Die Selbstbestimmung des Patienten: Eine Untersuchung aus verfassungsrechtlicher Sicht [1 ed.] 9783428529414, 9783428129416

Nur wenige Themen lassen Moralphilosophen, Theologen und Juristen so ratlos zurück wie Selbstmord, Sterbehilfe, Hungerst

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German Pages 244 Year 2009

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Die Selbstbestimmung des Patienten: Eine Untersuchung aus verfassungsrechtlicher Sicht [1 ed.]
 9783428529414, 9783428129416

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1123

Die Selbstbestimmung des Patienten Eine Untersuchung aus verfassungsrechtlicher Sicht

Von Fereniki Panagopoulou-Koutnatzi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

FERENIKI PANAGOPOULOU-KOUTNATZI

Die Selbstbestimmung des Patienten

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1123

Die Selbstbestimmung des Patienten Eine Untersuchung aus verfassungsrechtlicher Sicht

Von Fereniki Panagopoulou-Koutnatzi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12941-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Mann und meinen Eltern in tiefer Dankbarkeit und Liebe

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im April 2008 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung befinden sich im Wesentlichen auf dem Stand April 2008. An erster Stelle möchte ich meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Bernhard Schlink, für seine große Unterstützung danken. Er stand mir stets mit Rat und Tat zur Seite und hat mir zugleich den nötigen wissenschaftlichen Freiraum gewährt. Für mich ist er Vorbild als Jurist und Denker. Frau Professor Dr. Rosemarie Will danke ich für bereichernde Diskussionen und die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderen Dank schulde ich zudem meiner akademischen Lehrerin, Frau Professor Dr. Julia Iliopoulos-Strangas, für das Vertrauen, das sie in mich gesetzt hat, und ihre Beispielhaftigkeit für wissenschaftliche Moral und unbeirrte wissenschaftliche Konsequenz. Dankbar bin ich auch Frau Professor Dr. Eleni Petridou und Frau Professor Dr. Ismini Kriari-Catranis, von denen ich viel lernen durfte. Frau Dr. Petra Bielagk danke ich herzlich für die sprachliche Korrektur der Arbeit. Für Anregungen, Kritik und Diskussionsbereitschaft schulde ich Herrn Micha Sygusch großen Dank. Frau Dr. Eleni Valassi-Adam und Frau Dr. Alexandra Coumbos bin ich für ihre Unterstützung und die bereichernden Diskussionen zu medizinisch-ethischen Themen sehr dankbar. Der Alexander S. Onassis-Stiftung gebührt Dank sowohl für die großzügige finanzielle Förderung der Promotion als auch für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieser Schrift. Meinem Ehemann, Stelios Koutnatzis, meinen Eltern, Theodor und Marilena Panagopoulou, und meiner Schwester, Isabella Panagopoulou, bin ich für ihre ausdauernde und liebevolle Unterstützung sehr dankbar. Ohne ihre Solidarität, Ermutigungen und Liebe wäre mein persönlicher und wissenschaftlicher Werdegang so nicht vorstellbar gewesen. Ihnen habe ich mehr zu verdanken, als ich mit Worten auszudrücken vermag. Das Lachen meines Sohnes Georg, der während der Promotionszeit geboren wurde, war für mich der beste Anreiz zu frohem Schaffen. Ihm bin ich für die neue und faszinierende Dimension, die er meinem Leben gegeben hat, sehr dankbar. Berlin, im August 2008

Fereniki Panagopoulou-Koutnatzi

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Erster Teil Die Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts des Patienten

24

I. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Die Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Der Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 a) Der Patient im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) Der Patient im engeren Sinne und der Patient im weiteren Sinne . . . . . . . . . . 25 3. Die Asymmetrie der Patienten-Arzt-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . 26 1. Schutzbereiche berührter Grundrechte im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 a) Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)

26

aa) Die positive Seite des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit . 26 (1) Das Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 (2) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 (a) Die physische Integrität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 (b) Die psychische Integrität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 (3) Die Verbindung des Rechts auf Leben mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 (4) Die Relativierung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 (5) Ein Recht auf Gesundheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 bb) Beinhaltet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch ein Recht auf den eigenen Tod? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 (1) Verzicht auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit? . . 31

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Inhaltsverzeichnis (2) Gewährleistungsdimensionen von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . 33 (a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 (b) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 (c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 (3) Der Doppelcharakter des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 (4) Exkurs: Differenzierung zwischen hoheitlicher und privater Beteiligung an einer Verfügung über das eigene Leben . . . . . . . . . . . . 44 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) 46 aa) Die Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . 46 bb) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 c) Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 aa) Präzisierungsversuche der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 bb) Die Unantastbarkeit der Würde des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 cc) Die Relativierung der Unantastbarkeit der Würde des Patienten . . . . . . . . 55 (1) Die Idee der Abstufung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (2) Die „Alternative“: Die unterschiedliche Bedeutung der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen . . . 57 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 d) Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG im Bereich der Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Inkonsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (1) Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (2) Die Inkonsequenz dieser Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 bb) Die Notwendigkeit einer Entkopplung der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Der Beitrag der Menschenwürde zur Interpretation des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (1) Die besondere Bedeutung des Lebens bei der Anwendung der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (2) Die Begründung des Lebensrechts in der Menschenwürde . . . . . . . . . 64 (a) Die Lehre von der Heiligkeit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (b) Die so genannte Ethik der Qualität des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 64

Inhaltsverzeichnis

11

(c) Die Bedeutung beider Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (3) Das Verbot der Manipulierung und Instrumentalisierung des Patienten 65 (4) Das Verbot der Differenzierung des Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . 66 (5) Die Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf nicht körperliche Einwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (6) Ein Recht auf Freiheit von Leid und Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 dd) Die Bedeutung des Verhältnisses von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für die Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten 67 e) Die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Die Selbstbestimmung des Patienten als Ausfluss seiner allgemeinen Handlungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 bb) Die Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (1) Freie Arztwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (2) Zwangsversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (3) Die Entscheidung über das Ende des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 f) Die Freiheiten des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Die Reichweite von Art. 4 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 (1) Die Glaubens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . 74 (2) Die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 bb) Das Spannungsverhältnis zwischen der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (1) Die Verweigerung oder Beendigung der medizinischen Behandlung seitens des Arztes oder des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 (2) Die Abgabenzahlungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 (3) Der Impfzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 g) Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 aa) Der Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Die Untersuchung von unterschiedlich behandelten Vergleichsgruppen . . 82 cc) Folgen aus der Anwendung des Gleichheitssatzes im Fall der aktiven Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 dd) Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten bei der Zulässigkeit der Sterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

12

Inhaltsverzeichnis ee) Differenzierung zwischen Verheirateten und Unverheirateten . . . . . . . . . . 84 ff) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Schutzbereiche berührter Rechte in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Recht auf Leben, Art. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Art. 3 EMRK, Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 c) Recht auf Privatsphäre, Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 d) Das Diskriminierungsverbot, Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

III. Schlussfolgerung über die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts des Patienten 89 1. Die Differenzierung zwischen Selbstbestimmung im engeren Sinne und Selbstbestimmung im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Die Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Die Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Persönliche Lebenssphäre des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Allgemeine Handlungsfreiheit im Bereich der Krankenversicherung . . . . 90 c) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne . 91 bb) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne . 92 2. Die Verneinung einer Selbstbestimmungspflicht des Patienten . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Folge aus dem Gleichheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 IV. Der Konflikt zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten und der Berufsausübungsfreiheit des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Der Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Der Inhalt der Berufsausübungsfreiheit des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Der Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Vorrang der Respektierung des Willens des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Keine Verpflichtung des Arztes, den Willen des Patienten zu erfüllen . . . . . . 95 c) Strittige Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis

13

Zweiter Teil Die Selbstbestimmung des Patienten in verschiedenen strittigen Fällen

98

I. Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Die Verankerung und der Inhalt eines Rechts auf Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Unterbindung durch die Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Unterbindung durch den Arzt oder Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Einfache Tolerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Suizidbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Die juristischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3. Die Verankerung eines Rechts, in Ruhe sterben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Passive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Das Unterlassen der Behandlung mit Einwilligung des Patienten . . . . . . . 109 bb) Das Unterlassen der Behandlung gegen den Willen des Patienten . . . . . . 111 cc) Das Unterlassen der Behandlung ohne den Willen des Patienten . . . . . . . 112 dd) Die vormundschaftsgerichtliche Entscheidung über den Behandlungsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Aktive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Abgrenzung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Die gesetzliche Wahl: Das Verbot der Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . 122 (1) Fehleinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Verstoß gegen das ärztliche Ethos und Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patienten und Arzt . . . . . . . . . . . . . 123 (3) Ausübung von Druck auf lebenswillige Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (4) Dammbruchargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

14

Inhaltsverzeichnis c) Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

III. Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Die juristischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Die Verankerung des Rechts auf Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Die Bindungswirkung eines Patiententestaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 IV. Hungerstreik/Zwangsernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Der Hungerstreik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die Zwangsernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Der Unterschied zwischen Hungerstreik und Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4. Die Gesetzeslage: Der strafrechtliche Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5. Die verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 V. Sterilisation/Kastration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Die Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Einfachrechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Freiwillige Sterilisation/ Gefälligkeitssterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Freiwillige Sterilisation auf Grund einer medizinischen Indikation . . . . . 148 cc) Freiwillige Sterilisation auf Grund einer sozialen oder eugenischen Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Inhaltsverzeichnis

15

dd) Die Zwangssterilisation und die Sterilisation von geistig Behinderten . . . 148 b) Die verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Die Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Das Recht auf Leben und die Menschenwürde des Embryos . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Der gesetzliche Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4. Die verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5. Das Recht auf Zugang zu genetischen Informationen des Embryos als Ausfluss der Selbstbestimmung der zukünftigen Eltern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6. Schwangerschaftsabbruch gegen oder ohne den Willen der Frau . . . . . . . . . . . . 167 7. Die freie Wahl der Entbindungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 8. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

VII. Die Entnahme von Blut und Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Die Blutentnahme/Bluttransfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Die Einwilligung als Voraussetzung der Blutentnahme und die Aufklärungspflicht des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Routinemäßige Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Spezifische Untersuchung am Beispiel von HIV-Untersuchungen . . . . . . 171 cc) Die Nutzung der Blutentnahme für andere Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 dd) Blutentnahme beim Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 c) Bluttransfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Die Organtransplantation/Organentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

16

Inhaltsverzeichnis b) Die Organentnahme bei Lebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Der Fall der Selbstaufopferung bzw. einer altruistischen Spende . . . . . . . 174 (1) Die Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (2) Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (3) Die Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Die Begrenzung des Kreises der zulässigen Organempfänger . . . . . . . . . . 177 (1) Die Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (2) Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (3) Die verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 cc) Die kommerzielle Nutzung von Organen (Organhandel) . . . . . . . . . . . . . 181 (1) Die Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (3) Die verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c) Die Organentnahme bei Sterbenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Die Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 bb) Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Die Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (1) Die Feststellung des Hirntodes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (2) Die Einwilligung des Verstorbenen oder seines Angehörigen . . . . . . . 187 dd) Das Verfügungsrecht des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Die Herrschaftsbefugnisse an entnommenem Blut, Stammzellen und Organen . 190 a) Rein sachenrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Primär persönlichkeitsrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Kombiniert sachen- und persönlichkeitsrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . 191 d) Zusammenfassung und weitere Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Dritter Teil Wesentliche Ergebnisse

194

I. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Inhaltsverzeichnis

17

II. Selbstbestimmung und Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Kritik am Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Die Hochrangigkeit des Willens des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Symmetrie der Patienten-Arzt-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Paternalismus in der gegenwärtigen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4. Ein Recht gegen Paternalismus und die Rolle des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung als Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Die Selbstverantwortung als Korrelat der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Die rechtlichen Grundlagen der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Die Bedeutung der Selbstverantwortung in der medizinischen Praxis . . . . . . . . . 205 4. Voraussetzungen der Selbstverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Die Aufklärung des Patienten – Wahrheitspflicht des Arztes? . . . . . . . . . . . . . 209 IV. Der Mangel an Vertrauen als Grundlage sowohl eines Skeptizismus gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten als auch als Grundlage seines Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Der Mangel an Vertrauen als Grundlage eines Skeptizismus gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Der Mangel an Vertrauen auf Grund der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Die Genesis der Menschenrechte als Ergebnis des Mangels an Vertrauen . . . . 213 c) Mangel an Vertrauen in die Abstufung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . 213 d) Beispiele im Fall der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs und der Organentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Folge eines Mangels an Vertrauen 215 3. Die Rolle des Mangels an Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. abw. AG AK-GG AK-StGB AöR ARSP Art. BAG BayObLG BayVBl. BayVerfGH Bearb. Ber. Bd. BGB BGBl BGH BGHSt BGHZ BR-Drucks. Breith. BseuchG BSG BT-Drucks. BtPrax BVerfG BVerfG (K) BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE bzw. ders. DJT DÖV DR

anderer Ansicht Absatz abweichend Amtsgericht Alternativ Kommentar. Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Alternativ Kommentar. Kommentar zum Strafgesetzbuch Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Bundesarbeitsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Bayerisches Verfassungsgerichtshof Bearbeiter Bericht Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Drucksache des Bundesrates Sammlung von Entscheidungen aus dem Sozialrecht / Sammlung von Entscheidungen des Reichsversicherungsamts Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Beschäftigtenschutzgesetz) Bundessozialgericht Drucksache des Bundestages Betreuungsrechtliche Praxis Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgericht, Entscheidung durch Kammer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise derselbe Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Recht

20 DRiZ DVBl EGMR EMRK ErbGesG Erstbearb. EuGRZ f. FamRZ FAZ ff. Fn. FS Gen. GG GÜL

Abkürzungsverzeichnis

Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Erbschaftssteuer- und Schenkungsgesetzsteuer Erstbearbeitung Europäische Grundrechtszeitschrift folgende Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Seiten Fußnote Festschrift Genesis Grundgesetz Gesetz zur Überprüfung bei Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung (Niederlande) HFR Humboldt Forum Recht Hrsg. Herausgeber hrsg. herausgegeben HStR Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Isensee/ Kirchoff i.V.m. in Verbindung mit JA Juristische Arbeitsblätter JMBl.NW Justizministerialblatt für das Land Nordhein- Westfalen JR Juristische Rundschau Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KastrG Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden KG Kammergericht KJ Kritische Justiz KritV Kritische Viertelsjahrschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Lfg. Lieferung LG Landgericht LSG Landessozialgericht LuftSiG Luftsicherheitsgesetz MDR Monatschrift für Deutsches Recht MedR Medizinrecht m.w.Nachw. mit weiterem Nachweis/ mit weiteren Nachweisen MünchKomm Münchener Kommentar NJW Neue Juristische Wochenschrift nlStGB niederländisches Strafgesetzbuch Nr. Nummer NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht OLG Oberlandesgericht RegE Regierungsentwurf

Abkürzungsverzeichnis RG RGBl RGH RGSt RJD Rn. RsDE S. SG SGB Sp. StA Staat StGB StVollzG TPG Urt. v. VersR VerwArch VG VGH vgl. Vor. VSSR VVDStRL WHO WRV Z. z.B. ZfL ZFSH zit. ZRP ZStW

21

Reichsgericht Reichsgesetzblatt Reichsgerichtshof Entscheidungen des Reichsgerichtshofes in Strafsachen Reports of Judgments and Decisions; Entscheidungssammlung des EGMR (seit 1996) Randnummer Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen Satz/ Seite/ siehe Sozialgericht Sozialgesetzbuch Spalte Staatsanwalt(schaft) Der Staat Strafgesetzbuch Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehen- den Maßregeln der Besserung und Sicherung- Strafvollzugsgesetz Transplantationsgesetz Urteil von Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshof vergleiche Vorbemerkung Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer World Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation) Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 Ziffer zum Beispiel Zeitschrift für Lebensrecht Zeitschrift für Sozialhilfe zitiert Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einführung Es gibt wohl nur wenige Themen, die Moralphilosophen, Theologen und Juristen so ratlos zurücklassen wie der Selbstmord, die Sterbehilfe, der Hungerstreik, die Sterilisation, der Schwangerschaftsabbruch oder die Transplantation, mit anderen Worten, die extremsten Formen der Selbstbestimmung des Patienten. Obwohl zugestandenermaßen nicht alle Konstellationen der Selbstbestimmung des Patienten dieselbe Dramatik aufweisen, bleibt dennoch deren Reichweite in großen Teilen im Ungewissen. Es bleibt zu klären, wie weit die Befugnisse des Einzelnen reichen, über sein Leben, seine Gesundheit, letztlich über seine Existenz zu bestimmen. Genau hier wird diese Arbeit ansetzen: in einem theoretischen ersten Teil, in einem kasuistischen zweiten Teil unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts und in einem dritten Teil, der die wesentlichen Ergebnisse beinhaltet.

Erster Teil

Die Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts des Patienten I. Begriffsbestimmungen 1. Die Selbstbestimmung des Patienten Bei der Selbstbestimmung des Patienten geht es um die Befugnis des Patienten, in gegebenenfalls zu bestimmenden Grenzen über sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu verfügen.1 Die Selbstbestimmung des Patienten ist folglich die Freiheit des Patienten, ihn selbst betreffende Entscheidungen über seine Gesundheit, sein Leben und seinen eigenen Körper allein und ohne Einflüsse Dritter zu treffen.2 Es geht um die Verfügung über den eigenen Körper, die Einwilligung in eine medizinische Behandlung oder die Ablehnung einer Behandlung,3 die Befugnis „darüber zu entscheiden, welchen Gefahren sich der einzelne aussetzen will“ und die Freiheit „die Risiken eigenen Handels selbst einzuschätzen und Eigengefährdungen hinzunehmen“4, folglich um die eigenverantwortliche Bestimmung des Schicksals des betroffenen Patienten: voluntas aegri secunda lex.5 Ziel dieser Arbeit ist es, einerseits zu prüfen, inwieweit der Patient über ein Recht auf Selbstbestimmung in verschiedenen strittigen Situationen verfügt, und andererseits zu klären, ob und in welchem Umfang Beschränkungen eines solchen Rechts zulässig sind, soweit ein Recht auf Selbstbestimmung verfassungsrechtlich anzuerkennen ist.

2. Der Patient a) Der Patient im Allgemeinen Patient ist derjenige, der von einem Unglück beherrscht wird [griechisch: p\hor (pathos) = Unglück und Affekt] und deshalb diesem „Widerfahrnis“ passiv, das heißt

1 2 3 4 5

Hollenbach, S. 49. Malek/Endriß, S. 133 ff. Heide, S. 190. BVerwGE 82, 45 (48 f.). Deutsch/Spickhoff, Rn. 18.

I. Begriffsbestimmungen

25

erleidend und geduldig (lateinisch: patiens = erleidend, geduldig), gegenübersteht.6 Im Hinblick auf seine soziale Rolle ist ein Patient die „vom Arzt oder einem Angehörigen anderer Heilberufe behandelte oder betreute Person (aus der Sicht dessen, der sie [ärztlich] behandelt oder betreut oder dessen, der diese Perspektive einnimmt)“7. Patient wird man meistens auf Grund einer Not, sehr selten ohne diese, z. B. bei der Simulation einer Krankheit zum Erhalt sozialer Vorteile.8 Die Not kann körperlich, z. B. Schmerz, Blutung, oder seelisch, z. B. Depression, Verfolgungsidee, sein.9 Zum Patientsein gehört wesentlich, dass der Kranke in seiner Krankheit vom Arzt angenommen wird.10

b) Der Patient im engeren Sinne und der Patient im weiteren Sinne Im engeren Sinne ist Patient nur der Kranke oder der sich krank fühlende Mensch.11 Im weiteren Sinne ist der Patient der Benutzer von Gesundheitsservice, eine „vom Arzt oder einem Angehörigen anderer Heilberufe behandelte oder betreute Person“12, mit anderen Worten derjenige, der mit dem Arzt oder Angehörigen anderer Heilberufe in Kontakt kommt. In dieser Hinsicht ist auch die Schwangere wegen ihrer Behandlung durch den Arzt oder Angehörige anderer Heilberufe Patientin, ohne dass dies bedeutet, dass die Schwangere krank oder ein sich krank fühlender Mensch ist. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff des Patienten im weiteren Sinne verwendet. Die Untersuchung beschränkt sich jedoch insbesondere in dem zweiten kasuistischen Teil der Arbeit nur auf die Patienten-Arzt-Beziehung und beschäftigt sich deshalb nicht mit allen Konstellationen der allgemeinen Selbstbestimmung des Patienten im Gesundheitswesen, wie z. B. der Selbstbestimmung des Patienten bei der Wahl der Krankenversicherung. Die Freiheit des Patienten bei der Wahl der Krankenversicherung wird als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit des Patienten nur im ersten theoretischen Teil erörtert.

3. Die Asymmetrie der Patienten-Arzt-Beziehung Die Patienten-Arzt-Beziehung ist von einer merkwürdigen Asymmetrie charakterisiert. Der Patient ist in den meisten Fällen hinfällig und hilflos, während der Arzt gesund und „mächtig“ ist. Die Krankheit ist für den Patienten von existenzieller Bedeutung, während der Arzt ihr zumeist mit Sachlichkeit und Routine begegnet. Der 6

Rapse, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 773. Duden – Deutsches Universalwörterbuch (unter Patient). 8 Rapse, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 773. 9 Rapse, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 774. 10 Rapse, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 776. 11 Zuck, S. 33. 12 Duden – Deutsches Universalwörterbuch (unter Patient). 7

26

1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Patient ist selbstbezogen, während der Arzt wissenschaftliche und vielleicht auch wirtschaftliche Interessen verfolgt. Der Patient wird von seiner subjektiven Wirklichkeit und seinen Laientheorien beherrscht, während der Arzt sich seine wissenschaftliche Rationalität bewahrt. Die vorliegende Asymmetrie, die mit verschiedenartigen Rollen, Eigenschaften und Einstellungen seitens des Arztes und des Patienten verbunden ist, bedeutet jedoch keine Höherrangigkeit des Arztes in der Patienten-Arzt-Beziehung.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten Gegenstand dieser Untersuchung ist, ob es ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten gibt und ob ein solches Recht seine Wurzeln im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention hat.

1. Schutzbereiche berührter Grundrechte im Grundgesetz a) Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Erörterungen über die Selbstbestimmung des Patienten steht das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. aa) Die positive Seite des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (1) Das Recht auf Leben Das Recht auf Leben garantiert die biologisch-physische menschliche Existenz13 als unverletzlich. Das Recht auf Leben zielt allein auf dessen Aufrechterhaltung gegenüber allen Fremdeinwirkungen.14 Das Leben ist als Rechtsgut geschützt, sobald und solange nach medizinisch-biologischer Erkenntnis menschliche Individualexistenz vorhanden ist.15 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt das Recht auf Leben die „vitale Basis der Menschenwürde“ und ist „die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“16. Leben und Menschenwürde müssen jedoch getrennt und nicht als Einheit berücksichtigt werden.17

13 14 15 16 17

Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 8 ff. (Erstbearb. 1958). Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 51. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 9 (Erstbearb. 1958). BVerfGE 39, 1 (42). Schlink, S. 10.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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Aus dem Recht auf Leben ergibt sich die Frage nach dem Beginn und dem Ende des Lebens. Die Frage nach dem Beginn des Lebens stellt sich gegenwärtig insbesondere beim Schwangerschaftsabbruch, bei der Reproduktionsmedizin und bei der Embryonenforschung. Die Frage nach dem Ende des Lebens ist im Bereich der aktiven und passiven Sterbehilfe sowie der Organentnahme von besonderer Bedeutung. Menschliches Leben existiert vor der Geburt, es beginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle.18 Es geht um einen „Prozess kontinuierlicher biologischer Entwicklung, in dem das von Anfang an in seiner konkreten Individualität vorhandene, nicht mehr teilbare menschliche Leben durch ständige Modifikation allmählich menschliche Gestalt gewinnt“19, sich in diesem Prozess aber nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.20 Das Leben erlischt mit dem Tode als dem Zeitpunkt, zu dem alle Hirnströme endgültig erloschen sind.21 Maßgeblich ist der vollständige und irreversible Zusammenbruch der Gesamtfunktion des Gehirns.22 (2) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (a) Die physische Integrität des Menschen Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gewährleistet die Integrität des Körpers als vorgegebene Daseinsform des Menschen.23 Der einzelne Mensch soll nicht ohne seine Einwilligung zur Verfügung Dritter gestellt werden.24 Der grundrechtliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit ist beeinträchtigt, wenn unmittelbar oder mittelbar auf die Substanz des Körpers eingewirkt und seine Beschaffenheit verändert wird.25 In die Körpersphäre wird nicht nur durch Verletzungen im engeren Sinne (Gesundheitsschäden im Sinne von somatischen Funktionsstörungen, Körperschäden oder psychopatischen Störungen, wie z. B. durch Hieb-, Stich-, Schnitt- und ähnliche Verletzungen) eingegriffen, sondern auch durch sonstige Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität, wie z. B. Wegnahme von Körperbestandteilen, Blutentnahme26, Abschneiden von Körperhaaren27 oder die Zuführung 18

Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 49; Lorenz, in: HStR VI, §128 Rn. 12; Stern, Staatsrecht, III/1, § 70, IV 5a. Das Bundesverfassungsgericht hat offen gelassen, ob der grundrechtliche Schutz erst mit der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter (Nidation) beginnt oder bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle [BVerfGE 88, 203 (251)]. 19 Lorenz, in: HStR VI, §128, Rn. 10. 20 BVerfGE 88, 203 (251 f.). 21 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 49; Lorenz, in: HStR VI, §128, Rn. 15, Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 142. 22 Vgl. Eser, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 1194. 23 Lorenz, in: HStR VI, §128, Rn. 16. 24 Lorenz, in: HStR VI, §128, Rn. 16. 25 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 30 (Erstbearb. 1958). 26 A. M. OLG Köln, NJW 1962, S. 692 (Leitsatz); anders BVerfGE 5, 13 (15). 27 Kern, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 51 (60).

