gegen die Diskurstheorie erhobenen Einwände beziehen sich auf die in ihr inkorporierte Alternativlosigkeit kommunikativen Handelns787 oder richten sich gegen die unterschiedlichen Entwürfe zur Begründung der Diskursregeln788.

786 Vgl. zur Kritik an der Diskurstheorie im deutschsprachigen Raum nur Bäcker, Begründen und Entscheiden. Kritik und Rekonstruktion der Alexyschen Diskurstheorie des Rechts, 2. Aufl. (2012); Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002); Gebauer, Letzte Begründung (1993); Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998); ders., ARSP 1997, 206ff.; Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183ff.; Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung (1993); Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), 415ff.; Pawlik, Rechtstheorie 27 (1996), 441ff.; Steinhoff, Rechtstheorie 27 (1996), 449ff.; ders., Logos, Zeitschrift für systematische Philosophie (1996), 191 ff; Wesche, Rechtstheorie 30 (1999), 79ff. 787 Siehe dazu ausführlich Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 68ff. 788 Siehe vor allem Gril., ARSP 1997, 206ff.; Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183ff.; Pawlik, Rechtstheorie 27 (1996), 441ff. und Wesche, Rechtstheorie 30 (1999), 79ff.

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

a)

139

Die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns

Was die These der Unausweichlichkeit kommunikativen Handelns betrifft, so bezieht sich die Kritik zunächst auf die Annahme, Diskursteilnehmer seien grundsätzlich verständigungsorientiert: So sei Habermas’ strikte Trennung von strategischem und kommunikativem Handeln nicht plausibel.789 Auch strategisch orientierte Diskursteilnehmer könnten ihre Handlungen mit dem Ziel der Nutzenmaximierung aufeinander abstimmen.790 Zudem erweise sich die kategorische Zuordnung des kommunikativen Handelns zur Sozialintegration auf der einen Seite und des erfolgsorientierten Handelns zur Systemintegration auf der anderen Seite als widersprüchlich.791 Weil die Systemintegration bei Habermas gerade nicht intentional erfolgt, werde die Handlungsorientierung unerheblich, so dass auch kommunikativ Handelnde durch unintentionale Nebenfolgen zur Systemintegration beitragen könnten.792 Umgekehrt könnten auch erfolgsorientierte Akteure bspw. in einer »pareto-optimalen Verwirklichung individueller Interessen« Einverständnisse erzielen, die dann zur Sozialintegration im Habermasschen Sinne führten.793 Dass einzig der Interaktionstypus der Verständigungsorientierung zur Sozialintegration beitrage, sei letztlich bloß eine selektive Unterstellung.794 Außerdem wird die vom kommunikativen Handeln vorausgesetzte Möglichkeit, allein mit den Mitteln der Sprache einen Konsens herbeiführen zu können, generell bezweifelt.795 Das Konsensprinzip erweise sich als eine bloße Hypothese, als »Denkprozess, der sich allein in den Köpfen der Diskursteilnehmer abspielt und der prinzipiell keine Inhalte hat.«796 Die Diskurstheorie basiere zudem auf einem zu idealistischen Menschenbild: Der »herrschaftsfreie Diskurs« gestalte

789 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 62; Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 69f. 790 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 63, 65f. 791 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 65f. 792 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 67. 793 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 67 mit Verweis auf die neokontraktualistischen Thesen von James M. Buchanan und David Gauthier; vgl. dazu. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit (1984), S. 80ff.; Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 113ff. 794 Scheidt, Wahrheit, Diskurs, Demokratie (1987), S. 365 [»Das (…) objektive Fundament (…) entpuppt sich selbst als selektiv, weil es eine bestimmte Interpretation der Sprache, des Handelns und des Begriffs der Humanität voraussetzt und als richtig unterstellt.«]; ähnlich auch Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 70. 795 Steinhoff, Rechtstheorie 27 (1996), 449 (453) [»Denn über praktische und moralische Fragen läßt sich in einem Diskurs mit der ganzen Menschheit oder auch nur mit allen (Millionen von) Rechtsgenossen eines Staates unmöglich ein Konsens finden.«]. 796 Kaufmann/von der Pfordten, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Hassemer/ Neumann/Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. (2016), S. 23, 130.

140

Die Diskurstheorie des Rechts

sich »als eine Veranstaltung ausschließlich guter Menschen ohne Zeitdruck.«797 Schließlich sei die Durchführung von Diskursen auch unpraktisch: »Endlos diskutieren zu können, mag ein akademischer Traum sein, eine praktische Möglichkeit ist es nicht.«798 Prima vista erscheinen diese Kritikpunkte größtenteils zutreffend. Die These, dass die Akteure einer Gesellschaft im intersubjektiven Kontext jederzeit konsensorientiert sind und sie sich allein durch die Kraft des besseren Arguments überzeugen lassen, erweist sich tatsächlich als unrealistisch, weil sie schon mit den faktischen Erfahrungen aller Individuen einer Gesellschaft nicht übereinstimmen kann. Die Annahme, es sei stets möglich, einen Konsens unter den Teilnehmern eines Diskurses zu erreichen, lässt sich nur als »anthropologischer Optimismus«799 bezeichnen. Des Weiteren kann nicht belegt werden, dass eine Übereinkunft zwischen mehreren Individuen stets auf einem universalen Rollentausch beruht. Dass über ethische Fragen jederzeit ein innerer Monolog mit den Argumenten des anderen geführt wird, ist schlicht nicht zu beweisen. Letztlich ist aus einer Metaperspektive die strikte Dichotomie von Erfolgs- und Verständigungsorientierung bei Habermas tatsächlich nur eine praktische Hypothese. Daher lässt sich auch die Trennung von System und Lebenswelt nicht aufrechterhalten, denn wenn das konsensgeprägte Menschenbild nur eine wertende Setzung von außen ist, kann nicht beurteilt werden, ob eine faktische Übereinkunft tatsächlich auf psychologisch-argumentative Reflexionen zurückzuführen ist. Insofern erscheint schon die Prämisse der Diskurstheorie problematisch. Da das Argument der Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – eng mit der Begründung der Diskursregeln verschränkt ist, sollen nun zunächst die einzelnen dazu vorgebrachten Begründungsvorschläge jeweils dargestellt und bewertet werden, um den theoretischen Ausgangspunkt der Diskurstheorie im Anschluss kritisch beurteilen zu können. b)

Transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln

Die sog. Transzendentalpragmatik nimmt – ähnlich wie das klassische Vernunftund Naturrecht – für sich in Anspruch, die Diskursregeln als sicheres, moralisches Wissen begründen zu können.800 Dabei basiert sie auf einem als »strikte Reflexion« bezeichneten Verfahren.801 Ein für diese Reflexionsform charakte797 798 799 800 801

Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), Rn. 590. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), Rn. 590. Alexy, Recht, Vernunft Diskurs (1995), S. 142. Apel, in: Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität (1984), S. 15 (24). Siehe dazu nur Apel, Transzendentale Reflexion und Geschichte (2017), S. 18ff.; vgl. dazu ausführlicher Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (190), der moniert, dass die Trans-

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

141

ristisches Element ist der sog. performative Widerspruch.802 Die Integration des performativen Widerspruchs in die Diskurstheorie geht auf Apel zurück803 und wurde von seinem Schüler Wolfgang Kuhlmann weiterentwickelt804, wobei die Darstellung an dieser Stelle auf die Ausführungen Apels beschränkt bleiben soll, da sich die Idee des transzendentalpragmatischen Arguments bereits anhand seiner Überlegungen ausreichend verdeutlichen lässt.805 Apel beschreibt den performativen Widerspruch als den »reflexiv realisierbaren ›clash‹ zwischen dem, was ich behaupte und dem, was meine Behauptung performativ im Sinne des Handlungswissen impliziert«.806 Als Beispiel führt er folgende Aussage an: »Ich brauche die Gleichberechtigung aller denkbaren Argumentationspartner prinzipiell nicht anzuerkennen.«807 Darin sei die Proposition enthalten, die Gleichberechtigung aller Argumentationsteilnehmer negieren zu können. Zugleich bezwecke der Sprechakt jedoch, im praktischen Diskurs als universal konsensfähig zur Diskussion gestellt zu werden.808 Der Sprecher nimmt demnach implizit für sich die Geltung einer Norm in Anspruch, die er gleichzeitig negiert. Wenn der Sprecher einen Geltungsanspruch erhebt, bei dem der lokutionäre Akt (hier: Leugnung der Gleichberechtigungsthese) zu einer im performativen Bedeutungszusammenhang identifizierten These (Bestätigung der Gleichberechtigungsthese) im Widerspruch steht, handelt es sich um einen performativen Widerspruch. Als weitere Beispiele führt Apel an: »(1) ›Ich behaupte hiermit, dass ich nicht existiere.‹ (2) ›Ich behaupte hiermit, dass ich keinen Sinn-Anspruch habe.‹ (3) ›Ich behaupte hiermit, dass ich keinen Wahr-

802

803 804 805

806 807 808

zendentalpragmatiker nur unzureichend erklärt hätten, was unter diesem Verfahren genau zu verstehen ist. Siehe nur Apel, Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewußtseins, in: ders., Diskurs und Verantwortung (1990), S. 306ff.; vgl. dazu ausführlich Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 42ff. Vgl. dazu v. a. Apel, Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewußtseins, in: ders., Diskurs und Verantwortung (1990), S. 306ff. Siehe insbes. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung (1985); ders., Bemerkungen zum Problem der Letztbegründung, in: Dorschel u. a. (Hrsg.), Transzendentalpragmatik (1993), S. 212ff. Siehe für einen guten Überblick die knappe Einführung Kuhlmanns in die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik Kuhlmann, in: ders. (Hrsg.), Sprachphilosophie, Hermeneutik, Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik (1992), S. 164ff. und die instruktive Zusammenfassung bei Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (189ff.). Apel, Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes (1998), S. 81, 182. Apel, Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes (1998), S. 81, 182. Apel, Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes (1998), S. 81, 182.

142

Die Diskurstheorie des Rechts

heitsanspruch habe.‹ »809 Die Leistung des Aufzeigens entsprechender Widersprüche liege darin, dass sie »Hinweise auf unbestreitbar gewisse Sätze«810 lieferten: »Insofern bezeugen sie, dass es nicht nur notwendige Bedingungen der Möglichkeit des Argumentierens gibt, sondern dass wir – durch philosophische Reflexion auf die pragmatischen Präsuppositionen des Argumentieren – auch einiges über diese Bedingungen a priori wissen können.«811 Dementsprechend eigne sich diese Form der Reflexion dazu, durch das Aufzeigen der performativen Widersprüche bestimmte sichere Diskursregeln zu identifizieren, die zwangsläufig als transzendentalpragmatische Bedingungen eines sinnvollen Sprachspiels anzusehen sind.812 Die Potenz des Arguments vom performativen Widerspruch zur Letztbegründung moralischer Urteile wird zu Recht bezweifelt. Dies hängt damit zusammen, dass er nicht dazu geeignet ist, eine Norm aus sich heraus zu begründen, denn die Widersprüchlichkeit einer Sprechhandlung kann nicht die Proposition an sich herleiten.813 In dem von Apel angeführten Beispiel kann die These der Gleichberechtigung nicht per se bewiesen werden, denn der Satz sagt nur aus: Wenn ich die Gleichberechtigung als allgemeinverbindliche Norm anerkenne, dann verhalte ich mich widersprüchlich, wenn ich sie leugne. Dass sie aber gilt, kann der Selbstwiderspruch nicht aufzeigen. Der performative Widerspruch kann letztlich jede Norm begründen, für die in Anspruch genommen wird, dass sie zu den Diskursregeln gehört. Die Identifikation der für den praktischen Diskurs wesentlichen Regeln bleibt dabei einer metadiskursiven Instanz überlassen, und zwar jener, die erstens die Regeln auswählt und zweitens beurteilt, ob ein performativer Widerspruch überhaupt gegeben ist.814 Selbst wann man die Potenz der strikten Reflexion anerkennen sollte, lassen sich aus ihr 809 810 811 812

Apel, in: Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität (1984), S. 15 (23). Apel, in: Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität (1984), S. 15 (24). Apel, in: Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität (1984), S. 15 (24). Apel, in: Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität (1984), S. 15 (24). [»Es sind genau diejenigen Sätze über notwendige Präsuppositionen des Argumentierens, die man als Argumentierender nicht ohne pragmatischen Selbstwiderspruch bestreiten und eben deshalb nicht ohne logischen Zirkel (petitio principii) (formal-)logisch begründen kann. Die Unmöglichkeit einer zirkelfreien Begründung (aus etwas anderem) zeigt also bei diesen Sätzen nicht eine Aporie im Begründungsproblem an, sondern eine notwendige Folge des Umstands, daß diese Sätze als einsehbar notwendige Präsuppositionen allen logischen Begründen zwar nicht a priori gewiß sind.«]. 813 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 43f.; Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 54; Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (196) (»So, wie sie die Transzendentalpragmatiker derzeit verwenden, läuft das Argument des performativen Widerspruchs auf eine bloße Behauptung hinaus.«); ähnlich Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung (1993), S. 317 (»Demnach ist das transzendentalpragmatische Argument zirkulär.«). 814 Ähnlich Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 44f.

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

143

jedoch nur relative, allenfalls für den Bereich der Kommunikation geltende Normen ableiten.815 Eine allgemeinverbindliche Letztbegründung konkreter Regeln für alle Bereiche des menschlichen Lebens kann sie nicht leisten. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der performative Widerspruch ein schwaches Argument ist, das aus sich selbst heraus, also transzendental, eine Norm nicht zu begründen vermag, da es auf außerdiskursive Perspektiven angewiesen ist, welche die Auswahl- und Interpretationsmacht über mögliche Propositionen und ihre Geltungskontexte besitzt. Immerhin lässt sich auf diese Weise jedoch explizieren, dass eine bestimmte Äußerung in einem bestimmten Kontext falsch und damit ihr Gegenteil zumindest plausibler ist.816 c)

Universalpragmatische Begründung der Diskursregeln

Habermas spricht sich gegen eine transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln auf Grundlage des performativen Widerspruchs aus, denn dadurch könne allenfalls die Alternativlosigkeit der allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen dargelegt werden, die Regeln selbst könnten aber nicht festgelegt werden.817 Trotzdem ließen sich gewisse, von allen Akteuren des Diskurses gleichsam vorausgesetzte Diskursregeln aus einem »intuitiven Regelwissen« ableiten: »Es geht um jenes im Halbschatten des Vorprädikativen und Vorkategorialen verharrende, konkrete Sprach- und Weltwissen, das den unproblematischen Boden für alles thematische und mitthematisierte Wissen bildet.«818

Dieses konkrete Wissen der Diskursteilnehmer gebe sich »als Reflexionsform des verständigungsorientierten Handelns« nach außen hin zu erkennen.819 »Die Gewißheit, mit der wir unser Regelwissen praktizieren« übertrage sich jedoch nicht gleichsam »auf die Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlägen« für die Diskursregeln.820 Habermas unterscheidet zwischen der Binnenperspektive der 815 Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (192) (»Die ›Regeln der Argumentation‹, wenn es sie überhaupt im Sinne eines festgefügten Regelkanons geben sollte, ›gelten‹ also nur im Hinblick auf die Verwirklichung eines bestimmten Zweckes, i. e. der Kommunikation. Letztbegründet und prinzipiell ›unhintergehbar‹ sind sie nicht.«). 816 So auch Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (195f.), der allein den faktischen Widerspruch jedoch ebenfalls nicht für geeignet hält eine normative Ethik zu begründen. 817 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 105. 818 Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interkationen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 87. 819 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1984), S. 53, 107. 820 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1984), S. 53, 107.

144

Die Diskurstheorie des Rechts

Akteure, in der es ein definitives intuitives Wissen über die Diskursregeln gebe, und der Außenperspektive, in der sich die allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen nur unter der Einschränkung ihrer Fallibilität, also indefinit explizieren lassen.821 »Gewiß, das intuitive Regelwissen, das sprach- und handlungsfähige Subjekte verwenden müssen, um an Argumentationen überhaupt teilnehmen zu können, ist in gewisser Weise nicht fallibel – wohl aber unsere Rekonstruktion dieses vortheoretischen Wissens und der Universalitätsanspruch, den wir damit verbinden. Die Gewißheit, mit der wir unser Regelwissen praktizieren, überträgt sich nicht auf die Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlägen für hypothetisch allgemeine Präsuppositionen; denn diese können wir auf keine andere Weise zur Diskussion stellen als beispielsweise ein Logiker oder ein Linguist seine theoretischen Beschreibungen.«822

Daraus folgt, dass Habermas nur die Rekonstruktion der Diskursregeln als fehlbar anerkennt, das »intuitive Regelwissen«, also die diskursive Vernunft, die sich in den Diskursregeln expliziert, hingegen als »gewiss« bezeichnet. Trotz der Einschränkungen auf der Ebene der sprachlichen Rekonstruktion der Regeln konzediert Habermas also, dass es letzte, nicht zu hinterfragende und damit absolute moralische Prinzipien gebe, die für den Diskurs gelten.823 Dies lässt bereits erkennen, dass auch die universalpragmatische Begründung der Diskursregeln sich als wenig überzeugend erweist.824 Habermas’ Annahme eines intuitiven Wissens der Diskursteilnehmer erscheint als eine von ihm gesetzte Hypothese, für deren tatsächliche Existenz er keine Nachweise liefern kann.825 Damit sind Folgefragen verbunden, die in Habermas’ Argumentation zwangsläufig unbeantwortet bleiben. Erstens ist nicht klar, warum jeder Diskursteilnehmer über dasselbe »intuitive Regelwissen« verfügen sollte.826 Zweitens gibt es keinen ersichtlichen Grund, weshalb dieses Wissen nicht veränderlich ist und warum Habermas insofern überhaupt von einem »konkreten Sprach- und Weltwissen« ausgeht.827 Letztlich stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage

821 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1984), S. 53, 107. 822 Habermas, Diskursethik, Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1984), S. 53, 107. 823 Vgl. auch Pawlik, Rechtstheorie 27 (1996), 441 (445). 824 Siehe dazu nur Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (188). 825 Siehe dazu ausführlich Fusfield, in: Jahrbuch der Rhetorik, Bd. 8 (1990), S. 73ff. 826 So auch Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 60. 827 So auch Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 59; vgl. dazu auch Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 60, der dieses Problem anhand der »Wittgensteinschen Untersuchungen zum Regelbegriff« präzisiert.

