Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie: Eine Untersuchung zu Jürgen Habermas und Robert Alexy [1 ed.] 9783428492596, 9783428092598

Der Autor beschäftigt sich in Auseinandersetzung mit Habermas und Alexy mit der Frage, ob auf der Grundlage der Diskurst

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German Pages 219 Year 1998

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Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie: Eine Untersuchung zu Jürgen Habermas und Robert Alexy [1 ed.]
 9783428492596, 9783428092598

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PETER G R I L

Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie

Schriften zur Rechtstheorie Heft 184

Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie Eine Untersuchung zu Jürgen Habermas und Robert Alexy

Von Peter Gril

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gril, Peter: Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie : eine Untersuchung zu Jürgen Habermas und Robert Alexy / von Peter Gril. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 184) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-428-09259-7

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09259-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Vorwort Die Arbeit ist im Sommersemester 1996/97 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen worden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Winfried Brugger, der die Arbeit durch seine Diskussionsbereitschaft und durch vielfältige Anregungen gefordert hat. Zu danken habe ich ferner Herrn Professor Dr. Görg Haverkate für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlich danken möchte ich ferner Herrn Professor Dr. Peter Welsen, der die Arbeit mit zahlreichen wertvollen Hinweisen unterstützt hat. Frankfurt, im Dezember 1997 Peter Gril

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis

17

I. Der Geltungssinn moralischer Urteile

17

IL Das Verhältnis von Wille und Vernunft

18

B. Die Diskurstheorie von Habermas

25

I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen 25 1. Die Frage der Begründbarkeit moralischer Normen im Rahmen der Gesellschaftstheorie 25 a) Die Gesellschaftstheorie als empirische Wissenschaft

26

b) Die Kritische Theorie als Quelle normativer Erkenntnis

27

c) Die Gesellschaftstheorie als Theorie der sozialen Evolution

28

2. Moraltheorie im Unterschied zu Moral

28

3. Moraltheorie im Rahmen der pragmatischen Wende

30

IL Verständigung als Telos der Sprache

34

1. Der Begriff der Verständigung

34

a) Die pragmatische Dimension des Verständigungsbegriffs

34

b) Der Begriff der Verständigung im Rahmen des Gesamtansatzes

36

c) Was heißt „Telos der Sprache"?

38

d) Zusammenfassung

39

2. Die verschiedenen Arten von Alternativlosigkeit a) Der Begriff der Alternativlosigkeit in verschiedenen Kontexten

40 40

aa) Die Alternativlosigkeit der Diskursregeln

41

bb) Die Alternativlosigkeit von Argumentation überhaupt

41

cc) Die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns

41

b) Was heißt „Alternativlosigkeit"?

42

c) Funktion der Alternativlosigkeitsthesen in der Moraltheorie

44

8

Inhaltsverzeichnis

d) Zusammenfassung

47

3. Die Alternativlosigkeit der Diskursregeln

47

a) Der performative Selbstwiderspruch

49

aa) Der performative Selbstwiderspruch im Rahmen der pragmatischen Wende 49 bb) Die Besonderheit performativer Selbstwidersprüche

50

b) Kritik an der Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs 53 c) Das intuitive Vorwissen

56

aa) Das intuitive Vorwissen im Rahmen der Konsensustheorie der Wahrheit 57 bb) Das Problem der Übereinstimmung von intuitivem Vorwissen einerseits und dem explizierten Vorwissen andererseits 58 d) Die formalpragmatische Bedeutungstheorie

59

aa) Der interne Zusammenhang zwischen Bedeutung und Geltung

60

bb) Wittgensteins Privatsprachenargument

63

e) Zusammenfassung

67

4. Die Alternativlosigkeit von Argumentation überhaupt und die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns 68 a) Die existentielle Sackgasse

68

b) Die willkürliche Auszeichnung einer empirischen Alternative unter vielen 69 c) Die Perspektivengebundenheit der Alternativlosigkeitsthesen

71

d) Die Lückenhaftigkeit des Begründungsprogramms aufgrund der Perspektivenabhängigkeit 73 5. Die ideale Sprechsituation - Die Konsenstheorie der Wahrheit

74

a) Der Zusammenhang zwischen der idealen Sprechsituation und der Konsenstheorie der Wahrheit und Richtigkeit 75 b) Der Wahrheitsbegriff der Konsenstheorie der Wahrheit

76

c) Die ideale Sprechsituation

77

aa) Die Unterstellung der idealen Sprechsituation als Ausweg aus dem Begründungsregreß 77 bb) Die Notwendigkeit der Unterstellung der idealen Sprechsituation.. 78 cc) Die Unvereinbarkeit mit dem Status der Diskursregeln

79

Inhaltsverzeichnis

dd) Die ideale Sprechsituation als untaugliches Abgrenzungskriterium 80 ee) Der Übergang von der subjektiven Unterstellung einer idealen Sprechsituation zur objektiven Vorgegebenheit einer (unterstellten) idealen Sprechsituation 82 ff) Die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Begriffs der idealen Sprechsituation 83 d) Kritik an der Konsenstheorie der Wahrheit aa) Die Angewiesenheit auf eine Korrespondenztheorie

85 85

bb) Die Verwischung der Grenze zwischen Wahrheit und Für-WahrHalten 87 cc) Die Abhängigkeit der Zustimmung zu Geltungsansprüchen von der monologischen Prüfung dieser Geltungsansprüche 88 6. Zusammenfassung III. Die Ableitung von (U)

89 91

1. Die Ableitung von (U) als logischer Zirkel?

92

2. Der Begriff des allgemeinen Interesses

94

a) Der empirische Aspekt des allgemeinen Interesses

94

b) Der transzendentale Aspekt des allgemeinen Interesses

96

c) Die Verschmelzung des empirischen und transzendentalen Aspekts im Begriff des allgemeinen Interesses 98 3. Der universelle Rollentausch a) Die Einnahme eines unparteilichen Standpunkts

101 102

b) Die Abgrenzung zwischen verallgemeinerungsfähigen und partikularen Wertungen 103 c) Die Veränderbarkeit des Bereichs des allgemeinen Interesses

106

4. Der Vorrang des moralischen Diskurses vor dem ethischen und pragmatischen Diskurs 108 5. Die Diskursfahigkeit von Diskursteilnehmern

112

6. Zusammenfassung

114

IV. Resümee C. Die Diskurstheorie von Alexy I. Die Diskurstheorie als Theorie der juristischen Argumentation

115 124 124

1. Grundzüge der Diskurstheorie

124

2. Unterschiede zwischen Alexy und Habermas

129

10

Inhaltsverzeichnis

II. Das Verhältnis von Moraltheorie und Morai bei Alexy 1. Der Sinn der formalistischen Moraltheorie bei Habermas

131 131

2. Vor- und Nachteile der eingeschränkt materialen Moraltheorie Alexys.... 133 III. Die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln

136

1. Überblick über die abgeschwächte transzendentalpragmatische Begründung der Diskursregeln 138 2. Der transzendentale Argumentationsteil a) Die Notwendigkeit des Sprechakts der Behauptung ( 1. Prämisse)

140 140

b) Die spezifischen Diskursregeln als Bedingung der Möglichkeit der argumentativen Sprechakte (2. Prämisse) 143 c) Die Notwendigkeit der Diskursregeln (Konklusion)

147

3. Die Nutzenmaximierung und die These vom empirischen Interesse an Richtigkeit 147 4. Interferenzen mit dem Autonomieprinzip

150

5. Interferenzen mit der Urteilsfähigkeit der Diskursteilnehmer

151

6. Zusammenfassung

154

IV. Alexys Begriff von Richtigkeit

154

1. Richtigkeit als konsensuelle Richtigkeit (Habermas)

154

2. Richtigkeit als prozedurale Richtigkeit

155

a) Relativistische Konsequenzen des Richtigkeitsbegriffs und ihre Vermeidung 157 aa) Der Begriff der absoluten Richtigkeit

158

bb) Der Begriff der diskursiven Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit. 159 b) Die strikte Trennung von Richtigsein und Für-richtig-Halten 3. Kritik des Richtigkeitsbegriffs

160 161

a) Prozedurale Richtigkeit als untaugliches Richtigkeitskriterium

161

b) Die Verwendung eines nicht-prozeduralen Richtigkeitsbegriffs

162

c) Keine Äquivalenz zwischen Richtigkeit und Prozedur

165

4. Zusammenfassung V. Die Rationalität von Abwägungsentscheidungen 1. Das Abwägungsmodell

167 168 169

2. Die rationale Begründung von Wertungen auf der Grundlage der Diskursregeln des allgemeinen praktischen Diskurses 174 3. Die Kritik der Begründungsregeln

177

Inhaltsverzeichnis

a) Die Begründungsregeln (5.2.1 ), (5.2.2) und (5.3)

177

b) Die Begründungsregeln (5.1.1 ) bis (5.1.3)

178

c) Das Urteilsvermögen der Diskursteilnehmer

180

d) Die Diskursfahigkeit der Diskursteilnehmer

183

e) Zusammenfassung

185

D. Zusammenfassende Thesen und Ausblick

187

I. Der diskurstheoretische Begründungsbegriff

187

II. Ein zweckrationaler Begründungsbegriff

194

Literaturverzeichnis

211

Sachverzeichnis

217

Einleitung Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, ob es im Rahmen diskurstheoretischer Ansätze gelingt, die Möglichkeit praktischer Erkenntnis darzulegen, d.h. insbesondere moralische Normen bzw. Aussagen als rational begründbar auf der Grundlage eines Begriffs von praktischer Vernunft zu erweisen. Die Möglichkeit kognitiver Geltungsansprüche im Bereich der Moral ist zumindest auch fur jene Rechtswissenschaftler von essentieller Bedeutung, die zwischen juristischen und moralischen Argumentationen einen Begründungszusammenhang sehen.1 Denn wenn Rechtswissenschaft als Wissenschaft möglich sein soll, zugleich aber juristische Argumentation zwangsläufig auf moralische Argumentation verweist, dann ist eine rationale Begründung juristischer Aussagen nur denkbar, wenn auch der Bereich moralischen Argumentierens rationaler Begründung zugänglich ist. Ein besonders weitreichendes Konzept praktischer Rationalität wird von jenen Autoren vertreten, die moralische Geltungsansprüche kognitiv deuten. Die Angemessenheit einer solchen Deutung wird unter anderem auch von der Diskurstheorie verteidigt, die in der gegenwärtigen Diskussion in verschiedenen Varianten vertreten wird. Im Rahmen dieser Arbeit soll die Diskurstheorie in der Gestalt behandelt werden, die sie zum einen bei Jürgen Habermas und zum anderen bei Robert Alexy gefunden hat.2 Der Vergleich zwischen Habermas und Alexy scheint deshalb ergiebig, weil beide teils in einem Ergänzungs-, teils in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Sie ergänzen sich insofern, als es 1 Ein besonders enger Zusammenhang zwischen Recht und Moral wird in der Sonderfallthese Alexys hergestellt, nach der der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses ist, vgl. Alexy, Juristische Argumentation, S. 32 u. S. 263 ff. Auch Enderlein, Abwägung, S. 18, 20, 368 u. ö. befürwortet einen engen Zusammenhang zwischen Moral und Recht. 2 Weitere wichtige Vertreter sind Karl-Otto Apel und Wolfgang Kuhlmann, die eine transzendentalpragmatische Variante der Diskurstheorie vertreten. Vergegenwärtigt man sich die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Apel und Habermas, so sind folgende Punkte festzuhalten: Beide zielen auf eine kognitivistische Moralbegründung, wobei eine bestimmte Konzeption von Sprache den Ausgangspunkt bildet. Auf diese Weise soll die Transzendentalphilosophie Kants fortentwickelt werden. Für beide Autoren ist ausschlaggebend, daß Argumentationen nicht im monologischen Denken möglich sind, sondern notwendigerweise auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bezogen sind. Deshalb müssen die argumentativen Sprechakte als kommunikative Handlungen begriffen werden. Bedingung der Möglichkeit der kommunikativen Sprechakte soll die wechselseitige Anerkennung der Gesprächspartner als Personen

14

Einleitung

vor allem Habermas übernimmt, eine philosophische Begründung des Diskursprinzips zu leisten3 und die Diskursethik in sozial- und sprachphilosophische Zusammenhänge einzubetten, während Alexy diskurstheoretische Argumente fiir eine juristische Argumentationstheorie fruchtbar zu machen versucht. Sie stehen aber auch in einem Konkurrenzverhältnis: Neben dem bereits erwähnten eigenen Ansatz zur Begründung der Diskursregeln gibt Alexy eine Reihe zentraler Habermasscher Begriffe auf oder verleiht ihnen einen anderen Sinn (z.B. den Begriffen der Richtigkeit, des Konsenses oder der idealen Sprechsituation), so daß Alexys Version als eigenständige Variante der Diskurstheorie gelten darf. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Stärken und Schwächen der beiden Versionen herauszuarbeiten. Dabei soll die Theorie Alexys stärker als bisher geschehen vor dem Hintergrund Habermasscher Argumentationsmuster betrachtet werden. Dabei wird sich herausstellen, daß Alexys Version der Diskurstheorie auf den ersten Blick der Habermasschen Position allein schon deshalb überlegen ist, weil sie gerade solche Begriffe und Argumentationsmuster vermeidet, die sich als besonders kritikanfällig erweisen werden. Dieser auf sein. Diese Anerkennung beruht nicht auf einer Dezision der Diskussionsteilnehmer, die als solche auch unterbleiben könnte, vielmehr hat jedermann als Argumentierender die Grundregeln des Miteinandersprechens immer schon anerkannt. Denn ein Bestreiten dieser Grundregeln setzt die Geltung dessen, was bestritten wird, immer schon voraus. Diese Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs spielt bei beiden Autoren eine herausragende Rolle. Ein zentraler Unterschied besteht aber darin, daß Apel einen Letztbegründungsanspruch bezüglich der in strikter Reflexion ermittelten Grundregeln des Argumentierens erhebt (vgl. Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 352; ders., Fallibilismus, S. 172 ff). Dagegen begnügt sich Habermas damit, die faktische Nichtverwerfbarkeit der Präsuppositionen von Argumentation überhaupt zu behaupten unter Zurückweisung weitergehender Begründungsansprüche (vgl. ders., Begründungsprogramm, S. 88 u. 106 f.). Diese unterschiedlichen Geltungsansprüche basieren auf einem unterschiedlichen methodischen Zugang. Während Apel mit einer transzendentalreflexiven Methode den apriorischen Geltungssinn bestimmter ethischer Grundnormen erweisen will, sieht Habermas die Aufgabe der Universalpragmatik darin, das faktisch gegebene, intuitive Vorwissen der Sprecher und Aktoren zu rekonstruieren (vgl. dazu Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 48 ff.). Gleichwohl beansprucht Habermas ebenso wie Apel, daß die dabei gefundenen Präsuppositionen von Argumentation überhaupt unhintergehbar und nicht ohne performativen Selbstwiderspruch bestreitbar sind. (Darin erkennen Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, S. 174, Gebauer, Letzte Begründung, S. 127 und Apel, Fallibilismus, S. 211 Anm. 98, zu Recht eine Inkonsistenz Habermas'). Ein weiterer Unterschied zwischen Apel und Habermas besteht auch darin, daß letzterer aus den Präsuppositionen von Argumentation überhaupt keine inhaltlich ausgeformten Moralnormen gewinnen möchte, während Apel hieraus unmittelbar ethische Normen begründen will. Zur Auseinandersetzung mit der Apelschen Variante der Diskurstheorie vgl. Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, v.a. S. 196 ff; Trapp, Nichtklassischer Utilitarismus, S. 168 ff. 3 Alexy hat allerdings jüngst einen eigenständigen Begründungsansatz der Diskursregeln vorgelegt, vgl. hierzu Kap. C. III.