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

von Stoffen, wie bei Injektionen28, Schluckimpfung, Narkotisierung29, Zwangsernährung30 oder durch die Zufügung von Schmerzen31. Umfasst sind auch die Unverletzlichkeit und Funktionstüchtigkeit innerer Organe, wie z. B. mechanische, sonstige physikalische und chemische Ursachenzusammenhänge.32 Sowohl diagnostische als auch therapeutische Eingriffe und Operationen stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar.33 Solche Eingriffe sind unzulässig, wenn sie ohne die Zustimmung des Patienten erfolgen.34 Eingriffe ohne die Zustimmung des Patienten sind nur dann gerechtfertigt, wenn der Patient bewusstlos und entscheidungsunfähig ist und seine Zustimmung unterstellt werden kann35 oder eine Zwangsbehandlung gesetzlich vorgesehen und zur Seuchenbekämpfung geboten ist.36 Präventive Eingriffe zur Bekämpfung gefährlicher ansteckender Krankheiten sind aus Gründen der Volksgesundheit nur dann zulässig, wenn sie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind.37 In dieser Hinsicht ist der Impfzwang nur zur Verhinderung ansteckender Krankheiten, die das Leben und die Gesundheit der Menschen schwer bedrohen, gerechtfertigt.38 (b) Die psychische Integrität des Menschen Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt insoweit auch die psychische Integrität des Menschen, als durch Einwirkungen auf die Psyche körperliche Effekte hervorgerufen werden.39 In dieser Hinsicht umfasst die körperliche Unversehrtheit auch das Freisein von psychischen Krankheitszuständen, mit anderen Worten eine „Negation pathologischer Zustände“40. Dies ist mit dem Wortlaut des Grundgesetzes (”körperliche Unversehrtheit”) vereinbar, weil psychische Krankheiten sich praktisch nicht von physischen Bedingungen völlig ablösen lassen41 und in diesem Sinn keine klare medizinische Grenzlinie zwischen physiologischer und psychologischer Betroffenheit besteht.42 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch vor nicht körperlichen Einwirkungen, die 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Kern, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 51 (61). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 35 (Erstbearb. 1958). Ostendorf, S. 158 ff. BVerfGE 56, 54 (73). Hermes, S. 223. BGH, NJW 1958, S. 267; BVerfGE 52, 131 (174)- abw. Meinung. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 222. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 222. BGHSt 4, 375; BVerwGE 9, 78 (79). S. auch unten unter f) bb) (3). Lorenz, in: HStR VI, § 128, Rn. 18. Schmidt-Assmann, AöR 1981, S. 205 (209). Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 149. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 63.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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ihrer Wirkung nach körperlichen Eingriffen gleichzusetzen sind.43 Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Befinden der Person in einer Weise verändert wird, die der Zufügung von Schmerzen entspricht.44 Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist eine Lärmbelastung. Wenn eine solche so erheblich ist, dass die Wirkung einem körperlichen Eingriff nahe kommt, ist die psychische Integrität des Menschen durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt.45 So schützt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch vor Lärmimmissionen, die zwar nicht zu pathologischen körperlichen Folgen führen, aber doch so schwere psychische Auswirkungen haben, dass eine Einbeziehung in den Schutzbereich gerechtfertigt ist.46 Zu dieser erweiternden Interpretation des Schutzbereichs des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit führt gemäß dieser Rechtsprechung der Einfluss der Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.47 Es muss jedoch betont werden, dass der Schutz vor psychischen Beeinträchtigungen nicht grenzenlos dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unterfällt. In diesen Fällen steht das seelische und soziale Wohlbefinden nicht unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, weil diese tatbestandlich nicht klar genug gefasst werden können.48 Das Grundgesetz verwendet den Begriff körperliche Unversehrtheit, obwohl der Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon 1949 bekannt war.49 Der Schutz der psychischen Integrität des Menschen umfasst auch die Selbstbestimmung des psychisch kranken Patienten. Einerseits bedeutet dies, dass der psychisch kranke Patient grundsätzlich allein entscheiden kann, welchen Eingriffen in seine psychische Integrität er zustimmt. Andererseits bedeutet die Tatsache, dass ein Patient psychisch krank ist, nicht, dass er auf jeden Fall einwilligungsunfähig ist und dass er ohne seinen Willen ärztlich behandelt werden darf. Wenn der Arzt auf Grund der psychischen Konstitution des Patienten, des Einflusses von Medikamenten, des Grades der Verständnisfähigkeit usw. Zweifel hat, ob der Patient einsichtsfähig ist, muss er die Einwilligung des für ihn gemäß § 1896 BGB von Amts wegen oder auf Antrag zu bestellenden Betreuers einholen.50 (3) Die Verbindung des Rechts auf Leben mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit Das Recht auf Leben weist eine enge Verbindung zum Recht auf körperliche Unversehrtheit auf. Jede Verletzung des Lebens schließt einen Eingriff in die körperliche 43 44 45 46 47 48 49 50

BVerfGE 56, 54 (74). BVerfGE 56, 54 (75). Kloepfer u. a., Leben mit Lärm?, S. 371. Kloepfer u. a., Leben mit Lärm?, S. 371. BVerfGE 56, 54 (74). Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 193. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 193. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 28.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Unversehrtheit ein, umgekehrt gefährden die Körperverletzungen häufig das Leben.51 In dieser Hinsicht umfasst die Selbstbestimmung über das eigene Leben auch die Selbstbestimmung über die eigene körperliche Unversehrtheit und umgekehrt. Andererseits ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (etwa durch eine Operation) oftmals das einzige Mittel, um das Leben zu schützen.52 (4) Die Relativierung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird durch das Grundgesetz – anders als die Menschenwürde – nicht absolut geschützt. Je nach dem vom Staat verfolgten Zweck und den für die Zweckverfolgung geeigneten und erforderlichen Mitteln ist das Leben stärker oder schwächer geschützt. Diese Relativierung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit beeinflusst auch die Selbstbestimmung des Patienten in dem Sinne, dass seine Selbstbestimmung oft die gleichen Grenzen findet, die auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Auch wenn der Patient einwilligungsfähig ist, darf er nicht immer selbst bestimmen, was sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit ausmacht, wenn er die Rechte anderer verletzt oder wenn er eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt, z. B., wenn er psychisch krank ist und seine Unterbringung in einer Anstalt ohne seinen Willen für die öffentliche Sicherheit notwendig ist. (5) Ein Recht auf Gesundheit? Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann nicht als allgemeines Recht auf Gesundheit charakterisiert werden.53 Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert Elemente eines allgemeinen Rechts auf Gesundheit, nicht aber ein umfassendes Recht auf Gesundheit.54 Der Begriff der körperlichen Unversehrtheit als solcher geht in vielen Fällen weiter als der der Gesundheit. Es gibt Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die keine Eingriffe in die Gesundheit darstellen, wie z. B. die Blutentnahme oder die Enzephalographie.55 Die WHO definiert Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur [als] das Freisein von Krankheit und Gebrechen“56. Eine solche Definition geht über den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG weit hinaus.57 Die Tatsache, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein Recht auf Gesundheit gewährt, bedeutet jedoch nicht, dass der Patient kein Recht auf eine Verschlechterung seiner Gesundheit besitzt. Mit an51 52 53 54 55 56 57

Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 22. Kämpfer, S. 203. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 150. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 150. Kern, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 51 (60). Text bei Jung, S. 66. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 193.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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deren Worten: Die Tatsache, dass der Patient kein absolutes Recht auf Gesundheit genießt, bedeutet nicht, dass er eine Pflicht hat, seine eigene Gesundheit zu bewahren. In diesem Sinne hat er einerseits keinen Anspruch auf seelisches und soziales Wohlbefinden, andererseits hat er auch keine Pflicht, sein seelisches und soziales Wohlbefinden zu schützen. [S. unten unter bb)]. bb) Beinhaltet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch ein Recht auf den eigenen Tod? (1) Verzicht auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit? Fraglich ist, ob der Patient das Recht hat, auf sein Recht auf Leben zu verzichten. Zunächst ist insoweit festzustellen, dass kein textlicher Ausfluss über die Zulässigkeit eines Verzichts besteht.58 Soweit ein Grundrecht den persönlichen Entfaltungsfreiheiten dient, spricht eine Vermutung für die Zulässigkeit,59 soweit dagegen ein Grundrecht für den Prozess der staatlichen Willensbildung wichtig ist (z. B. das Wahlrecht60), spricht eine Vermutung für die Unzulässigkeit eines Verzichts.61 Wichtige Kriterien für die Zulässigkeit eines Grundrechtsverzichts sind zudem „die Schwere und Dauer des Eingriffs, die Gefahr des Missbrauchs der Verzichtsmöglichkeit sowie eine mehr oder weniger große Zwangslage des Verzichtenden“.62 Beim Rechtsgut Leben geht durch eine Verfügung nicht nur das Rechtsgut selbst, sondern es gehen auch alle anderen Grundrechtsbefugnisse in einem substanziellen Sinn unter.63 Aufgrund dieser Irreversibilität des Lebensverlustes soll ein unzulässiger „totaler“ Grundrechtsverzicht vorliegen. Es müsse vermieden werden, „dass der rechtlich autonome Mensch seine Freiheit benutzt, um sich unkorrigierbar zum heteronom bestimmten Objekt zu entwürdigen“.64 Diesbezüglich muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass derjenige, der über sein eigenes Leben verfügt, sich entscheidet, die Verkürzung seiner Möglichkeiten zu freier Entfaltung nicht als Freiheitsverkürzung zu deuten.65 Nach seinem Freiheitsverständnis „erleide[t] [er] keinen Freiheitsverlust und [ist] deshalb nicht schutzbedürftig.“66 Die Kriterien einer Verzichtszulässigkeit lassen sich also nicht auf Verfügungen über das Rechtsgut Leben anwenden.67 58

Pieroth/Schlink, Rn. 135. Pieroth/Schlink, Rn. 137. 60 Gemäß der Rechtsprechung kann der Bürger nicht auf sein Wahlrecht und dessen geheimen Gebrauch verzichten. Vgl. OVG Lüneburg, DÖV 1964, S. 355; OVG Münster, E 14, 257. 61 Pieroth/Schlink, Rn. 137. 62 Pieroth/Schlink, Rn. 139. 63 Kämpfer, S. 187. 64 Dürig, AöR 1956, S. 117 (153). 65 Rixen, S. 368. 66 Rixen, S. 368. 67 Kämpfer, S. 188. 59

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Für die Unzulänglichkeit der Dogmatik des Grundrechtsverzichts im Hinblick auf das Rechtsgut Leben spricht auch Folgendes: Erforderlicher Bestandteil des Grundrechtsverzichts ist die Einwilligung in die Beeinträchtigung des Grundrechtsgutes. Der Grundrechtsverzicht setzt ein duales Verhältnis, bei dem ein Dritter in die Grundrechtsposition des Betroffenen eingreift, voraus.68 Erforderlich ist ein Willensakt des Bürgers gegenüber dem Staat oder einem Dritten69, durch den der Handlungsspielraum des Staates oder des Dritten auf Grund der Einschränkung der eigenen Grundrechtsposition erweitert wird.70 Bei der Selbsttötung aber wird der Handlungsspielraum eines Dritten oder des Staates nicht erweitert.71 Es wird weder konkludent noch ausdrücklich eine Veränderung der Grundrechtsposition erklärt.72 Zwar wird bei der aktiven Sterbehilfe dem Hilfeleistenden die Erlaubnis eingeräumt, in die Grundrechtsposition des Sterbewilligen einzugreifen, es bleibt jedoch zu prüfen, ob der Sterbewillige über sein Grundrecht auf Leben verfügen darf, ob das Recht auf Leben eine negative Seite hat.73 Diese Frage lässt sich durch die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und nicht durch die dogmatische Figur des Grundrechtsverzichts beantworten. Zu betonen ist schließlich, dass der Nichtgebrauch eines Rechts nicht mit einem Grundrechtsverzicht gleichgesetzt werden kann. Wer etwa eine verfassungswidrige Steuer zahlt, ohne Rechtsbehelfe einzulegen, verzichtet nicht auf sein Grundrecht.74 Durch den wirksamen Verzicht wird die sonst rechtswidrige Maßnahme rechtmäßig, während bei bloßer Nichtausübung des Grundrechts der Eingriff rechtswidrig bleibt und das Grundrecht, unbeschadet möglicher gesetzlicher Einschränkungen, wie etwa des Fristablaufs für Rechtsbehelfe, weiterhin geltend gemacht werden kann.75 Das Nichtbekennen eines Glaubens oder das Nichtbeitreten zu einer Vereinigung stellt jeweils keinen Verzicht auf die durch Art. 4 Abs. 1 GG bzw. Art. 9 Abs. 1 GG verbürgten Freiheiten dar, sondern erfolgt in Wahrnehmung von negativen Freiheitsdimensionen.76 Soll nun geklärt werden, ob das Recht auf Leben auch eine negative Freiheitsgewährleistung verankert, dann kann aus der Verneinung des Lebens nicht auf einen Grundrechtsverzicht geschlossen werden.77 Als Zwischenergebnis lässt sich somit feststellen, dass die Dogmatik des Grundrechtsverzichts unzulänglich ist, um die Problematik eines Verfügungsrechts über das eigene Leben zu lösen. 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Amelung, S. 13 ff. Für die Beeinträchtigung von Grundrechten auch durch Private, s. Amelung, S. 16. Spieß, S. 50. Antoine, S. 247 f. Antoine, S. 248. Stern, Staatsrecht III/ 2, § 86 II 6 a. Robbers, JuS 1985, S. 925. Robbers, JuS 1985, S. 925. Robbers, JuS 1985, S. 925 f. Antoine, S. 269.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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(2) Gewährleistungsdimensionen von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Fraglich ist also, ob das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch ein Verfügungsrecht über das eigene Leben und die eigene Gesundheit gewährleistet. (a) Wortlaut Der Wortlaut („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) gibt keinen Hinweis für die Anerkennung eines Verfügungsrechts über das eigene Leben. Gemäß der Wortlautinterpretation kann das Recht auf Leben nicht als Recht „über“ Leben verstanden werden. Die Formulierung „Recht auf Leben“ und nicht etwa „Das Leben ist unantastbar oder unverletzlich“78 führt zu einer undeutlichen Zuordnung der Befugnisse und Pflichten zwischen Grundrechtsträger und Grundrechtsadressaten. Sie lässt nämlich keine Entscheidung darüber zu, ob allein das Interesse des Menschen an der Erhaltung der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt wird oder auch die Verfügung über Leben und körperliche Unversehrtheit.79 (b) Historische Auslegung Das Recht auf Leben, dessen Verankerung im Grundgesetz eine Reaktion auf das lebensfeindliche nationalsozialistische Unrechtssystem darstellt, soll das Leben in jeder Hinsicht schützen.80 Gemäß der historischen Auslegung bedeutet ein Recht auf Leben nur, dass der Staat einen Menschen nicht willkürlich vom Leben zum Tode befördern darf.81 Die Entstehungsgeschichte gibt aber keinen Hinweis für ein verfassungsrechtliches Verbot von Lebensverfügungen.82 Die Frage, ob freie Verfügungen über Leben und Körper vom Grundgesetz geschützt oder verboten werden sollen, war zwar Gegenstand der 32. Sitzung des Grundsatzausschusses des parlamentarischen Rates,83 wobei allerdings keine abschließende Klärung des Problems erfolgte. Die gewählte schlichte Formulierung „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ und nicht die vorgesehene Alternativformulierung „Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die nicht der Heilung dienen, sind unzulässig, es sei denn, dass sie auf Wunsch des Betroffenen erfolgen. Andere Eingriffe können ohne den Betroffenen nur ausnahmsweise und nur im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vorgenommen werden.“ sowie die Beschränkungsmöglichkeit in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG zeigen, dass nur die Beschränkbarkeit des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Ausdruck im Grundgesetz gefunden hat, nicht aber das Problem der Verfügungsbefugnis über das eigene Leben.84 Bei Entstehung des Grundge78 79 80 81 82 83 84

Schwabe, S. 59. Fink, S. 84; Fischer, S. 69. BVerfGE 18, 112 (117). Roellecke, JZ 1991, S. 1045 (1046). Kämpfer, S. 195. Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokolle, Band 5/ 2, S. 918 ff. Kämpfer, S. 196, Fn. 198.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

setzes standen die heutigen gesellschaftlichen und medizinisch-technischen Entwicklungen nicht vor Augen der Verfassungsväter. Sie konnten sich deshalb nicht mit Problemen der modernen Medizin befassen. Die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus sollten zu einer Sensibilisierung und zur Vorsicht gegenüber jeglichen Tendenzen der Missachtung des Lebens führen. Opfer der Euthanasie während des Nationalsozialismus waren aber vor allem Behinderte und psychisch Kranke und nicht hoffnungslose Patienten. Die gesellschaftlichen und politischen Umstände damals und heute unterscheiden sich ganz wesentlich. Folglich ist auch die Entstehungsgeschichte für die Auslegung nicht ergiebig. (c) Teleologische Auslegung Fraglich ist, ob eine Verfügungsfreiheit über das Leben und die körperliche Unversehrtheit teleologisch zu begründen ist. Nach überwiegender Ansicht in der verfassungsrechtlichen Literatur sind nicht alle Grundrechte grundsätzlich „in dubio pro libertate“ auszulegen. Einen negativen Schutzbereich hätten nur solche Grundrechte, die der Kategorie der Handlungsrechte unterfallen.85 Die Anerkennung einer negativen Seite der Grundrechte hänge also entscheidend von deren Zweck und ihrer Funktion ab.86 Handlungsrechte sind solche Grundrechte, die ein bestimmtes Handeln als solches gegenüber hoheitlichen Eingriffen schützen, wie z. B. Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Abs. 3, Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.87 Das Recht auf Leben jedoch sei „auf die Bestandssicherung des Rechtsguts Leben gerichtet, nicht aber ein Freiheitsrecht, das in dem Recht auf Selbsttötung eine negative Dimension erfahren würde“.88 Leben und körperliche Unversehrtheit sind nach dieser Auffassung nicht Handlungen, sondern stellen Zustände dar, in denen sich jemand befindet und vor staatlicher Beeinträchtigung bewahrt werden soll.89 Eine negative Dimension könne begriffsnotwendig nicht jedem Grundrecht, das Verhaltensmöglichkeiten gegen staatliche Eingriffe schützt, zukommen.90 Die entsprechende Feststellung bleibe der Auslegung der einzelnen Grundrechtsbestimmungen vorbehalten.91 Nach der herrschenden Meinung in der Literatur stellt also das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) kein Verfügungsrecht über das eigene Leben und folglich kein Recht auf die Beendigung des eigenen Lebens

85 86 87 88 89 90 91

Merten, VerwArch 1982, S. 103 (104). Merten, VerwArch 1982, S. 103 (104). Hellermann, S. 134 – 135. Sachs, Grundrechte, S. 199. Hellermann, S. 136. Stern, III/ 1, § 66, II 2 b a. Stern, III/ 1, § 66, II 2 b a.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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dar.92 Darüber hinaus wird eine Verpflichtung zum Leben gegenüber dem Gemeinwesen aufgestellt.93 Gemäß dieser Auffassung kann keine Verfassung die Selbsttötung gewähren, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten.94 Der Mensch sei nicht zum alleinigen Träger des Rechtsguts Leben geworden, weil seine Tötung auch die Interessen der sozialen Gemeinschaft berühre.95 Diese sozialen Interessen und die Bedeutung des Lebens für die Allgemeinheit verböten ein freies Selbstbestimmungsrecht bzw. Verfügungsrecht. Das Recht auf Leben sei ein unverzichtbares und unveräußerliches Gut und der Träger dieses Rechtsguts würde notwendigerweise materiell rechtswidrig handeln, wenn er es angriffe.96 Ein Recht auf Selbsttötung ist nach überwiegender Ansicht in der Literatur auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleiten.97 Die Selbsttötung sei vielmehr geradezu das Gegenteil einer Persönlichkeitsentfaltung, da sie ihr die Voraussetzungen nehme.98 Die herrschende Ansicht lässt sich wie folgt kritisieren: Dem Grundrechtsverständnis von Georg Jellinek folgend hat Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einen Status negativus als Abwehrrecht und somit die klassische Funktion eines Grundrechts.99 Dieses abwehrrechtliche Verständnis betrachtet Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Sphäre natürlicher Freiheit des Einzelnen, die als negative Kompetenznormen staatlichen Ingerenzen entgegensteht und Räume individueller Beliebigkeit sichert.100 Das Grundrecht als Abwehrrecht verpflichtet den Staat in allen seinen Erscheinungsformen zur Unterlassung ungerechtfertigter Eingriffe in die grundrechtlichen Schutzgüter, insbesondere in die Freiheit des Einzelnen.101 Das Grundrecht auf Leben, auch wenn es aktivisch formuliert scheint, lässt sich nicht als Befugnis zu einer bestimmten Tätigkeit, einer „Befugnis zu leben“ sondern nur abwehrrechtlich umschreiben.102 „Man will allein und in Ruhe gelassen, d. h. nicht gestört werden“.103 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Freiheits- und Abwehrrecht garantiert dem Einzelnen Freiheiten, Freiräume und die freie Verfügung über überlassene 92 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 12 (Erstbearb. 1958); Kunig, in: v. Münch/ Kunig, GG, Art. 2, Rn. 50. 93 Roellecke, in: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 336 (340). 94 Roellecke, in: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 336 (340). 95 Malaniuk, Juristische Blätter 1959, S. 521 (522). 96 Jaeger, S. 144. 97 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 II, Rn. 192; Roellecke, in: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 336 (338). 98 Vgl. Götz, Rn. 109; Roellecke, in: Das Abtreibungsverbot des § 218 StGB, S. 39 (43). 99 Jellinek, S. 94 ff. 100 S. Darstellung bei Sachs, in: Sachs, GG, Vor. Art. 1, Rn. 64. 101 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 ff. 102 Schwabe, S. 38 f., 59. 103 Schwabe, S. 38.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Rechtsgüter gegen staatliche Eingriffe, Einschränkungen, Beschränkungen oder Verletzungen.104 Er umhegt Bezirke privater Selbstbestimmung und schirmt sie ab gegen das Eindringen der öffentlichen Gewalt,105 um so individuelle Selbstbestimmung und autonome Lebensgestaltung zu ermöglichen.106 Abgewehrt werden Eingriffe und Beschränkungen, die nicht durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes stattfinden.107 Das Abwehrrecht gewährleistet dem Einzelnen die Freiheit von staatlicher Ingerenz, einen Status negativus,108 wo der staatliche Zwang abwesend sein soll.109 Im Licht dieses Verständnisses von Art. 2 Abs. 2 S. 1 als Freiheits- und Abwehrrecht muss der Staat dem Einzelnen im Bereich seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit einen freien Raum gewährleisten, in dem der Einzelne selbst bestimmen darf. Dieses Freiheitspotenzial steht auch medizinischen Zwangsmaßnahmen, die etwa der Erhaltung des Lebens gegen den Willen des Patienten dienen, entgegen. Es umfasst die Freiheit, die Angebote der modernen Medizin nicht in Anspruch zu nehmen und folglich das eigene Leben zu beenden oder eine Verschlechterung des eigenen Gesundheitszustandes in Kauf zu nehmen. Gesichert wird insbesondere die Abwehr einer objektiven Lebens- und Gesundheitserhaltungspflicht, mit der die Wahrnehmung oder der Bestand der Schutzgüter von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erzwungen und eine Verfügung über das eigene Leben verhindert werden soll.110 Beispiele sind hier eine medizinische Behandlung gegen den Willen des Patienten, eine Zwangsernährung, der Erhalt des Lebens gegen den Willen des Patienten oder das Verbot der Beteiligung Dritter an Selbsttötungen.111 Die negative Seite des Rechts auf Leben kann also ein Recht auf Selbsttötung vermitteln.112 Wenn man nicht über ein Recht verfügte, sein Leben zu beenden, dann wäre das Recht auf Leben ein Zwang.113 Die positive Freiheit des Rechts auf Leben wäre missverstanden, wenn aus ihr die Verpflichtung zu einem bestimmten Gebrauch der Freiheit hergeleitet würde. In diesem Sinne gewährt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch das positive Verfügungsrecht über Leben und körperliche Unversehrtheit und verbietet etwa die Ausübung des Suizids nicht. Der Tod ist Teil der natürlichen menschlichen Existenz und wird deshalb von der Garantie des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG umfasst. Eine Verneinung einer negativen Seite des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit wäre nur konsequent, wenn die abwehrrechtliche Funktion von Art. 2 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113

Pieroth/Schlink, Rn. 58. Isensee, in: HStR V, § 111, Rn. 2. Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rn. 84 m. w. Nachw. Schlink, EuGRZ 1984, S. 457. Jellinek, S. 94 ff. Isensee, in: HStR V, § 111, Rn. 2. Kämpfer, S. 191. Kämpfer, S. 191. Hellermann, S. 33. Moor, S. 145.