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

145

Habermas selbst das intuitive Regelwissen der Teilnehmer in den von ihm behaupteten Diskursregeln explizit macht.828 d)

Transzendental-empirische Begründung der Diskursregeln

Für Alexy ist der performative Widerspruch kein Weg zur Letztbegründung der Diskursregeln, sondern Explikationsinstanz.829 Daher schlägt er eine erweiterte Begründung vor und setzt beim Sprechakt der Behauptung an. Er stellt zunächst die folgende These auf: »Wer etwas behauptet, erhebt einen Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit.«830 Darin sei wiederum ein Anspruch auf Begründbarkeit enthalten, denn eine Behauptung sei fehlerhaft, wenn sie nicht begründet werde, es handele sich gegebenenfalls nicht einmal um eine Behauptung.831 Denn etwas zu begründen, bedeute auch, vorzugeben, »den anderen (…) als gleichberechtigten Begründungspartner anzuerkennen.«832 Ferner gebe jeder, »der etwas begründet, zumindest vor, weder selbst Zwang auszuüben noch sich auf von anderen ausgeübten Zwang zu stützen.«833 Schließlich beanspruche »derjenige, der etwas begründet, seine Behauptung nicht nur gegenüber dem jeweiligen Adressaten, sondern gegenüber jedermann verteidigen zu können.«834 Dies resultiert in Alexys transzendentaler These: »Mit Begründungen werden, jedenfalls was das Begründen als solches anbelangt, die Ansprüche auf Gleichberechtigung, Zwanglosigkeit und Universalität erhoben.«835 828 Vgl. dazu auch Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie (1998), S. 59 (»Um aber feststellen zu können, daß eine Übereinstimmung zwischen dem impliziten Vorwissen und dem expliziten Wissen besteht, müßte Habermas die Grenzen des expliziten Wissens überschreiten und einen unvermittelten Zugang zum intuitiven Vorwissen gewinnen.«). 829 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 135, Fn. 27 (»Daran ist richtig, daß der Hinweis auf einen performativen Widerspruch keine Begründung eines Satzes durch einen von ihm unabhängigen anderen Satz darstellt, denn ein performativer Widerspruch entsteht nur dann, wenn die Diskursregel, zu deren Stützung er angeführt wird, bereits gilt. Performative Widersprüche sind deshalb lediglich ein Mittel, mit dem gezeigt werden kann, daß Diskursregeln gelten. Sie dienen der Explikation dessen, von dem angenommen wird, daß es vorausgesetzt wird.«). 830 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 135. 831 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137. 832 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137; Alexy führt dies an dieser Stelle auf die Fehlerhaftigkeit gegensätzlicher Behauptungen zurück. Dafür führt er folgendes Beispiel an: »Für mich ist der Grund G, den ich für meine Behauptung anführe, natürlich kein guter Grund; du solltest angesichts deiner Intelligenz G aber als guten Grund für diese Behauptung akzeptieren.«. 833 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137. 834 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137. 835 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137.

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Die Diskurstheorie des Rechts

Dieses transzendentale Argument könne jedoch nur eine »hypothetische Geltung der Diskursregeln« leisten, denn es könne nicht darlegen, dass die Gesprächspartner tatsächlich ein Interesse daran hätten, diese Diskursregeln einzuhalten: »Es zeigt, was gilt, wenn ein Interesse an moralischer Richtigkeit vorhanden ist und deshalb der ideale Standpunkt der Richtigkeit eingenommen wird.«836

Dass die Diskursregeln auch faktisch bedeutsam sind, ergibt sich Alexy zufolge aus einem tendenziell optimistischen Menschenbild. Zwar sei es »sicher ein unbegründeter anthropologischer Optimismus, bei jedem Menschen mit einem Interesse an Richtigkeit zu rechnen (…). Umgekehrt ist es aber ein unbegründeter anthropologischer Pessimismus, bei niemandem oder bei allzu wenigen mit einem Interesse an Richtigkeit zu rechnen.«837 Um diesen Befund abzusichern, ergänzt Alexy seine These um die »empirische Prämisse«, »daß eine so große Zahl von Personen ein Interesse daran hat, den Diskurs nicht strategisch zu führen, daß es sich für diejenigen, die ihn strategisch führen wollen, lohnt, so zu tun, als ob für sie die Diskursregeln auch subjektiv gelten.«838 Insofern erweitert Alexy seine transzendentale Analyse des Sprechakts um ein empirisches, wohl utilitaristisches Argument839, indem er den Nutzen der Beachtung der Diskursregeln als weiteren Grund dafür anführt, dass bestimmte Prämissen von den Diskursteilnehmern auch zwangsläufig befolgt werden.840 Alexys Begründung der Diskursregeln werden im Wesentlichen zwei Argumente entgegengehalten, die auch grundsätzlich als zutreffend zu beurteilen sind. Erstens ist der Sprechakt des Behauptens, den Alexy als Ausgangspunkt für die Herleitung der Diskursregeln wählt, nur ein »historisch-konkreter Akt«841, »der durch historisch-konkrete Regeln bestimmt ist.«842 Es bleibt unklar, wie sich aus einem singulären Akt universale Geltungsansprüche herleiten lassen sollen, wenn Alexy nicht erläutert, aus welcher Erkenntnisquelle heraus er den Universalitätsanspruch seiner Annahmen begründet.843 Zweitens attestiert Alexy durch die Annahme einer Kernbedeutung des Ausdrucks »Behauptung« seinen Diskursregeln eine faktisch nicht existierende Alternativlosigkeit: Dass es sich bei Diskursregeln um »gleichsam platonische Entitäten (…), die vor jeder Verän-

836 837 838 839 840 841 842 843

Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs (1995), S. 137. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. (1991), S. 422f. So Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (188). So Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (197). Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 55. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 55. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 55 (»Was unter einer Begründung zu verstehen ist, bzw. ob das Festhalten am Begründungsgedanken überhaupt sinnvoll ist, wurde zu unterschiedlichen Zeiten verschieden beantwortet.«).

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

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derung in konkret-geschichtlichen Sprachspielen sicher sind« handelt, erscheint zumindest ohne weitere Begründung nicht plausibel.844 Da Alexy tatsächlich nicht darlegt, aus welchen konkreten Metaprinzipen sich die Diskursregeln herleiten lassen und welche übergeordnete Erkenntnisquelle er seiner Kommunikationsanalyse zugrunde legt, ist sein Begründungsgang ungeachtet der empirischen Ergänzungen denselben Einwänden ausgesetzt, die sich auch gegen Apels Begründung der Diskursregeln vorbringen lassen.845 Nun stellt sich die Frage, ob es Alexy gelungen ist, die Defizite der Transzendentalpragmatik durch das utilitaristische Argument zu beheben. Dagegen lassen sich allerdings wiederum zwei Argumente vorbringen. Versteht man Alexy in dem Sinne, dass er durch empirische Annahmen eine transzendentale Annahme begründen will, so stellt seine Argumentation einen naturalistischen Fehlschluss846 dar, denn dann müsste man ihn so verstehen, dass er aus einer Beobachtung der Wirklichkeit (Empirie) auf eine transzendentale Norm (Ethik) schließt und sein Begründungsgang insofern einem eklektischen Fehler unterliegt.847 Interpretiert man das Interessenargument hingegen derart, dass es bloß als Ergänzung seiner Sprachaktanalyse fungiert, so ist für die transzendentale Begründung nichts gewonnen, denn es bleibt weiter offen, wie von einzelnen Sprechakten auf die universale Gültigkeit bestimmter Regeln geschlossen werden kann.848 Ungeachtet dessen sollte das empirische Argument jedoch nicht von Vornherein verworfen werden, da es den Vorteil bietet, die weitreichenden Prämissen der Diskurstheoretiker wahrscheinlicher und damit plausibler zu machen. Insofern liegt in Alexys Erkenntnis möglicherweise ein Weg, sowohl die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns als auch die Geltung bestimmter Diskursregeln als schlüssige Thesen zu reformulieren.

844 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 55 (»Was unter einer Begründung zu verstehen ist, bzw. ob das Festhalten am Begründungsgedanken überhaupt sinnvoll ist, wurde zu unterschiedlichen Zeiten verschieden beantwortet.«). 845 Siehe dazu oben in diesem Kapitel III. 1. b) (»Transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln«). 846 Siehe dazu Prechtl/Burkard, Metzler Lexikon Philosophie (2008), S. 182. 847 Siehe dazu Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (197), der diese Interpretation aber nicht vornimmt (»Man könnte deshalb meinen, Alexy habe sich mit seiner Erweiterung des transzendentalpragmatischen Letztbegründungsarguments eines schweren ekklektischen Fehler schuldig gemacht.«). 848 So Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (197f.).

148 e)

Die Diskurstheorie des Rechts

Eigenständige Überlegungen

Ob das empirische Argument Alexys unter gewissen Modifikationen geeignet ist, die aufgezeigten Begründungsdefizite aufzulösen, soll im Folgenden untersucht werden. Dafür bedarf es jedoch zunächst noch einer tiefergehenden Analyse des dargelegten diskurstheoretischen Ausgangsproblems. aa) Ausgangsproblem Die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln erweist sich deshalb als widersprüchlich, weil das Verfahren der strikten Reflexion mit der Idee des performativen Widerspruchs allenfalls solche Regeln begründen kann, die schon identifiziert wurden, deren Identifikation selbst aber nicht zu leisten vermag. Die universalpragmatische Begründung bei Habermas basiert wiederum auf einer bloßen Hypothese des intuitiven Wissens und kann daher ebenfalls bestimmte Diskursregeln nicht plausibel erklären. Das größte Potenzial zur Begründung und Konkretisierung der allgemeinen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns weist grundsätzlich Alexys Ansatz auf, wenngleich er sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, er schließe einerseits dogmatisch, andererseits auf eine epistemologisch intransparente Weise vom singulären Akt des Behauptens auf die universale Geltung bestimmter Regeln. Zusammenfassen lässt sich das Problem aller Begründungsvorschläge letztlich in dem Befund, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns und die für diese Handlungsform bestehenden Regeln im Sinne eines sicheren Wissens – einer Letzterkenntnis – zu begründen, während gleichzeitig aber der Anspruch erhoben wird, dass diese Regeln absolut und universell gelten. Diese Kritik lässt sich im Wesentlichen auf ein Grundproblem der Letztbegründung, und zwar auf das von Hans Albert beschriebene Münchhausen-Trilemma849 zurückführen. Dieses besagt, dass jeder Versuch einer Letztbegründung zwangsläufig entweder zu einem Zirkelschluss, einem infiniten Regress oder zu einem Abbruch des Begründungsverfahrens durch eine dogmatische Festlegung führen muss.850 Dies lässt sich anhand der unterschiedlichen Vorschläge zur Begründung der Diskursregeln verdeutlichen. Die Transzendentalpragmatik steht wie dargelegt vor dem Problem, dass sie die Auswahl der im Wege der strikten Reflexion zu begründenden Regeln einer metadiskursiven Instanz überlässt.851 Habermas Universalpragmatismus fundiert letztlich auf der Behauptung eines intuitiven Regelwissens und Alexys transzendentalempirische Begründung unterstellt aufgrund historisch-empirischer Beobachtung, dass sich 849 Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. (1991), S. 13ff. 850 Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. (1991), S. 15. 851 Ähnlich Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 44f.

Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie

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aus dem Sprechakt des Bedeutens universelle Regeln herleiten ließen. Alle Begründungsvorschläge fundieren also letztlich auf einem Dogma.852 Es ist nicht ersichtlich, wie die einzelnen Behauptungen von dem jeweiligen Dogma aus epistemisch konsistent letztbegründet werden könnten, ohne dabei entweder zirkulär zu argumentieren oder vor dem Problem eines infiniten Regresses zu stehen. Insofern sind alle Begründungsvorschläge Ausdruck des MünchhausenTrilemmas. bb) Reduktion des Geltungsanspruchs auf den Maßstab der Plausibilität Dass Menschen zwangsläufig und notwendig kommunikativ handelnde Wesen sind und dass es bestimmte, für ihr Handeln zwingende Regeln gibt, erscheint also tatsächlich dann als schwache Prämisse, wenn man diese Behauptungen jeweils als eine letzte, universelle Erkenntnis postuliert. Dies wiegt für die Diskurstheorie besonders schwer, weil der Interaktionstypus der Verständigungsorientierung die konstitutive Grundannahme der gesamten Theorie ist. Aus dem Münchhausen-Trilemma führt allerdings dann ein Weg heraus, wenn man von dem Versuch einer ethischen Letztbegründung absieht und keinen für alle Zeiten und alle Gesellschaften bestehenden ethischen Universalitätsanspruch der eigenen Thesen fordert, sondern sich darauf beschränkt, zu untersuchen, ob die eigene These die plausibelste unter vielen ist.853 Durch die Reduktion des absoluten Geltungsanspruchs auf das Maß der Plausibilität kann eine Theorie auf Letztbegründungen verzichten und damit dem MünchhausenTrilemma entgehen. Ferner kann sie das Bestehen moralischer Prinzipien auch ohne die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses bzw. eines Kategorienfehlers empirisch begründen, da sie auf eine transzendentale, deontologische Herleitung ihrer Thesen nicht angewiesen ist. Sie kann dementsprechend kein transzendentales, aber ein historisches Apriori einführen – um mit Foucault zu sprechen ein »Apriori nicht von Wahrheiten, die niemals gesagt werden oder wirklich der Erfahrung gegeben werden könnten; sondern einer Geschichte, die gegeben ist, denn es ist die der wirklich gesagten Dinge.«854 Im Gegenzug führt eine solche Herangehensweise aber zwangsläufig zu einem Fallibilismus855, denn sie kann keine vollständige Gewissheit leisten, ihre Thesen nicht als absolutes Wissen verkaufen und keine Letztbegründung leisten, denn jegliche Erkenntnis steht unter dem Vorbehalt einer Änderung der Welt der Tatsachen. Die Relativierung des absoluten Geltungsanspruchs stellt aber für den 852 Siehe nur Pawlik, Rechtstheorie 27 (1996), 441 (445) (»In ihrem gegenwärtigen Stand kommt die Diskurstheorie indes, wie mir scheint, in dieser Frage über eine apodiktisch bleibende Behauptung nicht hinaus.«). 853 So angedeutet bei Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (199f.). 854 Foucault, Archäologie des Wissens (1973), S. 184f. 855 Siehe dazu grundlegend Albert, Kritische Vernunft und rationale Praxis (2011).

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Die Diskurstheorie des Rechts

Bereich der Ethik und Sozialphilosophie im Allgemeinen und für die Diskurstheorie im Speziellen keine gravierende, vielmehr sogar eine plausible Konzession dar. Denn es stellt sich in Anbetracht des gesellschaftlichen Wertepluralismus ohnehin die Frage nach der Existenz sicheren moralischen Wissens.856 Die für das geordnete Zusammenleben notwendige Stabilisierungsleistung sollte – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen857 – ohnehin dem Recht und nicht einem ungeschriebenen Moralkodex zukommen, wenngleich es möglicherweise Interferenzen zwischen beiden Sphären geben mag.858 Außerdem ist eine Erkenntnistheorie, die keine absoluten Geltungsansprüche erhebt, ihre Thesen also unter einem fallibilistischen Vorbehalt postuliert, für die Diskurstheorie viel plausibler als ein Letztbegründungsversuch. Denn sie selbst basiert – wie gezeigt859 – darauf, dass Diskursteilnehmer ihre auf intersubjektive Anerkennung gerichteten Sprechhandlungen im Diskurs auf den Prüfstand stellen. Warum dann ausnahmsweise im Rahmen der Theoriebildung monologische, absolut geltende Wahrheitsansprüche formuliert werden, erschließt sich nicht. Insofern ist eine fallibilistische Begründung der Idee vom Menschen als kommunikativ handelndem Wesen und der Diskursregeln plausibler und auch theorieimmanent logisch, wenn nicht gar zwangsläufig. Nun könnte zuletzt noch eingewendet werden, dass es höchstproblematisch sei, einzelne moralische Grundpositionen, beispielsweise die Menschenrechte, nicht mit letzter Sicherheit begründen zu können bzw. sie nur als plausible moralische Positionen auszuweisen. Dagegen lässt sich aber Folgendes einwenden: In Anbetracht des Münchhausen-Trilemmas kann eine transzendentale Ethik Menschenrechte überhaupt nicht logisch und plausibel begründen. Soweit ersichtlich ist bislang auch keine andere allgemein akzeptierte ethisch-universelle Begründung der Menschenrechte gelungen.860 Insofern ist es jedenfalls besser, den Versuch zu unternehmen, Menschenrechte als moralisch äußerst plausible Positionen zu begründen, als sie überhaupt nicht begründen zu können. Unabhängig davon bedeutet eine fallibilistische Menschenrechtsbegründung auch nicht, dass Menschenrechte nicht absolut gelten können, denn dies ist eine rechtspolitische und keine moralphilosophische Frage.

856 Siehe dazu Seiterle, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie (2017), S. 476ff. 857 Siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel III. 2. c) (»Die diskurstheoretische Bedeutung der Grundrechte«). 858 Siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel III. 3. (»Zum Verhältnis von Recht und Moral«). 859 Siehe dazu oben in diesem Kapitel I. 1. (»Theorie des kommunikativen Handelns«). 860 Siehe dazu nur den Sammelband Gosepath/Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte (1998) und Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 4. Aufl. (2017).

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Vor dem Hintergrund einer Reduktion des Geltungsanspruchs auf Plausibilität lässt sich aufzeigen, dass der Interaktionstypus des kommunikativen Handelns einerseits und das Bestehen bestimmter Diskursregeln andererseits überaus plausible Thesen sind, die deshalb auch sinnvollerweise zur Grundlage einer Gesellschafts- und Rechtsphilosophie gemacht werden können, was die folgenden Ausführungen zeigen werden. cc)

Die funktionale Notwendigkeit kommunikativen Handelns in demokratischen Rechtsstaaten Was die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns betrifft, so soll an dieser Stelle zunächst ein Argument Alexys als Ausgangspunkt dienen: »Man nehme an, eine Elite sei ausschließlich an der Ausbeutung einer unterworfenen Bevölkerung interessiert. Sie kann mit dieser dann nur durch Befehle und die Ausübung von Gewalt kommunizieren. Das wäre jedoch nicht optimal. Gewalt ist teuer, und die durch sie gestiftete Ordnung instabil und deshalb für die Elite riskant. Eine Legitimation ist billiger und langfristig sicherer.«861

Das Potential dieses Arguments liegt in der These, dass das Ziel der Nutzenmaximierung langfristig nur durch »Legitimation«, also durch die Kraft der Überzeugung realisiert werden kann. Setzt man an dieser funktionalen Verschränkung von eigen- und verständigungsorientiertem Handeln an, lässt sich die Prämisse der Diskurstheorie unter einigen Modifikationen revitalisieren, wenn man auf eine transzendentale Begründung verzichtet. Dafür sollten kommunikatives und strategisches Handeln nicht als Gegensatzpaar, sondern als sich wechselseitig bedingende Bestandteile der Sozialintegration verstanden werden. Die These lautet daher: Die dem strategischen Handeln zugrunde liegende subjektive Motivation der Maximierung von Individualinteressen (A) kann dauerhaft nur in verständigungsorientierten, sozial integrierten Gesellschaften (B) ermöglicht werden. Das Ziel einer sozialintegrierten Gesellschaft (B) lässt sich nur verwirklichen, wenn die Individuen in dieser Gesellschaft auch ihre Individualinteressen (A) verwirklichen können.

Dies bedeutet, dass die dauerhafte und langfristige Verwirklichung eigener Interessen, Ziele und Wünsche nur in stabilen, sozial integrierten Gesellschaften möglich ist, in denen essentielle Bestandteile des menschlichen Lebens, sowie das Leben selbst abstrakt garantiert sind. Ein solcher Zustand kommt aber weder vom Himmel gefallen (Positivismus862) noch lässt er sich auf der Grundlage eines wenig plausiblen Vertragsschlusses bloß fingieren (Kontraktualismus863). Dessen 861 Alexy, Recht, Vernunft Diskurs (1995), S. 142. 862 Siehe dazu oben 3. Kap., I. 6. (»Stellungnahme und Kritik«). 863 Siehe dazu oben 3. Kap., II. 2. (»Kritik der kontraktualistischen Strafrechtsbegründung«).