Einleitung

den ersten Blick günstige Befund muß allerdings revidiert werden: Die (berechtigte) Verabschiedung zentraler Habermasscher Begriffe hinterläßt Lücken im Argumentationsgang, die Alexys eigene Version der Diskurstheorie nicht schließen kann. Die Untersuchung nimmt dabei folgenden Gang: Kapitel A klärt unter Berücksichtigung der Moralphilosophie Kants die Problemstellung, die mit den Begriffen der praktischen Erkenntnis und der praktischen Vernunft aufgeworfen ist. Das Thema von Kapitel Β bildet die Diskurstheorie von Habermas. Nach Habermas ist es die Aufgabe der Moraltheorie, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit praktischer Erkenntnis zu beantworten. Er behandelt diese Frage im Rahmen einer Theorie der moralischen Argumentation (Kap. Β. I.). Der Grundgedanke ist, die Bedingungen der Möglichkeit praktischer Erkenntnis in den (vermeintlichen) normativen Gehalten der Sprache bzw. den rationalen Potentialen der Rede zu verankern, die in einer Theorie der kommunikativen Rationalität entfaltet werden. Die Moraltheorie soll den Nachweis führen, daß die im Moralprinzip, d.h. dem Universalisierungsprinzip (U), explizierten Ideen der Freiheit und Gleichheit aller in einem adäquat gefaßten Begriff der Sprache enthalten sind. Diese Konzeption von Sprache zeichnet sich nach Ansicht Habermas' vor allem dadurch aus, daß sie die pragmatische Dimension des Miteinandersprechens in gebotenem Maß berücksichtigt. Die zentrale Aussage dieser Sprachkonzeption lautet: Verständigung ist das Telos der Sprache (Kap. Β. II. 1. und 2.) Dieser Grundgedanke wird in folgenden Argumentationsschritten entfaltet: (1) Wenn Menschen argumentieren (und d.h. im wesentlichen, Geltungsansprüche aneinander richten und durch Gründe einlösen), dann müssen sie bestimmte unvermeidliche pragmatische Präsuppositionen machen, ohne die Argumentation überhaupt nicht möglich wäre. Werden diese Präsuppositionen von einem Diskursteilnehmer bestritten, so verstrickt dieser sich in einen performativen Selbstwiderspruch (Kap. Β. II. 3.) (2) Diese Präsuppositionen sind nicht erst in Argumentationen zu unterstellen, sondern sie sind bereits in jeder Form menschlicher Interaktion zumindest implizit vorhanden. Damit ist jeder Mensch als solcher diesen Präsuppositionen unentrinnbar unterworfen (Kap. Β. II. 4.). (3) Aus diesen Präsuppositionen läßt sich das Moralprinzip ableiten, das mithin für jeden Menschen gilt (Kap. B. III.). Damit ist Habermas zufolge die universale Gültigkeit des Moralprinzips (U) dargelegt. Jeder einzelne Schritt des Arguments wird für sich genommen über-

16

Einleitung

prüft, wobei die Einwände gegen die jeweils folgenden Argumentationsschritte nicht voraussetzen, daß die Kritik an den vorausgehenden Argumentationsstufen zutreffend ist. In Kapitel C wird der Frage nachgegangen, ob Alexys Version der Diskurstheorie geeignet ist, die aufgewiesenen Schwächen bei Habermas zu vermeiden. Zu diesem Zweck werden zunächst die Grundzüge von Alexys Ansatz dargelegt und die Unterschiede zu Habermas dargestellt (Kap. C. I.), wobei insbesondere das veränderte Verhältnis von Moral und Moraltheorie ins Gewicht fällt (Kap. C. II.). Die von Alexy vorgeschlagenen Änderungen, die viele problematische Annahmen Habermas' vermeiden, können aber die Lücken, die die Aufgabe zentraler Habermasscher Prämissen hinterläßt, nicht schließen oder erweisen sich in anderen Hinsichten als kritikanfallig. Dies gilt zunächst für die im Vergleich zu Habermas abgeschwächte transzendentale Begründung der Diskursregeln. Alexy verzichtet dabei auf den emphatischen Begriff der Sprache bei Habermas und greift statt dessen zur Verstärkung des transzendentalen Argumentationsteils auf Überlegungen zur Nutzenmaximierung zurück. Jeder der von Alexy vorgeschlagenen Argumentationsschritte wird sich aber als kritikwürdig erweisen (Kap. C. III.). Mit der zusätzlich in die Diskurstheorie eingeführten Voraussetzung der Urteilsfähigkeit der Diskursteilnehmer, die diese jedenfalls prinzipiell in die Lage versetzt, im monologischen Denken die Richtigkeit von Normen zu prüfen, bürdet sich Alexy die Begründungslast dafür auf, daß dennoch die Geltungsfrage nur unter Berücksichtigung pragmatischer Gültigkeitsbedingungen behandelt werden kann (Kap. C. III. 5.). Auch die (begrüßenswerte) Distanzierung von dem Begriff des Konsenses, die in einen veränderten Begriff von Richtigkeit mündet, führt zu immanenten Spannungen (Kap. C. IV.). Am Beispiel des Abwägungsmodells Alexys ist schließlich zu zeigen, daß die Schwäche des Habermasschen Universalisierungsprinzips, das keine Abgrenzung zwischen verallgemeinerungsfähigen und partikularen Interessen erlaubt, auch im Abwägungsmodell Alexys nicht behoben ist. Statt dessen ist der Diskurstheoretiker, will er überhaupt zu einem Lösungsvorschlag bei Prinzipienkollisionen kommen, auf vorgängige, kontingente Wertungen angewiesen, die sich nicht diskurstheoretisch einholen lassen (Kap. C. V.). Im Ergebnis ist die diskursethische Theorie der praktischen Erkenntnis sowohl in der Fassung Alexys als auch in der Fassung Habermas' zurückzuweisen. Im abschließenden Kapitel D wird versucht, unter Berücksichtigung von Ergebnissen der Diskurstheorie einen Weg zur Begründung von moralischen Normen zu skizzieren, der ohne die Begriffe der praktischen Vernunft und der praktischen Erkenntnis auskommt, allerdings an dem universalen Geltungssinn moralischer Normen festhalten will.

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis I. Der Geltungssinn moralischer Urteile Oberstes Anliegen der Diskursethik ist es, die Möglichkeit praktischer Erkenntnis auf der Grundlage eines bestimmten Begriffs von praktischer Vernunft zu erweisen. Die Lösung der Aufgabe, moralische Normen und Aussagen als mögliche Gegenstände praktischer Erkenntnis 1 darzulegen, hängt davon ab, was unter einer moralischen Norm zu verstehen ist, d.h. worin deren spezifischer Verpflichtungscharakter besteht. Moralische Normen verpflichten universell 2 , d.h. jeden Menschen, und unbedingt.3 Habermas knüpft, wenn er vom ,,kategorische[n] Sinn der Sollgeltung" 4 oder von ,,unbedingte[n] Imperativ e ^ ] " 5 spricht, an die Unterscheidung Kants zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen an. Beide Arten von Imperativen richten sich an den freien Willen des Normadressaten und verlangen von ihm ein bestimmtes Verhalten. Das Gebot eines hypothetischen Imperativs ist jedoch bedingt; es gebietet eine Handlung im Blick auf ein vorausgesetztes Ziel, wie Reichtum, Ehre, Gesundheit usw. Hypothetische Imperative haben die Form: Wenn Du das Ziel Ζ erreichen willst, mußt Du diese oder jene Handlung ausführen. Die Handlung ist somit nur für den geboten, der sich das Ziel Ζ zu eigen macht. 6 Derjenige,

1 Habermas, Begründungsprogramm, S. 66, spricht von einem wahrheitsanalogen Geltungsanspruch, der an normative Aussagen geknüpft werden kann. 2 Vgl. z.B. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskurstheorie zu?, S. 12. 3 Vgl. Habermas, Begründungsprogramm, S. 70. 4 Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 169. 5 Vgl. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, S. 108. 6 Kant unterscheidet zwischen problematischen und assertorischen hypothetischen Imperativen (vgl. ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 40). Assertorische hypothetische Imperative zeichnen sich dadurch aus, daß das vorausgesetzte materiale Ziel jedem menschlichen Willen innewohnt. Nach Kant ist dies die eigene Glückseligkeit, „die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört" (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 42). In diesem Fall ist der Imperativ insofern bedingt, als die Handlungsweise nicht um ihrer selbst willen geboten ist, sondern zur Erreichung eines Ziels; die Handlung ist gut für etwas, nicht schlechthin gut.

2 Gril

18

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis

der das Ziel Ζ nicht verfolgt, fällt nicht in den Geltungsbereich des hypothetischen Imperativs. Er kann dieses bedingte Gebot gar nicht verletzen, d.h. ihm zuwider handeln, da er nicht Adressat des Gebots ist. Kategorische Imperative zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, daß sie diesen Einschränkungen nicht unterliegen. Sie gelten unbedingt insofern, als sie nicht von den vorgegebenen Bedürfhissen, Wünschen und Zielsetzungen der Normadressaten abhängig sind. In Kants Worten gesagt: „Der kategorische Imperativ, der die Handlung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d.i. auch ohne irgend einen andern Zweck für sich als objektiv notwendig erklärt, gilt als ein apodiktisch (praktisches) Prinzip." 7 Unabhängig davon, was jemand im einzelnen w i l l oder nicht will, wird er von einem kategorischen Imperativ zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet. Deshalb kann ein Normadressat zwar entgegen einem kategorischen Imperativ handeln, aber er kann ihn nicht negieren, d.h. sich der Verpflichtung dieses Imperativs entziehen. Gebote negieren heißt, sich ihrem Geltungsbereich gänzlich zu entziehen; Gebote verletzen heißt, geltenden Geboten zuwider zu handeln. Derjenige, der ein Gebot als solches negiert, kann es nicht mehr verletzen; denn er fällt nicht mehr in den Anwendungsbereich des Gebots. Deshalb kann ein Normadressat einen hypothetischen Imperativ dadurch negieren, daß er sich den im Imperativ vorausgesetzten Zweck nicht zu eigen macht. Es unterliegt also letztlich seinem Willen, ob er sich in den Geltungsbereich des Imperativs begibt. Hingegen ist der Anwendungsbereich des kategorischen Imperativs immer eröffnet. Es kommt nicht darauf an, welche besonderen Merkmale der Mensch hat, gegen den er sich richtet. Er fällt schon deshalb in den Geltungsbereich, weil er ein Mensch ist. Demjenigen, der einem kategorischen Imperativ unterliegt, steht es nicht frei, ihn zurückzuweisen, weil er nicht die Wahl hat, ob er ein Mensch sein w i l l oder nicht. Deshalb kann zwar jeder in einzelnen Handlungen gegen moralische Gebote verstoßen, aber niemand kann den moralischen Standpunkt selbst negieren. Bildlich gesprochen hat der Mensch den moralischen Standpunkt als Aufgabe immer vor sich, er kann ihm nie den Rücken kehren. Der Mensch kann bei der Lösung dieser Aufgabe immer wieder von neuem versagen, er kann sich ihr aber nie entziehen.

I I . Das Verhältnis von Wille und Vernunft Ihre vordringliche moraltheoretische Aufgabe sieht die Diskurstheorie darin, die Bedingungen zu klären, unter denen der kategorische Verpflichtungscha7

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 40.

II. Das Verhältnis von Wille und Vernunft

19

rakter möglich ist. Zur Verdeutlichung dieser Problemstellung soll einführend die Kantische Lösung des Problems betrachtet werden. Das ist deshalb gerechtfertigt, weil die Diskurstheorie sich als Nachfolgerin Kants begreift. 8 Kant sieht sich der Aufgabe gegenüber, eine nicht-dogmatische Begründung für moralische Sätze zu liefern, die eine kategorische Verpflichtung enthalten. Die Bewältigung dieser Aufgabe - egal, wie sie im einzelnen geschieht - muß bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Von zentraler Bedeutung ist, daß die Rechtfertigung des Moralprinzips nicht auf heteronomen Geltungsgründen basieren darf. Dies wäre mit dem Anspruch der kategorischen Geltung moralischer Normen nicht vereinbar. Denn aus dem bloßen Wollen einer äußeren Autorität (sei es der Wille Gottes, der Wille der Geschichte, der Wille des Volkes usw.) folgt kein Sollen, geschweige denn ein unbedingtes Sollen. Aus dem Satz (1) Gott will, daß die Handlung h vollzogen wird, folgt nicht der Satz (3) Die Handlung h soll vollzogen werden. Letzterer folgt erst unter Hinzuziehung der weiteren Prämisse (2) Es ist geboten, das zu tun, was Gott will. Diese Prämisse eröffnet aber eine Wahlmöglichkeit: Jemand kann die Autorität Gottes anerkennen und wird dies auch tun, wenn er sich als Kind Gottes versteht. Aber niemand muß sich so verstehen und wenn jemand ein anderes Selbstverständnis hat, dann hat er keinen Grund, Gott als Autorität anzuerkennen. Die Geltung der Norm, daß die Handlung h vollzogen werden muß, ist auf dieser Grundlage immer nur hypothetisch: Wenn sich jemand so und so verstehen w i l l (z.B. als Kind Gottes), dann sind die Gebote der entsprechenden Autorität für ihn verbindlich. Versteht er sich aber nicht so, dann ist die äußerliche Autorität für ihn kein Geltungsgrund, sondern bestenfalls ein Machtfaktor. Will man an der kategorischen Geltung moralischer Normen festhalten, so muß man - das ist die Konsequenz dieser Überlegung - auf einen autonomen Geltungsgrund abstellen. Die Selbstgesetzgebung könnte einen Ausweg aus den genannten Schwierigkeiten bieten, wenn gezeigt werden kann, daß es für den Menschen als Vernunftwesen keine Wahl zwischen Vernünftig- und Unvernünftigsein gibt. Dabei hat der Rückgriff auf die Selbstgesetzgebung, d.h. die Selbstbindung, folgende Schwierigkeit zu überwinden: Wenn jemand sich selbst bindet, dann scheint es ohne weiteres möglich zu sein, sich selbst auch wieder von dieser Bindung zu lösen. Die kategorische Geltung moralischer Normen verlangt aber eine Art von Selbstbindung, die nicht jederzeit auflösbar ist. Eine Selbstbindung, bei der ich wählen kann, ob ich sie eingehen oder aufrechterhalten will, scheidet als Grundlage kategorischer Geltung aus. Es muß

8 Vgl. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskurstheorie zu?, S. 11 ff; Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, S. 127.

2'

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis

20

eine Art von Selbstbindung sein, die den Willen des Menschen noch vor aller Wahl bindet. Der Geltungsgrund kategorischen Sollens muß demzufolge zwei Bedingungen erfüllen: Es darf kein heteronomer, sondern muß ein autonomer Geltungsgrund sein, und der Selbstgesetzgebung darf kein Wahlakt vorausgehen dergestalt, daß jemand sich für oder gegen diese Selbstgesetzgebung entscheiden kann. Der Weg Kants ist es, praktische Vernunft und Wollen überhaupt in eins zu setzen.9 Die praktische Vernunft ist unmittelbar gesetzgebend, weil sie die Form des Willens überhaupt ist. 1 0 Jedes vernünftige und willensbegabte Wesen steht unter der unmittelbaren Gesetzgebung der Vernunft. 11 Da der Wille als solcher unter der praktischen Vernunft steht, ist kein Weg denkbar, daß der Mensch, solange er eben Mensch ist, sich dem moralischen Gesetz entziehen könnte; er kann zwar gegen Gebote der praktischen Vernunft verstoßen, er kann aber das Sittengesetz nicht negieren. Diese Antwort verdient eine kurze Erläuterung. Kants transzendentalphilosophischer Ansatz steht, was den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft anbelangt, vor der Frage: Wie ist ein synthetisches praktisches Urteil a priori möglich? Moralische Urteile müssen nach Kant ein unbedingtes Sollen ausdrücken. Nur ein solches kategorisches Sollen ist notwendig und allgemein verpflichtend: „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, 12 absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse". Damit eine solche kategorische Verpflichtung begreiflich gemacht werden kann, müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Der Mensch darf nicht durch seine Triebe, Leidenschaften oder Bedürfnisse determiniert sein: „Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird." 1 3 Diese Voraussetzung muß von jedem moralischen Ansatz gemacht werden. Wäre der Mensch nicht in diesem Sinn frei, so könnte er nicht für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden. (2) Eine für alle Menschen gleichermaßen bestehende Verpflichtung kann nicht auf einem empirischen Verpflichtungsgrund beruhen. Ein Rekurs auf eine derartige Grundlage könnte immer nur hypothetische Imperative zur Folge haben: „Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungs9

Vgl. dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 421; Habermas, Faktizität und Geltung, S.

202. 10 11 12 13

Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 45. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 64. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA VIII. Kant, Die Metaphysik der Sitten, AB 5 f.

II. Das Verhältnis von Wille und Vernunft

21

Vermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben." 14 (3) Kant zieht daraus den Schluß, daß ein Gebot, wenn es moralisch gültig sein soll, unabhängig von der Erfahrung als gültig ausgewiesen werden muß, d.h. es muß a priori gültig sein. Der Grund der Verbindlichkeit eines moralischen Gebots kann „nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden ..., sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft". 15 (4) Kants zentrale These ist nun, daß diese Bedingungen, die kategorisches Sollen erst ermöglichen, nur dann erfüllt sein können, wenn reine Vernunft selbst praktisch ist: „Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktischen, d.i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische Grundsätze bloße Maximen sein." 16 Im empirischen Sinn ist Vernunft praktisch, wenn sie zu einem von Neigungen, Bedürfnissen usw. vorgegebenen Zweck Mittel und Wege findet, um diesen Zweck zu erreichen. Hieraus können nur hypothetische Imperative resultieren. Wenn reine Vernunft praktisch sein soll, so impliziert das, daß der zu verfolgende Zweck nicht von außen an sie herangetragen werden darf. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Vernunft selbst zwecksetzend ist und als zwecksetzende Vernunft den menschlichen Willen bestimmt. Dieser Zweck, „wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten." 17 Allerdings darf man sich durch diese Formulierungen nicht dazu verleiten lassen, Vernunft und Wille als zwei getrennte Größen aufzufassen. Denn wenn Vernunft als zwecksetzend bezeichnet wird, so ist dies ein Merkmal, das Kant dem Willen selbst zuschreibt: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen." 18 Deshalb kann Kant die Vernunft, soweit sie zwecksetzend ist, mit dem Willen ineinssetzen. Dieser von der Vernunft gesetzte Zweck muß ein Zweck an sich sein, d.h. er wird nicht mehr durch andere Zwecke bedingt. Welches ist nun der Zweck, den Vernunft als reine Vernunft setzt? Die Vernunft setzt sich selbst als Zweck, und ist insofern Selbstzweck. Dies ist es keine von außen vorgenommene Zwecksetzung, sondern ein dem menschlichen Willen als solchem innewohnender Zweck: Denn der Wille des Menschen als eines Vernunftwesens ist zwangsläufig ein Wille

14 15 16 17 18

Kant, Kant, Kant, Kant, Kant,

Kritik der praktischen Vernunft, A 38. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA VIII Kritik der praktischen Vernunft, A 35 f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 63. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 63.