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Abs. 2 S. 1 GG ignoriert oder Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nur als objektives Recht, als Teil der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes, verstanden würde. Dann müsste man allerdings Art. 2 Abs. 2 S.1 GG dahingehend verstehen, dass das Grundrecht unabhängig vom Willen des Grundrechtsträgers einen bestimmten Schutz gewährt. Ein solches Verständnis ist aber mit der freiheitssichernden, abwehrrechtlichen Garantiefunktion des Grundrechts unvereinbar und daher zurückzuweisen.114 Gewiss normiert Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG über seine abwehrrechtliche Funktion hinaus auch objektiv-rechtliche Handlungsgebote, die den Staat verpflichten, das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen und zu fördern.115 Eine negative Seite des Rechts auf Leben spricht aber nicht gegen eine solche staatliche Schutzpflicht. Die objektive Werteordnung kann eine Pflicht des Staates zum Einschreiten begründen, aus ihr folgt aber keine Pflicht des Bürgers, sich die staatliche Pflicht zu Eigen zu machen. Diejenigen, die behaupten, dass das Leben als Basis und Ausdruck menschlicher Existenz jeder Verfügung entzogen ist und dass das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nur Freiheit von staatlicher Beeinträchtigung garantiert und keine Freiheit zu individueller Entfaltung enthält,116 können die Schutzpflicht-Funktion des Rechts nicht außer Acht lassen. Es besteht nur eine Pflicht des Staates, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Patienten zu schützen, während dem Patienten selbst keine Pflicht zum Schutz seines eigenen Lebens und seiner eigenen Gesundheit obliegt. Da keine entsprechende Pflicht besteht,117 ist ein Zwang zum Leben nicht zu rechtfertigen. Wenn man nicht zum Leben gezwungen werden darf, bedeutet dies, dass man auch die Freiheit zur Selbsttötung besitzt. Wenn der Verfassungsgeber keine ausdrückliche Verpflichtung zum Leben vorsieht, kann eine solche Verpflichtung nicht implizit abgeleitet werden. Die Pflichten in den Grundrechten sind als solche benannt (z. B. Art. 14 Abs. 2 GG, 33 Abs. 1 GG) und dürfen nicht implizit abgeleitet werden.118 Eine Symmetrie von Grundrechten und Grundpflichten ist – abgesehen vom „dienenden“ Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG – abzulehnen.119 Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist folglich nicht eine Verpflichtung zum Leben, zum gesunden Leben, und damit ein Verbot der Selbstschädigung zu folgern.120 Auch die Annahme, nur Handlungsrechte wiesen eine negative Dimension auf, vermag nicht zu überzeugen. Grundrechte haben nicht ausschließlich die Funktion, spezifische Handlungen zu schützen, sondern von der Verfassung benannte Lebens114

Vgl. Hillgruber, S. 134. BVerfGE 39, 1 (36 ff.); 45, 187 (254 f.); 46, 160 (164 f.); 49, 89 (132, 141 f.); 53, 30 (57 f.); 56, 54 (73); 77, 170 (214); 77, 381 (402 f.); 79, 174 (201 f.); 85, 191 (212); 88, 203 (251); 90, 145 (195). 116 Lorenz, in: HStR VI, § 128, Rn. 62. 117 Vgl. Götz, in: VVDStRL (41) 1982, S. 7 (16 ff.). 118 Vgl. Ostendorf, S. 100. 119 Höfling, NJW 1982, S. 1582 (1584). 120 Ostendorf, S. 100. 115

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

bereiche als Freiheitssphären in „die autonome, eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit und -beliebigkeit des Freiheitsträgers“121 zu stellen.122 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung der negativen Seite eines Grundrechts ist daher, ob der sachliche Schutzbereich grundrechtlicher Verbürgung jedes mögliche positive und negative Verhalten in der definierten Freiheitssphäre umfasst.123 Die Anerkennung einer negativen Seite der Grundrechte beschränkt sich also nicht auf die Handlungsrechte im engeren Sinne (z. B. Glaubens-, Gewissens-, Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit), sondern gilt auch für diejenigen Grundrechte, die gewissermaßen die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Freiheitsrechte bilden.124 Die Grundrechte würden „ihren Charakter als Freiheitsverbürgungen einbüßen, wenn sie nur die Ausübung, nicht aber die Nichtausübung der von ihnen thematisch ausgesprochenen Funktionen garantieren würden, und würden so zu gesellschaftspolitischen Lenkungsvorschriften.“125 Auch die Nichtausübung des Rechts auf Leben ist notwendige Kehrseite der positiven Freiheitsverbürgung, bezogen auf das Ziel, einen Lebensbereich von staatlichen Eingriffen und Manipulationen freizuhalten.126 Der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit lässt sich in dieser Hinsicht als Freiheitssphäre über die körperliche Integrität auffassen, „über die aktiv verändernd wie auch passiv bewahrend verfügt werden darf“.127 Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert folglich die elementaren Bedingungen für die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der menschlichen Persönlichkeitsentfaltung.128 Die Tendenzen, „den Freiheitsbegriff auf die Gesamtheit der Individualgüter zu erstrecken, finden im Recht auf Selbstbestimmung ihre eigentliche Legitimation“.129 Die Selbstbestimmung ist „das Recht über diese Rechtssphäre als individuelle Willensphäre nach eigener Entscheidung selbst zu bestimmen“.130 Das Argument der Irreversibilität der Lebensbeendigung ist kein zwingendes Argument für die Abschirmung des Lebens vor Verfügungen des Grundrechtsträgers. Gemäß dem Schrankenvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG sind irreversible Fremdverfügungen über das eigene Leben möglich. Die Verfügung des eigenen Lebens kann in einigen Fällen im Vergleich mit einem qualvollen Weiterleben das vorzugswürdige, geringere Übel sein. In dieser Hinsicht ist die Irreversibilität Ausfluss existenzieller Selbstbestimmung des Patienten. 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Stern, FamRZ 1976, S. 129. Antoine, S. 241 m. w. Nachw. Kneihs, S. 184. Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rn. 75; vgl. auch Kneihs, S. 184. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I, II, Rn. 40. Vgl. BVerfGE 58, 358 (364). Antoine, S. 242. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 20. Stern, III/ 1, § 66, II 2 e. Stern, III/ 1, § 66, II 2 e.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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Die komplexen Entscheidungen im Bereich der Intensivmedizin verlangen Abwägungen zwischen Lebensqualität und Lebensquantität. Der Fortschritt der modernen Medizin ermöglicht nicht nur die Rettung von Leben, sondern trägt oft auch zu einer unnötigen Verlängerung des Leidens bei. Dadurch ergibt sich die Frage, ob und inwieweit die Errungenschaften der modernen Medizin ausnahmslos genutzt werden sollen.131 Man muss sich häufig fragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll.132 Muss z. B. der an Krebs leidende Patient eine Chemotherapie durchführen? Ist der Patient verpflichtet, eine lebensgefährliche und schmerzhafte Operation zur Wiederherstellung seiner Gesundheit durchzuführen? Eine freiheitlich orientierte Verfassung muss alle diese neuen Selbstbestimmungsbedürfnisse der modernen Medizin berücksichtigen und die Verfügungsfreiheit des Patienten respektieren.133 Zudem wirft die Komplexität medizinischer Entscheidungen die Frage auf, wie der staatlichen Schutzpflicht verfassungsrechtlich angemessen Rechnung getragen werden kann, da die Schutzgüter der körperlichen Unversehrtheit untereinander und im Verhältnis zum Schutzgut Leben „divergierende Gewährleistungsgehalte“134 aufweisen und in Widerspruch zueinander geraten können. Folgende Beispiele verdeutlichen dies: Die Widerherstellung der Gesundheit kann eine lebensgefährdende Operation erfordern; der Verlauf einer tödlichen Krankheit, z. B. einer Krebserkrankung, kann durch aggressive, körperlich belastende Therapien, wie z. B. eine Chemotherapie, verzögert werden. Die Schaffung eines Ausgleichs zwischen den Rechtsgütern „körperliche Unversehrtheit“ und „Leben“ verlangt Abwägungen und Präferenzentscheidungen im Binnenbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.135 Wenn man sich für die Ablehnung eines medizinisch gefährlichen Eingriffs entscheidet, dann ist diese Entscheidung von dem Recht auf körperliche Unversehrtheit gedeckt.136 Wenn man sich für den medizinischen Eingriff entscheidet, ist diese Entscheidung von dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gedeckt. Solche wichtigen und persönlichen Entscheidungen fallen in die Freiheitssphäre des Patienten. „[W]ie jedes Freiheitsrecht enthält auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit das Recht auf objektiv falsche Entscheidungen und ein immanentes Risiko des Scheiterns (hier: der Gesundheitsverschlechterung durch Verweigerung des Heileingriffs)“137 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erlaubt in diesem Sinne nicht ausschließlich solche Entscheidungen, die auf die Wiederherstellung der Gesundheit und optimierten Lebensschutz gerichtet sind.138 Die Entscheidung des Patienten, welchen Risiken er sich aussetzt, ist also Gegenstand individueller Selbstbestimmung. 131 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75. 132 Grimm, FAZ Nr. 35, 11. 02. 2002, S. 48. 133 Kämpfer, S. 206 f. 134 Vollmer, S. 121. 135 Kämpfer, S. 199. 136 Kämpfer, S. 200. 137 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 37 (Erstbearb. 1958). 138 A. A. Vollmer, S. 124.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Wenn es ein Verfügungsrecht über das eigene Leben im Sinne einer verfassungsrechtlich garantierten Freiheit nicht gäbe, würde der Mensch zu einem Objekt erniedrigt, da er sich ausschließlich um der Gesellschaft willen am Leben erhalten lassen müsste.139 Die Gesellschaft darf um ihrer Lebenserhaltung willen die Lebensvernichtung weder erleichtern noch fördern und die Lebenserhaltungsmaßnahmen müssen dort eine Grenze finden, wo der Mensch nicht mehr um seiner eigenen Selbstverwirklichung willen leben will. Der Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist Akt der Selbstbestimmung des Patienten und Ausdruck seiner autonomen Entscheidung.140 Die grundlegende Bedeutung des Rechtsgutes Lebens spricht nicht gegen, sondern für eine Verfügungsfreiheit über das Leben. Nach Pietzcker korrespondiert mit „der überragenden Bedeutung des Schutzgutes […] also nicht unbedingt, wie man meinen könnte, seine Unverzichtbarkeit, vielmehr macht sich mit wachsender Persönlichkeitsnähe die Forderung nach individueller Verfügungsmöglichkeit geltend“.141 Diese Freiheit des Patienten ist aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) abzuleiten und nicht aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).142 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist lex specialis zu Art. 2 Abs. 1 GG. Er ist Konkretisierung und Anwendungsfall der allgemeinen Freiheit.143 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Grundrechten und tritt hinter diese zurück, soweit deren Schutzbereiche reichen.144 Der Mensch hat die Möglichkeit, sich unabhängig von Krankheitszusammenhängen das Leben zu nehmen und macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Wenn man ein Recht auf einen würdigen Tod bejaht, muss man auch ein Recht auf Selbsttötung bejahen.145 Dieser Linie folgt auch die Rechtsprechung. Die Gewährleistung eines Selbstbestimmungsrechts des Patienten in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird zunächst in einer abweichenden Meinung des Bundesverfassungsgerichts deutlich.146 In dem Minderheitsvotum findet sich ein Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht als ein in den grundlegenden Verfassungsprinzipien, die zur Achtung und zum Schutz der Würde und der Freiheit des Menschen und seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichten, angelegtes Recht.147 Der Patient sei „aus der Sicht des Grundgesetzes

139

Eser, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, S. 21 (30). Corell, in: AK-GG, Art. 2 II, Rn. 41. 141 Pietzcker, Der Staat 1978, S. 527 (550). 142 BVerfGE 52, 131 (171) – abw. Meinung; Pieroth/Schlink Rn. 392; a. A. BVerfGE 52, 131 (168); Hufen, NJW 2001, S. 849 (851), Wagner; S. 84 ff. 143 Rixen, S. 366 m.w. Nachw. 144 Pieroth/Schlink, Rn. 369. 145 Pohlmeier, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 55 (58). 146 BVerfGE 52, 131 (175). 147 BVerfGE 52, 131 (171, 175 f.). 140

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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frei, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen […] zu entscheiden“.148 Der Kranke oder Versehrte habe gemäß der abweichenden Meinung des Bundesverfassungsgerichts auf Grund von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „das volle Selbstbestimmungsrecht über seine leiblich-seelische Integrität“.149 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sei eine besondere Ausprägung der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten freien Entfaltung der Person.150 In dieser Hinsicht schütze das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „die Unversehrtheit des Menschen nicht lediglich nach Maßgabe seines jeweiligen konkreten Gesundheits- oder Krankheitszustands; es gewährleiste[…] zuvörderst Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen, es beschränk[e] sich aber nicht auf speziellen Gesundheitsschutz.“151 In dieser abweichenden Meinung152 wurde also auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine „existenzielle Entscheidung des Patienten über seine eigene Integrität“153 gestützt und grundsätzlich eine „Freiheit zur Selbstbestimmung“154 hergeleitet. Später hat sich das gesamte Gericht dieser Interpretation in dem Sinne angeschlossen, dass „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG […] das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Freiheitsrecht [gewährleiste]“ und „[der] ärztliche Heilversuch vom Willen des Patienten abhängig“ sei.155 Der Patient habe nach objektiven Maßstäben, wie z. B. „der Schwere seiner Krankheit, der Notwendigkeit des Eingriffs oder auch des Risikos, das mit ihm oder seinem Unterbleiben verbunden ist“, diese „existenzielle Entscheidung […] über seine eigene Integrität“ selbst zu treffen.156 Die Irreversibilität einer solchen existenziellen Entscheidung ist in diesem Sinne notwendige Folge der existenziellen Selbstbestimmung des Patienten.157 Auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein grundsätzlich freies Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper abzuleiten.158 Das Selbstbestimmungsrecht „forder[e] Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreiet wird“.159 Auch das Kammergericht Berlin hat deutlich ein Selbstschädigungsrecht des Menschen anerkannt: „[W]enn der Patient die Behandlung trotz Hinweises auf die Folgen einer Nichtbehandlung ablehnen darf, also die Freiheit hat, sich insoweit selbst zu schädi-

148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159

BVerfGE 52, 131 (175). BVerfGE 52, 131 (174). BVerfGE 52, 131 (171, 173, 175, 184). BVerfGE 52, 131 (174). BVerfGE 52, 131 (171). BVerfGE 52, 131 (178). BVerfGE 52, 131 (175). BVerfGE 89, 120 (130). BVerfGE 52, 131 (178). Kämpfer, S. 223. BGHSt 11, 111 (114). BGHSt 11, 111 (113 ff.).

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

gen, muss ihm auch die Freiheit und das Recht zustehen, sich durch Kenntnisnahme von der Wahrheit zu schädigen, wenn er es will.“160 Nicht jeder freiverantwortliche Eingriff in das Recht auf Leben bzw. Sterben ist jedoch grundsätzlich verfassungswidrig. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, ein Recht auf Sterben zu beschränken, wenn dieser Eingriff die Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfüllt. Die Schutzpflicht des Staates im Hinblick auf das Leben bezieht sich aber nur auf Eingriffe in das Lebensrecht durch andere. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, den Einzelnen, soweit er einwilligungsfähig ist, vor sich selbst zu schützen.161 (d) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich somit feststellen, dass die grundrechtsdogmatische Figur der negativen Seite der Grundrechte nicht auf die so genannten Handlungsgrundrechte im engeren Sinne beschränkt ist. Ein Verfügungsrecht über das eigene Leben ist Ausfluss der negativen Seite des Rechts auf Leben. Diese negative Seite ergibt sich aus dem Abwehrcharakter des Grundrechts, der die Abwehr einer objektiven Lebens- und Gesundheitserhaltungspflicht durch medizinische Maßnahmen gegen den Willen des Patienten rechtfertigt. Mit der Anerkennung der negativen Seite der Grundrechte sollen Tendenzen abgewehrt werden, das grundrechtliche „Dürfen“ in ein „Müssen“ zu verkehren.162 Freiheit kann nur gegeben sein, wo eine Alternative besteht.163 (3) Der Doppelcharakter des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt den Grundrechten ein Doppelcharakter zu. Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte ist auf die Gewährleistung eines Freiheitsbereichs des Einzelnen gegenüber staatlichem Verhalten gerichtet und gibt in ihrem Regelungsbereich einen Anspruch auf Unterlassen von verfassungswidrigen staatlichen Eingriffen.164 Die Grundrechtsdogmatik ist aber bei dieser negatorischen Sichtweise nicht stehen geblieben. Die klassische Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte hat eine Ergänzung durch staatliche Pflichten erfahren,165 die den Staat dazu verpflichten, „den Einzelnen durch aktives Tätigwerden vor nichtstaatlichen Gefährdungen seiner Grundrechtsgüter zu schützen“.166 In dieser Hinsicht hat der Staat die Unversehrtheit der grundrechtlichen

160 161 162 163 164 165 166

KG, NJW 1981, S. 2521 (2523). Schroth, in: Die Patientenverfügung, S. 60 (72 f.). Merten, VerwArch 1982, S. 103 (107 ff. und 116 ff.). Vgl. Hesse, Rn. 288. Erichsen, Jura 1997, S. 85. BVerfGE 6, 32 (40); 7, 198 (204). Erichsen, Jura 1997, S. 85.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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Güter zwischen Privaten zu garantieren.167 Baustein für die dogmatische Entwicklung staatlicher Schutzpflichten ist in Rechtsprechung168 und Literatur169 der Schutz des menschlichen Lebens. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwa begründet das Recht auf Leben eine Pflicht des Staates, sich gegenüber Gefährdungen oder gar Angriffen schützend vor das Leben zu stellen.170 Besonders umstritten ist, inwieweit die staatliche Schutzpflicht für das Leben auch zum Schutz des Menschen vor sich selbst verpflichtet. Eine staatliche Fürsorgepflicht besteht gegen den Willen des Betroffenen, wenn dieser unfrei oder nicht fähig ist, autonom über seine grundrechtlich geschützten Interessen zu entscheiden.171 Dies gilt für Personen ohne die notwendige Einsichts- oder Willensfähigkeit, insbesondere für Geisteskranke. Deren Selbstschädigung darf nicht zugelassen werden.172 Es gilt auch für einwilligungsfähige Personen, wenn für die Gefährdung die Mitwirkung eines Dritten notwendig ist. Zu denken ist hierbei an die Unterbindung der Spende von lebenswichtigen Organen oder die aktive Sterbehilfe. Die Teilnahme eines Dritten begründet das öffentliche Interesse an einer gesetzlichen Restriktion und rechtfertigt den Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht etwa des Spenders.173 Der Patient darf nicht das Verfügungsobjekt eines Dritten sein.174 Die Ausübung der Grundrechte ist an keine Altergrenze gebunden, sie hängt von den konkreten geistig-physischen Fähigkeiten ab.175 Bei Grundrechten, die an die menschliche Existenz anknüpfen (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2, Art. 104 GG), ist stets Grundrechtsmündigkeit anzunehmen, während bei Grundrechten, deren Ausübung mit privatrechtlichen Rechtsgeschäften verbunden ist (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG), die Grundrechtsmündigkeit in der Regel entsprechend den Altergrenzen für die Geschäftsfähigkeit nach dem BGB eintritt.176 In dieser Hinsicht hat der Minderjährige ein Recht auf Selbstbestimmung und auch auf Selbstgefährdung, wenn er in der Lage ist, autonom über seine grundrechtlich geschützten Interessen zu entscheiden. Dabei kann das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG mit der zunehmenden Selbstständigkeit des Minderjährigen kollidieren.177 Das Selbstbestimmungsrecht der Minderjährigen findet seine Grenze nicht nur im elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), sondern auch in der auf Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG 167

Isensee, HStR V, § 111, Rn. 3. BVerfGE 39, 1 (42); 88, 203 (251); 49, 89 (141); 53, 30 (57). 169 Hermes, S. 43 – 76; Böckenförde, Der Staat 1990, S. 1 (12). 170 BVerfGE 39, 1 (42); 88, 203 (251); 49, 89 (141); 53, 30 (57). 171 BVerfGE 22, 189 (219); 58, 208 (225); 60, 123 (133). 172 Antoine, S. 203. 173 Vgl. Esser, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, § 8, Rn. 45. 174 Vgl. Wilms/Jäger, ZRP 1988, S. 44. 175 Antoine, S. 203 – 204. 176 Pieroth/Schlink, Rn. 124. Zur Einwilligungsfähigkeit von Minderjährigen s. auch Belling/Eberl/Michlik, S. 103 ff. 177 Pieroth/Schlink, Rn. 127. 168