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Die Diskurstheorie des Rechts

Realisierung verlangt die Verständigung unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft, wobei dieser Prozess sich nicht nur auf die Interessen eines Einzelnen, sondern aller Individuen bezieht. Er verlangt vom Einzelnen, nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen zu berücksichtigen. Andernfalls verbliebe bloß eine angreifbare, individualistische Konkretisierung willkürlich festgelegter Geltungsansprüche. Zur Maximierung von Eigeninteressen ist also ein Perspektivenwechsel vom monologischen zum dialogischen, und damit zum kommunikativen Handeln notwendig. Dieses steht wiederum zum Ziel der Nutzenmaximierung in einem funktionalen Verhältnis. Der strategisch ausgerichtete Akteur wird nur dann ein Interesse an der verständigungsorientierten Koordinierung seiner Handlungen haben, wenn seine Selbstverwirklichung Gegenstand dieses Kommunikationsprozesses ist. Führt der in Rede stehende gesellschaftliche Abstraktionsprozess nicht auch zu seinen Vorteilen, so wird er sich daran nicht beteiligen. Die Vergesellschaftung des Menschen kann so als ein Abstraktionsprozess verstanden werden, der beim Einzelnen beginnt, sodann den anderen miteinbezieht und schließlich wieder zum Einzelnen zurückkehrt. Dass die These von der Alternativlosigkeit kommunikativen Handelns zumindest für demokratisch organisierte Gesellschaften auch die plausibelste ist und somit nach den vorstehenden Ausführungen einer Diskurstheorie widerspruchsfrei zugrunde gelegt werden kann, ergibt sich aus einer Analyse der empirischen Tatsache, dass die Idee der Demokratie prägender Bestandteil der westlichen Ideengeschichte und zugleich das kontemporär vorherrschende Modell politischer Ordnung in westlichen Gesellschaften darstellt. Denn in diesem empirischen Befund expliziert sich die oben beschriebene Idee der kommunikativen Vernunft, da es gerade der Kern der demokratischen Idee von der Volksherrschaft ist, unter pragmatischen Bedingungen einen – zumindest prozedural – allgemein zustimmungsfähigen normativen Konsens zu finden, der darauf ausgelegt ist, alle Gesellschaftsmitglieder zu berücksichtigen. Darin kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass die Vergesellschaftung des Menschen einen verständigungsorientierten Diskurs unter allen Mitgliedern der Gesellschaft (demos) voraussetzt, der letztlich aus pragmatischen Gründen der Majoritätsregel unterworfen ist.864 Wenngleich es innerhalb der Politikwissen864 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 533 (»Im prozeduralistischen ¨ ffentlichkeit nicht nur als Vorhof des parlamentaRechtsparadigma wird die politische O rischen Komplexes vorgestellt, sondern als die impulsgebende Peripherie, die das politische Zentrum einschließt: sie wirkt u¨ ber den Haushalt normativer Gru¨ nde ohne Eroberungs¨ ber die Kana¨ le allgemeiner Wahlen und absicht auf alle Teile des politischen Systems ein. U spezieller Beteiligungsformen setzen sich o¨ ffentliche Meinungen in eine kommunikative Macht um, die den Gesetzgeber autorisiert und eine steuernde Verwaltung legitimiert, wa¨hrend die o¨ ffentlich mobilisierte Rechtskritik einer rechtsfortbildenden Justiz verscha¨ rfte Begru¨ ndungspflichten auferlegt.«).

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schaften keine allgemein konsentierte Demokratietheorie gibt865, so lassen sich in demokratisch verfassten Gesellschaften regelmäßig bestimmte Erscheinungen ausmachen, die erkennbar auf das diskursive Demokratieelement schließen lassen. Dazu gehören insbesondere die folgenden Elemente: die Einrichtung einer parlamentarischen politischen Ordnung, das Bestehen eines Mehrparteiensystems, die Gewährleistung eines freien, gleichen und geheimen Wahlrechts, die Geltung einer Mehrheitsregel, die Garantie oppositioneller Rechte und der Schutz politischer Minderheiten, die Organisation von Interessenvielfalt und rechtlich verfasster Konfliktaustragung, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Versammlung, die Einrichtung eines existenzsichernden sozialstaatlichen Systems sowie kodifizierte Grundrechte.866 Unabhängig von den umstrittenen theoretischen Fundierungen und jeweiligen Akzentuierungen innerhalb der Demokratietheorie, bringen demokratische Gesellschaften also durch die Einrichtung bestimmter Institutionen, Regeln und Positionen zum Ausdruck, dass sie sich als kommunikativ verfasste Einheiten begreifen. Denn all die aufgezeigten empirisch wahrnehmbaren Kernbestandteile demokratischer Gesellschaften dienen – mal mehr, mal weniger, insgesamt aber sicherlich primär – der Ermöglichung des gesellschaftlichen Diskurses über Fragen der Machtverteilung und dem Herbeiführen einer pragmatischen Lösung, die die Interessen aller berücksichtigt. Insofern ist die Erscheinungsform westlicher Demokratien geradezu ein Exempel kommunikativer Vernunft. In ihr expliziert sich die Idee einer politischen Natur des Menschen, die tief in der westlichen Geschichte und bereits in der antiken Philosophie verankert ist. So drückt sich schon in der aristotelischen Idee vom Menschen als ein »zôon politikón«867 die Einsicht aus, »(…) dass der Mensch durch seine Kooperationsbedürftigkeit, durch das Streben nach Autarkie und durch die sprachliche Kommunikationsfähigkeit seine natürlichen Anlagen am besten im Rahmen einer gesetzlich geregelten Gemeinschaft, dem Staat, verwirklichen kann.«868 Und versteht man diesen Staat demokratisch, so kommt in ihm die Einsicht zum Ausdruck, dass das kommunikative, verständigungsorientierte Handeln die Grundlage der menschlichen Gesellschaft bildet. Die Verschränkung von Eigen- und Fremdinteressen, die Idee einer kommunikativen Gesellschaft und damit letztlich auch die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns erweisen sich so als plausible Grundannahme für die kontemporäre Konstitution moderner, demokratisch organisierter Gesellschaften. 865 Siehe dazu den instruktiven Vergleich der Demokratietheorien bei Schmidt, Demokratietheorien (2019), S. 505ff. 866 Waschkuhn, Demokratietheorien (1998), S. 8. 867 Vgl. dazu Höffe, zôon politikon, in: ders. (Hrsg): Aristoteles-Lexikon (2005), S. 620. 868 Rapp, Aristoteles zur Einführung (2001), S. 55.

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Die Diskurstheorie des Rechts

Will man eine solche Begründung sozialphilosophisch einordnen, könnte man sie als empirisch begründeten, intersubjektiven, anthropologischen Utilitarismus bezeichnen. Denn zum einen basiert die These von der Interdependenz auf der empirischen Erkenntnis, dass der Mensch in demokratisch organisierten Gesellschaften sein Handeln (zumindest auch) an dem Gedanken der Nutzenmaximierung orientiert (utilitaristisch). Zum anderen erkennt sie, dass der Mensch über das Vermögen verfügt und zugleich das Interesse besitzt, sein Handeln vor diesem Hintergrund reflektiert zu begründen (anthropologisch), also zu legitimieren. Diese Begründung basiert aber nicht auf einer rein individualistischen Reflexion, sondern auf der Einsicht einer Idee der kommunikativen Vernunft, die Ego und Alter miteinbezieht (intersubjektiv). Da die hier vorgeschlagene Fundierung einer Diskurstheorie jedoch nicht den Anspruch erhebt, für jede Zeit, für jeden Menschen und für jede Gesellschaft gültig, sondern für einen bestimmten situativ-historischen Kontext am plausibelsten zu sein, kann sie schließlich auch mit einzelnen Erscheinungen umgehen, die ihre These zu widerlegen scheinen, wie beispielsweise das Handeln von Fanatikern oder antidemokratischen Strömungen, deren Verhalten dadurch gekennzeichnet ist, dass sie entweder überhaupt nicht oder ausschließlich eigenorientiert handeln.869 Wenngleich es unbestritten auch in westlichen Demokratien entsprechende Tendenzen gibt, so ist die Annahme, es handele sich dabei um eine Mehrheit, zumindest im gegenwärtigen Kontext überaus unrealistisch. Im Gegenzug erscheint es deswegen auch nicht plausibel, ein darin zum Ausdruck kommendes Menschenbild der – in Anbetracht der demokratischen Konstitution dieser Gesellschaften mehrheitlich zum Ausdruck kommenden – Idee der kommunikativen Vernunft vorzuziehen. Damit lässt sich abschließend Folgendes festhalten: Versteht man die Gesellschaft in diesem Sinne als eine kommunikative Gemeinschaft, so löst sich die Dichotomie zwischen Erfolgs- und Verständigungsorientierung auf. Die Idee des kommunikativen Handelns ist hier keine bloße Hypothese mehr, sondern eine empirisch rekonstruierbare, funktional notwendige Bedingung zur Selbsterhaltung und -verwirklichung des Einzelnen innerhalb einer kommunikativen Gemeinschaft. dd) Die Plausibilität der Diskursregeln In Anbetracht dieser – zumindest in demokratischen Rechtsstaaten regelmäßig zum Ausdruck kommenden – funktionalen Notwendigkeit kommunikativen Handelns einerseits, und vor dem Hintergrund der beschriebenen Idee der wechselseitigen Abhängigkeit andererseits, lässt sich dann auch die Notwendigkeit und ein zumindest formeller Inhalt von Diskursregeln aufzeigen, was sich 869 Siehe dazu Gril, ARSP 1997, 206 (214f.).

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einerseits aus pragmatischen Überlegungen, andererseits anhand historischempirischer Tatsachen plausibel machen lässt. Die erste zu begründende These (Notwendigkeit) muss also lauten, dass sich Einverständnisse über die Geltung eines bestimmten präskriptiven Satzes im Diskurs nur erzielen lassen, wenn es allgemeingültige Regeln gibt, die den Diskurs leiten. Wenn man sich nun erstens den oben beschriebenen Befund vor Augen hält, dass demokratisch organisierte Gesellschaften auf einer Idee der normativen Verständigung beruhen und zweitens das Bestehen eines dafür geltenden Regelwerks hinwegdenkt, wird die funktionale Notwendigkeit von Diskursregeln schnell deutlich. Denn ohne die Mechanismen eines solchen Regelwerks bestünde zunächst einmal die Gefahr, dass der beschriebene, kommunikative Abstraktionsprozess nicht dialogisch, sondern monologisch erfolgt, indem einzelne strategisch orientiere Akteure den Diskurs überproportional stark beeinflussen, oder ihr Gegenüber mit anderen Mitteln als der Kraft des Arguments unterdrücken. Dies drückt sich regelmäßig in der wechselseitig notwendigen Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat870 aus, wie sie Scholz präzise formuliert: »Demokratie bedingt den freiheitlichen Rechtsstaat, wie umgekehrt der freiheitliche Rechtsstaat eine demokratische Ordnung voraussetzt. Demokratie heißt einerseits Gleichheit in der politischen Legitimation, Verantwortung und Berechtigung aller – vermittelt u¨ ber das Wahlrecht, den Gleichheitssatz und das Mehrheitsprinzip. Demokratie bedingt andererseits eine freiheitlich-pluralistische Gesellschaft, in der die unterschiedlichen politischen Standpunkte miteinander konkurrieren und ihren Wettbewerb u¨ ber die politische Mehrheitsentscheidung jeweils konkret austragen. In diesem Sinne bedeutet Demokratie stets Konkurrenz, Pluralita¨ t und – als deren Voraussetzung – Freiheit und Gleichheit.«871

Um dies zu verdeutlichen, soll die bereits beschriebene These der notwendigen Verschränkung von strategischem und kommunikativem Handeln erneut aufgegriffen werden: Tritt ein Sprecher in einen Diskurs ein und fordert von den Diskursteilnehmern eine bestimmte Position, so kann er dies in der Regel nicht ernsthaft fordern, ohne sie allgemein vorauszusetzen. Denn er weiß, dass alle anderen Teilnehmer eine entsprechende Regel üblicherweise nur dann anerkennen, wenn sich ihr Geltungsbereich auch auf sie erstreckt. In der Existenz der Diskursregeln drückt sich also die Einsicht aus, dass ein geordnetes Zusammenleben die allgemeingültige Abstraktion von der monologischen zur dialogischen Perspektive verlangt. Die Begründung regelförmiger Voraussetzungen

870 Siehe zu dem komplexen Verhältnis Lauth, Jahrbuch für Recht und Ethik, Vol. 21 (2013), S. 83ff. 871 Scholz, in: Sarchinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur (1990), S. 304, 304.

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erscheint dann naheliegender, weil sie sich so als eine notwendige Bedingung für die Realisierung der kommunikativ verfassten Gesellschaft erweisen. Dass das menschliche Zusammenleben in einer kommunikativen Gemeinschaft nur unter der Geltung eines normativen Regelwerks funktioniert, lässt sich aber, wie gezeigt, nur schwerlich transzendental begründen, erscheint jedoch in Anbetracht der westlichen Ideen- und der jüngeren Staats- und Verfassungsgeschichte überaus einleuchtend. Hilgendorf beschreibt dies präzise, wenn es bei ihm heißt: »Die Diskursregeln (…) explizieren lediglich unsere Vorstellungen von einer ›rationalen‹ Diskussion. Die Regeln sind keine ›argumentationstheoretischen Universalien‹, die für alle Menschen verbindlich sind, sondern ein Ausdruck der westlichen, durch die griechische Philosophie, das Christentum und die Aufklärung geprägten Kultur. Gerade Alexys Regeln stellen eine gute Annäherung an das dar, was in der westdeutschen Gesellschaft und insbesondere der Rechtswissenschaft seit den späten 60er Jahren als ›vernünftiger Diskussionsstil‹ angesehen wird.«872

Freilich lassen sich noch weitere Anhaltspunkte dafür ausmachen, dass menschliche Gesellschaften insbesondere unter dem Eindruck und der Erfahrung absolutistischer, totalitaristischer und auf extrem ungleicher Machtverteilung beruhender politischer Ordnungen zu der Einsicht gelangt sind, dass die (demokratische) Vergemeinschaftung des Menschen ohne die Garantie von Menschenrechten nicht funktionieren kann. An dieser Stelle sei nur exemplarisch auf die zahlreichen Menschenrechtserklärungen des 17. und 18. Jahrhunderts, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Bonner Grundgesetz verwiesen. Diesen Befund teilt Radbruch schon im Jahre 1946, also unmittelbar nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Diktatur der Nationalsozialisten: »Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung (…). Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrecht erhalten kann.«873

Wenngleich es den Vertretern der Diskurstheorie also nicht gelungen ist, die universelle Geltung von Diskursregeln im Sinne einer sicheren Erkenntnis zu begründen, so offenbart sich insbesondere in der westlichen Ideen- und Ver872 Hilgendorf, Rechtstheorie 27 (1995), 183 (199f.). 873 Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), Nachdruck in Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe, S. 209f.

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fassungsgeschichte die Erkenntnis von der Unabdingbarkeit eines normativen Minimums für das Funktionieren kommunikativ konstituierter Gemeinschaften im Sinn eines historischen Apriori. Was den zweiten Schritt, die Definition und den Inhalt dieser Regeln betrifft, so liegt es in der indefiniten Struktur normativer Verständigung selbst, dass sie sich begrifflich nicht vollständig rekonstruieren, sondern nur formal zum Ausdruck bringen lassen. Während ihre Existenz selbst zumindest aus funktionalen Gründen unausweichlich ist, lässt sich ihre konkrete Ausgestaltung zwar nur formal, aber immerhin mit einem (sich stets wandelnden) Verständnis von den Ideen der Freiheit und Gleichheit zum Ausdruck bringen. Auch dies folgt zwangsläufig aus ideengeschichtlich- bzw. historisch-empirischen Beobachtungen. So hatte einerseits die abstrakte Beschreibung von Idealzuständen (Gerechtigkeit) in der Philosophie schon immer einen Bezug zu den Wertkategorien von Freiheit und Gleichheit.874 Andererseits drückt sich die Notwendigkeit der Stabilisierung dieser Wertkategorien vor allem in historischen und gegenwärtigen Erfahrungen aus, weil instabile, unfriedliche Gesellschaften häufig im Zusammenhang mit ungleicher Machtverteilung und unverhältnismäßigen Freiheitsbeschränkungen entstehen.875 Die größten Gefahren für ein friedliches Zusammenleben und damit für den Mechanismus der Sozialintegration scheinen sich also aus der Missachtung dieser Werte zu ergeben. Daraus lässt sich e contrario schließen, dass diese Werte als Grundvoraussetzung des Diskurses überaus plausibel erscheinen. Wie unmittelbar die im Bonner Grundgesetz verankerten Freiheits- und Gleichheitsrechte sich für die westdeutsche Gesellschaft als ein solches historisches contrario darstellten, lässt sich eindrucksvoll anhand der Beratungen des Parlamentarischen Rates aufzeigen.876 So fasst der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen von Mangoldt den Hintergrund der Konstitutionalisierung der Menschenwürdegarantie folgendermaßen zusammen: »Angesichts der entsetzlichen, die Wu¨ rde des Menschen unter die Fu¨ ße tretenden Entrechtungen, Erniedrigungen, Versklavungen, grausame Qua¨ lereien und Massenmorden, deren sich die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland schuldig gemacht hat und deren sich die bolschewistische Gewaltherrschaft der Sowjetunion noch immer schuldig macht, ist es zu begru¨ ßen, daß der Grundrechtskatalog sofort in seinen ersten Sa¨tzen die Wu¨ rde des Menschen unter den Schutz des Staats stellt. Um so mehr sollte man diesen Worten unmittelbar die Tat folgen lassen, in Gestalt eines 874 Vgl. zu den unterschiedlichen Akzentuierungen nur Holzleithner, Gerechtigkeit (2009), S. 19ff.; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit (1994). 875 Siehe dazu ausführlich Rottleuthner, Ungerechtigkeiten. Anmerkungen zur westlichen Leidkultur (2008). 876 Siehe dazu auch oben 3. Kap., II. 2. b) aa) (»Die naturrechtliche Dimension des Grundgesetzes in den Beratungen des Parlamentarischen Rats«).

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Die Diskurstheorie des Rechts

Rechtssatzes, welcher aller o¨ ffentlichen Gewalt durch Verpflichtung zur Achtung und Schonung der Menschenwu¨ rde eines jeden und sei es auch niedrigen und strafwu¨ rdigen Menschen eine unantastbare Grenze gesetzt, und der so entschieden und allgemein gestaltet ist, daß er einzelne Aufza¨ hlungen von verbotenen Humanita¨ tsmißachtungen (…) entbehrlich macht.«877

Damit lässt sich abschließend Folgendes festhalten: Aus der tatsächlich wahrnehmbaren äußeren Erscheinungsform diskursiv verfasster, demokratischer Gesellschaften, die in bestimmten Institutionen, Regeln und Prinzipien sichtbar wird, lässt sich plausibel auf die innere kommunikative Verfasstheit und damit auf die diskursive Vergesellschaftung des Menschen in einem breiteren historischen und situativen Kontext schließen. Spätestens mit der Erklärung und der gesetzlichen Kodifikation von Freiheits- und Gleichheitsrechten wird ferner explizit, dass normative Verständigung auch ein normatives Minimum voraussetzt. In dieser Einsicht, dass funktionierende Demokratie einen funktionierenden Rechtsstaat benötigt, drückt sich die abstrakte Erkenntnis aus, dass ein Diskurs nicht ohne Regeln möglich ist.

2.

Zu den subjektiven Rechten und den konstitutionellen Grundrechten

Armin Engländer hat die Diskurstheorie unter anderem deswegen scharf angegriffen, weil sie den subjektiven Rechten seiner Meinung nach nur eine untergeordnete Rolle einräumt.878 Um seine Argumente bewerten zu können, werden zunächst der Begriff der subjektiven Rechte und anschließend die Bedeutung der verfassungsrechtlich kodifizierten Grundrechte diskurstheoretisch geklärt und präzisiert. a)

Die Kritik Armin Engländers

Engländers Kritik setzt dabei an, dass Habermas subjektive Handlungsfreiheiten als Positionen versteht, die zum »Ausstieg aus dem kommunikativen Handeln« berechtigen: »Sie begründen eine Privatheit, die von der Bürde der gegenseitig zugestandenen und zugemuteten kommunikativen Freiheit befreit.«879

Weil individuelle Freiheit jedoch innerhalb der Diskursethik ihre Grenzen in den kommunikativen Verpflichtungen findet, könne sie Engländer zufolge subjektive 877 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 587. 878 Engländer, ARSP 81 (1995), S. 482ff.; ders., Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 99ff. 879 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 153.