22

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis

zur Vernunft. Der Einwand, daß wir alle uns im täglichen Leben mehr oder weniger unvernünftig verhalten, greift nicht. Er berücksichtigt nicht, daß der Mensch nach Kant ein endliches Vernunftwesen ist, dessen Willen auch von Affekten affiziert wird und daß demzufolge zwischen Wille und Willkür zu unterscheiden ist. „Wille" bezeichnet den bereits von der Vernunft bestimmten Willen, während „Willkür" dasjenige Wollen ist, das sowohl vernünftig als auch unvernünftig sein kann. 19 Diese ursprüngliche Ausrichtung des Willens auf Vernunft wird auch an den Beispielen deutlich, an denen Kant die Anwendung des kategorischen Imperativs demonstriert. 20 Kant unterscheidet Maximen, die ohne Widerspruch nicht einmal als Naturgesetze gedacht werden können, 21 von solchen, die nicht als Gesetz gewollt werden können, weil dies zu einem „Widerspruch in unserm eigenen Willen" 2 2 führen würde. Als Beispiel für letztere nennt Kant die Maxime, sich gleichgültig gegenüber der Not anderer Menschen zu verhalten. Worin besteht nun dieser Widerspruch in unserem Willen? In Antwort auf diese Frage stellt O. Höffe fest: „Der Widerspruch ist im Begriff des Wollens als dem Charakteristikum eines praktischen Vernunftwesens zu suchen. Dabei hat 'Vernunftwesen' nicht die Bedeutung einer differentia specifica zu 'Wollen', so als ob es auch ein Wollen nichtvernünftiger, bloßer Naturwesen gäbe. ' Vernunftwesen ' hat vielmehr explikative Bedeutung. Daß mit dem Begriff des Wollens der Begriff des praktischen Vernunftwesens angesprochen ist, läßt sich auch aus der Funktion des kategorischen Imperativs entnehmen." 23 Mit dieser Behauptung, nämlich daß der menschliche Wille als Wille zur Vernunft sich selbst zum Zweck hat, w i l l Kant gewährleisten, daß der den menschlichen Willen bindende Zweck ein unbedingter und allgemeiner ist und ein Zweck, der an den menschlichen Willen nicht von außen herangetragen wird, sondern ihn von innen heraus bindet. Gegenstand des vernünftigen Willens ist nicht irgendein partikularer Zweck, sondern allein die Gesetzmäßigkeit des Wollens. Demzufolge lautet eine Formulierung des kategorischen Imperativs: ,,[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." 24 Der Korrelatbegriff hierzu ist der Begriff eines Reichs der Zwecke, das aus einer Gemeinschaft von Vernunftwesen besteht.25 Dieses Reich der Zwecke ist von der Ordnung der sinn19

Vgl. hierzu Tugendhat,Vorlesungen über Ethik, S. 132; Beck, Kants 'Kritik der praktischen Vernunft', S. 170 f. 20 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53 ff. 21 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 57; hierzu Kutschera, Grundlagen der Ethik, S. 197 Anm. 27. 22 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 58. 23 Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 113. 24 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52. 25 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 74.

II. Das Verhältnis von Wille und Vernunft

23

lieh gegebenen Natur gänzlich verschieden; während letztere Gegenstand theoretischer Erkenntnis sein kann, ist ersteres „nur ein Ideal" 26 , welches nicht im Sinne Kants erkannt werden kann. Analog dazu, wie im Bereich der sinnlichen Gegenstände die Vielheit sinnlicher Eindrücke durch Anschauungs- und Denkformen im Sinne einer gegenständlichen Einheit gedeutet werden und erst dadurch zu Gegenständen der Erfahrung werden 27 , wird im Reich der Zwecke die Vielheit der Willensrichtungen von Personen zu einer systematischen Einheit durch das moralische Gesetz zusammengefaßt. Das Reich der Zwecke ist „der Begriff und die Antizipation eines teleologischen Systems, in welchem ein Element 'für' ein anderes da ist und in dem sich zuletzt alle besonderen materialen Ziele zur Form Einer Zweckgesetzlichkeit, Eines unbedingten Wertes zu28

sammenfassen." Diese Idee eines Reichs der Zwecke ist es, die dem kategorischen Imperativ erst seine Tauglichkeit als Kriterium für moralisch gültige Normen sichern kann. Der kategorische Imperativ stellt nicht nur ein negatives Kriterium dafür bereit, ob eine Maxime als Gesetz tauglich ist. 29 Es ist nicht nur zu fragen, „ob ein Reich der Natur möglich wäre, in dem alle Vernunftwesen gleichförmig nach der von mir vorgeschlagenen Maxime handeln würden ... Ich habe mich darüber hinaus zu fragen, ob ich als Schöpfer einer Welt, in der jeder Teil seinen natürlichen Ort und seine Aufgabe hätte, wollen kann, daß gewisse Maximen die Kraft eines Gesetzes hätten ... Wenn ich etwas Unmoralisches will, d.h. also: wenn ich durch meine Handlungen unter Vernunftwesen Zwietracht säen würde, so gehört zu meiner Maxime, daß ich stillschweigend davon ausgehe, meine Maxime solle nicht allgemeingültig sein." 30 Verallgemeinerbarkeit in diesem Sinn meint, daß die Maxime tauglich sein muß, die Grundlage einer gemeinsamen Welt zu sein, d.h. sie muß dafür tauglich sein, die Vielheit der Menschen zu einer Menschheit zu vereinigen. 31 Daß die Betonung eines ursprünglichen, internen Zusammenhangs zwischen Wille und Vernunft auch die Lösungsstrategie der Diskurstheorie ist, wird in folgenden Ausführungen schlaglichtartig deutlich: „Das kategorische Sollen 26

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 75. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 161 u. Β 197/A 158. 28 Cassirer , Kants Leben und Lehre, S. 268. 29 Dagegen ist der Einwand berechtigt, daß der Begriff der Verallgemeinerung als „ein nichtnormatives Kriterium" (Kutschera, Grundlagen der Ethik, S. 197) keine Trennschärfe aufweist, da in diesem Sinn jegliche Verhaltensweise verallgemeinerbar ist. Dies ändert sich erst, wenn man die Verallgemeinerbarkeit als normatives Kriterium einfuhrt, wie es im Begriff des Reichs der Zwecke geschieht. 30 Beck,, Kants „Kritik der praktischen Vernunft", S. 155 f. 31 Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, die Kantische Lösung des Problems der kategorischen Geltung moralischer Normen zu beurteilen. Hier geht es lediglich um die Herausarbeitung eines gemeinsamen Grundgedankens bei der Diskursethik und Kant. 27

Α. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis

24

moralischer Gebote ist ... an den im emphatischen Sinne freien Willen einer Person gerichtet, die nach selbstgegebenen Gesetzen handelt: einzig dieser Wille ist autonom in dem Sinne, daß er sich vollständig durch moralische Einsicht bestimmen läßt." 32 Die wichtigsten Verbesserungen gegenüber Kant, die aus Sicht der Diskursethik zu verzeichnen sind, bestehen darin, daß die unvermittelte Gegenüberstellung der intelligiblen und sensiblen Welt überwunden wird 3 3 und die angeblich monologische Engfiihrung des kategorischen Imperativs behoben wird. 3 4 Im folgenden ist zuerst die Habermassche Lösung des Problems der Möglichkeit praktischer Erkenntnis zu untersuchen, wobei sich trotz aller Unterschiede eine zentrale Gemeinsamkeit konstatieren läßt. Beide Autoren gehen davon aus, daß der menschliche Wille ein ursprünglich von der Vernunft bestimmter Wille ist, d.h. der menschliche Wille als solcher ist immer ein Wille zur Vernunft. Es besteht mithin nicht die Wahl, sich für oder gegen die Vernunft zu entscheiden. Der Begriff der Vernunft wird von Habermas und Kant freilich unterschiedlich verwendet; aber bei beiden Autoren bezeichnet er den Geltungsgrund moralischen Sollens. Die Gesetze der Vernunft sind autonome Gesetze, da sie dem vernünftigen Willen selbst entnommen werden. Die Vernunft als Gesetzgeber ist eine Autorität, gegenüber der nicht die Wahl besteht, ob sie als Autorität anerkannt wird oder nicht. Der spezifischen Ausprägung, die dieser Grundgedanke bei Habermas erfährt, soll in den nächsten Kapiteln nachgegangen werden.

32

Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, S. 109. 33 Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 156; ders., Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 20 u. 25. 34 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 20f.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen Es ist kennzeichnend für den umfassenden Ansatz von Habermas, daß er moral-, bedeutungs-, sprach- und sozialtheoretische Probleme nicht getrennt voneinander behandelt, sondern sie im Rahmen einer einheitlichen Theorie der kommunikativen Rationalität zu integrieren versucht. Dabei werden die unterschiedlichsten Theorieansätze verarbeitet, etwa die Diskurstheorie K. O. Apels, die analytische Sprachphilosophie Austins und Searles, Luhmanns Systemtheorie oder Gadamers Hermeneutik, um nur einige zu nennen. Angesichts dieser Vielfalt heterogener Ansätze ist es angezeigt, die Frage nach der Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen in den Gesamtansatz von Habermas einzuordnen.

1. Die Frage der Begründbarkeit moralischer Normen im Rahmen der Gesellschaftstheorie Dem Versuch, moralische Aussagen und Normen in einem gewissen Sinn als wahrheitsfähig zu erweisen, kommt im Denken Habermas' von Anfang an1 ein zentraler Stellenwert zu, auch wenn Habermas erst in jüngerer Zeit systematisch ausgearbeitete Begründungsversuche vorgelegt hat.2 Die herausragende Stellung des Problems wird verständlich, wenn man sich die Aufgaben bewußt macht, die Habermas der Gesellschaftstheorie zuweist.

1

Vgl. etwa Habermas, Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 101 ff.; ders., Begründung von Werturteilen, S. 89 ff.; ders., Wahrheitstheorien, S. 211 ff.; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 152 ff.; ders., Was heißt Universalpragmatik?, S. 174 ff. 2 Vgl. vor allem Habermas, Begründungsprogramm, S. 53 ff.; ders., Moralbewußtsein, S. 127 ff.; ders., Erläuterungen, S. 119 ff.

26

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

a) Die Gesellschaftstheorie

als empirische Wissenschaft

Die kritische Gesellschaftstheorie nimmt sich die theoretische Frage vor, „wie soziale Ordnung möglich ist." 3 Die Antwort darauf liefert eine Theorie des kommunikativen Handelns, die die soziologischen Grundbegriffe entwikkelt, mittels derer der Bestand sozialer Ordnung erklärt werden soll. Danach ist das menschliche Zusammenleben an die gesellschaftlich koordinierte Tätigkeit der Gesellschaftsmitglieder gebunden. Voraussetzung dieser Koordination sind Formen des kommunikativen Handelns, basierend auf dem Einsatz der kommunikativen Vernunft. Das Modell des kommunikativen Handelns betont als Voraussetzung für die Koordination menschlicher Tätigkeit die auf Verständigung und Einverständnis zielende Kommunikation: „ I m kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, daß sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können."4 Das Medium, in dem sich die Koordination menschlicher Tätigkeiten im Rahmen kommunikativen Handelns vollzieht, ist die Sprache. Die Auffassungen Habermas' zur Sprache sind für die Theorie des kommunikativen Handelns von herausragender Bedeutung. Denn der „der Sprache innewohnende[n] Rationalität"5 ist es zu verdanken, daß Verständigung zwischen den Menschen gelingen kann. Diese Rationalitätspotentiale der Sprache erlauben es, Verständigung als Telos der Sprache anzusehen.6 Die durch Sprache vermittelte Verständigung beruht auf Sprechakten; diese enthalten implizit die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. 7 Ein angemessenes Rationalitätskonzept muß laut Habermas den drei genannten Geltungsansprüchen gerecht werden. Die Adressaten eines Sprechakts betrachten diese Geltungsansprüche vor dem Hintergrund gemeinsamer lebensweltlicher Überzeugungen vielfach als eingelöst. Werden sie aber dennoch einmal problematisch, so ist auf die Ebene des Diskurses überzuwechseln. Entscheidend für diese Diskursebene ist, daß der Diskurs von Handlungszwängen entlastet ist und dadurch die Geltungsansprüche, die sonst fraglos akzeptiert werden, zum Gegenstand der 3 Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 75. 4 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 385. 5 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 132. 6 Vgl. zu dieser These Kap. B.II. 1. 7 Vgl. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 79; dersBedeutungstheorie, S. 126; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 412. An anderer Stelle rechnet Habermas daneben auch den Anspruch auf Verständlichkeit zu den Geltungsansprüchen, vgl. ders., Wahrheitstheorien, S. 220 ff.; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 66.

I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen

27

Überprüfung gemacht werden können.8 Die Einlösung von Geltungsansprüchen geschieht durch Gründe; sie ist vollzogen, wenn die Diskursteilnehmer durch die Gründe zu Ja-Stellungnahmen motiviert werden. Die Erhebung und Einlösung von Geltungsansprüchen in dieser Form setzt voraus, daß die Diskursteilnehmer sich als Freie und Gleiche anerkennen. Denn die Erwartung der Zustimmung, wie sie im Geltungsanspruch enthalten ist, wäre sinnlos, wenn der Behauptende bereit wäre, Zwangsmittel zur Erzwingung der Zustimmung anzuwenden. Durch Gründe motivierte Zustimmung verträgt sich nicht mit Zwang. b) Die Kritische

Theorie als Quelle normativer Erkenntnis

Diese theoretische Fragestellung nach der Möglichkeit sozialer Ordnung ist aber nur die eine Seite der kritischen Gesellschaftstheorie. Die andere Seite ist ihr normativer Anspruch. Ihr erklärtes Ziel ist es, „mit einer Kommunikationstheorie die normativen Gehalte humanen Zusammenlebens auf eine unverdächtige Weise ein[zu]fuhren ..., ohne sie hinterrücks auf dem Weg einer Geschichtsphilosophie einschmuggeln zu müssen."9 Es soll eine Gesellschaft geschaffen werden, „in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten". 10 Zur Erreichung dieses Ziels muß die Theorie des kommunikativen Handelns die normativen Grundlagen der Gesellschaftstheorie entfalten. 11 Die Kritische Theorie darf sich aus der Sicht von Habermas einen Beitrag zur Lösung des Problems einer freien und gerechten Gesellschaftsordnung zutrauen, weil sie über einen normativ gehaltvollen Begriff von Rationalität verfugt. Dieses Rationalitätskonzept liefert den Maßstab für die Beurteilung von gesellschaftlichen Institutionen 12 und erlaubt die Identifizierung und Erklärung von Sozialpathologien der Moderne. 13 Der Grundzug dieser Gesellschaftskritik besteht in dem Nachweis, daß Entscheidungen, die eigentlich über Mechanismen der Verständigung und Konsensbildung getroffen werden müßten, statt dessen über Mechanismen von Macht und Geld gefällt werden. Dadurch werde die kommunikative Vernunft in Bereichen, in denen sie ihre Kraft zur Herstellung einer gerechten Ordnung entwickeln müßte, an ihrer Entfaltung gehindert. 8

Vgl. zur Unterscheidung zwischen kommunikativem Handeln und Diskursen Habermas, Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 115 ff. 9 Habermas, Dialektik der Rationalisierung, S. 190. 10 Habermas, Dialektik der Rationalisierung, S. 202. 11 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 583. 12 Vgl. Habermas, Aspekte der Handlungsrationalität, S. 466. 13 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 554.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

28

c) Die Gesellschaftstheorie

als Theorie der sozialen Evolution

Diese zunächst ahistorisch ansetzende Rekonstruktion der Grundlagen der sozialen Ordnung wird durch eine Theorie der sozialen Evolution ergänzt, die bisher nur als Programm vorliegt. Diese Theorie will Entwicklungsmuster für die normativen Strukturen einer bestimmten Gesellschaft rekonstruieren. 14 Ferner soll die Theorie „den Übergang von primitiven Gesellschaften, die nach Verwandtschaftsbeziehungen organisiert sind, zu Kulturen, die organisiert sind als Klassengesellschaften mit differenziertem politischen System; den Übergang von vormodernen Hochkulturen zur liberalen kapitalistischen Gesellschaft, sowie die Evolution der letzteren bis zur Stufe des fortgeschrittenen Kapitalismus" darstellen. 15 Die soziale Evolution weist nach Habermas zwei Entwicklungslinien auf, die jeweils einer eigenen Entwicklungslogik folgen. Zum einen vollzieht sich ein kognitiv-technischer Lernprozeß, zum anderen ein moralisch-praktischer. 16 Voraussetzung dafür, verschiedene Entwicklungsstufen ausfindig zu machen, ist ein entsprechender Beurteilungsmaßstab, über den Habermas dank des Begriffs des kommunikativen Handelns zu verfügen glaubt. Je weiter der Grad an Emanzipation von Herrschaft und damit verbunden die Fähigkeit zu verständigungsorientiertem Handeln fortgeschritten ist, um so höher ist die jeweilige Gesellschaft entwickelt. Neben die theoretische Aufgabe, die Entwicklungslinien der Gesellschaftsformen zu rekonstruieren, tritt auch im Rahmen der Theorie der sozialen Evolution eine praktische Absicht. Die gegenwärtige Gesellschaft soll im Licht der sozialen Entwicklungstheorie begutachtet werden. Diese kann Begründungen dafür liefern, „warum in bestimmten Situationen von bestimmten Akteuren bestimmte Handlungsstrategien und Handlungsnormen eher gewählt werden sollten als andere." 17

2. Moraltheorie im Unterschied zu Moral Das zentrale Problem, nämlich die Bedingungen der Möglichkeit praktischer Erkenntnis zu benennen, erörtert Habermas im Rahmen der Moraltheorie. Dabei steckt der eingangs erläuterte Sinn moralischer Verpflichtung den Aufgabenbereich der Moraltheorie ab. Die Moraltheorie hat „deontologischen, kog-

14 15 16 17

Vgl. Habermas, Historischer Materialismus, S. 35. McCarthy, Kritik der VerständigungsVerhältnisse, S. 270. Vgl. Habermas, Historischer Materialismus, S. 11 f. u. 35. Habermas, Historischer Materialismus, S. 250.