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

gestützten, Erziehungszwecke verfolgenden Jugendschutzgesetzgebung.178 Wenn der Minderjährige in der Lage ist, eine freiverantwortliche Entscheidung zu treffen, folgt hieraus nicht automatisch, dass das Erziehungsrecht der Eltern nicht mehr zu berücksichtigen wäre.179 Es muss vielmehr eine Abwägung stattfinden. Kriterien hierfür sind beim minderjährigen Patienten etwa das Krankheitsbild, die Möglichkeiten einer Schmerzlinderung, der Reifegrad des Minderjährigen, die Gründe für die Selbstschädigung, das Alter des Minderjährigen usw. Eine Schutzpflicht des Staates darf auch dann die Freiheit des Einzelnen beschränken, wenn sie auf einen Schutz der Gemeinschaft abzielt. So ist z. B. die Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms für Kraftradfahrer nicht im Hinblick auf eine Selbstverpflichtung zum Schutz des eigenen Lebens verfassungsgemäß, sondern im Hinblick auf die Lasten der Gemeinschaft, wie z. B. Krankenhauskosten sowie die höhere Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer durch den infolge von Kopfverletzungen nicht mehr steuerungsfähigen Unfallbeteiligten.180 (4) Exkurs: Differenzierung zwischen hoheitlicher und privater Beteiligung an einer Verfügung über das eigene Leben Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. Grundrechtsbindung besteht also unzweifelhaft, wenn es um öffentlich-rechtliches Handeln geht.181 Dies betrifft etwa die ärztliche Betreuung von Strafgefangenen oder das Verhalten von Amtsärzten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse.182 Andererseits stellt die Beteiligung Privater an einer Verfügung über das eigene Leben privatrechtliches Handeln dar und die Grundrechte entfalten grundsätzlich keine Wirkung als unmittelbar bindende Anordnungen (keine unmittelbare Drittwirkung).183 Dies bedeutet jedoch, da die Grundrechte auch eine Schutzpflichtfunktion haben, nicht, dass die Grundrechte für die rechtliche Beurteilung der Beziehung zwischen Privaten bedeutungslos wären.184 Umstritten ist die Beteiligung von Ärzten in öffentlich-rechtlich organisierten Krankenhäusern, etwa Universitätskliniken.185 Liegt hier ein hoheitliches oder ein privates Handeln vor? Solange die Beteiligung des Arztes nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben erfolgt, ist bei einer medizinischen Versorgung auf Grundlage privatrechtlicher Behandlungsverträge auch bei Ärzten in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis vom privaten Charakter 178 179 180 181 182 183 184 185

Hillgruber, S. 124. Antoine, S. 305. BVerfGE 59, 275 (278 f.). Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 91 ff. Kämpfer, S. 229. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 104. S. ausführlich Stern, III/ 1, § 76, IV 5 2. Vgl. Rixen, S. 370.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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der Patienten-Arzt-Beziehung auszugehen.186 Nach herrschender Meinung hat also die Patienten-Arzt-Beziehung ungeachtet aller gegebenenfalls sozial bestehenden sozialversicherungsrechtlichen „Einkleidungen“ des Verhältnisses zwischen Patient, Arzt und Krankenkassen regelmäßig keinen öffentlich-rechtlichen Charakter und untersteht somit dem Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflichtdimension und nicht dem abwehrrechtlichen Regime.187 cc) Zwischenergebnis Wegen seiner direkten Bezugnahme auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit steht Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Erörterungen zur Selbstbestimmung des Patienten. Aus einem Verständnis von Art. 2 Abs. 2 S. 1 als Freiheits- und Abwehrrecht folgt die Zulässigkeit der Abwehr einer objektiven Lebens- und Gesundheitserhaltungspflicht durch medizinische Maßnahmen gegen oder ohne den Willen des Patienten. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthält neben einem Abwehrrecht188 gegen unmittelbare und mittelbare Eingriffe auch eine objektive Wertentscheidung, aus der die Pflicht aller staatlichen Organe folgt, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.189 Die negative Seite des Rechts auf Leben als Ausfluss des abwehrrechtlichen Charakters des Rechts auf Leben spricht nicht gegen eine staatliche Pflicht, das Leben zu schützen, wenn diese staatliche Schutzpflicht im Einklang mit dem Willen des Patienten steht. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist nicht als ein Zwang zur Bewahrung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit zu verstehen. Der Patient ist frei, seine Maßstäbe zu wählen, nach ihnen zu leben und zu entscheiden.190 Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beinhaltet in dieser Hinsicht auch ein Verfügungsrecht über das eigene Leben und die eigene Gesundheit. Es schließt also im Sinne des Schutzes der negativen Freiheit ein Recht auf Tod und eine Ablehnung bzw. Nichtaufnahme einer medizinischen Behandlung ein.191 Voraussetzung dieses Verfügungsrechts ist die freiwillige Einwilligung oder Nichteinwilligung des Patienten, die auf Grund autonomer Entscheidungsfindung erfolgt. Dieses Verfügungsrecht über das eigene Leben und die eigene Gesundheit bildet den Schlussstein des Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten. Der Patient darf selbst bestimmen, ob er weiter leben will und/ oder ob er medizinisch behandelt werden will. Er darf allein entscheiden, ob er die Errungenschaften der modernen Medizin nutzen möchte oder nicht. Die Tatsache, dass die Medizin viele Möglichkeiten zur Verlängerung des Lebens anbietet, bedeutet nicht, dass die Nutzung dieser Möglich186 187 188 189 190 191

Kämpfer, S. 230. Höfling/Rixen, S. 82; Höfling, JZ 1996, S. 615 (617); Francke, S. 91 f. BVerfGE 1, 97 (104). BVerfGE 39, 1 (41); 53, 50 (57); 56, 54 (73); 77, 120 (214). Ruhs, S. 48. Pieroth/Schlink, Rn. 392.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

keiten für den Patienten verpflichtend ist. Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht verpflichtend, weil sie technisch möglich sind.192 Die Einwilligung des Patienten ist nicht nur für den Abbruch der Therapie notwendig, sondern auch für die Behandlung, und das bedeutet auch für die weitere Behandlung.193 Dies ist von umso größerer praktischer Bedeutung, je mehr die technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung zunehmen, denn nicht alles, was medizinisch machbar ist, entspricht den Interessen des Patienten.194 Er verfügt über das Recht auf das letzte Wort, das heißt über das Recht auf Entscheidung über die Behandlung und Versorgung, die Weiterbehandlung und den Abbruch der Behandlung. Die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit der Entscheidung des Patienten in den Augen des Arztes oder eines anderen spielen keine Rolle,195 auch wenn es um eine bedeutende Entscheidung am Ende des Lebens des Patienten geht. b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Da die Gesundheit des Patienten und seine Krankheiten von entscheidender Bedeutung für seine Persönlichkeitsentfaltung und -entfaltungschancen sind, ist zu prüfen, ob die Selbstbestimmung des Patienten auch durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt worden ist,196 geschützt wird. aa) Die Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechtsrechts ist primär Art. 2 Abs. 1 GG, weil es, wie die allgemeine Handlungsfreiheit, nicht auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt ist.197 Es hat eine Verbindung zu Art. 1 Abs. 1 GG, weil es wie die Menschenwürde den Einzelnen auf Grund seiner Qualität als Subjekt schützt.198 Es unterscheidet sich von Art. 1 Abs. 1 GG vor allem durch seine prinzipielle Beschränkbarkeit und von Art. 2 Abs. 1 GG dadurch, dass seine Beschränkbarkeit

192

Ruhs, S. 64. BGHSt 37, 376 (378). 194 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75 (85). 195 RGSt 25, 375 (378 f.); BGHSt 11, 111 (114); BGH, NJW 1980, S. 1333 (1334); BGH, NJW 1980, S. 2751 (2753); BGHZ 90, 103 (105 f.); bedenklich dagegen BGH, NJW 1978, S. 1206 – Zahnextraktionsfall, wo der BGH aus der Unvernunft die Einwilligungsunfähigkeit ableitete, aber immerhin nicht die unvernünftige Entscheidung als solche für unbeachtlich erklärte; s. auch Coeppicus, NJW 1998, S. 3381 (3382). 196 BVerfGE 54, 148 (153 f.); 65, 1 (44). 197 Pieroth/Schlink, Rn. 373. 198 Pieroth/Schlink, Rn. 373. 193

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auf Grund seiner Verbindung zu Art. 1 Abs. 1 GG erschwert ist.199 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst einerseits einen absolut geschützten Kernbereich, also einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, einen „Innenraum“, in dem der Mensch „sich selbst besitzt“ und „in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt“200, in den ein Eingriff nicht stattfinden darf (Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG). Andererseits umfasst es einen Bereich privater Lebensgestaltung, der im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots eingeschränkt werden darf (Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG).201 Es geht nicht um eine kumulative Anwendung der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Menschenwürde, sondern um ein eigenes Grundrecht.202 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sichert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in der er seine Individualität entwickeln und wahren kann.203 Der Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist vom Bundesverfassungsgericht nicht abschließend umschrieben worden, sondern seine Ausprägungen sind jeweils fallbezogen herausgearbeitet und weiterentwickelt worden.204 Es hat also keinen fest zu umreißenden Grundrechtsbestand, sondern ist nur auf dem Wege der Fallgruppenbildung beschreibbar.205 Eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts könnte also die Selbstbestimmung des Patienten sein. So sieht es ein Teil der Rechtsprechung. Die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Persönlichkeitsrecht war nämlich schon vor 1949 gemäß der Rechtsprechung des Reichsgerichts selbstverständlich.206 Im Zivilrecht wird bei einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts auf Grund mangelnder oder mangelhafter Einwilligung zu einem medizinisch indizierten und kunstgerechten Eingriff keine Körperverletzung, sondern eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das „als sonstiges Recht“ im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB geschützt ist, bejaht.207 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein Abwehrrecht, das dem Grundrechtsträger einen freien Raum gegenüber dem Staat gewährt.208 Es ergänzt die speziellen Freiheitsrechte. Der Patient soll davor geschützt werden, dass andere aktiv in sein Persönlichkeitsrecht eingreifen,209 er hat mit anderen Worten das „Recht, von den Mit199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 30. BVerfGE 27, 1 (6). BVerfGE 27, 344 (350). Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 30. Ruhs, S. 49. BVerfGE 54, 148 (153 f.); 65, 1 (44). Kunig, Jura 1993, S. 595 (599). RGZ 88, 433 (435); 151, 349 (352); 163, 129 (137). BGHZ 26, 349 (354); 27, 284 (286). Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 40. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 170.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

menschen in Ruhe gelassen zu werden“210. Dem Patienten wird ein Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er „sich selbst besitzt “ und in den er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann.211 Das Persönlichkeitsrecht gewährleistet dem Patienten „einen abgeschirmten Bereich privater Lebensgestaltung“212. Wegen der Einwirkung von Art. 1 Abs. 1 GG als Begründungs- und Ausgestaltungselement enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht neben einem Abwehrrecht gegen unmittelbare und mittelbare Eingriffe auch eine objektive Wertentscheidung, aus der die Pflicht aller staatlichen Organe folgt, sich schützend und fördernd vor die Persönlichkeitssphäre des Einzelnen zu stellen und ihn insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten des Staates und Dritter zu bewahren.213 Der geschützte Bereich umfasst Angelegenheiten, die von ihrem Inhalt dem Bereich der engeren Lebensführung zugeschrieben werden und deren öffentliche Erörterung daher als peinlich oder zumindest unschicklich empfunden wird.214 Zu diesen sensiblen Angelegenheiten gehört vor allem die Erfassung, Speicherung und Verwertung der medizinischen Daten des Patienten (informationelle Selbstbestimmung des Patienten). Eine der sensibelsten Formen ist dabei die Erfassung, Speicherung und Verwertung des persönlichen DNA-Identifizierungsmusters. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet einen Schutz vor Ausforschungsmaßnahmen, die zwecks Sachverhaltserforschung in die Privatsphäre eingreifen.215 Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist neben der ärztlichen Aufklärungspflicht ein Anspruch des Patienten auf Dokumentation und Rechenschaft über den Gang der ärztlichen Behandlung sowie auf Einsichtnahme in seine Patientenakten.216 Es geht um den Schutz der Integrität von ärztlichen Patientenakten und ärztlichen Gutachten, die mit ihren Angaben über Anamnese, Diagnose und Therapie den privaten Bereich des Patienten betreffen217 und als solche unter den Schutz des Persönlichkeitsrechts fallen.218 Auch ein Recht auf „Nichtwissen der genetischen Prägung“ wird durch das Persönlichkeitsrecht geschützt.219 Der Einzelne ist nicht verpflichtet, mit einer Belastung, zu der das Wissen um eine unheilbare Krankheit führt, konfrontiert zu werden.220 Neben dem Recht auf Nichtwissen gehört auch das Recht auf Nichtbefassen mit lebensentscheidenden Themen, wie z. B. das Nicht-Abfassen eines Patiententestaments, zum Schutzbereich des allgemeinen Per210

Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 170. BVerfGE 27, 1 (6). 212 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 70. 213 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 135. 214 BVerfGE 101, 361 (382); 89, 69 (83 f.) – Informationen über Krankheiten oder den (physischen oder psychischen) Gesundheitszustand einer Person schlechthin. 215 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 132. 216 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 204. 217 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 98. 218 BVerfGE 32, 373 (378 ff.); 89, 69 (82 f.). 219 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 204. 220 Koppernock, S. 89 m. w. Nachw. 211

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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sönlichkeitsrechts. Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten kann auch ein „bioethisches Selbstverfügungsrecht“ abgeleitet werden, die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln zu erfahren, soweit dies mit der Ablehnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln oder zunehmenden allergischen Körperreaktionen in Zusammenhang steht.221 Auch ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist teilweise Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, da eine Schwangerschaft ein selbstbestimmmtes Handeln in der Privatsphäre der Frau ist.222 Es geht um eine durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (sowie auch durch Art. 6 Abs. 1 GG) geschützte Entscheidung der Frau, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen möchte [s. Zweiter Teil, VI 2 b)]. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten gebietet es auch, behinderte Menschen grundsätzlich nicht in stationären Einrichtungen unterzubringen. Grund hierfür ist, dass die Intimität in der eigenen Wohnung regelmäßig leichter zu erhalten ist.223 § 19 Abs. 2 SGB IX trägt diesem Grundsatz ausdrücklich Rechnung. Auch die Wahl einer Pflegekraft des gleichen Geschlechts wird vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Patienten gewährt, allerdings nur, wenn besondere Umstände hinzutreten.224 So hat etwa eine schwer körperbehinderte Studentin, die allein in einer Wohnung lebt und 15 Stunden täglich auf Pflege angewiesen ist, ein Recht auf eine Pflegekraft des gleichen Geschlechts,225 ihr ist es nicht zumutbar, sich im Wesentlichen durch Zivildienstleistende pflegen zu lassen. Ein erheblicher Teil der Pflegeleistung erstreckt sich auf den Intimbereich oder ist zumindest mit engem Körperkontakt zu der Pflegebedürftigen verbunden.226 Ein allgemeines Recht auf eine Pflegekraft des gleichen Geschlechts kann jedoch nicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet werden. Dieser Anspruch beschränkt sich nur auf Pflegeleistungen, die den Intimbereich betreffen, wie etwa das Aufsuchen der Toilette.227 Die aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleitete Schutzpflicht würde überstrapaziert, wenn der Staat angehalten wäre, grundsätzlich die Verfügbarkeit einer Pflegekraft des gleichen Geschlechts zu sichern.228 Die Wahlfreiheit des Patienten über Arzt oder Einrichtung ist je nach den Lebenslagen, in denen vom Wahlrecht Gebrauch gemacht wird, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder der allgemeinen Handlungsfreiheit zu unterstellen. Ein Beispiel einer vom Persönlichkeitsrecht geschützten Wahl ist die Wahl eines alten Menschen, der seinen Lebensabend in einem Altenheim eines bestimmten Trägers verbringen möchte oder die eines Suchtkranken, bei dem eine stationäre Entwöhnungsbehandlung ansteht.229

221 222 223 224 225 226 227 228 229

Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 204. Middel, S. 56 m. w. Nachw. V. Neumann, in: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, § 6, Rn. 2. V. Neumann, ZFSH / SGB 2003, S. 392 (394 f). VGH Kassel, RsDE 1988/ 3, S. 89 (91) mit Anmerkung Neumann. VGH Kassel, RsDE 1988/ 3, S. 89 (91) mit Anmerkung Neumann. VGH Kassel, RsDE 1988/ 3, S. 89 (91) mit Anmerkung Neumann. V. Neumann, ZFSH / SGB 2003, S. 392 (394 f). V. Neumann, S. 53.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

bb) Zwischenergebnis Ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten ist im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankert, wenn die freie Selbstbestimmung des Patienten nicht direkt mit seinem Leben und seiner körperlichen Unversehrtheit, sondern mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten hat in diesem weiteren Sinne seine Wurzeln in Art. 2 Abs. 1 GG, weil es, anders als die körperliche Unversehrtheit, nicht auf bestimmte Lebensbereiche begrenzt ist. Wenn aber ein direkter Bezug zum Leben oder zur körperlichen Unversehrtheit des Patienten besteht, z. B. bei der Frage nach einer Anerkennung eines Verfügungsrechts über das eigene Leben und die eigene körperliche Unversehrtheit, dann ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als spezielleres Grundrecht einschlägig. Ein Recht auf Tod kann also im allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht verankert werden, sondern ist in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert worden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist betroffen, wenn der Eingriff in das Leben und die körperliche Integrität in den Hintergrund tritt, etwa im Zusammenhang mit der Erforschung persönlicher Merkmale, Krankheiten oder Ähnlichem zu Dokumentationszwecken,230 mit einen Schwangerschaftsabbruch, mit der Pflege durch ein Pflegekraft des gleichen Geschlechts oder mit der Wahl einer Behandlungseinrichtung. c) Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) aa) Präzisierungsversuche der Menschenwürde Die Menschenwürde „positiv“ zu definieren versuchen die so genannten Wertoder Mitgiftstheorien und die Leistungstheorie. Gemäß der Wert- oder Mitgiftstheorien, die ihren Hintergrund im Begriff der Gottebenbildlichkeit im Christentum haben, ist die Menschenwürde eine bestimmte menschliche Eigenschaft, eine den Menschen auszeichnende Qualität. Nipperdey definiert in diesem Sinne als Würde „den Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin. […] Das Wesen des Menschen besteh[e] in der Freiheit der Entscheidung und seinem Geöffnetsein, seinem Organ für das Reich der sittlichen Werte, für die Wertfülle des Lebens“231. Die Menschenwürde komme, da sie „angeboren und unverlierbar“ sei, jedem einzelnen Menschen, z. B. auch dem Geisteskranken, dem Unmündigen, der Prostituierten, dem Bewusstlosen und dem unheilbar Kranken zu.232 „Sie steh[e] dem Menschen als solchem kraft seiner Wesenheit als Charakter indelebilis zu, unabhängig von der konkreten Situation, in der sich der Einzelne befindet.“233 Es geht um ein christlich-religiöses bzw. 230 231 232 233

Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 204, Fn. 1; Koppernock, S. 60. Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, S. 1 f. Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, S. 1 (3). Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, S. 1 (3).

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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naturrechtlich-wertphilosophisches Verständnis von Menschenwürde.234 Die Würde des Menschen sei selbst der „höchste Wert“ der Rechtsordnung und „das Zentrum der Rechtsideen als der versittlichenden Kraft im Recht“.235 Menschenwürde bedeutet in dieser Hinsicht „Wertsein jedes einzelnen Menschen für sich selbst und um seiner selbst willen“.236 Die Menschenwürde „existiert in jedem Menschen als Kern der unableitbaren Wesenheit der menschlichen Natur“.237 Die Offenheit des Verfassungsbegriffs der Menschenwürde ergibt sich daraus, dass sich die Menschenwürde nicht auf einen spezifischen Lebensausschnitt bezieht, sondern in beliebigen Lebenssituationen relevant werden kann.238 „Würde ist keine Handlung, sondern der Modus einer Handlung, die Beschreibung eines Zustandes, die Beschreibung eines Handlungsumfeldes in einer Beziehung zum Handelnden.“239 Gemäß der von Luhmann geprägten Leistungstheorie ist die Würde keine natürliche Qualität menschlicher Existenz, sondern Ergebnis und Bedingung gelungener Selbstdarstellung.240 Die Würde ist in diesem Sinne, anders als die Grundlagen der Intelligenz, keine Naturausstattung des Menschen, sondern eine Leistung, die der einzelne Mensch erbringen, aber auch verfehlen kann.241 Sie ist „das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewusster, teils unbewusster Darstellungseinstellungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation“242. Die Menschenwürde ist also gemäß dieser Theorie Resultat erfolgreicher Identitätsbildung. Wenn die Würde Ausfluss der Leistung ist, kann sie der Staat nicht gewährleisten, sondern nur Bedingungen der Leistung erhalten.243 Die Würde hat dann mit der Chance eigenen Verhaltens, eigener menschlicher Leistung zu tun.244 Der besondere Beitrag der Leistungstheorie ist, dass der Einzelne selbst bestimmt, was seine Würde ausmacht.245 Anders gesagt: „Zur Würde gehört auch, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden“. Art. 1 Abs. 1 GG enthält also keine Verpflichtung für den Einzelnen, seine eigene Menschenwürde zu achten.246 Ungenügend ist die Leistungstheorie jedoch deshalb, weil nach ihr derjenige, der nicht zur

234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246

Müller-Terpitz, S. 309. Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 1 (9). Stern, III/1, § 58, I 1. Stern, III/1, § 58, I 1. Geddert-Steinacher, S. 22. Blankenagel, KJ 1987, S. 379 (387). Luhmann, S. 68 und Fn. 44. Luhmann, S. 68. Luhmann, S. 68 und Fn. 45. Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 11. Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 11. Pieroth/Schlink, Rn. 356. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 36.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Identitätsbildung durch Selbstdarstellung in der Lage ist, würdelos ist.247 Wenn der Einzelne handlungs- oder einwilligungsunfähig ist (und dies ist bei Patienten oft der Fall), wäre er gemäß der Leistungstheorie auch zur Leistung der Identitätsbildung außerstande.248 Es bestünde die Gefahr, dass der verfassungsrechtliche Schutz der menschlichen Würde ausgehöhlt würde, machte man ihn von eigener Würdeleistung abhängig.249 Die Leistungstheorie lässt zudem die Frage offen, wer und nach welchen allgemeinen oder individuellen Kriterien entscheidet, wem die Würdeleistung nicht gelingt.250 Der besondere Beitrag der Wert- oder Mitgiftstheorien ist, dass sie allen Menschen unabhängig von ihren Fähigkeiten eine Würde zuzuweisen.251 Das Bundesverfassungsgericht hat die so genannte Objektformel entwickelt. Es formuliert, dass es der menschlichen Würde widerspreche, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handels zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen.252 Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen sei dann verletzt, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt und nicht mehr als Subjekt und Zweck respektiert wird.253 Ein Präzisierungsversuch dieser Objektformel besteht darin, dass eine Verletzung der Menschenwürde gegeben ist, wenn der Mensch “einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder [… wenn] in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt“.254 Gemäß dieser Rechtsprechung sei eine solche Form der Behandlung „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomm[e], also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung“.255 Das Bundesverfassungsgericht verwendet die von Dürig256 geprägte Objektformel, deren Formulierung die Variante des Kategorischen Imperativs als praktischer Imperativ ist. „Der Mensch [müsse] immer Zweck an sich bleiben.“257 Nach dem Kantschen Imperativ: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“258 Die Objektformel steht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einem engen Begründungszusammenhang mit den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit.259 Der 247

Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 8. Pieroth/Schlink, Rn. 356. 249 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 9. 250 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 9. 251 Pieroth/Schlink, Rn. 356. 252 BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1 (6); 45, 187 (228); 87, 209 (228); 109, 133 (149 – 150). 253 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 28 (Erstbearb. 1958). 254 BVerfGE 30, 1 (26). 255 BVerfGE 30, 1 (26). 256 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 28 (Erstbearb. 1958). 257 BVerfGE 45, 187 (228). 258 Kant, S. 428/9 (S. 79). 259 Geddert-Steinache, S. 32. 248

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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zentrale Begriff der Begründung der Menschenwürde ist gemäß Kant die Autonomie. Der Mensch sei fähig, allein zu handeln, Zwecke zu setzen, spontane Ursache von Kausalketten zu sein. Seine Autonomie sei der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.260 Die Würde des Patienten wird in dieser Hinsicht etwa verletzt, wenn er zum willenlosen, passiven Objekt der Intensivmedizin gemacht wird.261 Dieser Präzisierungsversuch des Bundesverfassungsgerichts ist eine „negative“ Definition von Menschenwürdeverletzung und bietet kein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung einer Verletzung der Menschenwürde. Er ist unbestimmt,262 vage263 und abstrakt, viele Fragen bleiben unbeantwortet. Unsicherheiten bestehen, was die Beurteilung der Menschenwürdewidrigkeit staatlicher Handlungen angeht.264 Was kann als Objektbehandlung interpretiert werden? Ist z. B. die Tötung eines Menschen eine Verletzung seiner Subjektqualität? Ist das Verbot der aktiven Sterbehilfe eine Objektbehandlung des Sterbewilligens, indem er als sittliches Subjekt in seiner Entscheidung zum Freitod nicht ernst genommen wird?265 Selbst das Bundesverfassungsgericht räumt ein, dass der dogmatische Ansatz der Objektformel problem- und mängelbehaftet ist.266 Es lasse sich „nicht generell […], sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles“ sagen, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt ist.267 Deshalb könne nur versucht werden, die spezifischen Gefährdungen der Menschenwürde nach Bereichen zu konkretisieren.268 Es muss zudem kritisiert werden, dass moralische Werturteile zur Beurteilung der Frage, ob eine Verletzung vorliegt, herangezogen werden.269 Das Bundesverfassungsgericht „verobjektiviert“ die Objektformel, indem es auch überprüft, ob die Belange des Betroffenen mit hinreichendem Gewicht in das Entscheidungsergebnis eingeflossen sind.270 Es findet eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung statt.271 Trotz fehlender Übereinstimmung hinsichtlich des positiven Gehalts der Menschenwürde führt die Orientierung an der unbestimmten negativen Umschreibung vielfach zu Einigkeit. „Unsere Gesellschaft ist sich, ohne dies jeweils hinterfragen zu wollen und allgemein begründen zu können, eben darin einig, dass gewisse Weisen des Umgangs der öffentlichen Gewalt mit dem Menschen schlechterdings unerträg260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271

Kant, S. 428/9 (S. 79). Höfling, JuS 2000, S. 111 (114). Pieroth/Schlink, Rn. 360. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 53. Nettesheim, AöR 2005, S. 71 (81). Antoine, S. 85. BVerfGE 30, 1 (25). BVerfGE 30, 1 (25). Pieroth/Schlink, Rn. 361. Hoerster, JuS 1983, S. 93 (94). Nettesheim, AöR 2005, S. 71 (79). Nettesheim, AöR 2005, S. 71 (79).