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Rechte im Sinne negativer Freiheiten nur diskursfunktional erklären.880 Damit komme ihnen innerhalb der Diskurstheorie nur eine schwache Position, »ein nachgeordneter Status« zu.881 Weil subjektive Handlungsfreiheiten damit also nur so weit reichen können, wie sie die Sozialintegration nicht gefährdeten, käme ihnen mitunter nicht einmal die Rechtsform zu: »Die Entbindung von der Pflicht zum verständigungsorientierten Handeln kann dem einzelnen zwar gewährt werden, über ein Anrecht darauf verfügt er jedoch nicht.«882

In einem diskursfunktionalen Konzept erscheine es gar »plausibler, solche Rechte (…) auf ein notwendiges Minimum zu beschränken, um nicht die soziale Integration der Gesellschaft zu gefährden.«883 Subjektive Handlungsfreiheiten könnten damit »in der Diskurstheorie kein starkes Gewicht haben.«884 Weil subjektive Rechte bei Habermas nur formal-begrifflich aus der Notwendigkeit der Rechtsform heraus begründet würden, könne allenfalls ihre Kategorie hergeleitet werden, ihre konkrete inhaltliche Form jedoch keineswegs.885 Auch der von Günther vorgeschlagene Verzicht auf die Begründung subjektiver Rechte als solcher aus der kommunikativen Rationalität886 ist Engländer zufolge wenig plausibel, weil auch hier die subjektiven Rechte in einem untergeordneten funktionalen Verhältnis zur Diskursethik stünden.887 Der Versuch von Günther und Habermas, den subjektiven Rechten einen intrinsischen Wert zuzuschreiben, bleibe insgesamt eine »bloße ad hoc-Behauptung« und sei innerhalb der Diskurstheorie bisher argumentativ nicht belegt worden.888 Auch die Herleitung subjektiver Rechte aus dem Autonomieprinzip bei Alexy könne nur positive Freiheiten, aber keine Abwehrrechte begründen.889 Das allgemeine Recht auf Autonomie, nach dem jeder das Recht habe, »frei zu beurteilen, was geboten und was gut ist, um entsprechend zu handeln«, biete dem

880 881 882 883 884 885 886

Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 103. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 103. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 103. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 103. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 103. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 104. Günther, Kritische Justiz 1994, 470 (473) [»Aus diesem Befund zieht die Diskurstheorie des Rechts die radikale Konsequenz auf jede ›Begründung‹ oder ›Ableitung‹ des individuellen Freiheitsrechts als solchem aus kommunikativer Rationalität zu verzichten. Vielmehr betrachtet sie die Kategorie des Rechts auf subjektive Freiheit oder private Autonomie als Bestandteil der Rechtsform, und zwar als Kehrseite der Zwangsbefugnis (…): Rechtlich gezwungen werden können nur Freie. Diese Eigenschaft der Rechtsform selbst wird nicht ›begründet‹, sondern nur funktional, aus ihrem Ergänzungsverhältnis zu einer postkonventionell (…) gewordenen prozeduralen Moral erklärt (…).«]. 887 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 104ff. 888 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 106. 889 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 108ff.

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Individuum weder Handlungs- noch Beurteilungsalternativen, sondern umschreibe nur eine »Freiheit zur Ausführung bestimmter Handlungen« und eine durch die Diskursregeln begrenzte Entscheidungskompetenz, nicht dagegen »eine Freiheit zur Ausführung verschiedener Handlungsalternativen«.890 Genauso sei Alexys Konsensargument nur eine »Verteilung der aus dem allgemeinen Recht auf Autonomie ableitbaren Rechte, nicht aber eine eigenständige Begründung von subjektiven Freiheitsrechten.«891 Letztlich führe das von Alexy angeführte Demokratieargument ebenfalls zu dem Problem, dass subjektive Handlungsfreiheiten nur diskursfunktional verstanden würden und ihnen damit dieselbe schwache Position zukomme wie bei Habermas.892 Versteht man das Verhältnis von Diskursregeln und subjektiven Rechten mit Engländer als einen Gegensatz, indem das Ziel der normativen Verständigung den Wert individueller Freiheiten überwiegt, dann müssen subjektive Rechte tatsächlich nur als untergeordnete Positionen, als diskursfunktionale Werteinheiten verstanden werden, die keinen intrinsischen Wert aufweisen. Bei einer solchen Interpretation der Diskurstheorie ist ihnen tatsächlich eine schwache Position eingeschrieben. b)

Der individualistische und der intersubjektivistische Gehalt subjektiver Rechte

Was innerhalb dieser Argumentation jedoch verkannt wird, ist, dass die Diskurstheorie auf ein solch einseitiges Verteilungsprinzip nicht angewiesen ist. Die diskursethische Bedeutung subjektiver Rechte lässt sich nur adäquat nachvollziehen, wenn sowohl der individualistische als auch der intersubjektivistische Gehalt subjektiver Rechte berücksichtigt werden.893 In ihrer individualistischen Interpretation beziehen sich subjektive Rechte auf einen Kontext, in dem es um die Handlunsgkoordinierungen einzelner Personen geht. Sie verleihen dem Individuum einen durchsetzbaren Anspruch, bestimmte von ihm erwünschte Formen der Freiheitsausübung wahrzunehmen. Sie garantieren, dass der Staat diese Rechte nicht verletzt. In der grundrechtsdogmatischen Terminologie werden sie daher klassischerweise als Abwehrrechte bezeichnet.894 Sie lassen sich im System der Diskurstheorie mit zwei Argumenten begründen. Erstens sind sie notwendigerweise mit der Rechtsidee an sich verbunden, denn die Übertragung von Zwangsgewalt an eine außerdiskursive, monologische In890 891 892 893

Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 109. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 110. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 111. Siehe dazu Günther, Möglichkeiten einer diskursethischen Begründung des Strafrechts, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 210f. 894 Siehe dazu Alexy, Theorie der Grundrechte (1994), S. 174ff.

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stitution (Staat) kann vom Einzelnen nur unter der Bedingung einer Machtkompensation akzeptiert werden. Das machttheoretische Sonderverhältnis zwischen Individuum und Staat ist aus der historischen Erfahrung mit der Gefahr von Willkür und ungleicher Ressourcenverteilung verbunden.895 Daher müssen dem Einzelnen in diesem System Positionen eingeräumt werden, die einen Wesensgehalt individualistischen Freiheitsgebrauchs garantieren. Zweitens hält die bereits beschriebene Idee der wechselseitigen Abhängigkeit von strategischem und kommunikativem Handeln auch für die Begründung subjektiver Rechte ein wichtiges Argument bereit: Ein friedliches Zusammenleben verlangt, dass der individualistische Bereich der Handlungskoordinierung garantiert ist. Es ist anzunehmen, dass mindestens ein Teil der Gesellschaft sich den Regeln des kommunikativen Handelns nicht unterwirft, ohne inner- und außerhalb normativer Verständigungsprozesse auch die eigenen Freiheitspositionen ausüben zu können.896 Die Garantie strategischer Freiheitsverwirklichung ist die Voraussetzung für normative Verständigung. Insofern kommt den individualistischen Implikationen subjektiver Freiheitsrechte auch in der Diskurstheorie eine wesentliche Bedeutung zu, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Interdependenz versteht. Der intersubjektivistische Gehalt subjektiver Rechte ist die Kehrseite des individualistischen Freiheitsgebrauchs. Er steht in einem kommunikativen Kontext und erhält erst dadurch seine Bedeutung, dass ein Individuum seine Handlung zu einem anderen in Bezug setzt. Dies umfasst den Bereich der Kommunikation im weitesten Sinne, also entweder durch Sprach- oder durch sonstige Handlungsakte. Subjektive Rechte in diesem Sinne richten sich nicht gegen den Staat an sich, sondern regeln den Bereich, in denen Menschen kommunikativ zueinander in Beziehung treten. Sie sind also insofern von dem individualistischen Element zu unterscheiden, als dass sie sich, erstens, auf mindestens zwei Personen beziehen und sich, zweitens, nicht unmittelbar gegen den Staat richten. Im diskursethischen Konzept ermöglichen erst sie die Durchführung praktischer Diskurse und die Herbeiführung normativer Einverständnisse. Sie sind die allgemeinen Voraussetzungen des praktischen Diskurses und lassen sich als eine formelle, in ihrer Interpretation jedoch wandelbare Freiheits- und Gleichheitsgarantie verstehen. Das Interdependenzverhältnis von individualistischem und intersubjektivistischem Freiheitsgebrauch wirkt sich jedoch nicht nur auf der Ebene der 895 Siehe dazu oben in diesem Kapitel III. 1. e) cc) und dd) (»Die funktionale Notwendigkeit des kommunikativen Handelns in demokratischen Rechtsstaaten« und »Die Plausibilität der Diskursregeln«) mit den entsprechenden Nachweisen. 896 Siehe dazu oben in diesem Kapitel III. 1. e) cc) und dd) (»Die funktionale Notwendigkeit des kommunikativen Handelns in demokratischen Rechtsstaaten« und »Die Plausibilität der Diskursregeln«) mit den entsprechenden Nachweisen.

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Die Diskurstheorie des Rechts

Rechtsbegründung, sondern auch auf der Ebene der Rechtsbegrenzung aus. Der erfolgsorientierte Gebrauch von Freiheit findet seine Grenzen in den Regeln der intersubjektiven Freiheitsausübung. Das kommunikative Handeln hingegen kann nur so weit gehen, wie das Subjekt nicht vollständig unter die Gemeinschaft subsumiert wird, sondern in ihr auch seine eigenen Interessen, Wünsche und Ziele verwirklichen kann. In diesem Verhältnis gibt es keinen nachgeordneten Status eines einzelnen Momentes. Beide Bereiche der Freiheit, die des einen und die des anderen, begründen und begrenzen sich gegenseitig. Sie stehen in einem Verhältnis der Gleichursprünglichkeit und der Gleichwertigkeit. Sie bilden eine Antinomie der Freiheit. Die Diskurstheorie muss das Verhältnis subjektiver und intersubjektiver Positionen so weder zulasten der individualistischen noch zulasten der intersubjektivistischen Freiheitsidee entscheiden, sondern kann sie in einer Synthese von monologisch und dialogisch verstandener Freiheit abbilden. Der Einwand, dass sie den subjektiven Rechten nur eine schwache Position einräume, ist damit hinfällig. c)

Die diskurstheoretische Bedeutung der Grundrechte

Nachdem gezeigt wurde, wie sich subjektive Rechte auch innerhalb der Diskurstheorie als starke und bedeutsame Momente verstehen lassen, bleibt noch die Frage zu beantworten, wie deren Kodifikation in Form von verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechten diskurstheoretisch zu erklären ist. Dabei steht die Diskurstheorie vor dem Problem, dass Gleichheits- und Freiheitsrechte nicht in einer definiten sprachlichen Struktur ausgedrückt werden können. Weil sie sich weder transzendental noch empirisch letztbegründen lassen, sind sie vielmehr als eine formelle, prozedurale Idee zu begreifen. Prima vista wiegt dieser Befund schwer, denn im postmetaphysischen Zeitalter lassen sich gleichsam konsentierte Überzeugungen kaum ausmachen.897 Die Idee der Gleichheits- und Freiheitsrechte sowohl in ihrer individualistischen als auch in ihrer intersubjektivistischen Interpretation ist der Gefahr eines dauerhaften Metadiskurses und damit möglicherweise einer extremen Variabilität (Werterelativismus) ausgesetzt. Dies wiegt umso schwerer, als dass sie die Voraussetzung des praktischen Diskurses und damit der Sozialintegration sind. Was zunächst als Fluch der Diskurstheorie erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung jedoch als deren Segen. Jede moderne Gesellschaftstheorie steht vor dem Problem eines gesellschaftlichen Wertepluralismus, kann den zugleich be-

897 Vgl. dazu Habermas, Rückkehr zur Metaphysik, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (1992), S. 11ff.; siehe dazu kritisch Gloy, Metaphysik – ein notwendiges Projekt?, in: dies. (Hrsg.), Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches? (2004), S. 25ff.

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stehenden unbestreitbaren Wertbezug des Rechts jedoch nicht leugnen.898 Die Diskurstheorie ist imstande dieses Dilemma funktional aufzulösen: Im nachmetaphysischen Denken bedarf es eines normativen Fixpunktes, der die Grundlage sowohl des monologischen als auch des dialogischen Handelns der Mitglieder einer Gesellschaft bildet. Ohne verbindliche Grundstrukturen, die beide Aktionstypen leiten, sind konkrete normative Einverständnisse überhaupt nicht zu erzielen. Diese Grundstrukturen sind die konstitutionellen Grundrechte. Sie bilden die notwendigen Einheiten, auf deren Grundlage sich die Individuen einer Gesellschaft überhaupt aufeinander einlassen. Sie sind eine unerlässliche, fixe Zwischenstufe in dem Prozess der Synthese von strategischem und kommunikativen Handeln. Dabei stellen die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte kein exaktes Abbild bestimmter Diskursregeln dar, sondern erweisen sich als fundamentale, den Diskurs leitende Argumentationsgrundlagen, die einen Bestand an subjektiven Rechten sichern, unter denen wirksame, normative Einverständnisse erst erzielt werden können. In den weiteren normativen Konkretisierungsprozessen unterliegt ihre Bedeutung dabei einem dauerhaften Diskurs. In einem so verstandenen diskurstheoretischen Konzept ist die Idee der Grundrechte keine Fiktion, sondern eine notwendige, verbindliche Konkretisierung einer zunächst nur formell beschreibbaren Idee. Diese Interpretation gerät auch nicht in Konflikt mit der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte, die der Entstehung des Grundgesetzes zugrunde liegt. Wenn es in den Beratungen des Parlamentarischen Rates heißt, dass die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden präkonstitutionellen Werte »nicht etwas fu¨ r alle Zeiten ewig Gleiches, sondern etwas Fluktuierendes«899 sind, und die Möglichkeit besteht, »die naturrechtlichen Auffassungen in die Grundrechte, wie sie hier gefaßt worden sind, stets neu hinein zu interpretieren«900, steht dies voll und ganz mit den hier genannten Annahmen in Übereinstimmung. Den konstitutionellen Grundrechten liegt eine formelle, fluktuierende Idee subjektiver Rechte zugrunde, die im postmetaphysischen Zeitalter einer normativ verbindlichen Kodifikation bedürfen, um sich anschließend in den Mechanismen gesellschaft898 Siehe dazu nur Rawls, Political Liberalism (2004) (S. 4: »Focusing on the first fundamental question, the course of democratic thought over the past two centuries or so makes plain that there is at present no agreement on the way the basic institutions of a constitutional democracy should be arranged if they are to satisfy the fair terms of cooperation between citizens regarded as free and equal. This is shown in the deeply contested ideas about how the values of liberty and equality are best expressed in the basic right and liberties of citizens as to answer the claims of both liberty and equality.«). 899 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993), S. 64. 900 Pikart/Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 (1993). S. 64.

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Die Diskurstheorie des Rechts

licher Verständigung konkret auszudifferenzieren und dabei in Abhängigkeit von den jeweiligen Zuständen stets neu zu interpretieren.

3.

Zum Verhältnis von Recht und Moral

Schließlich soll die Diskurstheorie noch in Bezug auf die in ihr inkorporierte, notwendige Verbindung von Recht und Moral kritisch betrachtet werden. Der Wertbezug des Rechts ist schon in den Grundbegriffen der Diskurstheorie angelegt und schlägt sich im Wege eines diskursiv ausgestalteten Rechtssetzungsverfahren schließlich auch auf das (positive) Recht durch. Habermas fokussiert dabei mit seiner These vom funktionalen Ergänzungsverhältnis den Ursprung und das Verfahren der Normgenese901, während Alexy sich auf das Ergebnis der Rechtssetzung bezieht und aus seiner Analyse des Sprechakts herleitet, das Recht erhebe einen Richtigkeitsanspruch.902 An der von den Diskurstheoretikern aufgestellten Verbindungsthese wird kritisiert, dass sie den Zusammenhang zwischen Recht und Moral schon deswegen nicht begründen könne, weil deren theoretischen Grundannahmen selbst nicht überzeugen können.903 Es wurde jedoch in den vorherigen Ausführungen bereits gezeigt, dass sich viele Einwände gegen die Diskurstheorie unter gewissen Ergänzungen oder Modifikationen ausräumen lassen. Sie können also keine Argumente gegen den von der Diskurstheorie postulierten Moralbezug des Rechts bereithalten. Deshalb wird im Folgenden zunächst die generelle Möglichkeit eines moralischen Kognitivismus kritisch hinterfragt, um anschließend das diskurstheoretische Verhältnis von Recht und Moral auf einem argumentativ abgesicherten Fundament zu reformulieren. a)

Die Möglichkeit der Erkenntnis moralischer Normen

Die Verbindungsthese steht unabhängig davon, wer sie vertritt oder kritisiert, vor dem Problem, dass sie Kriterien benennen muss, aus denen sich die moralische Richtigkeit von Normen überhaupt ableiten lässt. Dabei wird sowohl die ontologische als auch die deontologische Moralphilosophie mit zahlreichen Gegenargumenten konfrontiert. Will man die Richtigkeit eines Satzes – etwa im Sinne eines moralischen Realismus904 – dadurch beweisen, dass er Bezüge zu objektiven normativen Tatsachen in der realen oder 901 902 903 904

Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 135. Siehe auch Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht und Moral (1993). So Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 90. Siehe dazu bspw. Schaber, Moralischer Realismus (1997) und von der Pfordten (Hrsg.), Moralischer Realismus? (2015).

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einer idealen Welt herstellt, so stellt sich die Frage, wie solche moralischen Entitäten von den Individuen einer Gesellschaft überhaupt wahrgenommen und identifiziert werden können.905 Unklar ist außerdem, wie die Moral als Tatsache in die übrigen Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt einzuordnen ist.906 Will man die Richtigkeit eines normativen Satzes hingegen deontologisch – etwa im kantischen Sinne aprioristisch – begründen, muss ein bestimmtes menschliches Vernunftvermögen vorausgesetzt werden.907 Als Bestandteil der intelligiblen Welt liegt ein solches Kriterium aber außerhalb des tatsächlich Wahrnehmbaren und lässt sich daher nur im Wege einer spekulativen Annahme begrifflich konkretisieren.908 Aus dieser moralphilosophischen Sackgasse lässt sich die Diskurstheorie aber herausführen. Auch sie beruht – in der hier vorgestellten Variante – mit der Idee der kommunikativen Vernunft zwar auf einer aprioristischen Ethik, die davon ausgeht, dass der Einzelne, individuelle und intersubjektive Freiheiten zumindest aufgrund von historischen Erfahrungen einer dialektischen Synthese unterzieht.909 Diese Annahme ist aber keine bloße Spekulation. Sie begründet sich aus dem historisch-empirischen Befund, dass der Mensch zum Zweck seiner Selbsterhaltung und -verwirklichung auf den Mechanismus der normativen Verständigung angewiesen ist, weil nur so die Grundlage seiner Entfaltung in der Gesellschaft garantiert ist. Nun könnte ein solcher Argumentationsgang als Kategorienfehler bezeichnet werden, weil er deontologische mit ontologischen Argumenten verbindet. Fraglich ist aber vielmehr, ob einem solchen Vorwurf nicht schon eine fehlerhafte Kategorienbildung zugrunde liegt. Die Richtigkeitsfrage erschöpft sich nicht in monologischen Vernunfterwägungen über das Gute. Die Überlegung, ob eine bestimmte These richtig oder falsch ist, spielt sich zwar in der inneren Gedankenwelt ab, hat aber einen Bezug zu den faktischen Momenten der Lebenswelt.910 Als gut oder schlecht kann immer nur etwas beurteilt werden. Dieses Etwas ist eine faktisch existente Tatsache der Außenwelt

905 Vgl. dazu ausführlich Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre (1987) und knapp Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 90f. 906 So Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 91. 907 Siehe dazu ausführlich Albert, Kritik des transzendentalen Denkens. Von der Begründung des Wissens zur Analyse der Erkenntnispraxis (2003); siehe zu Kants Erkenntnislehre etwa Rohls, Geschichte der Ethik (1991), S. 290ff. 908 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 92. 909 Siehe dazu oben in diesem Kapitel III. 1. e) cc) und dd) (»Die funktionale Notwendigkeit des kommunikativen Handelns in demokratischen Rechtsstaaten« und »Die Plausibilität der Diskursregeln«) mit den entsprechenden Nachweisen. 910 Vgl. zu dieser Frage aus ideengeschichtlicher Sicht Kremer/Wolf, in: Ritter/Gründer/Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Ontologie.