I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen

29

nitivistischen, formalistischen und universalistischen Charakter." 18 Sie ist deontologisch in dem Sinn, daß sie nicht nach Werten fragt, an denen sich das gute Leben zu orientieren hat, sondern nach allgemeinverbindlichen moralischen Verpflichtungen. 19 Wegen des unbedingten Verpflichtungscharakters moralischer Normen und ihres universalen Geltungsbereichs unterscheidet Habermas moralische und ethische Normen. Dieser Differenzierung entspricht die Tren20

nung der Begriffe des Gerechten und des Guten. Die Suche nach dem Gerechten wird durch Fragen des Typs „Was soll man tun?" auf den Weg gebracht, im Gegensatz zu Fragen wie „Was ist gut für mich/ für uns?" bzw. „Worin besteht 21 das gute Leben?" Die zuletzt genannten Fragen beantwortet eine Güterethik im Aristotelischen Sinn. 22 Der ethische Ansatz will Vorgaben zum Gelingen des jeweils einzelnen Lebens machen, gestützt auf Güter als etwas Objektives, das unabhängig von subjektiven Präferenzen einzelner Subjekte ist. Der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist dabei nur einer unter vielen objektiven Gütern. Grundlage für die Erfahrung des objektiv Wertvollen ist, daß der Einzelne in konkrete Lebenszusammenhänge eingebettet ist. 23 Habermas ist nun der Ansicht, daß eine Güterethik nicht mit objektiven Gültigkeitsanspruch durchgeführt werden kann: „Im Anblick eines moralisch gerechtfertigten Pluralismus von Lebensentwürfen und Lebensformen, können Philosophen nicht mehr in eigener Regie allgemeinverbindliche Instruktionen über den Sinn des Lebens geben."24 Demgegenüber richtet die moralische Frage nach der Gerechtigkeit ihr Hauptaugenmerk auf die Begründbarkeit moralischer Normen. Die rationale Begründung von Normen verlangt, die eingespielten Lebenszusammenhänge zu überschreiten; denn die dort maßgeblichen Überzeugungen müssen sich vor einem formalen Moralprinzip ausweisen lassen. Die Moraltheorie ist kognitivistisch, da sie nachzuweisen versucht, daß Gerechtigkeitsfragen überhaupt rational beantwortet werden können und somit die Begründung moralischer Normen und Aussagen im Sinn praktischer Erkenntnis möglich ist. Moralische Aussagen können deshalb mit einem wahrheitsanalogen Geltungsanspruch verbunden werden. 25 18

Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 11. 19 Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 166 f. 20 Vgl. z.B. Habermas, Erläuterungen, S. 176. 21 Vgl. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, S. 83. 22 Vgl. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, S. 81. 23 Vgl. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, S. 81. 24 Habermas, Erläuterungen S. 184. 25 Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 143.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

30

Die Moraltheorie ist formalistisch: Sie expliziert, was es heißt, den moralischen Standpunkt einzunehmen, kann aber selbst keine inhaltlich bestimmten Normen als richtig erweisen. Insoweit ist die Moraltheorie auf die Durchführung realer praktischer Diskurse angewiesen, deren Ergebnisse nicht im Rahmen der Moraltheorie vorweggenommen werden können. 26 Sie klärt nur die Bedingungen der Möglichkeit praktischer Erkenntnis. Deshalb sind die Diskursregeln nicht als Handlungsverpflichtungen zu verstehen, sondern als eine transzendentale Nötigung. 27 Die Moraltheorie kann ferner nicht die Frage „Warum moralisch sein?" beantworten und auch keine Motivation dafür erzeugen, den moralischen Standpunkt einzunehmen.28 Die Moraltheorie ist universal, d.h. die durch sie entfaltete formale Explikation des moralischen Standpunkts ist für jeden Menschen verbindlich, egal, welchem Kulturkreis er angehört. 29

3. Moraltheorie im Rahmen der pragmatischen Wende Die Moraltheorie soll die Bedingungen entfalten, unter denen kategorisch geltende Normen überhaupt möglich sind. Dies geschieht auf der Grundlage einer pragmatischen Wende 30 , deren Hauptthesen vorangestellt und in ihrem Zusammenhang mit der Moraltheorie erläutert werden sollen. Die pragmatische Wende führt zu einer besonderen Auffassung darüber, was Wahrheit bzw. Richtigkeit, Begründbarkeit und Verstehen von Sätzen eigentlich heißt. Habermas entwickelt seine Position hierzu auf der Grundlage der sogenannten Universalpragmatik. Diese knüpft nicht an Sätzen, sondern an Sprechakten an. Sprechakte werden jemandem gegenüber geäußert, wobei nach Habermas jeder Sprechakt von Haus aus mit drei Geltungsansprüchen verbunden ist, nämlich mit denen auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Diese Geltungsansprüche seien implizit bereits auf der Ebene des kommunikativen Handelns an die Sprechakte, die der Koordination der Handlungen dienen, geknüpft. Solange die Aktoren in eingespielten Lebenszusammenhängen tätig sind, werden diese Geltungsansprüche als eingelöst angesehen. Werden die Geltungsansprü-

26

Vgl. Habermas, Was macht eine Lebensform rational?, S. 46; Habermas, Begründungsprogramm, S. 113. 27 Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 132. 28 Vgl. Habermas, Begründungsprogramm, S. 119 und ders., Erläuterungen, S. 185. 29 Vgl. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 12. 30 Vgl. zum Begriff der pragmatischen Wende z.B. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 75.

I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen

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che problematisch, muß zu ihrer Einlösung auf die Ebene des Diskurses übergewechselt werden, auf der ihre Berechtigung geprüft wird. Unter jedem der drei genannten Aspekte kann die Sprechhandlung als ungültig zurückgewiesen werden: ,,[U]nter dem Aspekt der Richtigkeit, die der Sprecher für seine Handlung mit Bezugnahme auf einen normativen Kontext (bzw. mittelbar für diese Normen selber) beansprucht; unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit, die der Sprecher für die Äußerung der ihm privilegiert zugänglichen subjektiven Erlebnisse beansprucht; schließlich unter dem Aspekt der Wahrheit, die der Sprecher mit seiner Äußerung für eine Aussage ... beansprucht." 31 Unter moraltheoretischem Blickwinkel ist der Anspruch auf Richtigkeit entscheidend. Dieser Geltungsanspruch in Form des Anspruchs auf moralische Gültigkeit ist (ebenso wie der Wahrheitsanspruch) ein universaler. Er wird nicht nur gegenüber bestimmten Menschen erhoben, sondern er verlangt von jedem Menschen Zustimmung. Damit ist dieser Geltungsanspruch auf einen idealen Diskurs bezogen, an dem alle diskursfahigen Personen beteiligt sind. Ziel des Diskurses ist es, daß zwischen den Diskursteilnehmern ein Konsens erzielt wird, d.h. daß alle Adressaten eines Geltungsanspruchs eine Ja-Stellungnahme abgeben. Damit es zu dieser universalen Verständigung kommt, müssen die erhobenen Geltungsansprüche durch Gründe eingelöst werden. Für jeden Geltungsanspruch gibt es eine spezifische Begründungsweise. Nach Habermas können Begründungen, die als solche in Argumentationen entfaltet werden müssen, nicht monologisch durchgeführt werden. Da die Einlösung von Geltungsansprüchen nur diskursiv möglich ist, kann die Wahrheit theoretischer und die Richtigkeit normativer Aussagen nicht in Form des monologischen Denkens ausgewiesen werden. Genau daraufbaut der universalpragmatische Ansatz auf, der die Voraussetzungen für die Erhebung und Einlösung von Geltungsansprüchen in Sprecher-Hörer-Beziehungen verortet. Gäbe es die Möglichkeit monologischer Begründung, dann würde dies zeigen, daß die angeführten pragmatischen Voraussetzungen eben nicht unverzichtbare Bedingungen der Möglichkeit von Erhebung und Einlösung von Geltungsansprüchen sind. Dies erhellt, daß Habermas in einem weiten Sinn von Gründen und Begründung spricht. Er meint nicht nur solche Gründe, die den Inhalt des Sprechakts stützen, sondern auch solche, die für den Vollzug gerade dieses Sprechakts angegeben werden können. Das sind Gründe, die zum Gelingen des Sprechakts beitragen. So wäre der Sprechakt eines Befehls mißlungen, wenn der Befehlende gegenüber dem Adressaten keine Befehlsgewalt hat. Der Befehl ginge als solcher ins Leere. 32 31

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 412. Die Auffassung von Habermas, daß Begründung im vollen Sinn nicht nur dem semantischen Gehalt einer Äußerung gerecht werden muß, sondern auch die pragmatische Dimension zwischen den Sprechern berücksichtigen muß, wird von der Sprechakttheorie angeregt, die von J. L. Austin, und im Anschluß daran von J. R. Searle entwik32

32

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

Kennzeichnend für Habermas ist es, beide Begründungsebenen miteinander zu verknüpfen, wenn es um die Beurteilung der Geltung von Sprechakten geht. Geltungsansprüche im pragmatischen Sinn meinen ein doppeltes: Zum ersten wird Geltung für den Inhalt des Sprechakts beansprucht, zum zweiten wird auch beansprucht, daß der Sprechakt als Handlung gegenüber anderen passend ist. Diese Verknüpfung der beiden gänzlich verschiedenen Kategorien von Gründen ist nur auf dem Boden einer Konsensustheorie der Wahrheit bzw. Richtigkeit plausibel. Ein Konsens kommt dann nicht zustande, wenn die Gründe für den Inhalt etwa einer Behauptung unzutreffend sind oder aber, wenn der Sprechakt als solcher unpassend, d.h. mißlungen ist. In beiden Fällen wird der Adressat das Sprechaktangebot nicht annehmen. Wenn nun der Be-

kelt wurde. Die Sprechakttheorie lenkt den Blick darauf, daß die Beschreibung von Sachverhalten nicht die einzige und auch nicht die einzig wichtige Funktion der Sprache ist. Vielmehr können mittels der Sprache Warnungen ausgesprochen, Wetten abgeschlossen, Versprechen gegeben, Erlaubnisse erteilt werden usw. Das entscheidende Merkmal dieser sprachlichen Äußerungen ist, daß der Sprecher mit seiner Äußerung zugleich etwas tut. Wer z.B. sagt, „ich verspreche dir, daß..." gibt zugleich ein Versprechen (vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 29). Deshalb müssen nach Austin an einem Sprechakt ein lokutionärer, illokutionärer und perlokutionärer Akt unterschieden werden (vgl., S. 120). Der lokutionäre Akt ist die Äußerung eines Satzes mit einer bestimmten Bedeutung. Einen lokutionären Akt vollziehen, bedeutet zugleich, auch einen illokutionären Akt zu vollziehen, „d.h. einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt" (S. 117). So wird z.B. mit der Äußerung „Ich wette, daß..." nicht nur eine Äußerung gemacht, sondern zugleich ein Wettangebot abgegeben. Der perlokutionäre Akt betrifft die Wirkungen, die der Sprecher mit seiner Äußerung bei anderen erzielt (S. 110 f.). Welche illokutionäre Rolle eine Äußerung übernimmt, d.h. ob sie als Warnung, Bitte, Befehl, Feststellung verstanden werden soll, wird durch entsprechende Konventionen festgelegt; diese geben die Regeln an, denen eine Äußerung folgen muß, um einen bestimmten illokutionären Akt zu vollziehen. Werden diese Regeln verletzt, so mißglückt der beabsichtigte Sprechakt (S. 36). Auch Feststellungen können mißglükken; sie sind dann nicht falsch, sondern mißlungen. Dies ist nach Austin etwa der Fall, wenn eine Behauptung über einen Gegenstand aufgestellt wird, der überhaupt nicht existiert (vgl. S. 156 f.). Um feststellen zu können, welche illoktionäre Rolle eine Äußerung hat und welchen Bedingungen sie genügen muß, damit diese Rolle gelingt, ist die jeweilige Redesituation zu berücksichtigen. Feststellungen z.B. unterliegen ebenso wie andere illokutionäre Rollen Regeln, die maßgeblich für ein Gelingen bzw. Mißlingen des Sprechakts sind. Andererseits sind auch andere Äußerungen wie 'fur Recht befinden'; 'jemandem etwas vorwerfen'; 'jemanden für etwas verantwortlich machen' den Feststellungen insoweit ähnlich, als sie zu Recht oder zu Unrecht gemacht werden können. Daraus zieht Austin die Konsequenz, daß Feststellungen nicht prinzipiell von Ratschlägen, Warnungen, Geboten usw. unterschieden werden können: „Sowohl bei Feststellungen ... als auch bei Warnungen und so weiter kann ... die Frage gestellt werden, ob man zu Recht festgestellt, gewarnt, einen Rat gegeben hat" (S. 163 f.). Dies bietet Habermas einen Anknüpfungspunkt, den wahrheitsanalogen Charakter des Richtigkeitsanspruchs zu betonen, der an normative Aussagen geknüpft ist. Bei Habermas werden die Regeln, die für die illokutionäre Rolle des Sprechakts konstitutiv sind, zu Geltungsbedingungen der Äußerungen.

I. Die Begründbarkeit moralischer Normen und Aussagen

33

griff der Wahrheit bzw. Richtigkeit nur im Zusammenhang mit dem Konsensbegriff erklärt werden kann, dann gelangt man zu der These, daß sowohl Gründe für den Inhalt der Aussage33 als auch für das Gelingen des Sprechakts angeführt werden müssen. Die universalen Bedingungen für das Gelingen eines Sprechakts werden in einer Universalpragmatik herausgearbeitet. Diese Bedingungen stellen (grob gesagt) sicher, daß die Diskursteilnehmer sich als freie und gleichberechtigte Diskurspartner ernstnehmen. Wenn aber die Einhaltung dieser Bedingungen nach einer Konsensustheorie notwendiger Bestandteil des Begriffs von Wahrheit sind, dann enthält schon dieser Begriff der Wahrheit moralische Implikationen. Habermas geht insofern noch über diese Forderung hinaus, als nicht nur die Begründung von Geltungsansprüchen kommunikativ sein muß, sondern bereits das Verstehen der Bedeutung eines Sprechakts die Kenntnis voraussetzen muß, wie die mit dem Sprechakt verbundenen Geltungsansprüche diskursiv eingelöst werden können, d.h. wie die Sprechakte gegenüber den Adressaten begründet werden können. Damit wird bereits das Verstehen von Sprechakten an kommunikative Voraussetzungen gebunden. Es besteht somit ein interner Zusammenhang zwischen Bedeutungs- und Geltungsfragen. 34 Die Voraussetzung dafür, daß ein Sprecher an einen anderen Geltungsansprüche richten kann, verbunden mit der Verpflichtungsübernahme, Gründe anzugeben, ist, daß der Adressat des Sprechakts als argumentationsbereit und argumentationsfahig, kurz als „zurechnungsfähig" 35, angesehen wird. Andernfalls wäre es sinnlos, zu ihm zu sprechen. Deshalb sei mit jedem Sprechakt und den an ihn geknüpften universalen Geltungsansprüchen zwangsläufig die Unterstellung einer idealen Sprechsituation verbunden, d.h. die Unterstellung, daß alle möglichen Diskursteilnehmer ihre Zustimmung bzw. Ablehnung von Geltungsansprüchen von den vorgebrachten Gründen abhängig machen.36 Auf der Grundlage der Universalpragmatik behauptet Habermas, daß es faktisch nicht verwerfbare Präsuppositionen von Argumentation überhaupt gibt 3 7 ; diese seien die Bedingungen der Möglichkeit der Verständigung, wobei Verständigung als unhintergehbare Aufgabe menschlichen Daseins gedacht wird. Die Moraltheorie macht sich diesen Gedanken zunutze. Das Universalisierungsprinzip (U), das bei Habermas als Moralprinzip fungiert, soll aus diesen Präsuppositionen

" Die Schwierigkeiten, die dem Begriff der Begründung im Zusammenhang mit der Konsenstheorie der Wahrheit erwachsen, werden in Kap. Β. II. 5. erläutert. 34 Vgl. Kap. B.II.3.d. 35 Vgl. zu dem Begriff der Zurechnungsfahigkeit z.B. Habermas, Erläuterungen, S. 173. 36 Vgl. Kap. B.II.5. 37 Vgl. Kap. B.II.3.

3 Gril

34

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

von Argumentation überhaupt ableitbar sein. 38 Um die nähere Ausgestaltung dieser Argumentation zu verfolgen, ist zunächst zu klären, was Habermas unter dem Begriff der Verständigung versteht und in welchem Sinn Verständigungsvoraussetzungen faktisch nicht verwerfbar sind.