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

lich sind.“272 Im Rahmen dieser Arbeit werden daher Verletzungen der Menschenwürde im konkreten Fall untersucht. Grundlage der Menschenwürde im Bereich der Selbstbestimmung des Patienten ist etwa ein Verbot unfreiwilliger Lebensbeendigungen, insbesondere von „Euthanasie“-Morden nationalsozialistischer Prägung.273 Im Bereich der Medizin stellt zudem die heimliche oder gewaltsame medizinische Manipulation zu Forschungs- oder Züchtungszwecken einen Eingriff in die Menschenwürde dar.274 Ein charakteristisches Beispiel einer solchen Manipulation ist eine medizinische Forschung ohne den Willen des Betroffenen, die der Wirksamkeit eines bestimmten Medikaments dienen kann oder ein medizinischer Versuch, der nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird.275 Auch die Auslese oder Veränderung des Erbmaterials im Sinne einer Menschenzüchtung verstößt gegen die Menschenwürde.276 Gleiches gilt für die Ausforschung der Psyche oder des Gedächtnisses eines Menschen mittels technischer Mittel277, die unmenschliche Zwangsernährung in staatlichen Anstalten278 sowie die Aufrechterhaltung des Lebens als mittelbarer Zweck zur Erhaltung des Rentenanspruchs, zur Ermöglichung medizinischer Forschung oder Auslastung kostenträchtiger medizinischer Geräte279. Wo aber beginnt eine medizinische Manipulation? Ein entscheidender Ansatzpunkt bei der Beantwortung dieser Frage ist der Begriff „bloß“ – der Patient darf nicht als „bloßes“ Mittel behandelt werden. Dies bedeutet, dass der Patient zwar grundsätzlich auch als Mittel zur Verfolgung anderer Zwecke verwendet werden darf. Wenn dies der Fall ist, das heißt wenn er instrumentalisiert wird, muss dies jedoch so kompensiert werden, dass er sich in dieser Mittelstellung als Subjekt erfahren kann. Dies setzt unbedingt voraus, dass die Zustimmung des betroffenen Patienten vorliegt. Das Entscheidungskriterium für die Zulässigkeit der Mittelstellung des Patienten ist das Selbstverständnis des Menschen als Subjekt, mit anderen Worten die Selbstbestimmung des Patienten. Der Patient darf als Objekt behandelt werden, aber niemals als „bloßes“ Objekt. bb) Die Unantastbarkeit der Würde des Patienten Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung steht der Mensch bzw. in dieser Untersuchung der Patient. Dessen unantastbares Grundrecht ist die Menschen-

272

Pieroth/Schlink, Rn. 358. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 11 f. (Erstbearb. 1958). 274 Pieroth/Schlink, Rn. 361. 275 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 48. 276 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 53d. 277 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 47. 278 § 97 Abs. 1 StVollzG; s. auch Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 55; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 52. 279 Kämpfer, S. 367. 273

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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würde.280 Die Garantie der Menschenwürde hat schon auf Grund ihrer Spitzenposition im Grundgesetz eine herausragende Bedeutung.281 Diese wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Grundsätze des Art. 1 GG unter die so genannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG fallen und somit auch auf dem Wege der Verfassungsänderung nicht berührt werden dürfen. Art. 1 Abs. 1 GG ist „als Fundamental- und absolute Norm ausgewiesen, unaufhebbar und unbeschränkbar“.282 Eine Abwägung im Sinne der praktischen Konkordanz ist nicht möglich.283 Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet alle staatliche Gewalt dazu, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Der staatlichen Gewalt ist eine Schutzpflicht auferlegt worden.284 Die Garantie der Menschenwürde ist im Gegensatz zu den anderen Grundrechten, die aus staatlichen und individuellen Gründen beschränkt werden dürfen und müssen, aller relativierenden Beschränkung entzogen.285 Das positiv-rechtliche Verbot der Unantastbarkeit der Menschenwürde gilt in allen Lebensphasen und -situationen, unabhängig von den Fähigkeiten und Leistungen des Menschen und unabhängig von der Fähigkeit der Identitätsbildung und -darstellung.286 cc) Die Relativierung der Unantastbarkeit der Würde des Patienten (1) Die Idee der Abstufung der Menschenwürde Der absolute Schutz der Menschenwürde ist jedoch von einem Teil der Literatur in Frage gestellt worden, der eine Abstufung287 und Abwägung288 im Bereich der Menschenwürde beim pränatalen Würdeschutz oder eine grundsätzliche Beschränkung des Art. 1 Abs. 1 GG289 bejaht.290 Diese Abstufung und Abwägung wird u. a. derart vorgenommen, dass eine Unterscheidung zwischen dem „Würdekern“ und dem „periphere[n], abwägungsoffene[n] Schutzbereich“ getroffen wird.291 Bei dem „periphere[n], abwägungsoffene[n] Schutzbereich“ soll die Würdeverletzung erst auf Grund 280

Zu dem Grundrechtscharakter der Menschenwürde s. Pieroth/Schlink, Rn. 350. Sachs, S. 166. 282 Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50. 283 BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293). Zur Tendenz der Relativierung der Unantastbarkeit der Menschenwürde, s. unten unter cc). 284 Pieroth/Schlink, Rn. 351. 285 Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50. 286 Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50. 287 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 83; Herdegen, JZ 2001, S. 773 (774 – 775); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 43 ff.; Kloepfer, JZ 2002, S. 417 (420). 288 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 43 ff. 289 Kloepfer, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 77 (101). 290 Zusammenstellung unterschiedlicher Relativierungsmodelle bei Isensee, AöR 2006, S. 173 (195). 291 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 43 ff. 281

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

einer Gesamtschau modaler und finaler Elemente zu konstatieren sein, was Raum für eine Abwägung zwischen dem peripheren Schutzbereich und den eingriffsleitenden Absichten sowie für eine Zweck-Mittel-Relation ließe.292 Kernidee dieser Argumentation ist, dass „trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen […] Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen […], die den konkreten Umständen Rechnung tragen, [durchaus offen seien].“293 Eine Berücksichtigung der Zweck-Mittel-Relation bei der Bestimmung einer Verletzung der Menschenwürde setze voraus, dass man der Menschenwürde neben einem gegenständlich fest umschriebenen „Begriffskern“ einen so genannten „Begriffshof“294 zuordne, der für eine bilanzierende Würdigung aller für die Schwere des Eingriffs und des verfolgten Zweckes maßgeblichen Umstände offen sei.295 Der Begriffshof dürfe dabei nicht zu einer Ausweitung des Schutzbereichs ins Uferlose führen.296 Die Erstreckung der Menschenwürde auf früheste Erscheinungsformen menschlichen Lebens etwa könne nur mit einer Abstufung der Menschenwürde in Einklang stehen.297 Eine Abstufung der Menschenwürde bedeute, dass der Schutz der Menschenwürde in diesen frühesten Phasen des menschlichen Lebens weniger weit reiche als beim Embryo im Mutterleib oder bei dem schon geborenen Menschen.298 Ein gestufter Schutz erlaube eine Differenzierung nach den jeweiligen Erscheinungsformen frühen menschlichen Lebens.299 Es gehe um eine gleitende Skala variierender Disponibilität.300 Diskutiert wird dies auch bei Foltern zur Rettung von Entführten in Abwesenheit erfolgversprechender Alternativen.301 Diese Theorie einer Abstufung ist als ein Epochenbruch markiert worden.302 Ein so gesehener Würdeschutz führe mit seiner eigenen Relativierung zur Relativierung der Unabdingbarkeit und Unantastbarkeit der Menschenwürde selbst.303 Diese Skepsis lässt sich durch einen Mangel an Vertrauen in den Gesetzgeber, den Gesetzanwender und in die folgende richterliche Kontrolle erklären. Die Gesellschaft ist misstrauisch gegenüber einer Abstufung und Abwägung im Bereich der Menschenwürde, die zu einer unterschiedlichen Behandlung von sehr ungleichen Situationen führen würde. Es besteht die Angst, dass eine solche Abstufung zu einer graduellen Abschaffung der Menschenwürde führen würde. Angesichts des slippery-slope-Arguments (Argument der schiefen Ebene) birgt eine Abstufung der Menschenwürde mehrere Gefah292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303

Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 44. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 50. Engisch, S. 139 (in Anlehnung an Philip Heck). Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 44. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 44. Herdegen, JZ 2001, S. 773 (774). Herdegen, JZ 2001, S. 773 (774). Herdegen, JZ 2001, S. 773 (774). Böckenförde, FAZ, 03. 09. 2003, S. 33 (34) Feuilleton. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 45 m. w. Nachw. Böckenförde, FAZ, 03. 09. 2003, S. 33 (34) Feuilleton. Böckenförde, Blätter für Deutsche und Internationale Politik 2004, S. 1216 (1219).

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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ren. Eine leichte Gefährdung könnte zu einer schweren Gefährdung führen. Wenn eine Abstufung der Menschenwürde für das pränatale Leben anerkannt werden würde, dann wird der nächste Schritt eine Abstufung auch für den lebenden Mensch sein.304 Und was sollen die Kriterien für eine solche Abstufung sein? Zudem erlauben auch die aus Nationalsozialismus, Krieg und Zerstörung gezogenen Erfahrungen in Deutschland eine schwer kontrollierbare Abstufung nicht. Die Ermordung von rund 100.000 unheilbar Kranken, missgebildeten Kindern und behinderten Erwachsenen während des Nationalsozialismus hat zu der Befürchtung geführt, dass diese Theorie der Abstufung der Menschenwürde von ähnlichen Gemeinwohlerwägungen, gesellschaftsutilitaristischen, paternalistischen und eugenischen Motiven geprägt ist305 und zu einer Kategorisierung von „minderwertigem“ und „höherwertigem“ Leben führen wird. Dies wird am Beispiel der Folter besonders deutlich. Folter könnte bei einer Abstufung der Menschenwürde zulässig sein, wenn sehr strenge Kriterien, wie etwa das Versagen anderer Mittel, eine verhältnismäßige Zuordnung von Bedrohungspotenzial und Folterintensität, eine richterliche Anordnung, eine ärztliche Aufsicht und die Anwesenheit eines Geistlichen für den Fall, dass der Gefolterte plötzlich stirbt, erfüllt wären.306 Diese Abschichtung von Würdekern und weiterem Schutzbereich ließe Raum für eine sachgerechte Beurteilung körperlicher und seelischer Eingriffe für präventive Zwecke.307 Aber genau der oben angesprochene Mangel an Vertrauen in Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung hat zum absoluten Verbot des Folterns geführt308 und im Allgemeinen zur Ablehnung einer Abstufung im Bereich der Menschenwürde. (2) Die „Alternative“: Die unterschiedliche Bedeutung der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen Eine „Antwort“ auf die geschilderte Menschenwürderelativierung ist die von Schlink geprägte Theorie der unterschiedlichen Bedeutung der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Die Menschenwürde und deren Achtung bedeute Verschiedenes in verschiedenen Lebensphasen und -situationen.309 Der „Würdeschutz verlange zwar stets Beachtung, habe in den unterschiedlichen Le bens phasen und -situationen aber unterschiedliche Bedeutung.“310 In dieser Hinsicht 304

So Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 45. Vgl. Antoine, S. 255. 306 Vgl. die Beispiele von Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50 (54), der die Gefahr einer solchen Abstufung darstellt. 307 So Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 45. 308 Ausdrücklich verankert für festgehaltene Personen in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG, im UNÜbereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 16. 12. 1984 (BGBl. 1990 II, S. 246, § 136a StPO i.V.m. Landespolizeigesetzen) und in Art. 3 EMRK. 309 Schlink, S. 10 – 12. 310 Schlink, S. 13. 305

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

habe der Respekt vor der Autonomie des Einzelnen unterschiedliche Bedeutung in verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Z. B. ermächtigt der Staat Eltern bzw. Betreuer dazu, für Kinderzu entscheiden .311 Der Strafgefangene etwa darf ebenfalls in einer Weise behandelt werden, wie es dies der freie Mensch niemals tolerieren müsste.312 Die unterschiedliche Bedeutung der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen führt nicht zu einer Abstufung der Menschenwürde, sondern zu einer Bestimmung der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Ein charakteristisches Beispiel für unterschiedliche Lebensphasen und -situationen findet sich in der Patienten-Arzt-Beziehung. Die Würde des Patienten verlangt Unterschiedliches, „wenn es sich um ein Kind und wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, wenn es um jemanden, der jung ist und wieder gesund werden wird, und wenn es um einen alten Menschen, der sterben will“ geht.313 Diese Unterscheidung kann auch zwischen der Würde vor der Geburt und der Würde nach der Geburt und zwischen der Würde des Embryos im Labor und der Würde eines Fötus, der schon bald auf die Welt kommen wird, vorgenommen werden.314 Der Schutz der Menschenwürde ist zwar absolut, jede Situation wird aber anders beurteilt. Die Unterschiedlichkeit der Menschenwürde in verschiedenen Lebensphasen und -situationen führt also nicht zu einer Relativierung der Menschenwürde. Sie öffnet nur den Weg zu einer Bestimmung der Menschenwürde in den verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Zu bemerken ist jedoch, dass die sich hier ergebenden Auslegungsmöglichkeiten sehr eng sind, da der Schutzbereich der Menschenwürde grundsätzlich sehr eng zu interpretieren ist. dd) Zwischenergebnis Die Selbstbestimmung des Patienten ist zentraler Bestandteil seiner Menschenwürde. Ein allgemeines Recht auf Selbstbestimmung des Patienten kann aber nicht ausschließlich in Art 1 Abs. 1 GG verankert werden. Eine Verletzung der Menschenwürde ist nur bei besonders schwerwiegenden Beeinträchtigungen elementarer Persönlichkeitskomponenten gegeben. So sind etwa das Verbot der Durchführung von ärztlichen Experimenten an Patienten gegen ihren Willen oder allgemein das Verbot der Durchführung von ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen des Patienten, mit anderen Worten das Verbot der Instrumentalisierung des Patienten, in der Menschenwürde verankert und ihr Schutz ist wegen der Unantastbarkeit der Menschenwürde absolut. Bei bestimmten Eingriffen in das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Patienten hat aber Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Vorrang vor Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde wird nur in Ausnahmefällen verletzt. Voraussetzung für die Verletzung 311 312 313 314

Schlink, S. 11. Nettesheim, AöR 2005, S. 71 (81). Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50 (52). Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50 (52).

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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der Menschenwürde ist, dass der Patient zum bloßen Objekt medizinischer Behandlung gemacht wird.315 Von besonderer Wichtigkeit ist die Menschenwürde für die Interpretation des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diesbezüglich enthält Art. 1 Abs. 1 GG eine richtungweisende Wertentscheidung, die nicht nur wesentlichen Regelungen der Verfassung zugrunde liegt, sondern nach der sich auch das gesamte übrige Recht richten muss.316 Die Menschenwürde ist also ein „zentrales Richtmaß für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen“317. Bei der Bestimmung des Beitrags der Menschenwürde bei der Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten ist es auch wichtig, das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und 2 Abs. 2 S. 1 GG zu untersuchen. d) Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG im Bereich der Selbstbestimmung des Patienten318 Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist von besonderer Bedeutung, weil die Menschenwürde mit dem Recht auf Leben in der Weise verbunden ist, dass hinsichtlich des personellen Geltungsbereichs der Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG als identisch angesehen wird.319 In den beiden Leitentscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch320 hat das Bundesverfassungsgericht dem Menschenwürdeschutz eine zentrale Rolle bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung beigemessen. Das Gericht hat jedoch nicht deutlich genug zwischen Lebensschutz und Menschenwürdeschutz unterschieden. Es neigte zu einer Identifikation

315

Höfling, JuS 2000, S. 111 (114). Zippelius, S. 281. 317 Stern, III/I, § 58, II 6. 318 Das Verhältnis von Menschenwürde und Recht auf Leben spielt aktuell auch außerhalb des Bereichs der Selbstbestimmung des Patienten eine große Rolle, s. Lindner, DÖV 2006, S. 577 ff. Im Zusammenhang mit § 14 Abs. 3 LuftSiG s. Schlink, Der Spiegel 3, 2005, S. 34 ff.; Will, in: FS Hirsch, S. 29 (41 ff.); Lepsius, in: FS Hirsch, S. 47 ff.; Herzog, in: FS Hirsch, S. 89 ff. Zu den sog. „ticking-bombing Szenarien“ s. insb. Brugger, Der Staat 1996, S. 67 ff.; ders. JZ 2000, S. 165 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1, Rn. 79; Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, S. 57 ff.; Jerouschek/ Kölbel, JZ 2003, S. 613 ff.; Wittreck, DÖV 2003, S. 873 ff.; Hilgendorf, JZ 2004, S. 331 ff. Zur Verfassungswidrigkeit der Anwendung von Gewalt s. insb. Häberle, in: HStR II, § 22, Rn. 56; Poscher, JZ 2004, S. 756 ff.; Welsch, BayVBl. 2003, S. 481 ff.; Stohrer, BayVBl. 2005, S. 489 ff; Gebauer, NVwZ 2004, S. 1405 ff. Allgemein zur Anwendung von Foltern s. Schlink/ Brugger in: HFR 2002, Beitrag 4. S. 1 ff. Das Bundesverfassungsgericht hat ein absolutes Verbot der Abwägung von Leben gegen Leben postuliert, das seine Basis in Art. 1 Abs. 1 GG hat. Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG sei es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeuges in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten [BVerfGE 115, 118 (126 ff.)]. 319 Will, in: FS Hirsch, S. 29 (38). 320 BverfGE 39, 1; 88, 203. 316

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von Lebens- und Würdeschutz, die die Aussagen des Art. 1 Abs. 1 GG weiter verdunkelt.321 aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Inkonsequenz (1) Die Rechtsprechung Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in seiner ersten Entscheidung zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ist das menschliche Leben „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, bestehe grundsätzlich auch gegenüber der Mutter. Unzweifelhaft begründe die natürliche Verbindung des ungeborenen Lebens mit dem der Mutter eine besonders geartete Beziehung, für die es in anderen Lebenssituationen keine Parallele [gebe]“322. Auch „das sich entwickelnde Leben [habe] an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt. Wo menschliches Leben existiert, komm[e] ihm Menschenwürde zu; es [sei] nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß.“323 Achtzehn Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs erklärt: „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen beding[e], dass die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts dem Ungeborenen gewährleiste[…]. Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mütter begründet [werde], sondern dem Ungeborenem schon aufgrund seiner Existenz zusteh[e], [sei] das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeh[e].“324 (2) Die Inkonsequenz dieser Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat Leben und Würde, Lebensschutz und Würdeschutz in seinen Entscheidungen zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs nicht klar getrennt. Eine Folge dieser Kopplung der Menschenwürde und des Rechts auf Leben wäre, konsequent zu Ende gedacht, dass jede Relativierung, Abwägung und Einschränkung des Rechts auf Leben versagt wäre. Man könnte nicht zwischen gerechtfertigten Einschränkungen und ungerechtfertigten Verletzungen differenzieren. Ungeborenes menschliches Leben hätte gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ein elementares und unveräußerliches Lebensrecht und der Staat hätte die Pflicht, es unbedingt zu schützen. Die Tötung eines Menschen wäre eine Vernichtung der ihm eigenen Men-

321 322 323 324

Dreier, DÖV 1995, S. 1036 (1037). BverfGE 39, 1 (42). BVerfGE 39, 1 (41). BerfGE 88, 203 (252).

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schenwürde325 und staatliche Eingriffe in das Leben müssten sämtlich die Menschenwürde verletzen.326 Wenn man die untrennbare Verbindung des Menschenwürdeschutzes und des Lebensschutzes ernst nähme, wäre jeder Schwangerschaftsabbruch – mit Ausnahme eines solchen auf Grund einer medizinischer Indikation (wenn z. B. das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Frau erheblich bedroht wird) – nicht zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bestimmte weitere Indikationslagen, auch wenn ein unter diesen Voraussetzungen vorgenommener Abbruch formal als rechtswidrig qualifiziert wird, akzeptiert.327 Die Erstreckung der Menschenwürde auf den Embryo ab dem Zeitpunkt der Nidation einerseits, und andererseits die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs in zeitlicher Staffelung bei sozialer Indikation bzw. gemäß Beratungskonzept sowie bei kriminologischer, bis 1994 auch embryopathischer und bis heute medizinischer Indikation, ist ein Wertungswiderspruch des Bundesverfassungsgerichts.328 Konsequenterweise hätte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der Rekurs auf die Kopplung der Menschenwürde mit dem Recht auf Leben, zur Verfassungswidrigkeit der Abtreibungsbestimmungen – mit Ausnahme derjenigen, die Abtreibungen auf Grund medizinischer Indikation zulassen – führen müssen:329 „[D]ie besondere Lage der Frau und des Ungeborenen […] darf […] nicht dazu führen, die Grundrechtspositionen der Frau denen des ungeborenen Lebens überzuordnen. Liegt die Würde des Menschseins auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen, so verbieten sich jegliche Differenzierungen der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens oder die Bereitschaft der Frau, es weiter in sich leben zu lassen.“330 Gemäß dem Prinzip des „elementaren und unveräußerlichen Lebensrechts“ wäre ein Schwangerschaftsabbruch nur um der Rettung des Lebens der Mutter willen zuzulassen.331 Würde man das Bundesverfassungsgericht insoweit wörtlich nehmen, so müsste das ungeborene Leben in derselben Weise geschützt sein, wie geborenes menschliches Leben und Belange der Schwangeren könnten keine Rolle spielen.332 Wenn die Menschenwürde und das Lebensrecht immer gemeinsam betroffen wären, könnte ein Eingriff in das Lebensrecht genauso wenig gerechtfertigt werden wie eine Verletzung der Menschenwürde.333 Dann aber liefe der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ins Leere.334 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334

Antoine, S. 161. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2, Rn. 205. BVerfGE 88, 203 (255 ff.). Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 67. Schwarz, KritV 2001, S. 182 (200 – 201). BVerfGE 88, 203 (267). Schlink, S. 10. Zippelius, S. 331. Will, in: FS Hirsch, S. 29 (39). Will, in: FS Hirsch, S. 29 (39).