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Die Diskurstheorie des Rechts

oder eine auf etwas Externes bezogene Vorstellung davon.911 Die Moralfrage ist demnach eo ipso strukturell weder nur ontologischer noch ausschließlich deontologischer Natur, sondern eine Synthese beider Kategorien. Deshalb ist die Begründung des kommunikativen Vernunftbegriffs mit Argumenten aus dem Reich der Tatsachen kein Kategorienfehler, sondern ganz im Gegenteil ein Gebot der Logik. b)

Der ursprüngliche Zusammenhang von Recht und Moral

Damit ist aber bisher nur die Möglichkeit einer Moralbildung als solcher erwiesen. Es wurde nicht erklärt, in welchem Zusammenhang sie zum Recht steht. Will man dieses Verhältnis beschreiben, drängen sich zwei unterschiedliche Fragen auf. Die erste ist die Ursprungsfrage, die zweite ist die Geltungsfrage. Die Ursprungsfrage thematisiert den Einfluss von Moralvorstellungen auf den Prozess der Rechtsgenese. Die Geltungsfrage bezieht sich darauf, ob eine positive Rechtsnorm dann ungültig ist, wenn sie einer eindeutig identifizierbaren Moralvorstellung widerspricht. Dies ist eine Frage der Rechtsanwendung. Sie bezieht sich auf einen möglicherweise auftretenden Konflikt, mit dem sich ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde bei der Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Rechtsnorm auseinandersetzen muss. Sie ist aber keine Frage der Rechtsbegründung und soll deswegen an dieser Stelle ausgeklammert werden. Zu beantworten ist folglich nur die Ursprungsfrage. Im demokratischen Rechtsstaat entstehen Rechtsnormen in einem Verfahren, das als rechtlich verfasster Diskurs ausgestaltet ist. Habermas versteht dies als einen Prozess der Selbstgesetzgebung einer kommunikativ handelnden Gemeinschaft.912 Die Legitimität eines Rechtssetzungsaktes ergibt sich dabei »aus Verständigungsprozessen, die sich einerseits in der institutionalisierten Form von Beratungen in parlamentarischen Körperschaften sowie andererseits im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen.«913 Beide Kommunikationsformen bilden »Arenen, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und regelungsbedürftige Materien stattfinden kann.«914 Unter solchen Bedin911 Genau dies ist der Mechanismus, der dem Habermasschen Universalisierungsgrundsatz zugrunde liegt. Durch den universellen Rollentausch wird die innere Einsicht in die moralische Richtigkeit einer Norm durch den Bezug zur Außenwelt (alle anderen Diskurstielnehmer) hergestellt; vgl. dazu Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 2. Aufl. (1997), S. 11, 60. 912 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 154f. 913 Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen (1997), S. 277, 288. 914 Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen (1997), S. 277, 288.

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gungen gelangt »in der Positivität des Rechts nicht die Faktizität eines beliebigen, schlechthin kontingenten Willens zum Ausdruck, sondern der legitime Wille, der sich einer präsumtiv vernünftigen Gesetzgebung politisch autonomer Staatsbürger verdankt.«915 Der Ursprung einer Rechtsnorm liegt damit zunächst einmal in einem kommunikativen Verfahren der normativen Verständigung über die Richtigkeit eines potentiellen Rechtssatzes. Weil das Gesetzgebungsverfahren jedoch äußeren Zwängen unterliegt und weil sich ein endgültig richtiger, von allen Diskursteilnehmern konsentierter Satz in wertepluralistischen Gesellschaften nur im seltensten Fall erzeugen lässt, kann das Gesetzgebungsverfahren nicht darauf angelegt sein, einen Konsens aller Beteiligten zu verlangen, sondern nur eine Mehrheit: »Wegen ihres internen Zusammenhanges mit einer deliberativen Praxis begründet die Mehrheitsregel die Vermutung, daß die fallible Mehrheitsmeinung bis auf weiteres, nämlich bis die Minderheit die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Auffassung überzeugt hat, als vernünftige Grundlage einer gemeinsamen Praxis gelten darf.«916

Anders als der praktische Diskurs verzichtet der demokratische Rechtssetzungsdiskurs damit auf das im Diskursprinzip – zumindest idealiter – angelegte Konsensprinzip und ersetzt dieses aus pragmatischen Gründe durch eine Majoritätsregel. Deswegen kann ein Rechtssatz nicht per se der Ausdruck einer bestimmten allgemeingültigen Moralvorstellung sein. In ihm spiegelt sich im Regelfall nicht die Akzeptanz aller Diskursteilnehmer einer Gesellschaft ab, sondern nur die Akzeptabilität des Ergebnisses vor dem Hintergrund eines Prozesses, in dem die Diskursregeln garantiert sind. Gleichsam akzeptiert ist also im Regelfall nur das Verfahren, nicht aber die Norm. Im Geltungsursprung des Rechts beschränkt sich der Einfluss der Moral also auf die formelle Legitimität des Rechtssatzes, dem aber materielle normative Vorstellungen zugrunde liegen. Das Recht ist daher nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar mit der Moral verbunden. In der Diskurstheorie konstituieren und beschränken sich Recht und Moral also ursprünglich gegenseitig. Durch die pragmatisch bedingte Modifikation des Rechtsdiskurses wird der moralische Universalitätsanspruch zwar auf seine formelle Richtigkeit verkürzt, die Legitimität eines Rechtssatzes dadurch aber gerade erst ermöglicht.

915 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 51. 916 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. (1992), S. 371.

5. Kapitel: Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

Auf der Grundlage einer so interpretierten, diskurstheoretischen Gesellschafstheorie lässt sich das Strafrecht schließlich kohärent und plausibel begründen. Dafür ist zunächst zu beleuchten, welche Bedeutung ein Strafrechtsverstoß im Konzept der Diskursethik überhaupt hat (I). Anschließend ist zu klären, aus welchen abstrakten Gründen es als Reaktion auf eine solche Tat der Strafe bedarf (II). Vor diesem Hintergrund lassen sich schließlich die Fragen beantworten, woraus der Staat sein ius puniendi bezieht und welche Grenzen sich für ihn daraus ergeben (III).

I.

Die Wirkungen der Straftat im diskursethischen Konzept

Tragend für das Verständnis der Straftat ist der bereits ausführlich dargelegte Befund, dass die Diskursteilnehmer sich im Rahmen einer demokratisch ausgestalteten normativen Verständigung auf die Verbindlichkeit einer bestimmten Rechtsnorm einigen. Strukturell lässt sich dieser Prozess mit Günther917 – freilich verkürzt – folgenderweise darstellen: Einigen sich Ego und Alter auf eine Verhaltensnorm, so tut Ego dies unter der Bedingung, dass auch Alter sich in Zukunft normentsprechend verhalten wird. Bricht Alter die Verbotsnorm, so bricht er auch den im praktischen Diskurs hergestellten Konsens, weil die Zusage der Normbefolgung durch Alter notwendige Bedingung für Egos Zustimmung war.918 Weil im Diskurs – wie im Folgenden noch zu sehen sein wird919 – nur bestimmte, für die Stellung des Individuums in der Gesellschaft elementare Positionen als strafwürdig identifiziert werden, wiegt der Verstoß gegen die Verbotsnorm besonders schwer. Die Straftat wirkt sich dadurch konkret in dreierlei Hinsicht aus. 917 Günther, Möglichkeiten einer diskursethischen Begründung des Strafrechts, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 207. 918 Günther, Möglichkeiten einer diskursethischen Begründung des Strafrechts, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 207. 919 Siehe dazu unten Abschnitt III. 2. (»Strafrechtskritik im praktischen Verfassungsdiskurs«).

170

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

Erstens ist mit ihr die Verletzung oder Gefährdung eines bestimmten Schutzgegenstandes verbunden. Die Straftat ist damit zunächst einmal der Angriff auf die Position des Anderen. Der Begriff des Anderen umfasst die Außenwelt des Täters, also das andere Individuum, den Staat oder die Gesellschaft. Zweitens ist sie auch ein Angriff auf das die Norm legitimierende normative Einverständnis unter den Mitgliedern einer Gesellschaft und damit der kommunikative Ausdruck der Nichtgeltung einer im Diskurs hergestellten Norm. Sie tangiert nicht bloß punktuell eine bestimmte Sphäre des Einzelnen, der Gesellschaft oder des Staates, sondern sie berührt die Norm selbst: In dem Verstoß gegen eine Strafnorm ist die expressiv gewordene Haltung zu erkennen, sich an einen im demokratischen Diskurs hergestellten Konsens nicht gebunden zu fühlen. Sie ist damit obendrein ein Angriff auf die Normgeltung, auf die Geltung des Rechts in einem objektiven Sinne. In der Straftat offenbart sich also die Existenz eines normnegierenden, rein subjektiven und damit in der hegelschen Terminologie bloß scheinbaren, in der diskursethischen Terminologie bloß monologischen Willens. Drittens berührt die Straftat den Täter selbst. Sie offenbart einen Widerspruch zwischen seiner äußerlich erkennbaren Handlung und seiner inneren kommunikativen Vernunft. Die Diskurstheorie basiert auf einem Vernunftbegriff, in dem der Einzelne die Fähigkeit zur dialektischen Synthese von individualistischer und intersubjektivistischer Freiheit besitzt, die sich schließlich in den demokratisch erzeugten Rechtsnormen expliziert. Im Verstoß gegen die Norm bringt der Täter dann nur einen scheinbaren, einen unvollkommenen und individualistischen Freiheitsbegriff zum Ausdruck. Die Straftat ist damit ganz wie bei Hegel »Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt (…).«920 Der sichtbar gewordene Wille des Täters »kommt über seine Subjektivität nicht hinaus«921, die erkennbar gewordene Negation der Freiheit des anderen provoziert einen Widerspruch zu der intrinsischen, kommunikativen Vernunft des Täters. Der Verstoß gegen eine Strafnorm ist damit zuletzt ein Angriff des Täters gegen sich selbst. Er negiert nicht nur den anderen und die Norm, sondern auch sein eigenes rationales Wesen.

920 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1840), S. 52; vgl. dazu ausführlich Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 278f. 921 So auch Sinns Interpretation der hegelschen Strafrechtstheorie, vgl. dazu ders., Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 278.

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Strafe

II.

Strafe

Damit ist aber noch nicht geklärt, warum die Gesellschaft als Reaktion auf dieses Verhalten das Mittel der Strafe einsetzt. Dafür bedarf es an dieser Stelle eines Rückgriffs auf die Strukturen der normativen Verständigung. In ihnen ist ein diskurstheoretisches Problem angelegt, das Habermas folgenderweise beschreibt: »Gewiß bedeutet ein gültiges moralisches Urteil auch eine Verpflichtung zu einem entsprechenden Verhalten; (…) Aber Einsicht schließt Willensschwäche nicht aus. Ohne Rückendeckung durch entgegenkommende Sozialisationsprozesse und Identitäten, ohne den Hintergrund entgegenkommender Institutionen und normativer Kontexte kann ein moralisches Urteil, das als gültig akzeptiert wird, nur eines sicherstellen: der einsichtige Adressat weiß dann, daß er keine guten Gründe hat, anders zu handeln.«922

Weil die im demokratischen Diskurs erzeugten Normen das Resultat der Diskussion unterschiedlicher Geltungsansprüche sind, bezieht eine Rechtsnorm ihre Legitimität aus der argumentativen Begründung durch die Beteiligten, was aber noch nicht garantiert, dass der erzielte Konsens auch koordinationswirksam wird. Günther bringt dieses Problem auf den Punkt: »Gute Gründe können nur von der Gültigkeit einer Norm überzeugen (…). Gute Gründe können aber keine faktische Normbefolgung gewährleisten. Das moralische Sollen erkauft seine Universalität daher mit praktischer Ohnmacht.«923

Die innere Einsicht in die Richtigkeit einer Norm oder zumindest in die ihrer Genese zugrundeliegenden formellen Strukturen entfaltet also an sich noch keine Handlungsmotivation. Weil in der postmetaphysischen Zeit aber auch keine gleichsam von allen Diskursteilnehmern geteilten Werte vorzufinden sind und die Gesellschaft daher auf formelle, rechtsförmige Einigungsmechanismen angewiesen ist924, bedarf es der Sicherung und Bestätigung elementarer Rechtssätze925 mittels des Instituts der Kriminalstrafe. Komplementär zu den mit der Straftat verbundenen drei Angriffen des Täters auf den anderen, auf die Norm und gegen sich selbst, lässt sich auch der Strafzweck in dreierlei Hinsicht begründen. Erstens werden die durch die Straftat konkret tangierten Positionen des Anderen durch den Schuldspruch konkret bestätigt. Die in der Tat zum Ausdruck 922 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 119, 135. 923 Günther, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 205, 207. 924 Dazu ausführlich 4. Kap., II 1. (»Die formale Begründung der Rechtsidee«). 925 Ausführlich zu den »elementaren Rechtssätzen« in diesem Kapitel III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«).

172

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

kommende Negation der Rechtssphäre des anderen wird durch den Schuldspruch wiederum negiert, die Position des anderen dadurch konfirmiert. Zweitens enthält der Schuldspruch auch die abstrakte, kommunikative Bestätigung der Geltung der Norm selbst. Ego muss einen guten Grund haben, die Norm weiterhin als legitim zu erachten. Alters Normangriff erfährt durch den Schuldspruch eine Reaktion in Form einer für die Gesellschaft geäußerten Negation seines Verhaltens. Damit kommt zum Ausdruck, dass die der Norm zugrundeliegende Verständigung aufrechterhalten bleibt, jedenfalls nicht durch einen einzelnen Täter monologisch zur Disposition gestellt werden kann. Der Schuldspruch dient damit der Aufrechterhaltung und Bestätigung der Rechtsnorm. Drittens wird auch die Person des Täters bestätigt. Durch den Strafrechtsverstoß scheint sich der Täter nach außen hin aus der Gemeinschaft der kommunikativ Vernünftigen zu entlassen, weil er nur ein subjektiviertes, ein irrationales Verständnis von Freiheit zum Ausdruck bringt. Dieser hier entfaltete Gedanke lässt sich als diskurstheoretische Übersetzung der hegelschen Straftheorie verstehen: In der Straftat ist die Gefahr der Selbstdesavouierung enthalten, der Täter gibt sich in Bezug auf seine Fähigkeit zu kommunikativer Vernunft als Unperson. Weil die Gesellschaft aber grundsätzlich jedes Mitglied als freie und vernünftige Person versteht, negiert sie den Angriff des Täters gegen seine eigene Vernunft und bestätigt ihn damit als Person: »Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er als unter sein Recht subsumiert werden darf.«926

Er wird weiterhin als Mensch mit der Fähigkeit zur kommunikativen Vernunft betrachtet, er findet in der Strafe die Ehrung seiner Person: »Ferner ist [es] nicht nur der Begriff des Verbrechens, das Vernünftige desselben an und für sich, mit oder ohne Einwilligung der Einzelnen, was der Staat geltend zu machen hat, sondern auch die formelle Vernünftigkeit, das Wollen des Einzelnen, liegt in der Handlung des Verbrechers. Daß die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt.«927

Mit der Bestimmung dieser drei Strafzwecke ist aber die Strafbegründung keineswegs vollständig, da sie allesamt nur die kommunikative Bedeutung der Strafe, die Missbilligung durch den Schuldspruch erklären können. Mit der Strafvollstreckung sind demgegenüber faktische Eingriffe verbunden, die sich in 926 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 100; ähnlich Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. (1932), Studienausgabe (1999), S. 81 [»(…) wie man Geschmack, Gewissen und Verstand nicht nach Belieben ausschalten kann, so selbst der Verbrecher das Rechtsgefühl, das ihn an seine Norm bindet, dadurch nicht abschütteln kann, daß er sie übertritt.«]. 927 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 100.