I I . Verständigung als Telos der Sprache Ziel der sogenannten kommunikativen Ethik ist es, die Grundlagen der Moral in der Sprache aufzuspüren. Vergegenwärtigt man sich, daß gültige moralische Urteile eine allgemeine und kategorische Verpflichtung beinhalten, so lassen sich die weitgespannten Erwartungen, die Habermasens Konzept der Sprache erfüllen muß, erahnen.

1. Der Begriff der Verständigung Die Überzeugung, daß das Telos der Sprache Verständigung sei 39 , bildet den Kern dieses Sprachkonzepts. Sie markiert den Ausgangspunkt des Versuchs, „den normativen Gehalt der in Sprachen, Kommunikationen angelegten Idee der Verständigung herauszuarbeiten." 40 Was ist mit diesem Begriff der Verständigung genau gemeint? a) Die pragmatische Dimension des Verständigungsbegriffs Habermas betont die pragmatische Dimension des Sprechens, indem er den Begriff der Verständigung als dreistelligen Begriff konzipiert: Verständigung meint, sich mit jemanden über etwas verständigen. 41 Verständigung liegt nicht bereits dann vor, wenn der Hörer die Bedeutung eines Sprechakts erfaßt. Verlangt ist vielmehr, daß Sprecher und Hörer eine Übereinstimmung erzielen.

38

Vgl. Kap. B.III. Vgl. etwa Habermas, Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, S. 72; ders., Faktizität und Geltung, S. 18; ders., Replik, S. 497; ders., Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, S. 73; ders., Dialektik der Rationalisierung, S. 173; ders., Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion und Lebenswelt, S. 75; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 387; ders., Diskussionsbeitrag, S. 156. 40 Habermas, Dialektik der Rationalisierung, S. 185. 41 Vgl. Habermas, Bedeutungstheorie, S. 123. 39

II. Verständigung als Telos der Sprache

35

Diese darf jedoch nicht eine bloß faktische, mithin zufallige Obereinstimmung sein, die auch auf Mißverständnissen oder Formen von Gewalt beruhen könnte. Der Begriff der Verständigung schließt ein rational motiviertes, d.h. auf Gründen beruhendes Einverständnis mit ein. 42 Somit ist der Begriff der Verständigung ein normativer Begriff 43 , da nur ein qualifizierter, auf der Einhaltung der Diskursregeln basierender Konsens es verdient, Verständigung im Sinne von Habermas genannt zu werden. Verständigung liegt deshalb nur vor, wenn die Zustimmung zu den Geltungsansprüchen eines Sprechakts ausschließlich auf guten Gründen beruht. Die zentralen Geltungsansprüche von Wahrheit und Richtigkeit sind universale Geltungsansprüche; sie werden durch die Zustimmung aller potentiellen Diskursteilnehmer eingelöst. In die Idee der Verständigung ist somit die Vorstellung der Universalität eingebaut.44 Worüber wird Verständigung erzielt? Den Geltungsansprüchen der Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, die mit jedem verständigungsorientierten Sprechakt verknüpft sind, korrespondieren drei Weltbezüge auf eine objektive, auf eine gemeinsame soziale und auf eine eigene, subjektive Welt. 45 Dementsprechend wird Verständigung über die Existenz von Gegenständen, über die Legitimität der Regelung interpersonaler Beziehungen und über die subjektiven Erlebnisse eines Sprechers erzielt. Wie kann Verständigung erreicht werden? Verständigung wird durch die Einlösung der Geltungsansprüche, die an jeden verständigungsorientierten Sprechakt geknüpft sind, erzielt. Dies geschieht durch die Angabe von Gründen, die in Argumentationen entfaltet werden. Die Zustimmung, die auf Gründen beruht, ist eine Zustimmung aus Einsicht. 46 Je nachdem, welcher Geltungsanspruch eingelöst werden soll, verlaufen diese Argumentationen anders: „Die

42

Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.l, S. 114. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 525; ders., Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 123. 44 Habermas unterscheidet neuerdings zwischen bloßer Verständigung und Einverständnis bzw. zwischen verständigungsorientiertem und einverständnisorientiertem Sprachgebrauch. Dem entspricht die Unterscheidung zwischen aktorunabhängigen und aktorrelativen Gründen (vgl. ders., Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, S. 78). Diese Unterscheidung ist für die Diskussion, inwieweit z.B. in bezug auf Imperative, Ankündigungen, Absichtserklärungen usw. von Rationalität gesprochen werden kann, relevant. Für die Wahrheit von Aussagen und die Richtigkeit von moralischen Normen bleibt es hingegen bei dem starken Begriff von Verständigung im Sinne von Einverständniserzielung, der im folgenden zugrundegelegt wird. 45 Vgl. dazu z.B. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 149; 198; 413. 46 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 65. 43

3'

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

36

Begründung deskriptiver Aussagen bedeutet den Nachweis der Existenz von Sachverhalten; die Begründung normativer Aussagen den Nachweis der Akzeptabilität von Handlungen bzw. Handlungsnormen; die Begründung evaluativer Aussagen den Nachweis der Präferierbarkeit von Werten; die Begründung expressiver Aussagen den Nachweis der Transparenz von Selbstdarstellungen; und die Begründung explikativer Aussagen den Nachweis, daß symbolische Ausdrücke regelrecht erzeugt worden sind." 47 b) Der Begriff der Verständigung im Rahmen des Gesamtansatzes In welchen Kontexten gebraucht Habermas den Begriff der Verständigung? Der Begriff ist ein Schlüsselbegriff der Moral-, der Argumentations-, der Rationalitäts-, der Handlungs- und Gesellschaftstheorie. Im Rahmen der Handlungs- und Gesellschaftstheorie unterscheidet Habermas zwei Typen sozialen Handelns, nämlich das kommunikative und das strategische Handeln. Beide Handlungstypen schließen sich aus, d.h. eine Handlung ist entweder kommunikativ oder strategisch. 48 Diesen Handlungstypen entsprechen zwei verschiedene Einstellungen eines Aktors, nämlich die verständigungsorientierte und die erfolgsorientierte Einstellung. Die verständigungsorientierte Einstellung ist dadurch gekennzeichnet, daß sich der Aktor um eine Interaktion mit anderen bemüht, indem er ihre rational motivierte Zustimmung zu seinen Sprechakten zu erlangen versucht. Die strategische Einstellung zeichnet sich durch „die wechselseitige Beeinflussung von zweckrational handelnden Gegenspielern" 49 aus, wobei diese Beeinflussung gerade nicht auf guten Gründen beruht. Habermas ordnet den beiden Handlungstypen zwei Typen der Handlungskoordinierung zu. Das Problem der Handlungskoordinierung besteht in der Frage, „wie (mindestens zwei) Interaktionsteilnehmer ihre Handlungspläne so koordinieren können, daß Alter seine Handlungen an Egos Handlungen konfliktfrei, jedenfalls unter Vermeidung des Risikos eines Abbruchs der Interaktion 'anschließen' kann." 50 Die Koordinierung durch strategisches Handeln ist eine Koordinierung „durch Interessenlage"; demgegenüber steht die Koordinierung „durch normatives Einverständnis" beim kommunikativen Handeln.51 Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene, auf der das Problem abgehandelt wird, wie eine soziale Ordnung möglich ist, entspricht den beiden Handlungs47 48 49 50 51

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 67. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 385 f. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 385. Habermas, Moralbewußtsein, S. 144. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 382.

II. Verständigung als Telos der Sprache

37

typen und den beiden Mechanismen der Handlungskoordinierung die Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt. Moderne Gesellschaften sind zugleich als System und Lebenswelt zu verstehen. 52 Die Einheit der Lebenswelt beruht auf der Sozialintegration, die über Mechanismen der Verständigung die Handlungen der Beteiligten abstimmt. Auf diese Weise wird die symbolische Reproduktion der lebensweltlichen Strukturen von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit geleistet.53 Demgegenüber steht die Systemintegration, die sich über systemische Mechanismen vollzieht. Die Handlungskoordinierung beruht auf den entsprachlichten Steuerungsmedien von Geld und Macht. Standardbeispiel hierfür sind Marktmechanismen. 54 Das System mit den Subsystemen Staat und Wirtschaft gewährleistet die materielle Reproduktion der Gesamtgesellschaft. Habermas verknüpft die handlungs- und gesellschaftstheoretische Ebene mit der moraltheoretischen auf folgende Weise: 55 Die Handlungskoordinierung über Einverständnis gelingt in der Alltagspraxis nur solange und soweit, wie die Aktoren von gemeinsam anerkannten Aussagen über die objektive, soziale und subjektive Welt ausgehen. Dieser Konsens ist in vielfältiger Weise brüchig. Wird von einem Aktor ein Geltungsanspruch zurückgewiesen, so stehen die Beteiligten vor der Wahl, auf strategisches Handeln umzuschalten oder den verlorengegangenen Konsens durch Argumentation wieder herzustellen. Insofern „kann die Argumentation als eine reflexiv gewendete Fortsetzung verständigungsorientierten Handelns mit anderen Mitteln begriffen werden." 56 Die Argumentationstheorie benennt die Voraussetzungen, die für die Einverständniserzielung durch Argumentation erfüllt sein müssen. Zentral hierfür sind die pragmatischen Voraussetzungen, die uns allererst in die Lage versetzen, anderen gegenüber Geltungsansprüche zu erheben und einzulösen. Wir verfügen alle über ein intuitives, vortheoretisches Wissen darüber, was es bedeutet, anderen gegenüber Geltungsansprüche zu erheben und sie ihnen gegenüber einzulösen. Dieses intuitive Vorwissen enthält die Ressourcen, aus denen Habermas den Gehalt seines Moralprinzips schöpft. Auf dieser Grundlage rekonstriert Habermas sodann die transzendentalpragmatische Begründung dieses Moralprinzips.

52

Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 180. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 212 ff. 54 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 226. 55 Der enge Zusammenhang zwischen Moraltheorie einerseits und Handlungs- und Gesellschaftstheorie andererseits wird zu Recht z.B. von Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 72, betont. 56 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 48. 53

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

38

c) Was heißt „ Telos der Sprache "? Was bedeutet die These, daß Verständigung das Telos der Sprache ist? Über die vielfaltigen Zusammenhänge, in denen der Begriff der Verständigung steht, wirkt sich diese These auf alle Theorieteile des Habermasschen Ansatzes aus. Sie drückt zum einen aus, daß Verständigung und Sprache nicht in einem äußerlichen Zweck-Mittel-Verhältnis stehen.57 Verständigung ist nicht ein Ziel, das ein Aktor oder Sprecher mit der Sprache verfolgt oder nicht, so wie er beliebig andere Ziele wählen kann. Denn Verständigung ist mit Sprache untrennbar verbunden. Das Phänomen der Sprache kann nur im Hinblick auf echte Verständigung begriffen werden. Verständigung ist die Grundfiinktion der Rede: ,,[D]er Sinn von Rede überhaupt besteht offensichtlich darin, daß sich mindestens zwei Sprecher/ Hörer über etwas verständigen." 58 Hieran schließt sich die Aussage an, daß niemand zwischen der Alternative wählen kann, Sprache als Medium der Verständigung zu benutzen oder nicht. Zwar können einzelne Sprechakte auch zu Zwecken der Täuschung, Unterdrückung usw. eingesetzt werden, insgesamt gesehen aber wird dadurch der interne Zusammenhang zwischen Sprache und Verständigung nicht durchtrennt. Wählen kann man nur zwischen alternativen Möglichkeiten. Dazu muß es möglich sein, verschiedene Wege als Alternative vor sich hinzustellen. Verständigung kann aber Habermas zufolge nicht als Alternative neben Nicht-Verständigung gestellt werden: „Die Möglichkeit, zwischen kommunikativem und strategischem Handeln zu wählen, ist abstrakt, weil sie nur aus der zufälligen Perspektive des einzelnen Aktors gegeben ist. Aus der Perspektive der Lebenswelt, der der Aktor jeweils angehört, stehen diese Modi des Handelns nicht zur freien Disposition." 59 Infolge dieser unauflösbaren Einheit zwischen Sprache und Verständigung läßt „sich der auf Verständigung gerichtete Sprachgebrauch als der Originalmodus von Sprachverwendung überhaupt auszeichnen ..., zu dem sich der konsequenzorientierte Sprachgebrauch und die indirekte Verständigung (das Zu-verstehenGeben) parasitär verhalten." 60 Damit sind zwei Aspekte angesprochen: Verständigungsorientiertes Sprechen ist unter normativen Gesichtspunkten vorzugswürdig vor anderen Arten des Sprechens. Ferner wird aber auch auf empirischer Ebene behauptet, daß sich etwa das konsequenzorientierte Sprechen von dem erfolgsorientierten Sprechen her erklären läßt. 57

Vgl. Habermas, Entgegnung, S. 364. Habermas, Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 114; vgl. hierzu McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse, S. 326 f. 59 Habermas, Begründungsprogramm, S. 111 f., vgl. auch ders., Replik, S. 488 f. 60 Habermas, Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, S. 595 f.; vgl. ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 388 f. 58

II. Verständigung als Telos der Sprache

39

Die behaupteten formalpragmatischen Voraussetzungen der Verständigung stellen starke Idealisierungen dar, die von den faktischen Gegebenheiten nie ganz eingeholt werden können. So sind etwa die Öffentlichkeit des Zugangs zum Diskurs, die gleichberechtigte Teilnahme oder die Zwanglosigkeit der Stellungnahmen unter empirischen Bedingungen niemals gänzlich zu verwirklichen. Habermas zufolge müssen die Diskursteilnehmer diese Bedingungen kontrafaktisch unterstellen. A u f diese Weise verschränkt sich der intelligible mit dem empirischen Bereich. 61 Der normative Gehalt, der bei den idealisierten Präsuppositionen verständigungsorientierten Handelns und Sprechens zum Ausdruck kommt, findet seine Entsprechung in den kontrafaktischen Annahmen der empirischen Aktoren und Sprecher, die die Verwirklichung dieser Annahmen in ihrer konkreten Sprechsituation unterstellen müssen. Das NochNicht der idealisierten Präsuppositionen findet seinen Widerhall im Jetzt-Schon der nicht verwerfbaren, kontrafaktischen Unterstellungen. A u f diese Weise will Habermas die unvermittelte Gegenüberstellung der sensiblen und intelligiblen 62

Welt bei Kant überwinden. d) Zusammenfassung Überblickt man die verschiedenen Kontexte, in denen der Begriff der Verständigung eine zentrale Rolle spielt, so können zunächst zwei Hauptlinien unterschieden werden: Erstens übernimmt der Verständigungsbegriff explikative Funktionen. So soll der Begriff des kommunikativen Handelns etwa erklären, wie Aktoren ihre verschiedenen Handlungspläne abstimmen und hierauf aufbauend eine dauerhafte soziale Ordnung möglich ist. Zweitens erfüllt der Verständigungsbegriff normative Funktionen. Insgesamt lassen sich grob folgende Funktionen unterscheiden, die im moraltheoretischen Zusammenhang wichtig sind:

61 Vgl. Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, S. 55; ders., Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, S. 20. 62 Zur Kritik an der Zwei-Reiche-Lehre Kants, vgl. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 25; ders., Erläuterungen, S. 156. Die angezielte Vermittlung normativer und faktischer Elemente kommt in folgender Aussage deutlich zum Ausdruck: „Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb der kommunikativen Alltagspraxis selber bemerkbar macht" (ders., Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch gegen die Diskurstheorie zu?, S. 20).

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

40

(1) Verständigung ist ein Gegenstand der Bewertung, wenn Verständigung als vorzugswürdig gegenüber Formen des nicht verständigungsorientierten Handelns angesehen wird. (2) Verständigung dient als Maßstab der Bewertung, wenn z.B. eine Bewertung der empirischen Zustände der modernen Gesellschaft versucht wird. Aufgrund dieses Bewertungsmaßstabs will Habermas Sozialpathologien der modernen Gesellschaft diagnostizieren. Der Verständigungsbegriff liefert aber auch den Bewertungsmaßstab für die Tauglichkeit theoretischer Konstrukte. So will Habermas etwa die Handlungsbegriffe eines teleologischen, normenreguiierten oder dramaturgischen Handlungsmodells als einseitig im Vergleich zum kommunikativen Handlungsbegriff erweisen, da sie wegen ihres verkürzten Verständnisses von Sprache den dreifachen Weltbezug eines Aktors nicht erfassen können.63 (3) Der Verständigungsbegriff ist schließlich auch eine Quelle von Wertungen. Die mit Sprache verknüpfte Idee der Verständigung beinhaltet die normativen Gehalte, die im Moralprinzip aufgegriffen werden. (4) Zuletzt bringt der Verständigungsbegriff auch die Alternativlosigkeit verständigungsorientierten Handelns und Sprechens zum Ausdruck. Infolge des unaufhebbaren Zusammenhangs zwischen Sprache und Verständigung ist Verständigung nicht ein Ziel, das nach Gutdünken gewählt oder aber nicht gewählt werden könnte.