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bb) Die Notwendigkeit einer Entkopplung der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Oft werden Würde und Leben in „biologistisch-kurzschlüssiger“335 Weise gleichgesetzt. Grundrechtsdogmatisch ist jedoch das Leben nicht Ausfluss der Menschenwürde, sondern „eigenständiges Schutzgut und als solches gewiss elementar, aber ebenso gewiss nicht unveräußerlich, wenn damit die Unverfügbarkeit für den Grundrechtsberechtigten und die Unantastbarkeit für den Staat gemeint ist“336. Alles andere stünde nicht im Einklang mit dem Grundgesetz. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs. 2 S. 1 GG) genießt nämlich nicht den gleichen Schutz wie die Menschenwürde. Das Grundgesetz regelt die Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG und das Recht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unterschiedlich.337 „Der Schutz des Lebens ist nicht in dem Sinne absolut geboten, dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse“;338 was vor allem der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG zeigt.339 Das Grundgesetz garantiert den Schutz des Lebens nicht absolut, während die Menschenwürde zu den Grundsätzen gehört, die nach Art. 79 Abs. 3 GG auch durch verfassungsändernde Mehrheit nicht berührt werden dürfen. Im Rahmen einer Güterabwägung genießt die Menschenwürde den Vorrang. Weder Leben noch körperliche Unversehrtheit sind als solche Bestandteil des Schutzgutes Würde und werden somit auch von der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nicht erfasst. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleisten eigenständige Schutzbereiche, die sich nur teilweise überschneiden.340 Die Identifizierung des Würdeschutzes mit dem Lebensschutz birgt große Schwierigkeiten, weil ein „unantastbares“ Gut auch für andere Güter nicht aufgeopfert werden darf.341 Gegen die Einbeziehung des Rechts auf Leben in Art. 1 Abs. 1 GG wird auch die Spezialität des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angeführt. Die Einbeziehung des Rechts auf Leben in den Schutzbereich von Art.1 Abs. 1 GG birgt zudem die Gefahr, die Unantastbarkeit der Menschenwürde durch weit reichende Beschränkungen aufzuweichen.342 Auch ist das Leben in den meisten Fällen conditio sine qua non, aber nicht conditio per quam des Art. 1 Abs. 1 GG.343 Es bildet eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung.344 Die Menschenwürde ist nicht mit dem Lebensschutz und die Menschenwürdeverletzung nicht mit der Verletzung menschlichen Lebens iden-

335 336 337 338 339 340 341 342 343 344

Hofmann, AöR 1993, S. 353 (361). Schlink, S. 7 – 8. Will, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, S. 1228 (1236). BerfGE 88, 203 (253 f.). Will, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, S. 1228 (1236). Hermes, S. 195. Zippelius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2, Rn. 76. Hermes, S. 141. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 67; Dreier, DÖV 1995, S. 1036 (1037). Dreier, DÖV 1995, S. 1036 (1037).

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tisch.345 Eine Ausweitung des Tatbestandes der Menschenwürde auf Sachverhalte, die durch sonstige selbstständige Grundrechte erfasst werden, muss mit Skepsis betrachtet werden.346 Die Menschenwürde bedarf eines personalen Trägers. Allerdings ist die physische Existenz nicht immer Vorraussetzung für eine Eröffnung des Schutzbereichs. Nach dem Tod des Menschen besteht nämlich ein Schutz im Rahmen eines postmortalen Ehrenschutzes. Die personale Trägerschaft von Art. 1 Abs. 1 GG und 2 Abs. 2 S. 1 GG muss nicht zwingend zusammenfallen, sondern kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzen.347 Wie oben dargestellt, bedeutet eine Entkopplung von Menschenwürde und Lebensrecht nicht, dass eine Tötungshandlung nicht eine Menschenwürdeverletzung implizieren kann, sondern nur, dass sie nicht immer eine solche Verletzung darstellt.348 Dies gilt z. B., wenn Menschenleben für die Allgemeinheit oder zur Rettung anderer Menschenleben eingesetzt werden müssen, wie etwa beim Einsatz des Lebens durch Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute. Umgekehrt muss eine Verletzung der Menschenwürde nicht mit einer Verletzung des Lebens und der körperlichen Unverletzlichkeit identisch sein – z. B. bei einer schweren rechtlichen Diskriminierung.349 Man sollte die verfassungsrechtliche Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch und über die Tötung menschlichen Lebens im Allgemeinen von der schweren Bürde der Menschenwürde befreien und auf der Basis des Rechts auf Leben konsistente Lösungen suchen.350 cc) Der Beitrag der Menschenwürde zur Interpretation des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Welche ist aber die Bedeutung der Menschenwürde bei der Interpretation des Rechts auf Leben? Die Menschenwürde wirkt auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist im Lichte des Art. 1 Abs. 1 GG und der darin verbürgten Unantastbarkeit der Menschenwürde auszulegen.351 Art. 1 Abs. 1 GG trifft als „Fundamentalnorm“, als oberstes „Konstitutionsprinzip“352, eine Aussage über Zweck und Rechtfertigung des staatlich organisierten Gemeinwesens, dessen Mittelpunkt das Individuum ist. Insoweit ist Art. 1 Abs. 1 GG ein Auslegungsmaßstab für andere Normen des Grundgesetzes.

345 346 347 348 349 350 351 352

Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 67. Lerche, in: Rechtsfragen der Gentechnologie, S. 88 (104). Heun, JZ 2002, S. 517 (518). Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 67. Dreier, DÖV 1995, S. 1036 (1037). Dreier, DÖV 1995, S. 1036 (1039). BVerfGE 56, 54 (74). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 14 (Erstbearb. 1958).

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(1) Die besondere Bedeutung des Lebens bei der Anwendung der Menschenwürdegarantie Die Menschenwürde weist der Achtung und dem Schutz eines jeden Lebens besondere Bedeutung zu. Das Leben ist die Grundlage der Wahrnehmung aller Grundrechte und das Verhältnis des Rechts auf Leben zur Menschenwürde weist dem grundrechtlichen Rechtsgut Leben „als vitale Basis der Menschenwürde“ einen „Höchstwert“ innerhalb des Grundgesetzes zu.353 Das bedeutet jedoch nicht, dass das Grundgesetz ein absolutes Lebensrecht gewährleistet.354 Die Menschenwürde spielt bei jeder Kollision eine Richtlinien- und Maßstabfunktion.355 Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG muss aber zunächst selbstständig entfaltet werden.356 (2) Die Begründung des Lebensrechts in der Menschenwürde Um die Besonderheit der Begründung des Lebensrechts aus der Menschenwürde heraus darzustellen, ist es notwendig, sie anderen Begründungen des Rechts auf Leben gegenüberzustellen. Hierbei ist zum einen auf die Theorie der Heiligkeit des Lebens und zum anderen auf die Ethik der Qualität des Lebens einzugehen. (a) Die Lehre von der Heiligkeit des Lebens Die besonders von der katholischen Lehre vertretene Theorie von der Heiligkeit des Lebens geht in dem Sinne, dass das Leben ein Geschenk Gottes (donum vitae) sei, von einem besonderen Wert jedes menschlichen Lebens aus.357 Auch wenn der Begriff ”heilig” dies nahe legt, soll das Leben aber keinen absoluten Schutz genießen. Die Tötung im Krieg und aus Notwehr, die Todesstrafe und der Tyrannenmord könnten im Einzelfall gerechtfertigt sein. ”Heiligkeit” besagt in diesem Zusammenhang vielmehr, dass jedem menschlichen Leben grundsätzlich und unabhängig von seinem biologischen Status auf Grund seiner in der Gottebenbildlichkeit begründeten Menschenwürde ein herausragender und gleichberechtigter Lebensschutz zukommen soll.358 (b) Die so genannte Ethik der Qualität des Lebens Im Gegensatz hierzu sieht die so genannte Ethik der Qualität des Lebens nicht das menschliche Leben an sich als besonders schützenswert an, sondern nur solches Leben, das im Hinblick auf die Interessen, Wünsche und Präferenzen ihres Trägers

353 354 355 356 357 358

Nr. 53.

Steiner, S. 13; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2, Rn. 88. Antoine, S. 162 f. Enders, S. 339. BVerfGE 88, 203 (251). Vgl. Gen. 1, 26 – 30. Vgl. Apostolischer Stuhl, Enzyklika Evangelium vitae von Papst Johannes Paul II.,

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eine eigene Qualität besitzt.359 Bedingung eines Lebensrechts ist deshalb die Fähigkeit eines Wesens, die Zukunft ins Auge zu fassen, Wünsche zu formulieren und deshalb Handlungen auf Grund eigener Entscheidungen vollziehen zu können.360 Die so genannte Ethik der Qualität des Lebens unterscheidet deshalb die Lebensrechte danach, welches kognitive Niveau von Lebensinteressen gegeben ist. (c) Die Bedeutung beider Lehren Setzt man die genannten Auffassungen in Bezug zur Begründung des Lebensrechts in der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, so ist offensichtlich, dass die Ethik der Qualität des Lebens bereits im Ansatz nicht in Einklang mit dem Grundgesetz gebracht werden kann. Der Schutz des Lebens unter dem Grundgesetz setzt nicht beim Interesse seines Trägers, sondern – wie die Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens – bei der schlichten Existenz des Lebens selbst an. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der grundrechtliche Lebensschutz nicht mit den umfassenden moralischen Verpflichtungen der katholischen Lehre gleichgesetzt werden darf.361 Über das grundsätzliche Verbot der Tötung eines anderen Menschen hinausgehend, sieht diese im Leben eine Gabe Gottes, die auch ihren Träger selbst in besonderer Weise verpflichtet. Der Suizid, wie auch die passive Sterbehilfe in der bewussten Absicht, den Tod früher herbeizuführen, sind deshalb nach der katholischen Lehre schwer unsittliche Taten. Demgegenüber fordert das Verfassungsrecht nach allgemeiner Ansicht keine Bestrafung des Suizids. Wer freiverantwortlich lebensrettende oder lebenserhaltende Maßnahmen an seinem Körper ablehnt, mag sittlich falsch gehandelt haben, rechtlich aber kann er nicht zum Leben gezwungen werden. Damit wird das Lebensrecht im Grundgesetz zwar einerseits unabhängig von der Fähigkeit zur Interessenbildung allen Menschen gleichermaßen zugesprochen, andererseits aber auch nicht gegen ein artikuliertes Desinteresse am eigenen Leben zwangsweise durchgesetzt.362 (3) Das Verbot der Manipulierung und Instrumentalisierung des Patienten Die Würde des Menschen als Grund des Lebensschutzes anzuerkennen, verbietet es, das Leben um seiner selbst willen von seinen Grundrechtsträgern zu trennen und diesen als Lebenspflicht vorzuhalten.363 Aus der Menschenwürde kann kein Zwang zu einem bestimmten „würdegemäßen Verhalten“ entnommen werden.364 Dies bedeutet nicht, dass die negative Seite des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in der unantastbaren Menschenwürde verankert worden ist. Es bedeutet 359 360 361 362 363 364

Kuhse/Singer, S. 260 ff. Singer, Practical Ethics, S. 90. Antoine, ZfL 2001, S. 16 (18 – 19). Antoine, ZfL 2001, S. 16 (19). Antoine, S. 172. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 90 ff.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

aber, dass die Menschenwürde Maßnahmen gegen den Willen des Patienten verbietet. Art. 1 Abs. 1 GG schützt den Patienten vor Manipulierung und Instrumentalisierung. (4) Das Verbot der Differenzierung des Lebensschutzes Die Menschenwürde verbietet es, dem Leben verschiedener Menschen einen unterschiedlichen Wert zuzuweisen. Eine Differenzierung beim Lebensschutz gemäß den Fähigkeiten und der Leistung ihres Trägers in der Gesellschaft oder nach eugenischen, politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Kriterien und im Allgemeinen die Differenzierung zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben widerspricht der Menschenwürde.365 Die Menschenwürde als eine bestimmte menschliche Eigenschaft, eine den Menschen auszeichnende Qualität, fordert, den Menschen als Menschen zu respektieren und keine Differenzierungen des Lebensschutzes durchzuführen. Diese Gleichwertigkeit des Lebens bedeutet jedoch nicht, dass der Arzt oder die Krankenhausverwaltung keine vorbestimmten Kriterien für die Abwägung kollidierenden Lebens verwenden kann. Dies geschieht z. B. bei der Organspende, wo ein jüngerer Patient meist gegenüber einem älteren Patienten bevorzugt wird,366 in dem Fall, in dem im Krankenhaus nicht für alle Patienten Plätze vorhanden sind oder allgemein die verfügbaren Behandlungskapazitäten nicht für alle Patienten ausreichen.367 (5) Die Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf nicht körperliche Einwirkungen Die Auslegung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Lichte der Menschenwürdegarantie führt gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts368 zu einer Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf nicht körperliche Einwirkungen. Es werden auch solche Einwirkungen erfasst, die ihrer Wirkung nach körperlichen Einwirkungen gleichzusetzen sind. Die Würdegarantie beeinflusst somit die Reichweite des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.369 In diesem Sinne umfasst die körperliche Unversehrtheit auch das Freisein von psychischen Krankheitszuständen, mit anderen Worten eine „Negation pathologischer Zustände“370.

365

Wassermann, DRiZ 1986, S. 291 (292). Gemäß § 13 Abs. 3 TPG sind die vermittlungspflichtigen Organe von der Vermittlungsstelle nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit an geeignete Patienten zu vermitteln. 367 Vgl. Nettesheim, VerwArch 2002, S. 315 (341 ff.). 368 BVerfGE 56, 54 (74). 369 Geddert-Steinacher, S. 140. 370 Schmidt-Assmann, AöR 1981, S. 205 (209). 366

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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(6) Ein Recht auf Freiheit von Leid und Schmerzen Aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Rechts auf Leben zu der Menschenwürdegarantie folgt, dass das Leben als Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht auf ein bloßes biologisches Leben reduziert werden darf.371 Das Leben darf nicht nur als Medium, in dem der Mensch sich selbst verwirklichen kann, angesehen werden und das biologische Leben darf nicht unter allen Umständen und mit allen Mitteln auf Kosten der Freiheit und Würde des Lebens durchgesetzt werden.372 Das Recht auf Freiheit von Leid und das Recht auf einen Schutz vor Schmerzen hindern den Staat daran, den Schutz der bloßen biologischen Existenz so weit zu treiben, dass ein menschliches Leben mit technischen Mitteln um jeden Preis verlängert wird, obwohl dies nicht den Vorstellungen des Patienten von einem menschenwürdigen Leben entspricht.373 Es muss jedoch betont werden, dass bei Verweigerung effektiver Schmerzlinderung oder bei lebensverlängernden Maßnahmen ein Verletz der Menschenwürde nur in krassen extremen Fällen besteht. Dies ist der Fall wenn die Subjektqualität des Patienten prinzipiell in Frage gestellt wird, oder wenn in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt. Zu denken ist insbesondere die Aufrechterhaltung des Lebens als mittelbarer Zweck zur Erhaltung des Rentenanspruchs, zur Ermöglichung medizinischer Forschung oder Auslastung kostenträchtiger medizinischer Geräte.374 Eine solche Form der Behandlung ist „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomm[e], also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung“.375 Eine Verletzung der Menschenwürde liegt vor, wenn die eingesetzten Mittel so unmenschlich sind, dass sie den Patienten zum bloßen Objekt der Förderung staatlicher Zwecke machen, wenn z. B. Folter zur Durchführung von einer Operation ausgeübt wird.

dd) Die Bedeutung des Verhältnisses von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für die Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten Ein Recht auf Selbstbestimmung ist hauptsächlich in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu verankern. Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist deshalb auch nicht eine Verpflichtung zum Leben, zum gesunden Leben, und damit ein Verbot der Selbstschädigung zu folgern.376 Dies wäre nur möglich, wenn die Freiheitsrechte zugleich auch als unmittelbare Pflichten verstanden würden. Die Pflichten in den Grundrechten sind aber als solche benannt (z. B. Art. 14 Abs. 2, 33 Abs. 1 GG). Eine Gleichsetzung von Rechten und Pflichten würde der mit jeder Rechtsposition 371 372 373 374 375 376

Ruhs, S. 57. Ruhs, S. 57. Ruhs, S. 57. Kämpfer, S. 367. BVerfGE 30, 1 (26). Ostendorf, S. 100.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

verbundenen Verzichtsmöglichkeit widersprechen und für den Rechtsanwender eine kompetenzlose Freiheitseinschränkung bedeuten.377 Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert positiv elementare Bedingungen für die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Entfaltung.378 In diesem Sinne ist aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein Selbstschädigungsrecht als Nichtausübung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit abzuleiten. Die negative Seite dieses Grundrechts steht unter dem Gesetzesvorbehalt von Art. 2 Abs. 3 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Überlebensinteresse der Gesellschaft oder Gefährdungen des Lebensrechts Dritter Eingriffe in dieses Grundrecht zu rechtfertigen vermögen.379 Diese Aspekte aber reichen nicht aus, um ein Recht auf Sterben grundsätzlich zu verneinen.380 Gegenläufige Interessen können deshalb nur unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit im Licht der Menschenwürdegarantie durchgesetzt werden. Aus der verfassungsrechtlich garantierten Menschenwürde ergibt sich das Recht des Patienten, nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht zu werden.381 Dies wäre etwa der Fall, wenn der Arzt den freien Willen eines Patienten ignorieren würde und ihn gegen seinen Willen ärztlich behandelte. Der Würdeschutz ist in der Regel mit einem „Respekt vor der Autonomie des Einzelnen“382 verbunden. Die vorausgesetzte Autonomie lässt sich als die Fähigkeit und Kompetenz zum präferenziellen und wertenden Urteil über das eigene Wohl bezeichnen. Maßstab der Freiverantwortlichkeit ist nicht, was nach allgemeiner Auffassung vernünftig ist, sondern es kommt darauf an, ob der Entscheidende nach seinen eigenen Wertmaßstäben die Bedeutung der Entscheidung für seine Güter und Interessen zu beurteilen vermag.383 „Zum Rechtsbegriff von Würde gehört auch, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden“.384 Die Menschenwürde des Patienten ist in dieser Hinsicht mit der Respektierung nicht des Wohles, sondern des Willens des Patienten verbunden. Nicht das Leben, sondern die Autonomie des Patienten ist das höchste von der Verfassung geschützte Gut.385 Diese Autonomie bedeutet Verschiedenes in verschiedenen Lebensphasen und Situationen.386 In der Kindheit und bei Handlungsund Willensunfähigkeiten ermächtigt z. B. der Staat Eltern bzw. Betreuer, für die Kinder bzw. die Betreuten zu entscheiden. Er geht davon aus, dass diese wissen, was ihnen 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386

Ostendorf, S. 100. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 10. Fink, S. 151. Antoine, S. 252. BVerfGE 27, 1 (6); 50, 166 (175). Schlink, S. 11. Amelung, JR 1999, S. 45 (46). Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 46. Ruhl, in: 63. DJT (2000), Bd. I, S. K 29 (39). Schlink, S. 10 – 11.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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gut tut und dass sie in der Lage sind, deren Würde zu wahren.387 Die Menschenwürde enthält eine Grundvermutung dahingehend, dass Menschen ab einer gewissen Reife zu autonomen Entscheidungen fähig sind. Mit anderen Worten ist es – wenn er handlungs- und willensfähig ist – grundsätzlich der Patient selbst, der bestimmt, was seine Würde ausmacht.388 Er kann aber nicht immer selbst bestimmen, was sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit ausmacht. Dies ist dann nicht möglich, wenn er die Rechte anderer verletzt oder wenn er eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt, z. B. wenn er psychisch krank ist und seine Unterbringung in einer Anstalt gegen seinen Willen für die öffentliche Sicherheit notwendig ist. Es muss betont werden, dass man die komplexen Probleme der Biomedizin und insgesamt die Fragestellungen, die aus der Selbstbestimmung des Patienten resultieren, nicht ausschließlich über die Menschenwürde lösen kann.389 Sie ist insoweit zu grob, zu undifferenziert, zu „überfordert“.390 Ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist nicht in Art. 1 Abs. 1 GG verankert. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet in Bezug auf die Selbstbestimmung des Patienten nur, dass der Patient kein Objekt ärztlicher Behandlung werden darf. Wenn man den Normtext der Menschenwürde ernst nimmt, dass heißt die Unverletzlichkeit der Würde, drohte sonst ein Verzicht auf seine praktische Relevanz als Verfassungssatz.391 Ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht kann auch nicht in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankert werden. Eine Verbindung des Rechts auf Leben mit der Menschenwürde verursacht weitere grundrechtsdogmatische Unklarheiten. Eine Einbeziehung des Rechts auf Leben in die Menschenwürde würde bedeuten, dass ein Recht auf Selbstbestimmung absolut gelten würde, das hieße ohne Grenzen und ohne die Möglichkeit einer Abwägung. Die Menschenwürde strahlt auf die nachfolgenden Grundrechte aus.392 Die Menschenwürde weist dem Leben und dem Schutz vor einer Verfügung über dasselbe einen besonderen Wert zu, Konfliktsituationen mit anderen Rechtsgütern, die dann im Lichte der Menschenwürde gelöst werden müssen, sind aber nicht ausgeschlossen. e) Die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) Im Gegensatz zur Menschenwürde schützt die allgemeine Handlungsfreiheit einen weiten Kreis von menschlichen Betätigungen bzw. Handlungen. Die Würde ist „keine Handlung, sondern der Modus einer Handlung, die Beschreibung eines Zustandes, die Beschreibung eines Handlungsumfeldes in einer Beziehung zum Han-

387 388 389 390 391 392

Schlink, S. 11. Vgl. Luhmann, S. 53 ff. Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50. Schlink, Der Spiegel 51, 2003, S. 50. Antoine, S. 145. BVerfGE 52, 131 (173 ff.) – abw. Meinung; 56, 54 (74 f.).

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

delnden“.393 Mit anderen Worten reguliert die Menschenwürde den Modus einer Handlung und die allgemeine Handlungsfreiheit die Handlung per se. aa) Die Selbstbestimmung des Patienten als Ausfluss seiner allgemeinen Handlungsfreiheit? Von dem Freiheitsrecht auf beliebiges Tun und Unterlassen wird auch die persönliche Entscheidung über Leben und Gesundheit beeinflusst. Wenn das Handeln auf allen Lebensgebieten geschützt ist, erstreckt sich der Schutz auch auf die essenziellen Lebensbereiche.394 Durch die Bestimmung des Art. 19 Abs. 2 GG, dass „in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt“ durch ein Gesetz „angetastet werden darf“, bewirkt das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, „dass es nirgends mehr grundrechtsfreie Lebensbereiche gibt, in denen der Mensch zum Objekt des staatlichen Geschehens gemacht werden darf“.395 Was garantiert aber die allgemeine Handlungsfreiheit im Bereich der Patienten-Arzt-Beziehung? Soweit „nicht besondere Lebensbereiche grundrechtlich geschützt sind, kann sich der Einzelne […] auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen“.396 In dieser Hinsicht ist Art. 2 Abs. 1 GG ein „Hauptfreiheitsrecht“, ein „Blankettgrundrecht“, ein „Muttergrundrecht“ oder auch ein „supplementäres Generalfreiheitsrecht“.397 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist „umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre und zugleich Ausgangspunkt aller subjektiven Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“398. Fraglich ist also, ob zu den menschlichen Betätigungen, die nicht durch Einzelfreiheitsrechte geschützt werden könnten, auch die allgemeine Selbstbestimmung des Patienten gehört. bb) Die Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit Die allgemeine Handlungsfreiheit gewinnt nur Bedeutung, wenn kein Schutzbereich eines speziellen Grundrechts einschlägig ist.399 Zu dem Schutzbereich der allgemeinen Freiheit gehören also solche Handlungen, die die Leistungen der versicherten Patienten in jeder Weise einschränken, mit anderen Worten, die Tätigkeiten, die zum Bereich der Krankenversicherung im Allgemeinen gehören.

393 394 395 396 397 398 399

Blankenagel, KJ 1987, S. 379 (387). Ostendorf, S. 102. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 31 (Erstbearb. 1958). BVerfGE 6, 32 (37). Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 22. BVerfGE 49, 15 (23). Piertoth/Schlink, Rn. 369.