Strafe

173

zwangsweise durchgesetzten Geld-, Freiheits- oder Nebenstrafen äußern. Nun stellt sich die Frage, was die Notwendigkeit dieser zusätzlichen Freiheitseingriffe erzwingt, warum die im Schuldspruch liegende kommunikative Negation des Täterverhaltens nicht ausreichend ist. Maßgeblich für die Antwort auf diese Frage ist, dass die rein sprachliche Kommunikation mit dem Täter nur den die Norm negierenden Sinngehalt seiner Äußerung ausräumt. Sie macht nur deutlich, dass der Täter gegen eine Norm verstoßen hat und dass dieser Verstoß de lege lata als besonders elementar anzusehen ist. Was aber mit dieser Äußerung noch nicht ausgedrückt wird, ist die Tatsache, dass der Staat außerhalb eines öffentlichen Diskurses mit dem Täter nicht in einen Dialog über die Geltung der von ihm verletzten Norm eintritt. In der Diskurstheorie können auch staatlich erhobene Geltungsansprüche – entweder außerhalb oder innerhalb rechtlicher Verfahren – ausschließlich mit dem sprachlichen Argument hinterfragt und auf den Prüfstand gestellt werden. Die bloß kommunikative Antwort auf den Normverstoß des Täters reicht nicht aus, um diesen Grundsatz zu bestätigen, denn der staatliche Vorwurf würde vom Täter nicht als definitiv gewertet. Gegebenenfalls wäre er gar als die Äußerung eines intersubjektiven Geltungsanspruchs zu verstehen, der sich mit einem besseren Argument ausräumen ließe. Dies mag auf den ersten Blick insofern widersprüchlich erscheinen, als dass der in der vorliegenden Arbeit vertretene Ansatz auf einer Idee der kommunikativen Vernunft beruht, was sich bei der Analyse des Strafzwecks dann auch derart abbilden müsste, als dass der Täter als kommunikativ vernünftiges Wesen allein durch die Ansprache der Gesellschaft (Schuldspruch) motiviert würde, seinem diskursiven Intellekt folgend, die Tat nicht zu wiederholen. Eine solche Sichtweise ließe allerdings einen bedeutsamen Aspekt außer Betracht. Denn die Arbeit hat gezeigt, dass sich die Idee des kommunikativen Handelns und die Diskursregeln schlicht nicht als alternativlos letztbegründen, sondern »nur« als überaus plausibel ausweisen lassen. Deshalb muss eine Gesellschaft auch berücksichtigen, dass Einzelne den Diskursregeln in bestimmten Situationen möglicherweise nicht folgen und insofern gegenüber einer bloß sprachlichen Reaktion der Gesellschaft taub sind. Weil aber die Ideen von Freiheit und Gleichheit als plausible und zugleich konstitutive Prämissen für funktionierende Gesellschaften ausgewiesen werden können, müssen die übrigen Diskursteilnehmer den Täter trotzdem als gleichsam kommunikativ vernünftiges Wesen verstehen, das zumindest unter der Bedingung der Auferlegung eines zusätzlichen faktischen Übels in der Lage ist, die Grundbedingungen des gesellschaftlichen Lebens anzuerkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Dass die rein kommunikative Ansprache in diesem Zusammenhang nicht ausreichen kann, hat wiederum zwei Gründe. Erstens hat der Täter schon durch die Straftat zum Ausdruck gebracht, dass er die in den strafrechtlichen Gesetzen enthaltenen kommunikativen Imperative der Gesellschaft nicht anerkennt. In-

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Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

sofern hat er erkennen lassen, dass allein die Ansprache des Gesetzes ihn nicht motivieren konnte, die dort konkretisierten gesellschaftlichen Geltungsansprüche zu befolgen, so dass auch nicht zu erwarten ist, dass bloß eine weitere kommunikative Einwirkung auf den Täter dazu führt, dass er die Tat nicht wiederholt. Zweitens und weitaus bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang die Berücksichtigung der Außenperspektive. Denn für die übrigen Diskursteilnehmer könnte das Verhalten des Straftäters eine normative Verunsicherung bewirken, wenn der vom Täter geäußerte Geltungsanspruch, im intersubjektiven Verhältnis die strafrechtlich geschützten Positionen nicht anzuerkennen, ohne faktische Folgen bliebe. Dies gilt umso mehr, als dass auch der Straftäter zwangsläufig von der Außenwelt als kommunikativ vernünftiges Wesen begriffen wird. Diese generalpräventive Wirkung der Strafe ist bereits in der – üblicherweise weithin als Vergeltungsdenken identifizierten Straftheorie Hegels928 – angelegt: »Wenn ich ein Verbrechen begehe, so thue ich nicht nur etwas was für mich gelten soll, sondern als denkendes Wesen, thue ich etwas allgemeines, stelle ein Gesetz damit auf, was gelten soll, das Gültigkeit haben soll, nicht nur für mich, sondern als allgemeines Dasein gesetzt sein soll.«929

So verstanden hat die Strafe die »Funktion der Sicherung des gesellschaftlichen Konsenses über die vernünftigen Grundbedingungen menschlicher Kommunikation.«930 Ohne den Vollzug der Strafe würde der scheinbare, der monologisch entfaltete Wille des Einzelnen in der Außenwelt weiterhin Anspruch auf Richtigkeit erheben, eine normative Verunsicherung und infolgedessen die »Gefahr der Nachahmung« zur Folge haben.931 Insofern bedarf es – um mit Luhmann932 zu

928 Siehe zu dieser und anderen Interpretationen Merle, Jahrbuch für Recht und Ethik (2003), Vol. 11, S. 145ff. 929 Ilting (Hrsg.), Hegel, Vorlesungen, Bd. 4, Griesheim Nachschrift, S. 284. 930 Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280. 931 So auch Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280 (»Würde nicht gestraft werden, so würde der unvernünftige, scheinbar freie Wille den Anspruch auf Allgemeinheit weiter erheben und es bestünde die Gefahr der Nachahmung.«); außerdem Ilting (Hrsg.), Hegel, Vorlesungen, Bd. 4, Griesheim Nachschrift, S. 284 (»Die Verletzung des Verbrechens ist daher anzubringen, zu wenden gegen den Willen des Verbrechers, dieß Dasein muß aufgehoben werden, und dieß Aufheben des Dasein ist die Wiederherstellung des Rechts. Wäre dieß Aufheben nicht so würde dieß Dasein das sich der Wille des Verbrechers giebt Sein der Freiheit sein, würde gelten.«); vgl. auch Schild, Die unterschiedliche Notwendigkeit des Strafens, in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muss sein! Muss Strafe sein? Philosophen – Juristen – Pädagogen im Gespräch, Kritisches Jahrbuch der Philsophie, Beiheift 1 (1998), 81 (104) und ders., FS Wolff (1998), S. 429, 434. 932 Wenngleich sich die Systemtheorie für die Begründung eines extrasystematischen Verbrechensbegriffs als ungeeignet herausgestellt hat, so wurde bereits oben (vgl. dazu 3. Kap., IV. 3. (»Kritik«) darauf hingewiesen, dass sie für die systematische Beschreibung des Rechts

Strafe

175

sprechen – einer mächtigen kommunikativen Ansprache durch das Recht als symbolisch-generalisiertes diskursives Medium, um die in den Strafgesetzen enthaltenen Ge- und Verbote durch negative Sanktionen kommunikativ wahrscheinlich zu machen.933 Der Staat muss daher seiner kommunikativen Äußerung einen faktischen Ausdruck hinzufügen, der klarstellt, dass es sich bei der verletzten Strafnorm um eine definitive, außerhalb des Diskurses nicht monologisch zur Disposition stellbare Aussage handelt.934 Versteht man die Strafe in diesem Sinne, so ist sie zum einen speziell, weil sie in Bezug auf eine konkrete Tat sowohl kommunikativ als auch faktisch die Sicherung der verletzten Strafnorm bezweckt und den Einzelnen weiterhin als Vernünftigen begreift und ihn dementsprechend nicht aus der Gemeinschaft der kommunikativ Handelnden ausgrenzt.935 Sie ist aber zugleich auch allgemein, weil sie den in der Straftat enthalten Ausdruck einer scheinbaren Unvernunft nach außen negiert und damit für alle anderen Kommunikationsteilnehmer die Bestätigung der Normgeltung und damit abstrakt die »Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung« explizit macht.936 Hegel und Habermas, die in ihrer Kritik der subjektzentrierten Philosophie der Aufklärung zwar übereinstimmten, deren Wege sich jedoch sodann am Begriff der Vernunft geschieden haben937, lassen sich letztlich in den Begriffen der Strafe und des Verbrechens wiedervereinen. In der Diskursethik ist die Straftat ein scheinbar unvernünftiges Handeln, weil der Täter durch seine Tat zum Ausdruck bringt, die Geltungskraft einer im praktischen Diskurs erzeugten Norm könne außerhalb eines Diskurses monologisch in Frage gestellt werden. Darin liegt aber ein Selbstwiderspruch zu seiner eigenen kommunikativen Vernunft, die ihn über das Medium der Sprache mit der Fähigkeit zu einer intersubjektiven Dialektik des Selbstbewusstseins auszeichnet.938 Auch bei Hegel ehrt die Strafe den Verbrecher als Vernünftigen. In der Tat offenbart sich gleichsam ein Selbstwiderspruch, denn »der Wille des Verbrechers

933 934 935 936

937 938

überaus gewinnbringend ist, weshalb an dieser Stelle auch auf den beschriebenen intrasystematischen Mechanismus zurückgegriffen wird. Vgl. dazu auch Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 100. Vgl. Ilting (Hrsg.), Hegel, Vorlesungen, Bd. 4, Griesheim Nachschrift, S. 284. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280. Vgl. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280 mit Verweis auf BVerfGE 45, 255f.; außerdem Ilting (Hrsg.), Hegel, Vorlesungen, Bd. 4, Griesheim Nachschrift, S. 284; Schild, Die unterschiedliche Notwendigkeit des Strafens, in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muss sein! Muss Strafe sein? Philosophen – Juristen – Pädagogen im Gespräch, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Beiheift 1 (1998), 81 (104). Siehe dazu oben 4. Kap., III 2. (»Zur Begründung der Diskursregeln«). Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1985). S. 9ff. und oben 4. Kap., Abschnitt I. 3. e) (»Zur Begründung der Diskursregeln«).

176

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

kommt über seine Subjektivität nicht hinaus und kann somit nicht zum Wahren und Wirklichen werden. Er hat nicht mehr als die Form eines freien Willens und die Handlung bleibt deshalb auch nur eine Hülle – ist Tat.«939 Weil Vernunft bei Hegel aber ein absoluter Begriff ist940 und das Absolute die Synthese von Subjektivem und Objektivem voraussetzt, ist die Tat bei Hegel nur die Handlung eines scheinbar Vernünftigen. Sowohl in der Diskurstheorie als auch in der hegelschen Philosophie ist der Strafzweck demnach in die »Zukunft gerichtet«.941 Die Strafe geht hier nicht im Zwecke einer Vergeltung des Vergangenen auf. Sie geschieht für den Täter, um ihn als »wirklich frei«942 zu begreifen und zugleich für die Gesellschaft, um den in der Straftat enthaltenen, unvollständigen Ausdruck scheinbarer Vernunft zu negieren und diesen nicht »zum Vorbild aller werden zu lassen«943.

III.

Ein diskurstheoretischer Straftatbegriff

Zuletzt bleibt die schwierige Frage zu beantworten, ob sich aus der hier vertretenen Gesellschaftstheorie herleiten lässt, welche Gegenstände mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden dürfen. Zu untersuchen ist also, ob sich aus ihr ein kritischer Straftatbegriff ergibt und – falls ja – welche inhaltlichen Kriterien er aufstellt.

1.

Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit

Dafür ist zunächst einmal die – weitaus seltener hinterfragte – These zu begründen, dass das Strafrecht überhaupt Grenzen haben, dass es sich nicht auf jeden Bereich menschlichen Verhaltens erstrecken, dass nicht jede Verbotsnorm mit dem Mechanismus der Strafe ausgestattet sein soll. Diese Forderung nach einem begrenzten, fragmentarischen Strafrecht ergibt sich aus dem hier vertretenen Freiheitsbegriff. In ihm sind zwei Momente enthalten: Er enthält auf der einen Seite die Garantie eines individualistischen, egozentrisch motivierten Freiheitsgebrauchs, auf der anderen Seite aber auch einen an der kommunikativen Vernunft ausgerichteten intersubjektivistischen

939 940 941 942 943

Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 278. Vgl. dazu Schnädelbach, Vernunft (2007), S. 111. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280f. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 278. Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten (2007), S. 280.

Ein diskurstheoretischer Straftatbegriff

177

Bereich menschlicher Freiheit. Diese beiden Elemente sind – wie gezeigt944 – keine unauflösbaren Widersprüche, sondern begründen und begrenzen sich gegenseitig und bilden eine Antinomie der Freiheit. Dabei ist es der individualistische Bestandteil dieser Antinomie, der eine möglichst weitgehende Beschränkung staatlicher Machtausübung und staatlicher Eingriffe in subjektive Rechte verlangt. Daraus ergibt sich, dass das Mittel der Strafe als der intensivste staatliche Eingriff in individuelle Freiheiten nur zum Schutz besonderer, von der Gesellschaft als elementar eingestufter Gegenstände der gemeinsamen Lebenswelt eingesetzt werden darf. Andernfalls würde sich das besagte antinomische Spannungsverhältnis zulasten individueller Freiheiten verschieben. Die Forderung nach einem fragmentarischen Strafrecht verstärkt sich umso mehr, wenn man sich vor Augen hält, dass dieser dualistische Freiheitsbegriff die Grundlage stabiler Gesellschaften ist. Umgekehrt ergibt sich aus dem intersubjektiven Bestandteil der Freiheitsidee aber auch die Notwendigkeit der Begrenzung individualistischer Freiheit im Sinne einer dialogisch verstandenen Freiheit des einen vor der Freiheit des anderen. Zur Bestätigung dieser kommunikativen Freiheiten setzt eine Gesellschaft aufgrund der bereits beschriebenen Wirkungsmechanismen das Mittel des Strafrechts ein. In der Antinomie einer sowohl individualistisch als auch diskursiv begründeten Freiheit ist damit zugleich die Legitimation und die Begrenzung des Strafrechts enthalten. Um letztlich die Frage nach der Möglichkeit eines materiellen Verbrechensbegriff beantworten zu können, muss dargelegt werden, welche elementaren Gegenstände es sind, deren Schutz und Bestätigung eine Gesellschaft zum Schutze kommunikativer Freiheiten mit dem Mittel des Strafrechts belegen darf. Wie bereits erläutert ist die Grundvoraussetzung für die Sozialintegration und damit für ein friedliches Zusammenleben der intersubjektive Bestandteil subjektiver Rechte. Diese Rechte sind das normative Minimum einer Gesellschaft, unter dem sich Individuen überhaupt verständig aufeinander einlassen. Sie lassen sich jedoch abstrakt nur formal beschreiben und unterliegen einem sich permanent vollziehenden und wandelnden Konkretisierungsprozess, der sich auf einen normativen Fixpunkt in Form verfassungsrechtlich verbürgter Grundrechte bezieht. Das Strafrecht ist ein Abbild dieses Konkretisierungsprozesses. Es lässt sich als Ausdruck derjenigen intersubjektivistischen Freiheitsgarantien verstehen, die den Bestand der Gesellschaft garantieren. Dies sind all die Rechtspositionen, ohne deren Geltung das Netzwerk intersubjektiver Verständigung zerreißen würde: Das sind subjektive Rechte in ihrer zwischenmenschlichen Bedeutung

944 Vgl. dazu oben 4. Kap., III. 2. (»Zur Begründung der Diskursregeln«).

178

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

und die dazugehörigen gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen.945 Damit erstreckt sich der staatliche Strafzugriff auf die Garantie und die Bestätigung von Freiheiten in intersubjektiven Zusammenhängen. Das Strafrecht ist der gegenwärtige Ausdruck solcher Freiheiten in der postmetaphysischen und demokratischen Gesellschaft. Mit einem solchen diskursethischen Strafrechtsverständnis ist – wie Günther zutreffend beschreibt – ein notwendiger »Reflexionsschritt« hinter die bisherigen Strafrechtsbegründungstheorien getan, indem die Aufgabe des Strafrechts nicht auf Ethiken, Werte oder Erwartungssicherung bezogen wird, »sondern auf diejenigen Bedingungen (…), unter denen wir uns überhaupt normativ verständigen können.«946 Wie genau eine Gesellschaft das Spannungsverhältnis der Freiheit in einem Diskurs exakt auflöst, lässt sich aber gerade wegen dieses hohen Abstraktionsniveaus nicht antizipieren und damit auch nicht im Rahmen eines materiellen Straftatbegriffs konkret erfassen. Auf den ersten Blick mag dies als gewichtiger Einwand gegen die Diskurstheorie gewertet werden. Allerdings hat die Arbeit gezeigt, dass alle anderen Ansätze nicht in der Lage sind, die normativen Fixpunkte eines Strafrechtssystems widerspruchsfrei herzuleiten. Insofern liegt in dem hohen Abstraktionsgrad der Diskurstheorie gerade der Schlüssel zu einem konsequenten Strafrechtsverständnis, aus dem sich zwar keine konkreten, aber immerhin generelle Aussagen über den Begriff des Verbrechens herleiten lassen, die im praktischen Verfassungsdiskurs zu finden sind.

2.

Strafrechtskritik im praktischen Verfassungsdiskurs

Die fundamentalen, leitenden Argumentationsstrukturen für die Verbrechensbestimmung im praktischen Diskurs sind die verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte als normative Fixpunkte. Sie sind die Leitideen, das Substrat intersubjektiver Verständigung. Rationale und kritische Strafrechtsreflexion muss sich daher im Rahmen eines praktischen Verfassungsdiskurses vollziehen. Zur Bestimmung der Verfahrensbedingungen eines praktischen Verfassungsdiskurses bietet sich eine Übersetzung der diskurstheoretischen Strafrechtsbegründung in die Verfassungsdogmatik an. Wie sich das Strafrecht vor den »Schranken der Grundrechte« legitimieren lässt, hat vor allem Lagodny präzise und umfassend 945 Ähnlich Günther, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann, Recht und Moral (1991), S. 205, 209 (»Das Strafrecht schützt elementare Aspekte meiner Rolle als Teilnehmer an Interaktionen, nämlich diejenigen Rechte, ohne deren wechselseitige Anerkennung durch die Interaktionsteilnehmer das intersubjektive Netzwerk reziproker Verständigung zerreißen würde. Es wäre daher zu überlegen, ob die Aufgabe des Strafrechts im Lichte der Diskursethik nicht wieder auf den Schutz subjektiver Rechte bezogen werden müßte.«). 946 Günther, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann, Recht und Moral (1991), S. 205, 210.

Ein diskurstheoretischer Straftatbegriff

179

dargelegt.947 Daher werden im Folgenden nur die wesentlichen, für eine diskurstheoretische Strafrechtsbegründung besonders bedeutsamen, verfassungsrechtlichen Implikationen erläutert. a)

Zur Stellung und Potenz der Kriminalpolitik

Zunächst einmal gilt es zu klären, welche Bedeutung kriminalpolitische Äußerungen im Rahmen einer diskursethischen Betrachtung des Strafrechts überhaupt haben. Im gesamtgesellschaftlichen System ist die Kriminalpolitik als ein Feld der wissenschaftlichen Betätigung zu verstehen, innerhalb der die Mitglieder einer Gesellschaft in Bezug auf das Strafrecht bestimmte Geltungs-ansprüche erheben und begründen. Die Kriminalpolitik ist ein wichtiger Teilbereich einer kritischen autonomen Öffentlichkeit und damit ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Strafrechtsdiskurses. Die Einstufung eines Strafgesetzes als legitim oder illegitim vermag der Einzelne allerdings nicht monologisch zu begründen. Er trägt vielmehr Gründe zusammen, die als solche den Diskurs beeinflussen können. Strafrechtskritisches Denken kann dabei zwar den Anspruch erheben, einen bestimmten Straftatbestand als legitim oder illegitim zu bezeichnen. Darin drückt sich allerdings nur eine monologische These aus, die im weiteren Verlauf der Diskussion auf den Prüfstand gestellt werden wird. b)

Die mit der Strafe verbundenen Grundrechtseingriffe

Die staatliche Strafe ist in ihrer kommunikativen Bedeutung ein Eingriff in den vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfassten Schutz des sozialen Ehr- und Achtungsanspruches.948 Im durch den Schuldspruch bestätigten Kriminalvorwurf ist die kommunikative Negation des Täterverhaltens und seiner Folgen für den anderen, die Norm und ihn selbst enthalten. Sie ist diskurstheoretisch gesehen zwangsläufig eine »moralische« Kommunikation, weil sie aussagt, dass der Täter gegen einen normativen und damit wertbezogenen elementaren Bestandteil der Gesellschaft verstoßen hat. Der Kriminalvorwurf ist deswegen ein massiver Eingriff, weil er stellvertretend von, zugleich aber auch vor der Gesellschaft erhoben wird.949 Das »zweite Übel«, also Geld-, Freiheits- oder Nebenstrafe beeinträchtigt unterschiedliche Grundrechte. Durch die Freiheitsstrafe greift der Staat in das Recht auf körperliche Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ein. Die 947 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996). 948 Vgl. dazu ausführlich Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 115. 949 So auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 123.