2. Die verschiedenen Arten von Alternativlosigkeit Einen Eckpfeiler der Moraltheorie von Habermas bildet die Aussage, daß es unhintergehbare Präsuppositionen von Argumentation überhaupt gibt, deren Alternativlosigkeit im Rahmen einer formalen Pragmatik dargetan wird. Die in diesen Präsuppositionen verankerten Rationalitätspotentiale sollen im Moralprinzip (U) zum Ausdruck gebracht werden. a) Der Begriff der Alternativlosigkeit

in verschiedenen Kontexten

Habermas gebraucht den Begriff der Alternativlosigkeit in verschiedenen Kontexten mit verschiedener Bedeutung. 64

63

Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 142 ff. In klarer Weise werden verschiedene Begriffe der Alternativlosigkeit unterschieden von Gebauer, Letzte Begründung, S. 74 f. 64

I

Verständigung als Telos der Sprache

41

aa) Die Alternativlosigkeit der Diskursregeln Die Diskursregeln (als explizierte Präsuppositionen von Argumentation überhaupt) sind alternativlos für echte, auf Verständigung gerichtete Diskurse. Sie sind konstitutiv für echte Argumentationen. Die Folge ist, daß etwa die Diskursregel 'Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt' „nicht nur hier und da, sondern unvermeidlicherweise für jede Argumentation zutrifft." 65 Es geht um die „Identifizierung von Regeln, ohne die das Argumentationsspiel nicht funktioniert: wenn man überhaupt argumentieren will, gibt es für sie keine Äquivalente." 66 bb) Die Alternativlosigkeit von Argumentation überhaupt Die Alternativlosigkeit der Diskursregeln für die Durchführung von Diskursen impliziert noch nicht die Alternativlosigkeit einer auf Verständigung gerichteten Argumentationspraxis selbst. Letzteres will Habermas behaupten: Es gebe „keine soziokulturelle Lebensform, die nicht auf eine Fortsetzung kommunikativen Handelns mit argumentativen Mitteln wenigstens implizit angelegt ..

ware.

„67

cc) Die Alternativlosigkeit des kommunikativen Handelns Damit die Behauptung der Alternativlosigkeit von Argumentationen nicht eine bloße ad hoc-Annahme bleibt, versucht Habermas sie durch eine weitere Alternativlosigkeitsthese zu stützen. Die argumentative Praxis kann deshalb nicht beliebig gewählt werden, weil jeder Mensch als solcher unentrinnbar in eine Alltagspraxis des kommunikativen Handelns eingelassen ist: „Auch der konsequente Aussteiger kann aus der kommunikativen Alltagspraxis nicht aussteigen; deren Präsuppositionen bleibt er verhaftet - und diese wiederum sind mindestens teilweise - identisch mit den Voraussetzungen von Argumentation überhaupt." 68

65 66

Habermas, Begründungsprogramm, S. 100. Habermas, Begründungsprogramm, S. 105; vgl. auch ders., Erläuterungen, S.

161. 67 68

194.

Habermas, Begründungsprogramm, S. 110. Habermas, Begründungsprogramm, S. 110, vgl. auch ders., Erläuterungen, S.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

42

b) Was heißt „ Alternativlosigkeit

"?

Der Begriff der Alternativlosigkeit besagt zum einen, daß Menschen keine Wahl haben, ob sie in Zusammenhängen kommunikativen Handelns leben wollen oder nicht, bzw. ob sie argumentieren wollen oder nicht. Sie können sich nicht dafür entscheiden, diese Verständigungsverhältnisse zu verlassen. Der Versuch, auf Dauer außerhalb von Verständigung zu leben, führe zu Selbstmord oder Geisteskrankheit. 69 Das Ziel der Verständigung stehe nicht zur Disposition der Aktoren und Sprecher: „ M i t dem 'Zweck' von Argumentation überhaupt können wir nicht so arbiträr verfahren wie mit kontingenten Handlungszwecken; dieser Zweck ist mit der intersubjektiven Lebensform sprachund handlungsfähiger Subjekte so verwoben, daß wir ihn aus freien Stücken weder setzen noch umgehen können." 70 Ebensowenig wählbar sind aber zum anderen auch die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit von (echter) Argumentation die Rede sein kann: „Jeder Sprecher weiß intuitiv, daß eine vermeintliche Argumentation keine ernsthafte Argumentation ist, wenn entsprechende Bedingungen verletzt sind." 71 Ferner bezeichnet der Begriff der Alternativlosigkeit ein transzendentales Verhältnis. Die Diskursregeln bzw. die Regeln der idealen Sprechsituation sind die Bedingungen der Möglichkeit echter Argumentation. Deshalb sind Diskursregeln nicht mit moralischen Regeln vergleichbar: „Jene allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen, die die Beteiligten beim Eintritt in Argumentationen ... stets machen müssen, haben keineswegs den Charakter von Handlungsverpflichtungen; sie haben eher den Charakter einer transzendentalen Nötigung." 72 Außerdem verweist der Begriff der Alternativlosigkeit darauf, daß jeder Sprecher, sofern er in eine (echte) Argumentation eintritt, notwendigerweise Idealisierungen vornimmt und unterstellen muß, daß die Bedingungen der idealen Sprechsituation erfüllt sind. Andernfalls könnte der Sprecher nicht einmal meinen, an Argumentationen teilzunehmen. Beispiele solcher Idealisierungen sind „die Unterstellung, daß alle Gesprächsteilnehmer dieselben sprachlichen Ausdrücke bedeutungsidentisch verwenden" 73 , oder die Erhebung von universalen Geltungsansprüchen, mit denen die konkreten Zusammenhän-

69 70 71 72 73

Vgl. Habermas, Begründungsprogramm, S. 110. Habermas, Begründungsprogramm, S. 104 f. Habermas, Erläuterungen, S. 161. Habermas, Erläuterungen, S. 132. Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, S. 55.

II. Verständigung als Telos der Sprache

43

ge der Äußerungen überschritten werden. 74 Andere Beispiele solcher Idealisierungen bilden die Unterstellung der Öffentlichkeit des Zugangs zum Diskurs, die Unterstellung der gleichberechtigten Teilnahme am Diskurs oder die der Zwanglosigkeit der Stellungnahmen.75 Diese Idealisierungen werden im Begriff der idealen Sprechsituation zusammengefaßt. Die These, daß jeder Sprecher diese Idealisierungen vornehmen muß bzw. daß er die ideale Sprechsituation als erfüllt unterstellen muß, wenn er in Argumentationen eintritt, vertritt Habermas in verschiedener Stärke. In der schwächeren Form bemüht er sich um den „Nachweis der faktischen Nichtverwerfbarkeit" 76 der Präsuppositionen von Argumentation überhaupt. Da echte Argumentation aber die Fortsetzung des kommunikativen Handelns auf Diskursebene ist und deshalb die Argumentationspraxis mit unserer soziokulturellen Lebensform intern verschränkt ist, steht der Nachweis der faktischen Nichtverwerfbarkeit „unter dem Vorbehalt der Konstanz dieser Lebensform. Wir können nicht a priori ausschließen, daß diese sich ändert. Aber das bleibt eine leere Alternative, da wir uns eine fundamentale Veränderung unserer Lebensform ohne science fiction, die Men77

sehen in Zombies verwandelt, nicht einmal vorstellen können." Die Betonung der faktischen Nichtverwerfbarkeit scheint auf den ersten Blick auf eine kontingente Entscheidung der Sprecher darüber hinauszulaufen, ob sie das Argumentationsspiel nach den von Habermas postulierten Regeln spielen wollen oder nicht. Das wäre allerdings ein Mißverständnis. Habermas stellt den Fortbestand dieser Regeln vielmehr unter die Bedingung des Weiterbestehens unserer soziokulturellen Lebensform. Diese ist durch die Idee der Verständigung gekennzeichnet, die von den Sprechern verlangt, sich als Freie und Gleiche zu achten. Diese „kommunikative Rationalität [ist], gerade als unterdrückte, in den existierenden Formen der Interaktion bereits verkörpert." 78 Habermas will zwar nicht a priori ausschließen, daß diese Lebensform sich ändert, aber er hält dies für eine leere Alternative. Die Behauptung der Alternativlosigkeit wird demgegenüber verstärkt, wenn man die Konstanz der Lebensform als unabweislich behauptet, mithin den Verlust der Idee der Verständigung nicht einmal mehr als leere Alternative zuläßt. So verfährt Habermas, wenn er behauptet, daß der Zweck der Verständigung „mit der intersubjektiven Lebensform sprach- und handlungsfähiger

74 75 76 77 78

Vgl. Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, S. 55. Vgl. Habermas, Erläuterungen, S. 161. Habermas, Erläuterungen, S. 194. Habermas, Erläuterungen, S. 194. Habermas, Replik, S. 488 f.

44

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

Subjekte so verwoben [ist], daß wir ihn aus freien Stücken weder setzen noch umgehen können." 79 Mit diesen Überlegungen ist allerdings noch nicht die weitergehende These geklärt, daß ein Sprecher beim Eintritt in Argumentationen die Diskursregeln als erfüllt unterstellen muß. Die Diskursregeln formulieren allgemeine Symmetriebedingungen, „die jeder kompetente Sprecher, sofern er überhaupt in eine Argumentation einzutreten meint, als hinreichend erfüllt voraussetzen muß." 80 Jeder Sprecher muß also, wenn er in eine echte Argumentation eintreten will, nicht bloß selbst die Diskursregeln beachten, sondern er muß darüber hinaus auch unterstellen, daß die Adressaten des Sprechakts diese Diskursregeln ebenfalls beachten. c) Funktion der Alternativlosigkeitsthesen

in der Moraltheorie

Die Alternativlosigkeitsthesen sollen geeignet sein, eine Reihe von Einwänden gegen die transzendentalpragmatische Begründung des Moralprinzips und gegen die Leistungsfähigkeit des Moralprinzips zu entkräften. (a) Der Einwand der Kulturabhängigkeit des Moralprinzips: Die These von Habermas, ein Moralprinzip aufgewiesen zu haben, das für jeden Menschen gilt, ruft den Einwand der Kulturabhängigkeit auf den Plan. Dieser besagt, „daß es sich bei 4 U' um eine vorschnelle Verallgemeinerung der moralischen Intuitionen unserer eigenen westlichen Kultur handelt." 81 Dagegen fuhrt Habermas die Alternativlosigkeit der Verständigung ins Feld, die in den Strukturen der Sprache selbst verankert sei und der der Mensch als sprachfähiges Wesen nicht entrinnen könne. Es ist die Aufgabe der universalpragmatischen Begründung, nachzuweisen, daß es unausweichliche Präsuppositionen von Argumentation überhaupt gibt und daß diese Präsuppositionen genau den normativen Gehalt aufweisen, den (U) moraltheoretisch expliziert. (b) Entscheidung statt Erkenntnis: Gegen das Unternehmen einer kognitiven Ethik wird eingewandt, daß moralische Prinzipien und Normen kein tauglicher Gegenstand für Erkenntnis seien. Moralische Prinzipien würden nicht erkannt, sondern anerkannt. Diese An-

79 80 81

Habermas, Begründungsprogramm, S. 104 f. Habermas, Begründungsprogramm, S. 99. Habermas, Begründungsprogramm, S. 87.

II. Verständigung als Telos der Sprache

45

erkenntnis beruht auf der Entscheidung von Menschen.82 Habermas zufolge können wir jedoch wissen, was wir tun sollen, weil wir erkennen können, daß im Miteinandersprechen immer schon universale Anerkennungsverhältnisse eingebaut sind, auf die das Moralprinzip rekurriert. (c) Der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses: Die These, daß Menschen immer schon in Verständigungsverhältnisse eingebunden sind und es nur darauf ankommt, die rationalen Gehalte der Alltagspraxis zu rekonstruieren, ruft den Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses83 hervor. Dieser Einwand besagt, daß aus dem reinen Sein keinerlei Sollen zu gewinnen ist. Denn: "Normative (also deontische und evaluative) Urteile sind nicht ohne andere normative Urteile (in nichttrivialer Weise) deduktiv begründbar (Humes Gesetz)."84 Habermas würde diesem Fehlschluß verfallen, wenn er aus dem empirischen Faktum der Alltagspraxis das Moralprinzip ableiten wollte. Habermas will diesem Vorwurf dadurch entgehen, daß er das empirische Faktum verständigungsorientierten Handelns und Sprechens nur als Demonstrationsobjekt für den Nachweis der Idee der Verständigung verwendet, nicht aber als Deduktionsbasis für die Ableitung des Moralprinzips. Maßgeblich ist vielmehr der Nachweis der Alternativlosigkeit der Verständigung, der nicht mit empirischen, sondern mit transzendentalpragmatischen Mitteln geführt werden soll. (d) Der Zirkelvorwurf: Dem Versuch, einen vermeintlich normativen Gehalt der Sprache bzw. einen Rationalitätskern der Rede zu rekonstruieren, wird entgegengehalten, die Begriffe von Sprache und kommunikativem Handeln mit genau den normativen Gehalten aufzuladen, die dann anschließend mit formalpragmatischen Mitteln entfaltet werden. 85 Diesen Vorwurf will Habermas entgegentreten, indem er die normativ gehaltvollen Präsuppositionen von Argumentation überhaupt formalpragmatisch rekonstruiert.

82 Vgl. exemplarisch Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, S. 352: „Da wir also nicht wissen können, was wir tun sollen, müssen wir uns damit begnügen, zu entscheiden, was wir tun wollen." 83 Vgl. etwa Gebauer, Letzte Begründung, S. 156 u. ö.; Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, S. 350. 84 Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, S. 59. Vgl. hierzu auch Kutschern, Grundlagen der Ethik, S. 29. 85 Vgl. z.B. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S. 169 f.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

46

(e) Der Vorwurf des unendlichen Regresses: Habermasens Versuch - so der Einwand -, das Moralprinzip auf den normativen Gehalt der Diskursregeln zurückzuführen, wirft die Frage auf, worauf die Diskursregeln ihrerseits gegründet sind. Da eine empirische Grundlage wegen des naturalistischen Fehlschlusses ausscheidet, muß ein weiteres normativ gehaltvolles Fundament gefunden werden, welches aber seinerseits begründet werden müsse. Habermas will diesen unendlichen Regreß dadurch vermeiden, daß die Diskursregeln als unhintergehbar ausgewiesen werden. Dies läßt die Frage nach weiterer Begründung ins Leere laufen, da diese Begründungsforderung selbst nur unter Voraussetzungen formuliert werden kann, welche durch die Frage nach der Begründbarkeit in Zweifel gezogen werden. (f) Kluft zwischen Sprechen und Handeln: 86 Habermas w i l l zeigen, daß das Moralprinzip (U), welches ein Prinzip zur moralischen Beurteilung von Handlungen ist, aus Präsuppositionen von Argumentatation überhaupt ableitbar ist. Der Einwand lautet, daß Regeln des Miteinandersprechens, selbst wenn sie unausweichliche Regeln echten Argumentierens sind, noch keinen Schluß darauf erlauben, daß auch außerhalb des Diskurses nach diesen Regeln gegenseitiger Achtung zu handeln sei. Diesen Einwand will Habermas durch den Nachweis entkräften, daß schon das kommunikative Handeln der Alltagspraxis der Idee der Verständigung verpflichtet ist, der Diskurs somit nur eine Verlängerung des kommunikativen Handelns ist. (g) Der Einwand der beliebigen Definierbarkeit dessen, was echte Argumentation heißt: Gegen die These, daß es konstitutive Regeln für echte Argumentation gibt, wird die Gegenbehauptung vorgetragen, daß diese Regeln frei gewählte und veränderbare Regeln sind. 87 Habermas w i l l diesem Vorwurf entkommen, indem er die Unausweichlichkeit der Diskursregeln betont. (h) Einwand der Verzichtbarkeit auf Freiheit und Gleichheit: 88 Erhebt man die Zustimmung aller zum Beurteilungskriterium dafür, ob eine Norm moralisch gültig ist, so ist es denkbar, daß jemand freiwillig Gleichheits-

86

Zu diesem Vorwurf vgl. Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, S. 191 f. (allerdings in Auseinandersetzung mit Apel). 87 Vgl. Keuth, Fallibilismus versus transzendentalpragmatischer Letztbegründung, S. 334 f. 88 Vgl. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik, S. 112 f.

II. Verständigung als Telos der Sprache

47

und Freiheitsrechte (teilweise) aufgibt. Habermas muß dagegen zeigen, daß die faktische Zustimmung aller zu einer der Idee der Verständigung widersprechenden Norm die Gültigkeit dieser Norm nicht verbürgen kann, da die Idee der Verständigung nicht disponibel ist. Diese bloß überblicksmäßig und in einer Auswahl vorgetragenen Einwände dokumentieren die herausragende Stellung der Alternativlosigkeitsthesen und ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten. Im nächsten Schritt werden diese Behauptungen der Alternativlosigkeit im einzelnen entfaltet und kritisiert. d) Zusammenfassung Es lassen sich folgende Bereiche von Alternativlosigkeit unterscheiden: Die Diskursregeln sind alternativlos in dem Sinn, daß sie für echte Argumentationen konstitutiv sind. Beim Eintritt in Argumentationen gibt es für einen Sprecher keine Alternative zur Unterstellung der idealen Sprechsituation. Es gibt ferner keine Alternative zu Argumentationen überhaupt. Niemand kann sich auf Dauer Argumentationen entziehen. Es gibt keine Alternative zu kommunikativen Handeln. Allein über kommunikatives Handeln vollzieht sich die symbolische Reproduktion der Lebenswelt. Niemand kann den dauernden Ausstieg aus dieser kommunikativen Alltagspraxis wählen, ohne sich selbst zu zerstören. Das Ziel der Verständigung ist mit Sprache und kommunikativem Handeln zwangsläufig verbunden. Es gibt keine Wahlmöglichkeit, sich für oder gegen dieses Ziel der Verständigung zu entscheiden. 3. Die Alternativlosigkeit der Diskursregeln Einen zentralen Anwendungsfall des Alternativlosigkeitsbegriffs stellt die Behauptung dar, daß es faktisch nicht verwerfbare Präsuppositionen von Argumentation überhaupt gibt. Die Diskursregeln bringen Habermas zufolge die universal geltenden Präsuppositionen auf den Begriff. Diese Regeln sind konstitutiv für echte Argumentation; ein Miteinandersprechen, das eine dieser Regeln mißachtet, verdient nicht, eine Argumentation genannt zu werden. Diese Regeln definieren, was unter einer idealen Sprechsituation zu verstehen ist. In der idealen Sprechsituation sind alle Sprecher gleichberechtigt, es herrscht kein Zwang von innen oder außen, und es zählen allein die besseren Argumente. „Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrungen der Kommu-

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

48 89

nikation aus." Erreicht wird dies dadurch, daß „für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben ist." 90 Welche pragmatischen Regeln im einzelnen die ideale Sprechsituation kennzeichnen, hat Habermas nirgendwo abschließend und zusammenhängend ausgeführt, sondern nur skizziert. In der neuesten Fassung lauten die spezifisch pragmatischen Diskursregeln in Anlehnung an Alexys Formulierung der Diskursregeln: „[1] Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. [2] a) Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b) Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c) Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. [3] Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in [(1) und (2)] festgelegten Rechte wahrzunehmen." 91 Sollen die Diskursregeln als Grundlage für die Behauptung der Allgemeinverbindlichkeit und Unhintergehbarkeit des Moralprinzips tauglich sein, so dürfen sie nicht beliebig definierbar sein.