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(1) Freie Arztwahl Die allgemeine Handlungsfreiheit garantiert ein Recht auf freie Arztwahl. Die Freiheit des Patienten, im Zusammenwirken mit dem Arzt grundsätzlich frei von staatlicher Reglementierung über Behandlungsmethoden, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel selbst zu bestimmen,400 ist Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit.401 Man spricht auch von dem Grundrecht auf „gesundheitliche Selbstbestimmung“.402 In diesem Sinne verstieße ein Gesetz, das dieses Wahlrecht des Patienten beschränkte, gegen das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit.403 Alle Leistungseinschränkungen der Versicherten sind an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.404 Da die Versicherten in der Regel über die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung gezwungen werden, die finanzielle Vorsorge für ihre Gesundheit über die gesetzliche Krankenversicherung zu treffen, sind Fragen des Selbstbestimmungsrechts des Patienten insbesondere im Rahmen der entsprechenden Versicherungsverhältnisse relevant. Eine Beschränkung der freien Arztwahl wäre nicht mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar. Ein charakteristisches Beispiel einer solchen Beschränkung war im Bereich der knappschaftsärztlichen Versorgung zu finden, wo für die Knappschaftsversicherten eines bestimmten Bezirkes (Sprengels) lediglich ein ausschließlich mit der Bundesknappschaft vertraglich verbundener Arzt zur Verfügung stand.405 Die Beschränkung auf einen bestimmten Arzt durch entsprechende Bildung kleiner Sprengel war weder aus organisatorischen noch aus finanziellen Gründen erforderlich und stellte deswegen eine Verletzung der Handlungsfreiheit der Versicherten dar. Ein Recht auf freie Arztwahl verleiht dem Patienten keinen Anspruch gegenüber dem Arzt, sondern einen Anspruch gegen reglementierende Eingriffe des Staates.406 Es ist ein Abwehrrecht und stellt somit kein soziales Grundrecht dar. Es ist allerdings möglich, dem Versicherten entstehende Mehrkosten einer zusätzlichen Behandlung, die z. B. durch die Auswahl von entfernten Kassenärzten entstehen, aufzuerlegen.407 Es besteht also kein „uneingeschränktes Recht auf freie Arztwahl“.408 „Im Rahmen der sozialen Krankenversicherung hat der Versicherte nur einen Anspruch auf ausreichende ärztliche Versorgung. […] Der Gesetzgeber durfte deshalb das Recht der freien Arztwahl grundsätzlich auf den Kreis der zugelassenen Ärzte beschränken und

400

Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 54. Papier, VSSR 1990, S. 123 (129). 402 Wigge, MedR 1996, S. 51 (58). 403 Hiller, S. 100, 119; Wigge, MedR 1996, S. 51 (58). 404 BVerfGE 78, 165 (168). 405 LSG Saarland, Breith. 1969, S. 928, 929 f. 406 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 I, Rn. 123. Die Rechtsprechung hat die Frage, ob der Sozialversicherte aus Art. 2 I GG einen Anspruch auf freie Arztwahl herleiten kann, offen gelassen, s. BVerfGE 16, 286 (303 – 304); BVerwGE 60, 367 (370). 407 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 123. 408 BVerwGE 60, 367 (371). 401

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hier wiederum grundsätzlich auf den Kassenarzt, in dessen Bereich der Versicherte wohnt.“409 (2) Zwangsversicherung Fraglich ist, ob die Zwangsversicherung mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar ist. Die gesetzlichen Sozialversicherungen zwingen die Versicherungspflichtigen zu einer Vorsorge vor den „Wechselfällen des Lebens“410, die sie aus eigener Leistungskraft bei Realisierung des Risikos kaum bewältigen können: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit, Altersgebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit. Der Staat schützt die Bürger mit dem Aufbau öffentlich-rechtlicher Zwangsschutzsysteme (auch) vor sich selbst und handelt damit paternalistisch.411 Das Bundesverfassungsgericht zieht einen Vorsorgegedanken zur Rechtfertigung der Zwangsversicherung heran. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit werde dadurch gefördert, dass „den Pflichtversicherten in der Gegenwart die Sorge vor künftiger materieller Not in besonders wirksamer Weise genommen [werde] und damit auch für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit die materielle Basis für die Persönlichkeitsentfaltung erhalten bleib[e].“412 Zudem stellt die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein überragend wichtiges Gemeinwohlinteresse dar, das Grundrechtseingriffe rechtfertigt.413 Es muss jedoch betont werden, dass der Vorsorgegedanke des Bundesverfassungsgerichts im Sozialstaatsprinzip angelegt ist und deswegen nicht auf Art. 2 Abs. 1 gestützt werden kann.414 (3) Die Entscheidung über das Ende des Lebens Der Entschluss des Patienten, eine lebensverlängernde Behandlung abzulehnen oder abzubrechen, ist nicht Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit.415 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist insoweit lex specialis.416 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist ein Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Grundrechten und tritt hinter diese zurück, soweit deren Schutzbereiche reichen.417 Die allgemeine Handlungsfreiheit würde ein Recht auf Ablehnung einer medizinischen Behandlung daher nur dann umfassen, wenn kein Schutzbereich eines speziellen Grundrechts, in diesem Fall des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, einschlägig wäre. 409 410 411 412 413 414 415 416 417

BVerfGE 16, 286 (304). BVerfGE 28, 324 (348). Heinig, in: Paternalismus und Recht, S. 157 (174). BVerfGE 29, 221 (237). BVerfGE 103, 172 (184 ff.). Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 138. A. A. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 31; Hufen, NJW 2001, 849 (851). BVerfGE 52, 131 (171). Pieroth/Schlink, Rn. 369.

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cc) Zwischenergebnis Aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG kann keine allgemeine Selbstbestimmung des Patienten abgeleitet werden. Die allgemeine Handlungsfreiheit garantiert die Freiheit des Patienten, Behandlungsmethoden, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel zu bestimmen, nicht aber eine unbegrenzte Freiheit, selbst Entscheidungen im Bereich seines Lebens und seiner Gesundheit zu treffen. Das Recht, frei Entscheidungen im Bereich des Lebens und der Gesundheit zu treffen, ist Ausfluss des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), das insoweit lex specialis ist. Mit anderen Worten garantiert die allgemeine Handlungsfreiheit die Selbstbestimmung des Patienten nur im Bereich der Krankenversicherung und der Arztwahl. Aus der allgemeinen Handlungsfreiheit ergibt sich jedoch kein uneingeschränktes Recht der Versicherten auf Inanspruchnahme aller Ärzte und ärztlich geleiteter Einrichtungen. Jede Beschränkung im Bereich der Krankenversicherung ist aber an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. f) Die Freiheiten des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird auch von Art. 4 Abs. 1 GG, der die Glaubens-, Gewissens-, und Bekenntnisfreiheit des Menschen schützt, beeinflusst. Religiöse Lehren über den Sinn von Leid oder die Heiligkeit des Lebens sind oft maßgeblich für eine Entscheidung für oder gegen die Fortführung einer Behandlung, die Anwendung bestimmter Behandlungsmethoden oder die Beendigung des Lebens.418 aa) Die Reichweite von Art. 4 Abs. 1 GG Der Schutz der Freiheit des Glaubens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) und der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) lässt sich zu einem einheitlichen Grundrecht der Glaubensfreiheit mit gegliedertem Schutzgehalt zusammenfassen.419 Daneben tritt der Schutz der Gewissensfreiheit. Art. 4 Abs. 1 GG schützt mit der Freiheit des Glaubens und des Gewissens das forum internum der religiösen (Glauben) und moralischen (Gewissen) Überzeugungen, und mit der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses das Äußern religiöser und areligiöser Sinngebungen und -deutungen (forum externum).420

418 419 420

Kämpfer, S. 237. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4, Rn. 1. Pieroth/Schlink, Rn. 503.

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(1) Die Glaubens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit Der Glaube ist eine gefühlsmäßige, nicht von Beweisen, Fakten oder Ähnlichem bestimmte unbedingte Gewissheit oder Überzeugung. Er ist von vernunftmäßiger Erkenntnis abzugrenzen.421 Glaube kann religiöser Glaube im Sinne einer Bindung an Gott oder an ein irgendwie geartetes höchstes Wesen, aber auch weltanschaulicher (religiöse bzw. areligiöse Sinndeutung von Welt und Mensch)422 Glaube sein. Die Glaubensfreiheit garantiert das Recht zu glauben oder nicht zu glauben, ohne dass der Staat hieran Vor- oder Nachteile knüpfen oder Einfluss auch nur im Vorstadium der Glaubensbildung nehmen dürfte.423 Der Begriff der Weltanschauung kann als Oberbegriff aufgefasst werden, der die Religion mit umfasst.424 Der Glaube im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG kann auf den Grundlagen einer Religion oder einer Weltanschauung entfaltet werden.425 Es spielt jedoch keine Rolle, ob sich der Glaube auf dem Boden gewisser sittlicher Grundanschauungen entwickelt hat426 oder dem christlichen Glauben entspricht.427 Geschützt wird auch die vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugung, die von den offiziellen Lehren der religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen abweicht.428 Religionen und weltanschauliche Überzeugungen sind metaphysische Gedankensysteme, die darauf ausgehen, den Menschen, sein Wesen und seine Umwelt auf einer „höheren“ Ebene zu verstehen.429 Der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und entsprechend zu handeln.430 Schutzgut des Art. 4 Abs. 1 GG sind die Überzeugungen des Menschen, insbesondere über den Ursprung der Welt und die Stellung des Menschen in ihr, den Ursprung des menschlichen Lebens und die Bedeutung des Todes.431 Das Bundesverfassungsgericht bejaht die Religionsausübung durch Veranstaltungen und Sammlungen für kirchliche oder religiöse Zwecke.432 In dieser Hinsicht umfasst die Glaubensfreiheit nicht nur „die (innere) Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten.“433 Diese Freiheit ist jedoch beschränkbar. Gemäß der Recht421 422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433

Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 4 I, Rn. 10. BVerwGE 89, 368 (370). Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, Rn. 27. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 4 I, Rn. 10. Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 4, Rn. 12. BVerfGE 41, 29 (50). BVerfGE 24, 236 (246). BVerfGE 33, 23 (28); BVerwGE 94, 82 (87). Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 125. Pieroth/Schlink, Rn. 508. Ipsen, Rn. 353. BVerfGE 24, 236 (246). BVerfGE 32, 98 (106).

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sprechung des Bundesverfassungsgerichts muss es sich „tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln“.434 Nicht geschützt ist ein Handeln, „das die Religion oder Weltanschauung nicht gebietet oder jedenfalls nachdrücklich empfiehlt, sondern lediglich erlaubt, das man sowohl tun als auch lassen kann.“435 Die Glaubensfreiheit soll von der Glaubenslehre wenn nicht zwingend geboten, so doch wenigstens nachdrücklich empfohlen werden, so dass der Betroffene „nicht ohne innere Not“ von dem betreffenden Handeln absehen kann.436 Das Handeln muss also „eine zwingende Verhaltensregel“ sein.437 Das Handeln muss Inhalt der religiösen Erziehung, der frei religiösen und atheistischen Feiern sowie anderen Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens sein.438 (2) Die Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit wird als das Bewusstsein des Menschen von der Existenz und der verpflichtenden Kraft des Sittengesetzes definiert.439 Sie ist ein „real erfahrbares seelisches Phänomen […], dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind“.440 Die Gewissensfreiheit schützt jenes Gewissen, „das sich auf eine nichtreligiöse Weltanschauung beruft“.441 Der Begriff des Gewissens gehört zum Bereich der Ethik.442 Es geht um die Frage, wie man sich in bestimmten Situationen richtig verhält.443 Nicht nur die Gewissensentscheidung, auch die Gewissensbetätigung ist gewährleistet.444 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unter einer Gewissensentscheidung „jede ernste, sittliche, das heißt an den Kategorien von ,gut und ,böse orientierte Entscheidung“ zu verstehen, „die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.445 Existenzielle Entscheidungen über den Umgang mit Krankheit und Tod betreffen also auch das Gewissen des Patienten.446 Bei einer Bewertung nach den Kategorien von „schön/hässlich“ oder „wahr/unwahr“ liegt keine Gewissentscheidung vor.447 So ist etwa gemäß 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447

BVerfGE 83, 341 (353). Pieroth/Schlink, Rn. 515, 515a. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4, Rn. 13. BVerwGE 112, 227 (235). Vgl. BVerfGE 24, 236 (246). Scholler, S. 120 m. w. Nachw. BVerfGE 12, 45 (54). Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 125. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 124. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 125. Hesse, Rn. 380; Kluth, in: FS Listl, S. 215 (225). BVerfGE, NJW 1968, S. 982 (984); BVerfGE 12, 45 (55). Kämpfer, S. 237. Pieroth/Schlink, Rn. 508.

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der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Entscheidung eines Arztes, nicht am ärztlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen, keine Gewissensentscheidung.448 „Die Anerkennung von Gewissensgründen setzt deren Objektivierbarkeit voraus. Den an das Vorliegen eines Gewissenskonflikts zu stellenden Beweisanforderungen kann nur genügt werden, wenn gewisse objektive, konkrete Anhaltspunkte dargetan werden, die zur Überzeugung des Tatrichters eine echte Gewissensnot bei dem betreffenden Arzt zu motivieren vermögen.“449 Ein freiverantwortlicher Sterbewille ist nicht immer durch das Gewissen geprägt. Nicht jede Entscheidung im Bereich der Selbsttötung, der Sterbehilfe, der Sterilisation, des Schwangerschaftsabbruchs und im Allgemeinen der Selbstbestimmung des Patienten fällt in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG.450 Eine solche Entscheidung ist oft Ergebnis einer Abwägung von Kosten und Nutzen, etwa einer Abwägung zwischen einem baldigen Tod und einer leidensvollen Sterbephase oder der Geburt eines behinderten Kindes und seiner Abtreibung. Eine solche Entscheidung fällt, wenn sie Ausfluss einer vernunftmäßigen Erkenntnis ist, nicht in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG. Aus der Gewissensfreiheit lässt sich grundsätzlich keine Rechtfertigung für rechtlich verbotenes Handeln herleiten.451 Wenn das Gewissen eine bestimmte Handlung verlangt, die verboten ist, können Alternativen bestehen, die dem Gewissen gleichfalls genügen,452 aber nicht gegen das Recht verstoßen. Man darf durch eine Gewissensentscheidung nicht den innerstaatlichen Frieden, den Bestand des Staates und die Möglichkeit seiner Sicherung nach außen oder die Sicherung von Leben und Freiheit der Person gefährden.453 Die Freiheit nach dem Gewissen zu handeln, findet ihre Grenze in den Grundrechten anderer, die aber in einen Eingriffeinwilligen können.454 Die Gewissensfreiheit erlaubt es aber nicht, einen anderen auf Dauer in der Ausübung seiner Rechte zu beeinträchtigen.455

bb) Das Spannungsverhältnis zwischen der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der Selbstbestimmung des Patienten Die Verbürgungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG werden ohne ausdrücklichen Schrankenvorbehalt gewährt. Darauf gestützt lehnt das Bundesverfassungsgericht eine Beschränkung der Glaubensfreiheit durch allgemeines Gesetz ab.456 Es sieht 448 449 450 451 452 453 454 455 456

BVerwGE 41, 261 (268). BVerwGE 41, 261 (268). Vgl. Kämpfer, S. 239. Klier, S. 180. Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4 Rn. 88. Böckenförde, in: VVDStRL 28 (1970), S. 33 (59). Tenckhoff, in: FS Rauscher, S. 437 (451). Tenckhoff, in: FS Rauscher, S. 437 (451). BVerfGE 33, 23 (29); 52, 223 (246); 93, 1 (21).

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Art. 136 Abs. 1 WRV, der normiert, dass die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden, von Art. 4 „überlagert“.457 Die Gegenauffassung entnimmt der Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRVeinen Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes,458 also einen Vorbehalt hinsichtlich solcher Gesetze, die glaubensgeleitetes und nicht glaubensgeleitetes Verhalten gleichbehandeln. Das Verbot, glaubensgeleitetes Verhalten gegenüber nicht glaubensgeleitetem Verhalten zu privilegieren, müsse im Rahmen des Art. 4 GG Berücksichtigung finden und Grundrechtseinschränkungen durch allgemeine Gesetze erlauben, sofern der Gleichbehandlung das größere Gewicht zukommt.459 Art. 136 Abs. 1 WRV sei insoweit als kollidierendes Verfassungsrecht in die Abwägung einzustellen.460 Gemäß der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, die von einer „Überlagerung“ des Art. 136 Abs. 1 WRV von Art. 4 GG ausgeht, reduziert sich die Zahl möglicher Zwecke bei der Beschränkung des Grundrechts erheblich. Die wichtigsten, wie der Schutz des Lebens und der öffentlichen Gesundheit, können allerdings bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen kollidierenden Verfassungsinteressen auch Beschränkungen der Glaubens- oder Gewissensfreiheit sein.461 Wenn die Gewissens- oder Glaubensfreiheit mit einer Verfassungsnorm kollidiert, findet eine Abwägung statt. Das Ergebnis muss im Sinne der praktischen Konkordanz die verschiedenen betroffenen Grundrechtspositionen miteinander ausgleichen. Beispiele von Kollisionen der Gewissens- oder Glaubensfreiheit mit anderen Verfassungsnormen sind die folgenden: (1) Die Verweigerung oder Beendigung der medizinischen Behandlung seitens des Arztes oder des Patienten Die Entscheidung zur Beendigung einer medizinischen Behandlung kann Ausfluss der Glaubensfreiheit sein. In diesem Sinne schützt die Glaubensfreiheit etwa das Recht des Patienten, sich religiös bestimmte Vorstellungen über die Heiligkeit des Lebens oder den Sinn menschlichen Leidens nicht zu Eigen machen zu müssen. Wenn das medizinische Personal unter Verweis auf die nach christlichen Maßstäben bestehende Unverfügbarkeit des Lebens die Leistung passiver Sterbehilfe oder die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs verweigert, kann der Patient die Überweisung an eine andere Einrichtung verlangen.462 Art. 4 Abs. 1 GG entfaltet mittelbare Drittwirkung insbesondere im Bereich des Arbeitsrechts.463 Bei der Auslegung 457 458 459 460 461 462 463

BVerfGE 33, 23 (31); BVerwGE 112, 227 (232). Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4, Rn. 28. Kämpfer, S. 365. Vgl. Kämpfer, S. 365. Vgl. Kämpfer, S. 365. Preuß, in: AK-GG, Art. 4 I, II, Rn. 32.

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der Pflichten des Arbeitnehmers nach „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) und der Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers (§ 315 BGB) ist die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des Arbeitnehmers zu berücksichtigen.464 So muss etwa die Gewissensfreiheit eines Arztes, der einen Schwangerschaftsabbruch oder die Leistung passive Sterbehilfe nicht mit seinen religiösen Überzeugungen oder seinem Gewissen vereinbaren kann, berücksichtigt werden. Ein Arzt kann von seinem Arbeitgeber nicht verpflichtet werden, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Probleme verursacht auch die Beteiligung an einer rechtlich nicht erlaubten Sterbehilfe, wenn diese auf einer Gewissensentscheidung der Beteiligten beruht. Wenn sich die beteiligte Person in einem Konflikt zwischen Gewissens- und Rechtstreue befindet, kann bei Befolgung der Gewissenspflicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Strafmilderung in Betracht kommen,465 wenn zur schuldangemessenen Bestrafung und zur Verteidigung der Rechtsordnung eine schärfere Sanktion nicht erforderlich ist.466 In dieser Hinsicht sollte die Leistung aktiver Sterbehilfe in „verzweifelten“ Ausnahmefällen mit einer milderen Strafe bestraft werden, damit das individuelle Gewissen möglichst wenig Schaden nimmt.467 Hinsichtlich der Verweigerung der medizinischen Behandlung, etwa einer Bluttransfusion aus religiöser Überzeugung, ist der Wunsch des Patienten durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt, wenn er selbst die Nichtfortsetzung einer medizinischen Behandlung auf Grund religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses wünscht.468 Auch kann einem religiös motivierten Ehepartner nicht vorgeworfen werden, dass er es unterlassen habe, den anderen Ehepartner entgegen seiner eigenen Glaubensüberzeugung zur Aufgabe seiner damit übereinstimmenden Glaubensüberzeugung zu überreden und sich zur Durchführung einer möglicherweise lebensrettenden Bluttransfusion in ein Krankenhaus zu begeben.469 Des Weiteren ist problematisch, wenn der Ehepartner nicht die gleichen Überzeugungen mit seinem Ehegatten teilt. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Nichtannahmebeschluss die Bestellung des Ehemanns als Betreuer für seine bewusstlose Frau und Mutter des gemeinsamen Sohnes und die darauf folgende Bluttransfusion für keinen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 GG gehalten, wenn Zweifel an der früheren Willensäußerung der Patientin bestehen, dass sie eine Bluttransfusion auch unter lebensbedrohenden Folgen ablehne.470 Auf Grund der Zweifel an der Geltung der Willensäußerung solle der Grundsatz in dubio pro vita gelten. Die Interessen des Ehemannes und des Kindes seien bei der Entscheidungsfindung mit zu berücksichtigen, wenn sie den Interessen der Betreuten entsprechen. 464 465 466 467 468 469 470

S. etwa BAG, NJW 2003, S. 1685 (1686 f.). BVerfGE 32, 98 (108 f.). Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 4, Rn. 82. Vgl. Kämpfer, S. 366 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 4, Rn. 82. Hufen, NJW 2001, S. 849 (853). BVerfGE 32, 98 (106 ff.). BVerfG (K), NJW 2002, S. 206 (207); dazu Ohler/Weiß, NJW 2002, S. 194.

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Anders ist dies zu beurteilen, wenn kein Zweifel an der Willensäußerung besteht, die Patientin also eindeutig eine Bluttransfusion ablehnt, auch wenn sie weiß, dass eine solche Ablehnung zu ihrem baldigen Tod führen wird und deshalb den Interessen ihrer Familie und ihres Kindes widerspricht. In diesem Fall muss die Selbstbestimmung der Patientin, die hier Ausfluss ihrer Glaubensfreiheit ist, Vorrang genießen. Eine Pflicht zum Leben zugunsten ihrer Familie wäre für die Patientin nicht zumutbar. Gewiss ist das Elternrecht nicht nur ein Recht sondern auch eine Pflicht für die Eltern.471 Diese Pflicht geht jedoch nicht so weit, dass eine Frau entgegen ihrer Glaubensüberzeugung am Leben erhalten werden darf, damit ihre Kinder eine Mutter haben. Auch der Ehemann ist von Verfassung wegen nicht verpflichtet, entgegen der Glaubensüberzeugung seiner Frau ärztliche Hilfe für diese zu veranlassen, um den Kindern die Mutter zu erhalten.472 Die Verweigerung der Behandlung eines schwer- oder todkranken Kindes seitens der Eltern aus religiösen Gründen stellt eine weitere Problematik dar. Wenn die Eltern zu einer Glaubensgemeinschaft gehören, die die Verwendung der Erzeugnisse moderner medizinischer und pharmazeutischer Forschung verbietet, besteht ein Konflikt zwischen der Glaubensfreiheit der Eltern und dem Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes. Von den Eltern kann zwar nicht verlangt werden, dass sie gegen ihre religiösen Überzeugungen dem Kind ein heilendes Antibiotikum verabreichen. Ein solches Verlangen widerspräche ihrer Glaubensfreiheit. Verlangt werden kann jedoch, dass die Eltern ihre fehlende Bereitschaft, das Kind medikamentös zu versorgen, dem Arzt offen legen, so dass der Arzt die Verantwortung für die Verlegung des Kindes ins Krankenhaus übernehmen kann.473 In dieser Hinsicht kann von den Eltern verlangt werden, dass sie nicht den Schlauch zerschneiden, über den dem Kind das Medikament zugeführt wird.474 Wenn die Eltern auch ein solches Verhalten nicht mit ihren Überzeugungen vereinbaren können, dann muss das Kindeswohl den Vorrang genießen. Im Konflikt zwischen der Religionsfreiheit der Eltern (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie ihrem allgemeinen Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG und dem Leben und der Gesundheit des Kindes (Art. 2 Abs. 2 GG) fällt in der Regel die Abwägung zugunsten von letzterem aus. Zu betonen ist auch hier, dass das Elternrecht maßgeblich dem Wohl des Kindes dienen muss und ein Recht im Interesse des Kindes ist.475 Die Eltern dürfen im Rahmen ihrer Elternverantwortung nicht auf Grund religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen das Wohl des Kindes vernachlässigen. Kriterien im Rahmen der Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern sind hierbei die Erforderlichkeit der medizinischen Maßnahmen und die Einwilligungsfähigkeit des Kindes.476 Je dringlicher eine Maßnahme aus medizi471 472 473 474 475 476

BVerfGE 56, 363 (382). BVerfGE 32, 98 (111). Beispiel bei Pieroth/Schlink, Rn. 531. Beispiel bei Pieroth/Schlink, Rn. 531. BVerfGE 72, 122 (137). Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, Rn. 66.