180

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

Geldstrafe und mögliche Nebenstrafen tangieren die allgemeine Handlungsfreiheit, möglicherweise auch andere Freiheitsgrundrechte.950 Mit diesen faktischen Grundrechtseingriffen setzt der Staat dem monologischen Ausdruck der Nichtgeltung durch den Täter ein adäquates Gegengewicht und stellt klar, dass die in den Strafrechtssätzen enthaltenen gesellschaftlich konstituierten Normen nicht durch deren Verletzung, sondern nur mit Argumenten zur Disposition gestellt werden dürfen. c)

Zur Limitierung des ius puniendi auf die Bestätigung und die Garantie des kommunikativen Gehalts subjektiver Rechte

Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ist zunächst zu betonen, dass die formelle Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm bei einer diskurstheoretischen Betrachtung eo ipso eine starke normative Kraft hat, weil sie Ausdruck eines diskursiven, demokratischen Diskurses ist. In der Diskurstheorie des Rechts versteht sich der Einzelne – wie gezeigt – sowohl als Erzeuger als auch als Adressat einer Rechtsnorm. Jede demokratisch erzeugte, oder im Rahmen eines praktischen Diskurses affirmierte Strafnorm besitzt daher eine hohe prozedurale Legitimationskraft. Gleichwohl ist die formelle Gültigkeit einer Norm in zeitlicher Hinsicht relativ, denn jeder darf im Rahmen des Diskurses auch die staatlichen Geltungsansprüche zur Disposition stellen. Verfassungsdogmatisch betrachtet findet der inhaltliche Diskurs über die Legitimität einer Strafnorm dann im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, welche die mit dem Strafeingriff verbundenen Eingriffe zu den mit ihr protegierten Gegenständen wertend in Bezug setzt. Sie vollzieht sich üblicherweise in der Identifikation eines legitimen Schutzzwecks, der Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Strafeingriffs zu diesem Zwecke und einer abschließenden wertenden Abwägung von verletztem und geschütztem Grundrecht.951 Innerhalb dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung entfaltet sich nun ein abstraktes, in der diskurstheoretischen Strafrechtsbegründung selbst angelegtes liberales Potential. Es muss an dieser Stelle wiederholt werden, dass sich aus der antinomischen Idee der Freiheit eine Begrenzung des staatlichen Strafzugriffs auf die Bestätigung und die Garantie von Freiheiten in zwischenmenschlichen Dimensionen ergibt. Deren diskursive Identifikation findet in einem Bezug zu den im Grundgesetz verankerten subjektiven Rechten statt. 950 Siehe dazu ausführlich Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 133ff. 951 Siehe dazu aus der jüngeren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur BVerfGE 109, 279, 335ff.; 115, 320, 345; 118, 168, 193; 120, 274, 318f.

Ein diskurstheoretischer Straftatbegriff

181

Legitimes Ziel des Strafgesetzgebers ist daher zunächst einmal der Schutz eines verfassungsrechtlichen Grundrechts vor den Beeinträchtigungen durch den anderen. Zu dem Schutz subjektiver Rechte zählt aber noch mehr als die unmittelbare zwischenmenschliche Dimension. Zur Realisierung der Ausübung verfassungsrechtlich garantierter Freiheiten gehören auch bestimmte Realisierungsbedingungen wie staatliche, aber auch gesellschaftliche Grundstrukturen, die in der strafrechtstheoretischen Diskussion vielfach als kollektive Rechtsgüter bezeichnet werden.952 d)

Zum ultima-ratio Dilemma

Immer wieder wird im Zusammenhang mit der Legitimation einzelner Straftatbestände, insbesondere innerhalb der Erörterung der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit der sog. ultima-ratio Grundsatz bemüht.953 Aus einer diskursivstrafrechtstheoretischen Perspektive ist dieser Grundsatz allerdings wenig geeignet, plausible Kriterien für eine Strafrechtsbegrenzung aufzustellen. Dies ergibt sich daraus, dass in der verfassungsrechtlichen Dimension der ultima ratioGedanke mit der formellen Legitimität des Strafgesetzes kollidiert. Weil das Strafgesetz auf einem diskursiv legitimierten Rechtssetzungsverfahren beruht, besitzt es seinerseits bereits eine starke prozedurale Legitimität, die Verfassungswidrigkeit kann daher auch nur ultima ratio sein. In der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung konfligieren damit der formelle und der materielle Verbrechensbegriff. Deswegen kann der strafrechtliche ultimaratio Gedanke per se kein geeigneter Argumentationstopos für den verfassungsrechtlichen Diskurs sein. Er bringt lediglich die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die kritische Kriminalpolitik in einem Spannungsverhältnis zur formellen Legitimität des von ihr bewerteten Strafrechtssatzes steht. e)

Die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsabwägung

Innerhalb der wertenden Abwägung von verletzten und geschützten Grundrechten findet eine umfassende argumentative Auseinandersetzung damit statt, ob das zuvor als legitim eingestufte Schutzziel des Straftatbestandes die mit dem Strafrecht verbundenen Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen vermag.954 Auch 952 Vgl. dazu ausführlich Hefendehl, Kollektive Rechtsgu¨ ter (2002), S. 5ff.; Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 57ff. und weiter unten 6. Kap., II. (»Kollektive Rechtsgüter«). 953 Vgl. dazu ausführlich den Sammelband Lüderssen/Nestler-Tremer/Weigend E. (Hrsg.), Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip (1991); außerdem Hefendehl, Der fragmentarische Charakter des Strafrechts, JA 2011, 401ff. 954 Siehe dazu aus strafrechtlicher Sicht etwa Weigend, FS Frisch (1999), S. 917 , 934f.

182

Diskurstheoretische Strafrechtsbegründung

die hier erzielten Ergebnisse lassen sich aus der Diskurstheorie selbst nicht antizipieren oder abstrakt herleiten. In der diskurstheoretischen Strafrechtsbegründung sind allenfalls einige plausibel erscheinende Strukturen zu erkennen, die als Grundgerüst für die argumentative Abwägung dienen können. Dies lässt sich am Begriff der Strafbarkeitsvorverlagerung exemplifizieren. Die Vorverlagerung bezeichnet ein rechtliches Phänomen, bei dem der strafrechtliche Anknüpfungspunkt zeitlich vor der Beeinträchtigung des legitimen Schutzgegenstandes angesiedelt ist.955 Aus der diskurstheoretischen Perspektive des Strafrechts lässt sich diesbezüglich folgender Schluss ziehen: Je weiter die Handlung des Täters tatsächlich von der Verletzung eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts oder einer Bedingung seiner tatsächlichen Realisierung entfernt ist, desto weniger bedeutsam ist der mit der Straftat verbundene Angriff auf das Schutzziel. Daraus ergibt sich e contrario: Je weiter die Vorverlagerung der Strafbarkeit von der Verletzung des geschützten Gutes entfernt ist, desto gewichtiger muss der geschützte Belang sein. An dieser Stelle bricht der diskursiv und verfassungsrechtliche bedeutsame Aspekt der Gleichheitsrechte in den kritischen Verfassungsdiskurs ein: Handlungen, welche ein grundrechtlich geschütztes Recht oder dessen Realisierungsbedingungen weniger beeinträchtigen als andere, verdienen zumindest nicht in demselben Maße die Zufügung eines kommunikativen und faktischen Übels, weil ihr Sozialschaden geringer ist. Das Kriterium der Intensität des durch die Straftat bewirkten Sozialschadens lässt sich auch auf den Bereich derjenigen Straftatbestände beziehen, die überindividuelle Zielsetzungen verfolgen. Wie gezeigt sind solche Motive nur dann ein legitimer strafrechtlicher Schutzgegenstand, wenn sie sich als Realisierungsbedingungen der Ausübung subjektiver Rechte erweisen. Hier gilt nun aus denselben Gründen wie oben: Je weniger bedeutsam ein solcher überindividueller Belang für die Ausübung eines grundrechtlich geschützten subjektiven Rechts ist, desto gewichtiger muss das geschützte Grundrecht sein.

955 Siehe dazu Sinn, Vorverlagerung der Strafbarkeit – Begriff, Ursachen und Regelungstechniken, in: ders./Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht (2011), S. 13, 16f.

6. Kapitel: Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

Die Arbeit hat gezeigt, dass den gegenwärtig vertretenen Strafrechtslegitimationskonzepten eine kohärente Antwort auf die Frage, woraus der Staat sein Recht zu strafen bezieht und welchen Grenzen er dabei unterliegt, bisher nicht gelungen ist. Entweder berücksichtigen sie den unbestreitbaren Wertbezug des Rechts nicht ausreichend, unterstellen bestimmte Wertvorstellungen hypothetisch oder bilden die den Strafnormen zugrunde liegenden normativen Verständigungsprozesse nicht oder nicht hinreichend ab.

I.

Zusammenfassung

Unter gewissen Modifikationen956 kann die Diskurstheorie des Rechts viele dieser Probleme lösen, indem sie einen Reflexionsschritt hinter die bislang entwickelten Konzepte der Strafrechtsbegründung geht und den der Geltungsfrage vorausgehenden Ursprung des Rechts in den innerhalb einer Gesellschaft stattfindenden kommunikativen Verständigungsprozessen sucht. Das Wesenselement des Strafrechts lässt sich dabei in einer modernen, an der Idee der kommunikativen Vernunft ausgerichteten Modifikation der hegelschen Straftheorie abbilden: In einer demokratischen Gesellschaft dient das Strafrecht dem Schutz einer nicht nur individualistisch sondern auch intersubjektivistisch verstandenen objektiven Freiheit und den dazugehörigen gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen.957 Der gleichzeitige Respekt eigener und fremder Freiheitssphären bildet in diesem System – wie gezeigt958 – keinen unauflösbaren Widerspruch, sondern eine Synthese in Form einer Antinomie der Freiheit, in der 956 Siehe dazu oben 4. Kap., III. (»Kritik, Klarstellungen und Modifikationen der Diskurstheorie«). 957 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«). 958 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«).

184

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

sowohl die Begründung als auch die Begrenzung des Strafrechts enthalten sind. Zum Schutz der Freiheiten des einen vor den Freiheiten des anderen erweist sich das Strafrecht als notwendig, um die Geltung bestimmter, für das gemeinsame Zusammenleben konstitutiver Positionen und Einrichtungen zu garantieren und zu bestätigen.959 Weil mit dem Schutz dieser kommunikativen Freiheiten aber immer zugleich die Beschränkung individueller Freiheit verbunden ist, verlangt der individualistische Bestandteil der Antinomie ein fragmentarisches Strafrecht, welches seinen Zugriff auf die Garantie eines normativen Minimums beschränkt, unter dem sich Individuen überhaupt verständig aufeinander einlassen. Das sind – wie gezeigt960 – einerseits die subjektiven Rechte in ihrer kommunikativen Bedeutung und andererseits die dazugehörigen notwendigen Realisierungsbedingungen. Deren konkrete Gestalt und inhaltliche Reichweite unterliegt einem Diskurs, der sich abstrakt nur formal beschreiben, aber immerhin auf einen normativen Fixpunkt in Form verfassungsrechtlich verbürgter Grundrechte beziehen lässt.961 Das Strafrecht lässt sich so als der gegenwärtige Ausdruck dieses Konkretisierungsprozesses begreifen. Es bildet all diejenigen Rechtspositionen ab, ohne deren Geltung das Netzwerk intersubjektiver Verständigung innerhalb einer Gesellschaft zerreißen würde. Prima vista zahlt die Universalität dieses Ansatzes einen hohen Preis, denn eine diskurstheoretische Strafrechtsbegründung gibt zunächst nur ausfüllungsbedürftige inhaltliche Kriterien der Strafrechtsbegrenzung vor, indem die dem Strafrecht zugrunde liegenden verständigungsorientierten Prozesse analysiert werden, um daraus Strukturen und Verfahrensbedingungen zu deduzieren, die den Rahmen für kritische Strafrechtsreflexionen bilden. In einem Zeitalter des Wertepluralismus liegt aber ganz unabhängig von bestimmten gesellschaftstheoretischen Axiomen die Vermutung nahe, dass sich von allen gleichsam geteilte ethische Positionen ohnehin kaum vorfinden lassen. Insofern erweist sich der Preis, den die Diskursethik für ihre Abstraktion zahlt, in Wahrheit als ein Gewinn: Sie gibt Argumentationsstrukturen für einen sachlichen Diskurs über die zulässige Reichweite strafgesetzgeberischer Interventionen vor, die im Folgenden anhand der schon eingangs erwähnten Themenkomplexe »Kollektive Rechtsgüter«, »Strafrechtlicher Moralschutz« und »Strafrechtlicher Paternalismus« noch konkretisiert werden sollen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die jeweiligen Problemkreise mit den folgenden Ausführungen an dieser Stelle nicht umfassend und abschließend beantwortet 959 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«). 960 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«). 961 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«).

Kollektive Rechtsgüter

185

werden sollen und können. Es wird vielmehr aufgezeigt, wie hoch das Potenzial einer diskurstheoretischen Strafrechtsbegründung auch für die Auseinandersetzung mit konkreteren, weniger grundsätzlicheren Themen ist und wie sehr sie sich deswegen auch für Anschlussforschungen anbietet.

II.

Kollektive Rechtsgüter

Zunächst lässt sich aus den in dieser Arbeit entwickelten Thesen ableiten, dass überindividuelle Belange nur dann einen legitimen strafrechtlichen Schutzgegenstand bilden, wenn sie sich als notwendige Bedingungen für die Ausübung und Garantie grundrechtlich geschützter Individualrechte erweisen. Denn zum effektiven Schutz subjektiver Rechte gehören auch deren Realisierungsbedingungen, z. B. in Form des Schutzes staatlicher und gesellschaftlicher Grundstrukturen962, ohne die ein geordnetes Miteinander innerhalb einer Gesellschaft unmöglich wäre.963 Aus der Sicht einer diskurstheoretischen Strafrechtsbegründung ist maßgeblich, dass sich ein Tatbestand, der überindividuelle Belange protegiert, anhand einer gedanklichen Legitimationskette mit einer grundrechtlich geschützten Individualposition verknüpfen lässt. Ein Strafrechtssystem, das diesem Grundsatz nicht hinreichend Rechnung trägt, erweist sich als diskurstheoretisch defizitär, denn das Wesen demokratischer Gesellschaften besteht darin, dass der Einzelne sich sowohl als Erzeuger als auch als Adressat einer Rechtsnorm versteht.964 Dient eine Strafvorschrift nicht zumindest in irgendeiner Weise auch dem Schutz der Interessen seines Erzeugers, stellt sich für den Adressaten die Frage nach ihrer Legitimation und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im demokratischen Diskurs kritisch hinterfragt wird. Aus dem notwendigerweise fragmentarischen Charakter des Strafrechts965 ergibt sich 962 Vgl. nur Hefendehl, in: Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010), S. 119, 121 (»Noch niemand hat den Versuch gewagt, ein Strafrecht ohne Amts-, Rechtspflege und Geldfälschungsdelikte zu konzipieren.«). 963 Sinnvoll erscheint es mit Hefendehl eine Unterteilung in kollektive Rechtsgüter zum Schutz der Freiheitsräume von Individuen einerseits und kollektive Rechtsgüter zum Schutz staatlicher Rahmenbedingungen andererseits vorzunehmen. Unter erstere fallen etwa solche Schutzgegenstände, die wie Individualrechte ständiger Gegenstand der Erfahrung einzelner Gesellschaftsmitglieder sind, so z. B. die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Geldverkehrs. Die zweite Gruppe umfasst beispielsweise den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen und die Rechtspflege; siehe dazu Hefendehl, in: Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010), S. 119, 121ff. 964 Siehe dazu ausführlich Günther, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik (1999), S. 83ff. 965 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«).

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Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

in diesem Zusammenhang ferner der folgende Grundsatz: Je weniger bedeutsam ein solcher überindividueller Belang fu¨ r die Ausübung eines grundrechtlich geschützten subjektiven Rechts ist, desto gewichtiger muss das geschützte Grundrecht sein. Je komplexer also die Verknüpfung zwischen individuellen und kollektiven Belangen ist, umso konstitutiver müssen letztere für den Einzelnen sein. Dies gilt für das Strafrecht in besonderer Weise, weil es die intensivsten staatlichen Interventionen gegenüber den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglicht. Aus einer diskurstheoretischen Sichtweise kann allerdings nicht per se beantwortet werden, ob ein bestimmter Belang sich als in diesem Sinne zulässig erweist. Ob also beispielweise die Umweltmedien966, die Leistungsfähigkeit der Versicherungen967 oder die Rechtspflege968 legitime strafrechtliche Schutzgegenstände sind, kann der Einzelne nicht festlegen. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft hat er aber die Möglichkeit, beispielsweise unter Berücksichtigung der benannten Kriterien, Geltungsansprüche zu erheben, die von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt werden. Wie eine Gesellschaft die Zulässigkeit des strafrechtlichen Schutzes kollektiver Rechtsgüter beurteilt, wird dann in öffentlichen Diskursen sichtbar.

III.

Strafrechtlicher Moralschutz

Der strafrechtliche Schutz von Wertvorstellungen erscheint auf den ersten Blick bereits deswegen problematisch, weil die Arbeit gezeigt hat, dass ein im Rahmen eines demokratischen Verfahrens zustande gekommener einfacher Rechtssatz nicht per se der Ausdruck einer herrschenden oder absoluten Sozialmoral ist, denn in ihm spiegelt sich in Anbetracht des Wertepluralismus im Regelfall nicht die Akzeptanz aller Diskursteilnehmer einer Gesellschaft wieder, sondern »nur« die Akzeptabilität des Ergebnisses vor dem Hintergrund eines akzeptierten Verfahrens.969 Weil dieses Verfahren dadurch charakterisiert ist, dass es subjektive Rechte garantiert, kommt diesen jedoch mehr als nur eine formelle Akzeptabilität zu: Sie sind entweder aus innerer Einsicht oder aus pragmatischer Notwendigkeit von den Mitgliedern einer Gesellschaft konsentiert, weil ohne deren Geltung das Netzwerk intersubjektiver Verständigung und damit die Funktionsfähigkeit demokratisch konstituierter Gesellschaften zerreißen würde.970 Die Arbeit hat 966 967 968 969 970

Vgl. dazu Schmitz, Müko-StGB, Vorbemerkung zu den §§ 324ff., Rn. 17ff. Vgl. dazu Wohlers/Mühlbauer, Müko-StGB, § 265, Rn. 4 ff. Vgl. dazu nur Vormbaum, NK-StGB, Vorbemerkungen zu den §§ 153ff., Rn. 1 ff. Siehe dazu oben 4. Kap., III. 4. b), (»Zum Verhältnis von Recht und Moral«). Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«).