89

Habermas, Wahrheitstheorien, S. 255. Habermas, Wahrheitstheorien, S. 255. 91 Habermas, Begründungsprogramm, S. 99; zu weiteren von Habermas genannten Diskursregeln vgl. S. 97 u. 98. Habermas verbindet mit der Nennung der Diskursregeln nicht den Anspruch, sie vollständig aufgezählt zu haben. In einer früheren Fassung kennzeichnet Habermas die ideale Sprechsituation auf folgende Weise: „1. Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können. 2. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt... 3. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d.h. ihre Einstellungen, Gefühle und Intentionen zum Ausdruck zu bringen ... 4. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf. ..." (ders., Wahrheitstheorien, S. 255 f.). 90

II. Verständigung als Telos der Sprache

a) Der performative

49

Selbstwiderspruch

Das argumentative Mittel, mit dem Habermas explizieren will, welche Präsuppositionen Argumentationen überhaupt unausweichlich zugrundeliegen, ist der Aufweis performativer Selbstwidersprüche. Der Grundgedanke dabei ist, daß ein Sprecher S, der argumentierend Grundbedingungen von Argumentation überhaupt leugnet, sich in einen Selbstwiderspruch verstrickt. Denn er bestreitet Grundvoraussetzungen, derer er sich selbst bedienen muß, um sie überhaupt bestreiten zu können. Diese Argumentationsfigur macht in einer bestimmten Weise Gebrauch von der Intuition, daß es ein voraussetzungsloses Denken und Argumentieren nicht gibt. Jeder, der eine Frage stellt, Zweifel anmeldet, etwas bestreitet (und damit in eine Argumentation eintritt) müsse wissen, was es heißt zu argumentieren. Er müsse die Grundregeln und -Voraussetzungen des Argumentierens kennen, zu denen nach Habermas vor allem die pragmatischen Regeln gehören. Was Habermas mit dieser Argumentationsfigur zu erweisen hofft, ist „die Nichtverwerfbarkeit bestimmter Bedingungen oder Regeln". 92 „Jeder, der an einer Argumentationspraxis teilnimmt, muß sich auf diese normativ gehaltvollen Bedingungen bereits eingelassen haben - für sie gibt es keine Alternative ...; die Alternativlosigkeit bedeutet, daß jene Bedingungen für uns faktisch unausweichlich sind." 93 aa) Der performative Selbstwiderspruch im Rahmen der pragmatischen Wende Einleitend soll die Figur des performativen Selbstwiderspruchs in ihrem Zusammenhang mit der pragmatischen Wende dargestellt werden. (1) Der Sinn von Wahrheit und Richtigkeit besteht danach darin, daß die entsprechenden Geltungsansprüche, die an eine ideale Kommunikationsgemeinschaft gerichtet sind, eingelöst werden. Das geschieht durch die Angabe von Gründen. (2) Gründe können nur im Rahmen von Diskursen geprüft werden. Ihr Ziel ist es, einen Konsens herbeizufuhren. Ein Konsens wird nicht erzielt, wenn (a) die Gründe sachlich unzureichend sind oder wenn (b) die Sprechakte, in denen diese Gründe präsentiert werden, mißlungen sind. Sprechakte sind - kurz gesagt - dann mißlungen, wenn die Diskursteilnehmer, an die sie gerichtet sind, nicht als Personen anerkannt und ernstgenommen werden. Eine derart mißachtete Person wird ihr Einverständnis verweigern.

92 93

4 Gril

Habermas, Begründungsprogramm, S. 105. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 140.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

50

(3) Der Eintritt in Diskurse verlangt, daß die Argumentationsteilnehmer sich als ernstzunehmende Gesprächspartner anerkennen. Was dies im einzelnen heißt, wird in den (rekonstruierten) Präsuppositionen von Argumentation überhaupt entfaltet. (4) Diese Grundvoraussetzung für echte Argumentationen sind keine Regeln von einer solchen Art, daß sie einfach konventionell festgelegt würden. Vielmehr werden in ihnen Verpflichtungen ausgesprochen, denen sich niemand als Mensch entziehen kann. (5) Wer diese Verpflichtungen, die in den nicht verwerfbaren Präsuppositionen von Argumentation überhaupt verankert sind, verbal bestreitet, tritt mit diesem Akt des Bestreitens in einen Argumentation ein und übernimmt damit die entsprechenden nichtkontingenten Verpflichtungen. (6) Indem der Bestreitende verbal diese Argumentationsvoraussetzungen leugnet, sie aber als Argumentierender immer schon in Anspruch nehmen muß, verstrickt er sich in einen performativen Selbstwiderspruch. Der Bestreitende mißversteht sich in gewisser Weise selbst. bb) Die Besonderheit performativer Selbstwidersprüche Die konkrete Durchführung dieses Nachweises unausweichlicher Präsuppositionen soll nun an einem Beispiel, das Habermas selbst anführt, erläutert werden. Insbesondere ist zu fragen, zwischen welchen Relata Widersprüche auftreten und von welcher Art diese Widersprüche sind. Habermas nennt als Beispiel einer rekonstruierten Präsupposition die Regel (R): „Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt." 94 Die Negation dieser Regel soll einen performativen Selbstwiderspruch darstellen. Das Bestreiten von (R) führt laut Habermas zu der Aussage (A): „Ich habe H schließlich durch eine Lüge davon überzeugt, daß p." 9 5 Die Aussage (A) ist laut Habermas zunächst ein „semantisches Paradox" 96. Denn die Semantik des Begriffs „Überzeugen" schreibe vor, daß „Überzeugen" ergänzt wird zu „mit Gründen überzeugen"; sie verbiete dagegen die Ergänzung zu „durch eine Lüge überzeugen". Jedoch besteht dieser semantische Widerspruch nur, wenn aufgrund einer entsprechen-

94 95 96

Habermas, Begründungsprogramm, S. 98. Habermas, Begründungsprogramm, S. 100. Habermas, Begründungsprogramm, S. 100.

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II. Verständigung als Telos der Sprache

den Konvention vorausgesetzt wird, die Bedeutung von „Behaupten" verlange, daß etwas nur mit Gründen behauptet werden kann. 97 Dieser Widerspruch auf semantischer Ebene erschöpft aber nicht die Bedeutung dessen, was mit performativem Selbstwiderspruch gemeint ist. Um zu erklären, warum der Satz (A) ein semantisches Paradox ist, ist die pragmatische Ebene mitzuberücksichtigen. Dadurch soll die Bedingtheit des semantischen Widerspruchs überwunden werden, die darin besteht, daß der Begriff „Überzeugung" nur in bestimmter Weise definiert wird und damit davon abhängig ist, wie Argumentationsteilnehmer diesen Begriff verstehen wollen. Läge darin nur eine Abweichung zwischen dem, was der Behauptende tun will und dem, was er nach der zugrundeliegenden Argumentationsregel tun soll, so würde daraus für die Gültigkeit der Regel nicht das geringste folgen. Der „Widerspruch" zwischen dem, was man tun will und dem, was man tun soll, ist kein performativer Selbstwiderspruch. Ein Selbstwiderspruch besteht erst dann, wenn derjenige, der einen Sprechakt äußert, damit einen bestimmten Willen kundgibt (nämlich den, an einer Argumentation teilnehmen zu wollen und, damit verbunden, auch die Regeln beachten zu wollen, die für Argumentationen konstitutiv sind) und zugleich äußert, sich an diese konstitutiven Regeln nicht halten zu wollen. Dieser Widerspruch ist auf den ersten Blick ein Widerspruch im Wollen. Nimmt man nun an, daß der Wille, an Argumentationen teilzunehmen, unumstößlich ist, so muß der Wille, nicht nur das zu behaupten, wovon man selbst überzeugt ist, aufgegeben werden, um den Widerspruch im Willen zu vermeiden. Sieht man näher zu, so ist zu bemerken, daß dieser Widerspruch im Willen ein Widerspruch zwischen einem Willen ist, der

97

Nur dieser semantische Widerspruch wird auch von Lenk angesprochen, auf dessen Argumentationsfigur einer petitio tollendi sich Habermas irreführend beruft (vgl. ders., Begründungsprogramm, S. 105, und ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 140 Anm. 16). Lenk fuhrt aus, daß die konsequenzlogischen Regeln jeder rationalen Kritik als solcher zugrunde liegen und deshalb im Zuge einer solchen Kritik nicht aufgehoben werden können. Denn sie sind „nur Explikation dieser Idee [einer rationalen Kritik; P.G.] und daher analytisch, per definitionem an diese Idee gekoppelt. Die Idee der rationalen Kritik und ihre Institution werden von uns eben so verstanden. Was nicht diesen Regeln folgt, würden wir nicht 'rationale Kritik' nennen. ... Regeln und Idee (oder Institution) sind durch sprachliche Konvention aneinander gekoppelt und nach Einführung der Konvention dann notwendig

verbunden."

(Lenk,

Philosophische Logikbegründung und rationaler Kritizismus, S. 204; Hervorhebung P.G.). Klarerweise beruht hier nach Ansicht Lenks die notwendige Verbindung zwischen rationaler Kritik und der Geltung von logischen Regeln auf einer Konvention, die besagt, daß rationale Kritik als conditio sine qua non die Geltung logischer Regeln voraussetzen muß. Diese Auffassung steht in diametralen Gegensatz zu Habermas, der zeigen will, „daß es sich bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen handelt" (ders., Begründungsprogramm, S. 100).

4*

52

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

ein Sollen verinnerlicht hat und einem faktischen Wollen. Ausformuliert lautet der Selbstwiderspruch von S so: Ich behaupte (und damit trifft mich unweigerlich die Verpflichtung, nur das zu behaupten, wovon ich überzeugt bin), daß p; 98

ich bestreite aber, daß ich nur behaupten darf, wovon ich selbst überzeugt bin. Der performative Selbstwiderspruch besteht deshalb darin, daß der Sprecher S eine Verpflichtung übernimmt, indem er etwas tut (nämlich eine Behauptung aufstellt), gleichzeitig aber sagt, daß ihn diese Verpflichtung nicht trifft. Wohlgemerkt, S bringt dabei nicht bloß zum Ausdruck, daß er die Pflicht nicht erfüllen will, er sagt vielmehr, daß er dieser Verpflichtung gar nicht unterfällt. Dieses Auseinanderklaffen zwischen dem, was jemand tun soll und dem, was er tun will, ist für sich allein genommen unergiebig; es stellt keinen Selbstwiderspruch dar. Denn es ist kein Widerspruch zu sagen: Ich soll als Argumentationsteilnehmer nur die Thesen äußern, von deren Wahrheit ich überzeugt bin, ich will jetzt aber lügen. Ein Selbstwiderspruch entsteht erst dann, wenn die Verpflichtung (im Beispiel die Pflicht, nur das zu sagen, wovon man überzeugt ist) dem Willen nicht mehr nur äußerlich ist, sondern selbst Teil des Willens ist. Auch dieser Schritt ist jedoch nicht ausreichend: Es bedeutet noch keinen Widerspruch im Wollen, wenn jemand sagt: Ich soll aufgrund einer von mir übernommenen Verpflichtung nur das sagen, wovon ich selbst überzeugt bin; ich löse jetzt aber diese Verpflichtung auf und äußere eine Lüge. Wenn also die Selbstbindung des Willens durch eine jederzeitige Selbstauflösung konterkariert werden könnte, wäre ein Widerspruch im Wollen ausgeschlossen. Deshalb muß die Selbstbindung des Willens unausweichlich und unauflöslich sein. Diesen Weg geht Habermas, wenn er behauptet, daß jeder Mensch kraft seines Menschseins an Argumentations- und Kommunikationsvoraussetzungen gebunden ist. Mögen die faktischen Kommunikationsverhältnisse auch verzerrt sein, die Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft ist in allen faktischen Kommunikationsverhältnissen angelegt. Daraus ergibt sich als springender Punkt des performativen Selbstwiderspruchs: Den Sprecher S trifft zwangsläufig eine Verpflichtung, die seinem Wollen inhärent ist, er negiert aber diese Verpflichtung mit dem, was er ausdrücklich sagt. Deshalb ist es für die Analyse des performativen Selbstwiderspruchs von zentraler Bedeutung, beide Ebenen in den Blick zu nehmen: Die Ebene dessen, was S tut, indem er eine Sprechhandlung vollzieht und die Ebe-

98 Das ist nicht die Formulierung von Habermas selbst: Er geht von dem Satz aus „Ich habe H durch eine Lüge davon überzeugt, daß p." Mit dieser Äußerung bestreitet S indirekt die Regel R. Es ändert aber nichts am Ergebnis, wenn man S die Regel R direkt bestreiten läßt.

II. Verständigung als Telos der Sprache

53

ne dessen, was S sagt." Der Selbstwiderspruch entsteht daraus, daß ein Sprecher eine Regel und die mit ihr verbundene Verpflichtung negiert, in dieser Negation aber die Geltung der Regel in Anspruch nehmen muß. Die mittels des performativen Selbstwiderspruchs aufgewiesenen, nicht verwerfbaren Präsuppositionen sind nicht logische oder semantische Voraussetzung von Argumentation überhaupt, sondern sie betreffen das Gelingen von Sprechakten in Argumentationen. Das Gelingen in diesem Sinn bezieht sich auf die Frage, wie ein Diskursteilnehmer sich gegen andere Teilnehmer verhalten muß, damit ein argumentativer Sprechakt zustandekommt. Der performative Selbstwiderspruch beruht auf dem Verstoß gegen diese Regeln. Der Kern des performativen Selbstwiderspruchs ist, daß jemand eine Pflicht, die nicht negierbar ist und die er als Argumentierender immer schon anerkannt hat, verbal negiert. b) Kritik an der Argumentât ionsfigur des performativen

Selbstwiderspruchs

Dieses Argument des performativen Selbstwiderspruchs ist nicht überzeugend. Es ist ungeeignet, den Nachweis unverwerfbarer Präsuppositionen von Argumentation überhaupt zu führen. Wenn man die Tragfähigkeit dieser Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs beurteilen will, ist es nützlich, einen Fall zu bilden, in dem das Argument scheitern müßte, um sich dann klarzumachen, warum es scheitert. Diese Suche nach einem bloß vermeintlichen Selbstwiderspruch wird Habermas nicht von außen aufgezwungen; denn er selbst behauptet, daß seine Rekonstruktion der Präsuppositionen fallibel ist. 100 Dann muß es auch Fälle geben, in denen das Argument des performativen Selbstwiderspruchs unzutreffend verwendet wird. Angenommen, ein Sprecher S! legt als Diskursregel folgende Regel R' zugrunde, wobei er behaupten soll, diese Regel R* entspräche seinem intuitiven Vorwissen: (R1) Jeder Sprecher muß (aus Achtung vor seinen Zuhörern) jeden Sprechakt mit einer Verbeugung einleiten. Nach der Verbindlichkeit von R' befragt, wird S, den Versuch unternehmen, dem Zweifler nachzuweisen, daß er sich mit dem Bestreiten von R' in einen performativen Selbstwiderspruch verwickelt. Dieser Selbstwiderspruch seitens des Sprechers S 2 würde aus der Sicht des Sprechers S, lauten: Ich (= S 2 ) behaupte (und übernehme damit die Verpflichtung, jede Behauptung mit einer 99

Aus diesem Grund insistiert Habermas mit solchem Nachdruck auf der „Doppelstruktur der Rede", vgl. ders., Was heißt Universalpragmatik?, S. 225 f. 100 Vgl. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, S. 125.