Strafrechtlicher Moralschutz

187

weiter gezeigt, dass die staatliche Strafgewalt aufgrund ihrer Eingriffsintensität auf den Schutz subjektiver Rechte in ihrer zwischenmenschlichen Bedeutung und den dazugehörigen gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen beschränkt ist.971 Dienen Straftatbestände tatsächlich dem Schutz dieser Positionen, so bildet sich in ihnen ein weitaus stärkerer, gesellschaftlich konsentierter Wertbezug ab, weil sie sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft von elementarer Bedeutung sind. Dies bezieht sich allerdings nur auf den Schutzzweck (subjektive Rechte) und nicht auf die konkrete grammatische Gestalt und die damit verbundene Reichweite einer Strafvorschrift. Diese ist nicht zwangsläufig gleichsam von allen inhaltlich akzeptiert, sie ist im Regelfall »bloß« von einer formellen Akzeptabilität getragen. Trotzdem ergibt sich daraus, dass jeder diskurstheoretisch zulässigen Strafnorm zumindest in Bezug auf ihren Schutzzweck eine allgemeingültige Wertvorstellung zugrunde liegt. Insofern erweist sich der Schutz von Wertvorstellungen unter der Bedingung, dass diese sich auf grundrechtlich geschützte Positionen beziehen, nicht als problematisch, sondern geradezu als charakteristisch für das Strafrecht. So verstanden ist das Strafrecht der wertende Ausdruck einer gesellschaftlichen Selbstvergewisserung durch die Bestätigung und die Gewährung subjektiver Rechte in ihrer kommunikativen Dimension. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass ein strafrechtlicher Moralismus nur dann zulässig ist, wenn er dem Schutz grundrechtlich garantierter Positionen dient. Moralvorstellungen per se sind hingegen kein zulässiger Gegenstand von Kriminalisierung. Stehen Straftatbestände im Verdacht, einen in diesem Sinne fragwürdigen Moralschutz zu bezwecken, so ist für die Diskussion über deren Legitimität also genauestens zu analysieren, ob tatsächlich ausschließlich eine nicht durch grundrechtlich geschützte Positionen kodifizierte Wertvorstellung als Schutzzweck eines Straftatbestandes in Betracht kommt. In diesem Sinne findet die Frage nach der Zulässigkeit eines strafrechtlichen Moralismus ihre Antwort in einem verfassungsrechtlichen Diskurs über die Frage, ob durch das strafbewehrte Verhalten mittelbar oder unmittelbar ein verfassungsrechtlich kodifiziertes Individualrecht gefährdet oder verletzt wird. Vor diesem Hintergrund wird beispielsweise deutlich, dass sich der Inzestbeschluss des Bundesverfassungsgerichts972 als überaus problematisch erweist.973 Denn bei genauer 971 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«). 972 BVerfGE 120, 224ff. mit abweichender Meinung Hassemer BVerfGE 120, 255ff. 973 Beispielsweise auch der Straftatbestand der Bigamie (§ 172 StGB) erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig, weil sich die Verletzung einer tradierten Überzeugung von der Moralwidrigkeit der Bigamie nur schwer in den Zusammenhang mit dem Schutzbereich eines Grundrechts stellen lässt. Ähnliche Bedenken sind etwa in Bezug auf den Straftatbestand der Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen (§ 166 Abs. 1 StGB) angezeigt, denn auch hier scheint sich der vermeintliche Schutz des öffentlichen Friedens letztlich als Schutz religiöser Gefühle, also individueller Wertvorstellungen zu entlarven. Ob bereits mit der

188

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

Betrachtung ist festzustellen, dass sich keiner der von der Senatsmehrheit angeführten gesetzgeberischen Schutzzwecke des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB sinnvoll und vollends einer grundrechtlich geschützten Position zuordnen lässt.974 Dies hat Hassemer in seinem Sondervotum975 präzise dargelegt und soll im Folgenden erläutert werden. Sofern die Senatsmehrheit konzediert, die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB diene dem besonderen Schutz der – dem Art. 6 GG unterstellten – Ehe und Familie, weil »Kinder aus Inzestbeziehungen große Schwierigkeiten haben, ihren Platz im Familiengefüge zu finden und eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren nächsten Bezugspersonen aufzubauen«976, so kann dies schon aus einem einzigen, offenkundigen Grund nicht überzeugen: Voraussetzung dieser Argumentation ist, dass aus der inzestuösen Beziehung überhaupt Kinder hervorgehen, während die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB den Vollzug des Beischlafs als Tathandlung ausreichen lässt. Schon in Anbetracht der Vielzahl effektiver Empfängnisverhütungsmethoden muss eine Tathandlung im Sinne des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB nicht zwangsläufig dazu führen, dass aus dem geschwisterlichen Beischlaf Kinder hervorgehen.977 Insofern lässt sich ein ganz erheblicher Bereich möglicher Tathandlungen identifizieren, der – unter Berücksichtigung der Argumentation der Senatsmehrheit – keine Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Familie bewirkt. Ferner erfasst die Vorschrift expressis verbis nur den Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern; ausgenommen sind sonstige sexuelle Handlungen zwischen Bruder und Schwester, sowie sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen und nicht-leiblichen Geschwistern. Von diesen Handlungen könnten jedoch gleichsam schädliche Wirkungen auf die Familie ausgehen, weshalb der Gesetzgeber sie ebenfalls unter Strafe gestellt hätte, wenn es ihm um den Schutz von Ehe und Familie gegangen wäre.978

974

975 976 977 978

Negation individueller religiöser Standpunkte, die sich unterhalb der Nötigungsschwelle bewegt, eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit einhergeht, ist zweifelhaft. Problematisch erscheinen insofern auch der Straftatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB), denn auch hier lässt sich nur schwerlich ein anderer Schutzzweck als ein allgemeines Anstandsgefühl identifizieren; vgl. zur Legitimität all dieser Tatbestände Weigend, ZStW 129 (2017), 513ff. und umfassend zum strafrechtlichen Moralschutz Ho¨rnle, Grob an-sto¨ ssiges Verhalten (2005). Vgl. zur Kritik an der Vorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur Androulakis, FS Hassemer (2010), S. 271ff.; Dippel, LK-StGB, § 173 Rn. 17ff.; Duttge, FS Roxin II (2011), S. 228ff.; Greco, ZIS 2008, 324ff.; Hörnle, NJW 2008, 2085ff.; Krauß, FS Hassemer (2010), S. 423ff.; Kubiciel, ZIS 2012, 282ff.; Otto, Jura 2016, 368ff., Ritscher, MüKo-StGB, § 173 Rn. 2 ff.; Roxin, StV 2009, 544ff. BVerfGE 120, 224 (255ff.). BVerfGE 120, 224 (245). So Hassemer: BVerfGE 120, 224 (263). So Hassemer: BVerfGE 120, 224 (262).

Strafrechtlicher Moralschutz

189

Darüber hinaus kann auch der Hinweis der Senatsmehrheit darauf nicht überzeugen, dass bei Kindern aus einer inzestuösen Beziehung »wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden können.«979 Zum einen ist höchst fraglich, ob die staatliche Verfolgung eugenischer Zwecke auch vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes überhaupt in Übereinklang mit den grundgesetzlichen Wertungen zu bringen ist.980 Insofern erscheint die bloße Feststellung der Senatsmehrheit, dass die ergänzende Heranziehung dieses Gesichtspunktes zur Rechtfertigung der Strafbarkeit des Inzests nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil er historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist981, überaus problematisch, wenn nicht gar geschichtsblind. Unabhängig davon lässt sich auch in diesem Zusammenhang vorbringen, dass einer – dem Straftatbestand des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB unterfallenden – inzestuösen Beziehung keine Kinder entspringen müssen. Insofern kann dieses Argument für einen wesentlichen Teil der dem Tatbestand unterfallenden Handlungen ebenfalls nicht greifen, so dass es als allgemeine Begründung nicht herangezogen werden kann.982 Soweit das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus die sexuelle Selbstbestimmung als Schutzgut des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB heranzieht, weil diesem Normzweck nicht nur im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen Relevanz zukomme, sondern auch im Verhältnis zwischen Geschwistern983, kann dies gleichsam nicht überzeugen. Erstens lässt sich § 173 Abs. 2 S. 2 StGB in keiner Weise entnehmen, dass er gerade diejenigen Fälle erfassen will, die sich als Beeinträchtigung sexueller Selbstbestimmung darstellen. Während die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174ff. StGB) Indikatoren reduzierter Autonomie des Opfers zu Voraussetzungen der Strafbarkeit machen, gilt dies für

979 BVerfGE 120, 224 (247). 980 So Hassemer: BVerfGE 120, 224 (258f.) [»Es verbietet sich schon von Verfassungs wegen, den Schutz der Gesundheit potentieller Nachkommen zur Grundlage jedenfalls strafgesetzlicher Eingriffe zu machen. (…) Solche Konstruktionen sind nicht imstande, einen verfassungsrechtlich schützenswerten Zweck zu begründen. Auch lässt sich die Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte nicht mit dem möglichen Argument der Belastung Dritter rechtfertigen, etwa der Familie, in die ein geschädigtes Kind hineingeboren werde, oder auch der Allgemeinheit, die zu fürsorgerischen Aufwendungen veranlasst sei. Dies liefe auf die Verneinung des Lebensrechts behinderter Kinder allein aus lebenskonträren Interessen und Fiskalbelangen anderer hinaus.«]; siehe aber auch Ritscher, MüKo-StGB, § 173 Rn. 3 (»Ein solch massiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, verbunden mit dem Bestreben, die Existenz genetisch bedingt behinderter Menschen möglichst zu verhindern, ist mit den Grundfreiheiten und dem Menschenbild des Grundgesetzes schlechterdings unvereinbar.«). 981 BVerfGE 120, 224 (248). 982 So bspw. auch Ritscher, MüKo-StGB, § 173 Rn. 3. 983 BVerfGE 120, 224 (245).

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Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

§ 173 Abs. 2 Satz 2 StGB nicht.984 Ferner lässt sich dies auch systematisch begründen, denn § 173 Abs. 2 S. 2 StGB ist durch den Gesetzgeber nicht dem Abschnitt der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zugeordnet worden.985 Schließlich spricht ganz wesentlich gegen die Annahme der Senatsmehrheit, dass § 173 Abs. 2 S. 2 StGB nur volljährige Geschwister erfasst, was voll und ganz im Widerspruch zur generellen Regelungsstruktur der §§ 174ff. StGB steht, denn im Regelfall lässt das Strafrecht den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gerade an der Grenze der Volljährigkeit enden, um dem Gedanken der individuellen Autonomie Rechnung zu tragen.986 Ausnahmen davon werden nur dann gemacht, wenn der Einzelne etwa aufgrund von Drohung oder Gewalt zu einer freien Selbstbestimmung nicht imstande ist, was erkennbar nicht per se auf den Geschwisterinzest zutrifft. Insofern lässt sich festhalten, dass keiner der von der Senatsmehrheit angeführten Schutzgründe sich einer grundgesetzlich relevanten Position zuordnen lassen. Insofern erscheint es überaus plausibel, dass – um mit Hassemer zu sprechen – »die Vorschrift in der bestehenden Fassung (…) lediglich bestehende oder auch nur vermutete Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat.«987 Sowohl der Straftatbestand des Geschwisterinzests als auch der entsprechende Beschluss der Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts stellen sich aus den benannten Gründen als diskurstheoretisch überaus problematisch dar, denn es lässt sich schlicht nicht herleiten, dass die Vorschrift durchweg dem Schutz grundrechtlich verankerter Positionen dient. Sie lässt sich ausschließlich unter dem Aspekt einer rechtlich nicht verankerten moralischen Verwerflichkeit des Geschwisterinzests begründen, die sich indes nicht als allgemein konsentierte Moralvorstellung ausweisen lässt.

IV.

Strafrechtlicher Paternalismus

Schließlich erweist sich das in dieser Arbeit vertretene Konzept der Strafrechtsbegründung auch für die Frage nach der Zulässigkeit paternalisierender Strafgesetzgebung als aufschlussreich. Übersetzt man die diesbezüglich geführte Debatte988 in die Terminologie dieser Arbeit, so stellt sich die Frage, ob und 984 So Hassemer: BVerfGE 120, 224 (260). 985 § 173 StGB wurde durch das 4. StrRG vom 23. 07. 1974 vom 13. in den 12. Abschnitt übernommen. 986 So Hassemer: BVerfGE 120, 224 (260). 987 Hassemer: BVerfGE 120, 224 (260). 988 Siehe dazu insbesondere den Sammelband von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010) und Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht (2013).

Strafrechtlicher Paternalismus

191

inwieweit der Staat eine Person mit den Mitteln des Strafrechts vor der autonomen, selbstverantwortlichen Verletzung oder Gefährdung ihrer eigenen Freiheit zu schützen befugt ist. Zu unterscheiden sind dabei zwei Formen des Paternalismus: Der direkte strafrechtliche Paternalismus kriminalisiert den Einzelnen, der sich mit seiner Handlung selbst schädigt oder verletzt.989 Indirekter strafrechtlicher Paternalismus ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass einem Dritten unter Androhung von Strafe untersagt wird, eine andere Person zu schädigen, obwohl es dem Willen der geschädigten Person entspricht, dass der Dritte die Handlung vornimmt.990 Charakteristisch für die autonom motivierte Verletzung oder Gefährdung der eigenen Rechtspositionen ist, dass dieses Verhalten die Freiheitssphären anderer nicht tangiert. Weil aber der Staat das Mittel des Strafrechts – wie gezeigt991 – nur zum Schutz der Freiheit des einen vor der Freiheit des anderen einsetzen darf, fehlt ihm grundsätzlich die Legitimation für direkte paternalistische Strafgesetzgebung. Bestraft er den Einzelnen für ein Verhalten, welches die Freiheiten anderer nicht betrifft, so greift er in eine Sphäre ein, die ihm verschlossen bleiben muss: Weil der Einzelne die schädigenden Akte gegen sich selbst richtet, bringt er keine unvollständige bzw. unvernünftige Einstellung hervor, die einer strafrechtlichen Intervention bedürfte. Er berührt die Rechtspositionen anderer nicht, weshalb sein selbstschädigendes Handeln auch kein objektives Strafunrecht ist. Im Grundsatz ist auch der indirekte Paternalismus nicht anders zu beurteilen: Weil selbstgefährdendes oder -verletzendes Verhalten kein objektives Unrecht darstellt, kann auch das Handeln eines Dritten, der den autonomen, selbstschädigenden Willen eines anderen realisiert, grundsätzlich nicht unterschiedlich gewertet werden. Allerdings handelt es sich in solchen Konstellationen um Interaktionen, die von den Teilnehmern der Rechtsgemeinschaft als Verletzung eines fremden Rechts wahrgenommen werden können. So ist zum Beispiel im Falle der Tötung auf Verlangen der ernstliche Wunsch des Sterbewilligen für Außenstehende nicht zwingend erkennbar. Daraus resultiert die Gefahr, dass sich das Handeln des Dritten im Außenverhältnis als der Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes mit dem Inhalt der Zulässigkeit von Fremdtötungen erweist. Um mit Hegel zu sprechen992, vermag also schon der Schein des scheinbar Unvernünftigen im Ausnahmefall einen indirekten strafrechtlichen Paternalismus 989 Von Hirsch, in: ders/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010), S. 57, 57. 990 Du Bois-Pedain, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010), S. 33, 33. 991 Siehe dazu oben 5. Kap., III. 1. (»Grund und Grenzen des Strafrechts vor dem Hintergrund einer Antinomie der Freiheit«). 992 Siehe dazu oben 5. Kap., I. 2. (»Strafe«).

192

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick

zu rechtfertigen. Weil es sich dabei aber eben nur scheinbar um objektives Unrecht handelt, muss die strafrechtliche Intervention in diesen Konstellationen auf die Bestätigung besonders bedeutsamer Rechtspositionen wie dem Leben oder der körperlichen Unversehrtheit begrenzt bleiben. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch der Tatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und die Einwilligungssperre aus § 228 StGB verstehen und rechtfertigen.993 Begreift man den Schutzzweck dieser Vorschriften in dem vorbenannten Sinne, so richtet sich das Gesetz nicht gegen den autonomen Willen des Rechtsinhabers, sondern gegen die normativen Gefahren, die durch das Verhalten des Dritten in der Außenwelt entstehen können.994 Diese Argumentation ließ sich hingegen nicht auf den – im Dezember 2015 eingeführten und im Februar 2020 für verfassungswidrig erklärten995 – Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) übertragen.996 Die nach dieser Vorschrift strafbare Handlung stellte sich als eine zur Täterschaft vertypte Beihilfe zur Selbsttötung dar.997 Allein die Förderung der Selbsttötung, beispielweise durch das Verschaffen einer letalen Substanz, ist jedoch nicht geeignet, für Dritte den Schein einer unzulässigen Fremdschädigung zu erwecken, denn »Täter« ist der Suizidwillige selbst, nicht der von § 217 StGB zum Täter aufgewertete »Gehilfe«.

V.

Ausblick

Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass sich mit einer diskurstheoretischen Sichtweise nicht nur die Grundlagen des Strafrechts neu ausloten lassen, sondern dass sie auch darüber hinaus wertvolle Beiträge zu vielen in der Strafrechtswissenschaft geführten Debatten leisten kann. Das Potential eines 993 Nur am Rande sei erwähnt, dass sich auf diese Weise auch die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs und die Straflosigkeit des Wahndelikts erklären lassen: Während die Handlung eines untauglich Versuchenden mangels Verletzung eines fremden Rechts kein objektives Unrecht darstellt, vermag sie jedoch den Schein objektiven Unrechts zu vermitteln, wenn für Außenstehende die Gründe der Untauglichkeit des Versuchs nicht erkennbar sind. Drängt sich einem Dritten die Ungeeignetheit der Handlung zur Tatbestandsverwirklichung, wie beim Wahndelikt, hingegen geradezu auf, so bedarf es keiner strafrechtlichen Intervention, weil der Täter nicht den Schein des scheinbar Unvernünftigen hervorgerufen hat. 994 Eine solche Sichtweise ist auch kompatibel mit den Ansichten, die zur Legitimation des § 216 StGB auf das generelle Verbot der Fremdtötung und die in diesem Zusammenhang bestehende Notwendigkeit einer generalpräventiv wirkenden Strafe abstellen; so etwa Hirsch, FS Lackner (1987), S. 597 (612) und Sternberg-Lieben, Schranken der Einwilligung, S. 117ff. 995 BVerfG, BeckRS 2020, 2216ff. 996 Mit Urteil vom 26. 02. 2020 (BVerfG, BeckRS 2020, 2216ff.) hat das Bundesverfassungsgericht den § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt. 997 Siehe dazu Sinn, SK-StGB, § 217, Rn. 8 f.

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solchen Strafrechtsverständnisses erschöpft sich aber sicherlich nicht allein in den hier vorgenommenen Untersuchungen. Auf der Basis einer nicht nur individualistisch, sondern auch kommunikativ verstandenen Freiheit kann die Diskurstheorie beispielsweise auch der Diskussion um den strafrechtlichen Schuldbegriff 998 und der Unterscheidung von Unrecht und Schuld999 neue Perspektiven eröffnen. Lohnenswert wäre auch eine vertiefte diskursethische Untersuchung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots, denn sobald man das Strafrecht unter dem Blickwinkel der Kommunikation betrachtet, erweist sich die Verständlichkeit der Strafgesetze als geradezu konstitutiv für das System. Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass die Diskurstheorie ihr großes Potential allerdings nur unter einer Bedingung vollständig ausschöpfen kann: Weil sie die Geltung des Strafrechts im Wesentlichen auf ein rationales, kommunikatives Verfahren zurückführt, muss sie darauf zielen, dass die vielfältigen Möglichkeiten der Teilnahme an Strafrechtsdiskursen von den Mitgliedern einer Gesellschaft auch wahrgenommen werden. Eine kritische Strafrechtswissenschaft sollte deshalb darum bemüht sein, ihre Argumente auch außerhalb des eigenen Kreises, in der juristischen Ausbildung, der allgemeinen Öffentlichkeit und in den Foren der politischen Entscheidungsträger vorzutragen und zur Diskussion zu stellen. Damit könnte sie dem Ziel eines rationalen, freiheitlichen Strafrechts weitaus näher kommen, als es ihr mit der Idee der materiellen Rechtsgutstheorie bisher gelungen ist, denn so »wenig Demokratie die Herrschaft der Wissenden über die Unwissenden ist, so wenig liegt Strafgesetzgebung in den Händen der Strafrechtswissenschaftler.«1000

998 Siehe dazu Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005). 999 Es ist charakteristisch für die kommunikative Bedeutung eines schuldlos oder entschuldigt handelnden Täters, dass seine Handlung keinen strafrechtlich bedeutsamen Sinn hat, dass mit der Tat also kein von seinem Willen getragener Angriff gegen das Recht einhergeht, weil sie ihm von der Gesellschaft nicht zugerechnet wird. Fehlt es insofern an einem zurechenbaren Verstoß gegen objektives Recht, so erscheint die Annahme strafrechtlichen Unrechts nicht plausibel; vgl. dazu Sinn, in: Gropp/Lipp/Steiger (Hrsg.), FS zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2006), S. 321 (337f.). 1000 Vogel, FS Roxin I (2001), S. 105, 105.

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