54

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

Verbeugung einzuleiten), daß p. Ich bestreite aber, daß ich etwas nur behaupten darf, wenn ich vorher eine Verbeugung gemacht habe. S 2 wird diesem Argument entgegenhalten, daß nur dann ein Selbstwiderspruch vorläge, wenn die in der Klammer genannte Verpflichtung unabweislich wäre. Diese Verpflichtung deckt sich jedoch nicht mit dem intuitiven Vorwissen von S 2 darüber, was gelungene Argumentation meint. Die beiden Sprecher haben dann ein unterschiedliches Vorwissen davon, was Argumentation heißt. Damit ist eine Schlüsselstelle erreicht. S, kann einen performativen Selbstwiderspruch bei S 2 konstatieren, weil aus Sicht von S, und unter Inanspruchnahme seines intuitiven Vorwissens jeder Sprecher zwangsläufig die Verpflichtung übernimmt, R* zu beachten.101 Daraus folgt, daß - formal gesehen - jede beliebige Regel als unumstößliche Diskursregel eingeführt werden kann und ein Sprecher S 2 im Licht des Vorwisssens von S, einen Selbstwiderspruch begeht, wenn S 2 diese Regel bestreitet. Somit kann über jede beliebige Regel ein performativer Selbstwiderspruch konstruiert werden 102 ; ein Selbstwiderspruch entsteht aber nur, wenn ein entsprechendes inhaltliches Vorwissen als verbindlich unterstellt wird. 1 0 3 Deshalb trägt das intuitive Vorwissen die Hauptlast des Arguments, das den Opponenten eines performativen Selbstwiderspruchs überführt. Dies wird von Habermas letztlich auch nicht bestritten: Um performative Selbstwidersprüche ausmachen zu können, „müssen wir an das intuitive Vorverständnis appellieren, mit dem präsumtiv jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt in Argumentationen eintritt." 104 Die Leistungskraft dieser Argumentationsfigur 101 Die Abhängigkeit dessen, was als universalpragmatische Voraussetzung jeglicher Argumentation ausgezeichnet wird, von dem, was als echte Argumentation vorgängig angesehen wird, betont auch Scheit: „Die Plausibilität der universalpragmatischen Rekonstruktion ist immer nur relativ zu bestimmten theoretischen Annahmen ... Da selbst die Kriterien der Beurteilung von diesem grundlegenden 'conceptual framework' der Sicht der Welt und des Menschen abhängen, gibt es in solchen erkenntnistheoretischen (oder metaphysischen ) Diskussionen auch kein allgemein akzeptiertes Paradigma, so daß für den einen etwas äußerst plausibel, ja trivial sein kann, worüber der andere nur den Kopf schüttelt" {ders., Wahrheit, Diskurs, Demokratie, S. 290). 102 In eben diese Richtung geht auch eine Kritik Alberts an Kuhlmann: „Das Argument [des performativen Selbstwiderspruchs] ist offensichtlich ganz unabhängig davon, wie diese Regeln im einzelnen charakterisiert werden" (ders., Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, S. 78). 103 Ebenso im Ergebnis Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, S. 317: „Demnach ist das transzendentalpragmatische Argument zirkulär." 104 Habermas, Begründungsprogramm, S. 100 (Hervorhebung P.G.). Trotzdem scheint Habermas selbst der Auffassung zu sein, daß der performative Selbstwiderspruch fur die Abgrenzung von echtem und unechtem Vorwissen ausreicht: „Die Präsuppositionen selbst können nun in der Weise identifiziert werden, daß man demjenigen, der die zunächst hypothetisch angebotenen Rekonstruktionen bestreitet, vor Augen führt, wie er sich in performative Widersprüche verwickelt" (Habermas, Begründungsprogramm, S. 100).

II. Verständigung als Telos der Sprache

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des performativen Selbstwiderspruchs ist also begrenzt: Mit ihr kann nicht echtes Vorwissen von einem nur vermeintlichen intuitiven Vorwissen abgegrenzt werden. Es muß unterstellt werden, daß das in Anspruch genommene Vorwissen ein echtes Vorwissen ist. Denn auch auf der Grundlage eines unechten Vorwissens lassen sich performative Selbstwidersprüche konstruieren. Der Selbstwiderspruch ist deshalb nur ein Darstellungsmittel, mit dem ein intuitives Vorwissen expliziert wird, aber dieses Mittel steht dem Proponenten und dem Opponenten, die sich jeweils auf ein unterschiedliches intuitives Vorwissen berufen, gleichermaßen zur Verfügung. Sie werden sich (aus ihrer jeweiligen Sicht zu Recht) gegenseitig dieser Selbstwidersprüche bezichtigen. Die für das Gelingen des Arguments entscheidende Frage ist deshalb, wie echtes Vorwissen von einem bloß vermeintlichen Vorwissen abgegrenzt werden kann. Diese Aufgabe ist um so dringlicher, als dieses intuitive Vorwissen in gewisser Weise infallibel sein soll. Habermas schlägt zunächst eine indirekte empirische Überprüfung dafür vor, ob die Rekonstruktionen des intuitiven Vorwissens zutreffend sind. 105 Wie er sich eine solche Überprüfung denkt, skizziert er an der psychologischen Theorie Kohlbergs über die Moralentwicklung. Diese Theorie will verschiedene aufeinanderfolgende Hierarchiestufen der Moralentwicklung empirisch nachweisen. Dabei muß eine Moraltheorie zugrundegelegt werden, die es erlaubt, verschiedene Entwicklungsstufen des Moralbewußtseins zu unterscheiden. 106 Die Gültigkeit der philosophischen Rekonstruktion des intuitiven Vowissens wird „zweifelhaft, sobald sich philosophische Rekonstruktionen im Verwendungszusammenhang der empirischen Theorie als unbrauchbar erwei„107

sen. Wie immer man auch die Chancen eines derartigen Tests einschätzen mag, fest steht, daß mittels dieser indirekten Prüfung das Hauptziel von Habermas nicht erreicht werden kann. Denn die Alternativlosigkeit, die Nichtverwerfbarkeit des rekonstruierten Vorwissens läßt sich auch dann nicht behaupten, wenn der empirische Test die philosophische Rekonstruktion bestätigen sollte. Egal, welche Anzahl empirischer Bestätigungen auch geliefert werden, auf dieser Grundlage läßt sich niemals ausschließen, daß nicht spätere empirische Tests eine Erschütterung der angeblich unverwerfbaren Voraussetzungen mit sich

105 Vgl. Habermas, Begründungsprogramm, S. 108; vgl. ders., Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, S. 41; vgl. ders., Replik, S. 533 ff. 106 Vgl. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaft, S. 49. 107 Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaft, S. 49.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

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bringen. Für diesen Nachweis der Alternativlosigkeit kommen nur transzenden108 tale Argumente in Betracht. Eine weitere Möglichkeit, ein Abgrenzungskriterium zwischen echtem und unechtem intuitiven Vorwissen zu formulieren, bietet die Theorie des kommunikativen Handelns. Die Hoffnung, dabei ein Abgrenzungskriterium aufzuspüren, erscheint deshalb gerechtfertigt, weil Habermas behauptet, daß die Präsuppositionen von Argumentationen überhaupt mindestens teilweise deckungsgleich sind mit denen der kommunikativen Alltagspraxis. 109 Die Theorie des kommunikativen Handelns zielt darauf ab, die Grundbegriffe eines Handlungsmodells zu entfalten, mittels derer die Rationalitätspotentiale jeder Alltagspraxis im Rahmen des Verständigungsbegriffs analysiert werden können. Dabei wird der Begriff des kommunikativen Handelns nicht empirisch gewonnen; denn „der Typus verständigungsorientierten Handelns ... [ist] keineswegs immer und überall als der Normalfall kommunikativer Alltagspraxis anzutreffen." 110 Als Beispiele für die unvermeidlichen Präsuppositionen des verständigungsorientierten Handelns nennt Habermas, daß die Beteiligten sich wechselseitig für zurechnungsfähig halten müssen und daß sie wissen, wie man sich an Geltungsansprüchen orientiert und zwischen verschiedenen Geltungsansprüchen unterscheidet. 111 Daran wird deutlich, daß diese Präsuppositionen, die parallel zu denen für Argumentation überhaupt verlaufen, im Begriff des kommunikativen Handelns als analytische Bestandteile enthalten sind. Deshalb kann dieser Begriff nicht als Instrument der Abgrenzung zwischen bloß vermeintlichen und eigentlichen Präsuppositionen gebraucht werden, da er schon immer ein als echt unterstelltes intuitives Vorwissen in Anspruch nimmt. c) Das intuitive

Vorwissen

Die vorangegangenen Überlegungen haben den engen Zusammenhang zwischen der Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs und der Lehre des intuitiven Vorwissens deutlich werden lassen. Denn dieses Vorwissen ist es, das im Rahmen der universalpragmatischen Rekonstruktion auf den Begriff gebracht werden soll und dessen angebliche Unhintergehbarkeit die

108

Ebenso Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, S. 174 f.; Gebauer, Letzte Begründung, S. 126; Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, S. 320 ff.; Apel, Fallibilismus, Ronsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung, S. 211 Anm. 98. 109 Vgl. Habermas, Begründungsprogramm, S. 110. 110 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 198. 1,1 Vgl. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 87.

II. Verständigung als Telos der Sprache

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Basis für die Feststellung performativer Selbstwidersprüche bietet. Doch ebensowenig wie der performative Selbstwiderspruch geeignet war, die Unverwerfbarkeit der Präsuppositionen von Argumentation überhaupt zu erweisen, ist die Lehre vom intuitiven Vorwissen geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Dieses intuitive Vorwissen ist ein Wissen davon, was echte Verständigung eigentlich bedeutet, und wie man echte Verständigung erzielt. Jeder Mensch verfügt Habermas zufolge über ein derartiges Vorwissen, da jedermann unentrinnbar in eine Alltagspraxis eingelassen ist, die - wenn auch zumeist in verborgener Weise - durch die Idee der Verständigung geprägt ist. Dieses intuitive Wissen selbst ist nicht fallibel, nur die Rekonstruktionsvorschläge sind fehlbar. 1,2 Systematisch gesehen steht das intuitive Vorwissen in engem Zusammenhang mit der Unterstellung der idealen Sprechsituation. Im intuitiven Vorwissen wird antizipiert, was echte Verständigung heißt und wie sich ein Zusammenleben zwischen Menschen nach der Idee der Veständigung gestaltet. Damit klingt im Begriff des intuitiven Vorwissens ein Thema an, das in den späteren Kapiteln zur Unterstellung der idealen Sprechsituation und zum Begriff des allgemeinen Interesses von zentraler Bedeutung sein wird: nämlich die Verschränkung einer utopischen (normativen) Perspektive mit einer auf empirischen Vorgegebenheiten gerichteten faktischen Perspektive. Das intuitive Vorwissen ist ein Wissen von den Bedingungen, die in einer idealen Sprechsituation erfüllt sein müssen; da jedem Sprecher dieses Wissen zugeschrieben werden muß (auch wenn ihm selbst dieses Wissen nicht in expliziter Form zur Verfügung stehen mag), ist dieses normative Ideal bereits in der Faktizität der Alltagspraxis verankert. Da Habermas ferner darauf beharrt, daß die im intuitiven Vorwissen niedergelegten pragmatischen Universalien Bedingungen der Möglichkeit jeglicher Kommunikation sind, sind die utopisch-normativen Gehalte der idealen Sprechsituation bereits jetzt wirksam. aa) Das intuitive Vorwissen im Rahmen der Konsensustheorie der Wahrheit Neben der bereits genannten Schwäche eines fehlenden Kriteriums zur Abgrenzung des echten, unverfälschten intuitiven Vorwissens von einem bloß vermeintlichen Vorwissen führt der Begriff des intuitiven Vorwissens noch zu einer Anzahl weiterer Schwierigkeiten. Er läßt sich erstens nicht in Einklang mit der Konsenstheorie der Wahrheit bringen. Das vortheoretische Wissen kann nicht konsensuell abgesichert sein oder über Diskursverfahren gewonnen worden sein. Denn für einen Konsens im Sinn von Habermas reicht es nicht, 112 Vgl. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, S. 193; ders., Begründungsprogramm, S. 107.

Β. Die Diskurstheorie von Habermas

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daß alle - egal, wie und woher - das Gleiche wissen; vielmehr wird verlangt, daß alle gemeinsam zu einem Konsens finden. Dafür ist aber nötig, daß der Gegenstand, auf den sich das Wissen bezieht, thematisch ist. Das ist aber bei einem vortheoretischen, intuitiven Wissen per definitionem nicht der Fall. Ferner ist dieses Wissen auch von einer Art, daß die Wahrheit dieses Wissens auch gar nicht konsensuell abgesichert sein muß. 113 Da es nach Habermas in gewissem Sinn infallibel ist - und zwar jenseits jeglicher Konsensbildung - kommt es auf einen Konsens nicht an. Die intuitiv gewußten Präsuppositionen von Argumentation überhaupt liegen eben jeder Argumentation zugrunde. Wenn aber dieses Wissen unabhängig von Konsensen und Diskursen wahr ist, dann ist es auch nicht nötig, in kommunikativ verfaßten Argumentationsverfahren dieses Wissen als gültig zu erweisen. Damit muß Habermas auf einen Begriff von Wahrheit zurückgreifen, der entgegen der Konsensustheorie nicht in internem Zusammenhang mit dem Begriff des Konsenses steht. 114 bb) Das Problem der Übereinstimmung von intuitivem Vorwissen einerseits und dem explizierten Vorwissen andererseits Zweitens basiert der Begriff des intuitiven Vorwissens auf Voraussetzungen, die analog zu denen sind, die Habermas unter dem Namen der Korrespondenztheorie der Wahrheit einer heftigen Kritik unterzieht. Er wirft dabei der Korrspondenztheorie vor, daß sie in einen logischen Selbstwiderspruch führen müsse.115 Aus den Erklärungen von Habermas ergibt sich nicht eindeutig, worin er den logischen Selbstwiderspruch erblickt. Seiner Ansicht nach muß der Korrespondenztheoretiker die Wirklichkeit als Inbegriff aller Tatsachen ansehen. Tatsachen seien aber nur die Korrelate wahrer Aussagen und deshalb nicht unabhängig von diesen Aussagen. Die von der Korrespondenztheorie gesuchte Übereinstimmung von Satz und Tatsache scheitere also daran, daß das, womit Übereinstimmung erzielt werden soll, gar nicht an sich gegeben ist, sondern selbst nur als sprachabhängige Größe anzusehen sei. 116 Die vermeintliche 113

Habermas, Historischer Materialismus, S. 331, führt aus: „Wenn und soweit wir argumentieren ... sind die Teilnehmer genötigt, reziprok die Bedingungen einer 'idealen Sprechsituation' als erfüllt zu unterstellen. Ein Konsens über diese Bedingungen braucht also nicht erst herbeigeführt zu werden"; vgl. ders., Begründungsprogramm, S. 105: Habermas betont dort, daß er keine Begründung des intuitiven Wissens liefert. 1.4 Später wird zu zeigen sein, daß die Konsenstheorie gerade darin besteht, die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs mittels des Begriffs des Konsenses zu explizieren (Kap. B.II.5.). 1.5 Habermas, Wahrheitstheorien, S. 216. 116 Beckermann interpretiert dieses Argument von Habermas so: ,,[R]ealistische Wahrheitstheorien definieren Wahrheit als Relation zwischen Realität und Aussage,

II. Verständigung als Telos der Sprache

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Selbstwidersprüchlichkeit wäre dann darin zu sehen, daß der Korrespondenztheoretiker einerseits beanspruchen muß, einen Standpunkt außerhalb der Welt einzunehmen, um von dort einen direkten Zugriff auf die Welt nehmen zu können, andererseits aber den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nicht entrinnen kann und deshalb diesen standpunktfreien Ort nicht einnehmen kann. Eben dieses Problem stellt sich jedoch auch für den Konsenstheoretiker in unverminderter Schärfe. A n die Stelle des Problems der Übereinstimmung zwischen Aussage und Welt tritt das der Übereinstimmung zwischen dem intuitiven Vorwissen und dem expliziten, rekonstruierten (Vor-)Wissen. Das intuitive Vorwissen ist zwingend vorgegeben und braucht vom expliziten Wissen nur nachgebildet, rekonstruiert zu werden. Um aber feststellen zu können, daß eine Übereinstimmung zwischen dem impliziten Vorwissen und dem expliziten Wissen besteht, müßte Habermas die Grenzen des expliziten Wissens überschreiten und einen unvermittelten Zugang zum intuitiven Vorwissen gewinnen. Diesen Schritt vollzieht Habermas mit der Behauptung, das intuitive Vorwissen sei infallibel. Wenn das intuitive Vorwissen nur in Form des expliziten Wissens propositional ausdifferenziert ist und wenn das explizite Wissen fallibel ist, dann kann Habermas vom Standpunkt des falliblen, expliziten Wissens jedoch nichts über die Infallibilität des Vorwissens wissen. Eine analoge Schwierigkeit entsteht bei der Behauptung, daß wir alle über dasselbe intuitive Vorwissen verfügen. Wie könnte Habermas wissen, daß verschiedene Menschen notwendig über dasselbe intuitive Vorwissen verfügen, wenn er zu diesem intuitiven Vorwissen nur über ein fallibles, explizites Wissen Zugang hat? Die Behauptung, daß das intuitive Vorwissen bei allen Menschen ein einheitliches sei, setzt voraus, daß Habermas dieses intuitive Vorwissen selbst (ohne den Umweg über das fallible explizite Wissen) erkennt. Denn um die Einheitlichkeit des Vorwissens bei allen Menschen behaupten zu können, muß er vorher wissen, wie das intuitive Vorwissen selbst beschaffen ist. d) Die formalpragmatische

Bedeutungstheorie

Einen anderen Zugang zur Begründung der Alternativlosigkeit der Diskursregeln eröffnet die universalpragmatische Bedeutungstheorie.

aber sie sind nicht in der Lage, hinreichend zu explizieren, was mit dem ersten Relationsglied 'Realität' gemeint sein soll, da es nicht möglich ist, ohne Rekurs auf die Wahrheit von Aussagen zu klären, was mit 'der Fall sein' oder 'x ist der Fall' gemeint ist" (