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nischer Sicht ist, desto mehr genießen das Leben und die Gesundheit des Kindes den Vorrang. Mit zunehmender Einwilligungsfähigkeit des Kindes, das selbst die medizinischen Maßnahmen verweigert, tritt die Religionsfreiheit in den Vordergrund. Es muss jedoch betont werden, dass es in dem Fall der Einwilligungsfähigkeit des Kindes nicht um die Religionsfreiheit der Eltern, sondern um die des Kindes geht. (2) Die Abgabenzahlungsverweigerung Verfassungsrechtliche Fragen werfen auch die Grenzen der freien Ausübung der Gewissensfreiheit auf. Wenn z. B. jemand den Schwangerschaftsabbruch nicht mit seinem Gewissen oder seiner Religion vereinbaren kann, ist er dann verpflichtet, die Krankenkassenbeiträge zu zahlen, die auch für Schwangerschaftsabbrüche eingesetzt werden? Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts477 dürfen von einem beitragspflichtigen Mitglied nicht anteilig Krankenkassenbeiträge einbehalten werden, um zu verhindern, dass mit seinem Beitrag auch Schwangerschaftsabbrüche finanziert werden.478 Soweit für den Bürger die Verwendung der öffentlichen Abgaben „mit seinem Glauben, seinem Gewissen, seinem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis unvereinbar ist, kann er jedenfalls nicht verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht wird“.479 In dieser Hinsicht hat der Einzelne ein Recht auf Gewissensfreiheit, der Arzt muss z. B. keinen Schwangerschaftsabbruch gegen sein Gewissen vornehmen, darf aber sein Gewissen nicht als Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen „durchsetzen“. Diese Rechtsprechung scheidet grundsätzlich die staatliche Abgabenverwendung aus dem Schutzbereich grundrechtlicher Abwehrrechtsansprüche aus Art. 4 Abs. 1 GG aus und stellt klar, dass das individuelle Gewissen nicht Maßstab für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben sein kann.480 (3) Der Impfzwang Heutzutage ist der gesetzliche Impfzwang in Deutschland aufgehoben. Gegen den Impfzwang ist neben der negativen Seite des Rechts auf Leben, bzw. der Abwesenheit einer Pflicht zum gesunden Leben auch die Glaubens- bzw. die Gewissensfreiheit angeführt worden.481 Die verfassungsrechtliche Diskussion hat jedoch nicht nur historische Bedeutung, da eine Wiedereinführung des Impfzwangs in bestimmten Fällen durchaus denkbar ist. Ziel des Impfzwangs ist der Schutz des menschlichen Lebens und der öffentlichen Gesundheit. Die Verweigerung der Impfung kann eine Gefahr für andere Bürger be477 478 479 480 481

BVerfGE 67, 26 (37). S. auch SG Dortmund, NJW 1985, S. 702 und BSG, NJW 1987, S. 517. BVerfGE 67, 26 (37). Franke, AöR 1989, S. 7 (39). Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 157.

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gründen oder zu einer Lebens- oder starken Gesundheitsgefahr des einzelnen Patienten führen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass von einzelnen Verweigerungen meist keine Gefahr für das Leben und die öffentliche Gesundheit ausgeht, so dass die Gewissensentscheidung zu berücksichtigen ist.482 Wenn aber die überwiegende Mehrheit der Bürger die Impfung verweigert, wird eine rasche Ausbreitung von Epidemien unvermeidbar, so dass auch die zur Impfung bereite Minderheit durch dieses Verhalten ernstlich gefährdet wird.483 In dieser Hinsicht muss eingeschätzt werden, wie hoch die Gefahr für das Leben und die öffentliche Gesundheit ist. Wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Impfung verweigert, dann ist die Gefahr gering und die Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit muss respektiert werden. Eine Freistellung von der Impfpflicht kommt also in Betracht, wenn im konkreten Fall keine Gefahr für Leib oder Leben Dritter zu befürchten ist.484 Wenn aber die Mehrheit der Bevölkerung trotz der Aufklärung über die Notwendigkeit der Impfung die Impfung verweigert, wäre der Impfzwang unter Berücksichtigung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit zulässig. Der Impfzwang wäre jedoch nicht zulässig, wenn keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit entsteht, sondern nur für das Leben und die Gesundheit des Betroffenen. Ein Recht auf Verweigerung der Impfung ist in diesem Fall auch in Art. 2 Abs. 2 GG verankert, weil der Betroffene selbst entscheiden darf, welchen Gefahren für sein Leben und seine Gesundheit er sich aussetzt oder nicht. Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt keine Pflicht zum Leben bzw. zum gesunden Leben. cc) Zwischenergebnis Aus der Glaubens-, Gewissens-, und Bekenntnisfreiheit des Menschen in Art. 4 Abs. 1 GG kann keine allgemeine Selbstbestimmung des Patienten abgeleitet werden. Das Recht auf individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kann aber in bestimmten Fällen neben oder in Ergänzung zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen sein, wenn religiös- oder gewissensbegründete Zurückweisungen lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen in Rede stehen.485 In dieser Hinsicht hat etwa ein Zeuge Jehovas das Recht, eine Bluttransfusion abzulehnen. Art. 4 GG ist nicht nur auf den Grundrechtsschutz des betroffenen Patienten, sondern auch auf den Schutz von beteiligten Dritten zugeschnitten.486 Die Bedeutung der Gewissens- und Glaubensfreiheit ist oft maßgeblich für die Konfliktsituation Dritter im Grenzbereich von Leben und Tod. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt also auch den Arzt, da dieser nicht verpflichtet ist, eine medizinische Handlung, z. B. einen Schwangerschaftsabbruch oder das Abstellen eines lebensrettenden Geräts, das zum Tod des Patienten führt, gegen sein Gewissen vorzunehmen. Der Patient hat aber in

482 483 484 485 486

Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 157. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 157. § 14 I BSeuchG. Vgl. Kämpfer, S. 251. Vgl. Kämpfer, S. 240.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

diesem Fall das Recht auf Überweisung an einen anderen Arzt oder eine andere Einrichtung, die die gewünschte Handlung erbringt. g) Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) aa) Der Gleichheitssatz Das Grundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG wird als subjektives Abwehrrecht vor ungerechtfertigter Ungleichbehandlung verstanden, da „es nicht einen Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre, sondern eine bestimmte Modalität des Staates, nämlich eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, abwehrt“.487 Ausfluss des Gleichheitsgebots ist, dass wesentlich gleiche Sachverhalte nicht willkürlich ungleich und wesentlich ungleiche nicht willkürlich gleich behandelt werden dürften.488 Gemäß der so genannten „Willkürformel“ des Bundesverfassungsgerichts ist der Gleichheitssatz verletzt, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt“.489 Das Willkürverbot wurde seit 1980 durch die „neue“ Formel des Bundesverfassungsgerichts ergänzt. Gemäß dieser so genannten neuen Formel ist das Gleichheitsgebot verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.“ Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz wird damit nicht mehr als Problem der Evidenz, sondern als Problem verfassungsrechtlicher Abwägung durch „strenge“490 Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ungleichbehandlung von Personengruppen formuliert. bb) Die Untersuchung von unterschiedlich behandelten Vergleichsgruppen Zu untersuchen ist die Anwendung des Gleichheitssatzes in Fällen der Selbstbestimmung des Patienten. Unterschiedlich behandelte Vergleichsgruppen, wie z. B. die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung, die passive und die aktive Sterbehilfe, die ausdrückliche Einwilligung und die mutmaßliche Einwilligung in eine Lebensbeendigung,491 stellen den Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion über die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit einer Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbietet der Gleichheitssatz nicht nur „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich“, sondern auch „wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behan487 488 489 490 491

Hein, in: Dreier, GG, Art. 3 I, Rn. 17. BVerfGE 49, 148 (165). BVerfGE 1, 14 (52); 61, 138 (147); 68, 237 (250); 83, 1 (23); 89, 132 (141). BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22); 89, 365 (375); 90, 46 (56). Vgl. Kämpfer, S. 376.

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deln“.492 In dieser Hinsicht ist der Gesetzgeber auch gehalten, die Strafbarkeit zwischen gleichen Vergleichspaaren anzugleichen.493 Zu untersuchen ist also, ob sich hinreichend begründete Anknüpfungspunkte für die unterschiedliche Behandlung dieser Vergleichspaare ergeben. Hierbei müssen zum einen die phänomenologischen Unterschiede der oben genannten Vergleichsgruppen berücksichtigt werden. Zum anderen muss beachtet werden, dass dem Gesetzgeber bei Ungleichbehandlungen ein weiter Ermessensspielraum zukommt.494 Verfassungsrechtlich bzw. gerichtlich darf nicht geprüft werden, „ob der Gesetzgeber die jeweils gerechteste und zweckmäßigste Regelung“ getroffen hat, sondern ob er die äußersten Grenzen seines Ermessensspielraums überschritten hat.495 cc) Folgen aus der Anwendung des Gleichheitssatzes im Fall der aktiven Sterbehilfe Wenn der Gesetzgeber im Rahmen seines Ermessens- und Gestaltungsspielraums etwa bestimmte Lebensverfügungen, den Schwangerschaftsabbruch, die Sterilisation oder die Organentnahme nur unter strikten Voraussetzungen erlaubt, darf er hierbei nicht willkürlich vorgehen und damit bestimmte Gruppen von Personen gleichheitswidrig benachteiligen. Das folgende Beispiel ist charakteristisch: Nichtbehinderte Personen sind faktisch in der Lage, eigenhändig ihr Leben zu beenden. Behinderte Personen dagegen können auf die Hilfe eines Drittens angewiesen sein, um ihr Leben zu beenden. In dieser Hinsicht wäre es eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, wenn die behinderten Patienten im Gegensatz zu nichtbehinderten Patienten, die ein Recht auf Selbsttötung faktisch ausüben können, keine Hilfe zum Sterben (Sterbehilfe) erhielten. Dies bedeutet nicht, dass durch das Gleichheitsgebot ein allgemeines Recht auf aktive Sterbehilfe anerkannt wird, sondern dass Behinderte die gleichen Rechte genießen, die Nichtbehinderten faktisch zukommen. Die jeweiligen verschiedenen Missbrauchsgefahren beim Tun und Unterlassen und beim Töten und Sterbenlassen können Anknüpfungspunkte für eine verfassungsgemäße Ungleichbehandlung sein. Diese Erweiterung der Selbstbestimmung führt also nicht zu einem generellen Recht auf aktive Sterbehilfe. Sie führt zu ihrer Zulässigkeit nur in Fällen, in denen der Patient körperlich nicht in der Lage ist, eine eigenhändige Selbsttötung zu begehen. dd) Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten bei der Zulässigkeit der Sterilisation Die Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten bei der Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung verstößt nicht immer gegen das Gleich492 493 494 495

BVerfGE 49, 148 (165); 98, 365 (385). Krack, KJ 1995, S. 60 (70 ff.). Pieroth/Schlink, Rn. 479. BVerfGE 64, 158 (168); 66, 84 (95).

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heitsgebot. Es besteht etwa keine willkürliche Benachteiligung von geistig Behinderten dadurch, dass ihnen die Möglichkeit zur Sterilisation nicht in gleichem Maße wie anderen Erwachsenen gewährt wird, weil der Differenzierungsgrund nicht die Behinderung per se, sondern die fehlende Einwilligungsfähigkeit ist. Diese Differenzierung ist nicht willkürlich, denn bei Menschen, die ihren eigenen Willen nicht eigenständig bilden können, ist es sachlich gerechtfertigt, Eingriffe nur unter besonderen strikten Voraussetzungen, die ausschließlich dem Wohl des Betroffenen dienen, durchzuführen.496 In dieser Hinsicht diskriminiert etwa § 1905 BGB, gemäß dem die Zulässigkeit der stellvertretenden Einwilligung zur Sterilisation von Behinderten durch besondere materielle und formelle Voraussetzungen eingeschränkt wird, geistig Behinderte nicht. ee) Differenzierung zwischen Verheirateten und Unverheirateten Anders zu beurteilen wäre etwa eine Differenzierung zwischen Verheirateten und Unverheirateten hinsichtlich des Zugangs zu Verhütungsmitteln, der Sterilisation oder des Schwangerschaftsabbruchs. Eine solche Differenzierung wäre mit dem Gleichheitsgebot nicht vereinbar.497 Anders als im Fall der Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, in dem die Beschränkung der Möglichkeit der Sterilisation dem Wohl der Behinderten dient, bestünde im Fall einer Differenzierung zwischen Verheirateten und Unverheirateten kein sachlicher Grund, der eine entsprechende Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. ff) Zwischenergebnis Aus dem Gleichheitsgebot resultiert kein Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Das Gleichheitsgebot kann jedoch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auf verschiedenen Ebenen erweitern.498 Es erweitert z. B. das Selbstbestimmungsrecht eines behinderten Patienten, der faktisch nicht in der Lage ist, sein Selbstbestimmungsrecht eigenständig auszuüben

496

Springorum, S. 89. Zu der Problematik des Zugangs zu Verhütungsmitteln vgl. die Entscheidung des US Supreme Court Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. (1972). Der Supreme Court erklärte die ungleiche Behandlung von verheirateten und unverheirateten Paaren beim Zugang zu Verhütungsmitteln für irrational und deshalb für unvereinbar mit der equal-protection-Klausel. 498 Kämpfer, S. 376. 497

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2. Schutzbereiche berührter Rechte in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Die EMRK gilt in Deutschland, wie alle Verträge, denen durch Bundesgesetz zugestimmt wurde, im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG).499 Die EMRK bietet eine Interpretationshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.500 Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes müssen von den deutschen staatlichen Organen berücksichtigt werden, dürfen aber nicht zu einer Verletzung grundgesetzlicher Normen führen.501 Die deutschen Gerichte haben die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben, solange diese Auslegung nicht gegen das Grundgesetz verstößt.502 Die Rechte der EMRK sind kein eigenständiger Prüfungsmaßstab vor dem Bundesverfassungsgericht und deshalb kann auf sie eine Verfassungsbeschwerde nicht gestützt werden.503 Die EMRK ist kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes.504 Als Anknüpfungspunkt für ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten kommen mittelbar Art. 2, 3 und 8 EMRK sowie unmittelbar Art. 14 EMRK in Betracht.

a) Recht auf Leben, Art. 2 EMRK Art 2 EMRK schützt das menschliche Leben in grundlegender Weise und enthält zugleich Ausnahmen zum Tötungsverbot. Der erste Absatz postuliert den Grundsatz, dass sich die Vertragsstaaten verpflichten, das Recht auf Leben in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung gesetzlich zu garantieren und eine absichtliche Tötung von Menschen seitens des Staates nicht zuzulassen. Die EMRK gewährt gemäß der Rechtsprechung des EGMR keinen Anspruch auf ein Recht zu sterben oder ein Recht auf Selbstbestimmung im Sinne eines Rechts auf eine Entscheidung für den Tod und gegen das Leben. Leitfall diesbezüglich ist „Pretty v. Vereinigtes Königreich“.505 Gemäß dem EGMR enthält das Recht auf Leben aus 499 S. Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Grundrechtsschutz im europäischen Raum, S. 343 (356) m. w. Nachw. 500 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (115). 501 BVerfGE 111, 307 (329). 502 BVerfGE 111, 307 (329). 503 BVerfGE 10, 271 (274); 34, 384 (395); 41, 126 (149); 64, 135 (157); 74, 102 (128); 74, 358 (370). 504 BVerfGE 19, 342 (347); 22, 254 (265); 25, 327 (331); 35, 311 (320). 505 EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Nr. 39. Pretty litt an einer seltenen Krankheit und war vom Hals abwärts gelähmt. Die Krankheit war nicht heilbar und der Zustand der Beschwerdeführerin verschlechterte sich seit der Diagnose der Krankheit im Jahre 1999 rapide. Der Tod tritt bei der Erkrankung der Beschwerdeführerin im Allgemeinen wegen der Schwäche der Atmungsmuskulatur, begleitet von einer Schwäche der Muskeln, die Sprache und das

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Art. 2 EMRK keine negative Seite. Dies ergebe sich aus einem Vergleich mit der Formulierung von Art. 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit), der auch das negative Recht umfasst, nicht Mitglied einer Vereinigung zu werden. Die Lebensbedingungen selber oder die Wünsche, die eine Person bezüglich der Ausgestaltung ihres Lebens hegt, haben im Rahmen des Art. 2 EMRK keine Bedeutung. Diese sind gegebenenfalls nach anderen Konventionsrechten geschützt. Folglich umfasst das Recht auf Leben gemäß dem EGMR nicht das Recht, unter Mithilfe eines Drittens oder des Staates zu sterben.506 Ein Recht auf Sterbehilfe ist nicht aus Art. 2 EMRK abzuleiten.507 Diese Beschränkung lässt sich durch die großen gesellschaftlichen Unterschiede der Mitgliedsstaaten erklären. Ein generelles Recht auf Verfügung über das eigene Leben würde den Schutzgehalt überspannen.508 Die Rolle der EMRK ist es, einen unumstrittenen ethischen Mindeststandard zu schützen.509 Der EGMR hat die Frage offen gelassen, ob der Fötus einen gewissen Schutz nach Art. 2 EMRK genießt.510 Auf Grund des fehlenden Konsenses unter den europäischen Mitgliedstaaten, den Beginn des Lebens betreffend, fällt die Festlegung des Zeitpunkts, zu dem das Recht auf Leben beginnt, nach dem EGMR in den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten.511 b) Art. 3 EMRK, Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Art 3 EMRK verbietet Folter, unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung. Folter ist eine Maßnahme, die eine absichtliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt und sehr ernstes und grausames Leiden hervorruft.512 Unmenschlich ist eine Behandlung, die absichtlich schwere psychische oder physische Leiden verursacht. Dies ist der Fall, wenn beim Betroffenen Gefühle von Furcht und Erniedrigung hervorgerufen werden.513 Die erniedrigende Behandlung und Bestrafung ist die schwächste Stufe eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK. Schlucken kontrollieren, was zum Aussetzen der Atmung und zu einer Lungenentzündung führt, ein. Es gibt keine Therapie, mit der ein Fortschreiten der Krankheit verhindert werden könnte. Das Endstadium dieser Krankheit ist sehr schmerzhaft und unwürdig. Daher wollte Pretty, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, sich dieses Leiden ersparen und ihren Todeszeitpunkt selbst bestimmen. Dazu war sie auf die Hilfe ihres Ehemanns angewiesen. Im Vereinigten Königreich steht die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe und kann mit einer Haftstrafe bis zu 14 Jahren geahndet werden. 506 EGMR, Urt. v. 29. 4. 2002, 2346/02, Z. 40. 507 EGMR, Urt. v. 29. 4. 2002, 2346/02, Z. 40. 508 Kämpfer, S. 248. 509 Baumgarten, S. 89. 510 EGMR, Urt. v. 8. 7. 2004, 53924/00, Z. 82 ff. 511 EGMR, Urt. v. 8. 7. 2004, 53924/00, Z. 82, 84. 512 EGMR, Urt. v. 28. 7. 1999, RJD 1999-V, Z. 96 ff. 513 EGMR, Urt. v. 26. 10. 2000, RJD 2000-XI, Z. 92; Urt. v. 15. 7. 2002, RJD 2002-VI, Z. 95.

II. Die Verankerung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten

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Eine Behandlung ist erniedrigend, wenn sie den Betroffenen in seiner Würde verletzt.514 Gemäß der Rechtsprechung des EGMR ist ein Verbot der Sterbehilfe nicht als erniedrigende Behandlung zu charakterisieren. Leitfall ist hier ebenfalls „Pretty v. Vereinigtes Königreich“.515 Die Klägerin machte geltend, dass ihre Krankheit eine erniedrige Behandlung darstelle. Nach diesem Urteil habe das Vereinigte Königreich die Klägerin Pretty weder erniedrigend behandelt noch ihr eine ausreichende medizinische Versorgung verweigert.516 Eine dynamische Interpretation der EMRK erlaube nicht, das staatliche Verhalten in diesem Fall unter Art. 3 EMRK zu subsumieren. Jede Auslegung der Konvention müsse mit ihren Zielen und dem Konventionszusammenhang übereinstimmen. Eine Pflicht des Staates, lebensbeendende Aktivitäten zu regeln, kann nicht aus Art. 3 EMRK entnommen werden.517 c) Recht auf Privatsphäre, Art. 8 EMRK Art. 8 EMRK gewährleistet das Recht auf Privatsphäre. Durch diese Garantie soll jedem Individuum ein Raum gewährleistet werden, in dem es die „Entwicklung und Erfüllung“ seiner Persönlichkeit anstreben kann.518 Geschützt ist die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die Privatsphäre des Individuums und die freie Gestaltung der persönlichen Lebensführung.519 Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper schützt sowohl die physische als auch die psychische Integrität des Menschen.520 In dieser Hinsicht sind auch Zwangsuntersuchungen und zwangsweise Blutentnahmen Eingriffe in die Privatsphäre.521 Der Schutz der Privatsphäre bietet einen Schutz im Bereich der medizinischen Daten des Patienten, nämlich hinsichtlich des Erhebens, der Verbreitung, des Verarbeitens und der Nutzung von Informationen über seinen Gesundheitszustand.522 Dem Patienten stehen also Rechte auf Auskunft, Einsicht, Berichtigung, Sperrung und Löschung seiner medizinischen Daten zu. Zu der freien Gestaltung der Lebensführung gehört im Bereich der Selbstbestimmung des Patienten das Recht auf freie Arztwahl.523 Der Gerichtshof differenziert zwischen dem Verbot der passiven und aktiven Sterbehilfe. Der erste Fall führt zu einer Verletzung der im Art. 8 EMRK geschützten kör514 EGMR, Urt. v. 27. 7. 2001, RJD 2001-VIII. Z. 102, 117; Urt. v. 11. 12. 2003, 39084 – 97, Z. 104. 515 EGMR, Urt. v. 29. 4. 2002, 2346/02, Z. 194 ff. 516 EGMR, Urt. v. 29. 4. 2002, 2346/02, Z. 53. 517 EKMR, Ber. 12. 7. 1977 6969/75, DR, 10, 115. 518 EKMR, Urt. v. 1. 7. 1980, Dr. 21, 116 f. 519 Grabenwarter, S. 179 ff. 520 Reid, S. 323. 521 EKMR, Urt. v. 13. 12. 1979, 8278/78, DR 18, 155 (156); EKMR, Urt. v. 16. 10. 1996, Nr. 29034/95, Z. 1. 522 Breitenmoser, S. 245. 523 Villiger, Rn. 562.

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

perlichen Integrität einer Person, während der zweite Fall nicht zu einer solchen Verletzung führt. Im Bereich der Sterbehilfe hatte der Gerichtshof grundsätzlich Stellung zu nehmen.524 Er nahm dabei eine Abwägung zwischen dem Schaden an der Gesundheit und dem Selbstbestimmungsrecht einer Person vor. Je schwerwiegender ein Schaden sei, desto gewichtiger würden Überlegungen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit bei der Abwägung gegen den entgegenstehenden Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts einer Person.525 Das unbedingte Verbot der Beihilfe zum Selbstmord ist nach der Entscheidung des Gerichtshofs nicht unverhältnismäßig.526 Es sei in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte anderer notwendig und damit gerechtfertigt. Folglich sei Art. 8 EMRK nicht verletzt.527 Bei der Sterbehilfe berücksichtigt der Gerichtshof den Einschätzungsspielraum (margin of appreciation): Es obliegt dem Staat selbst, nicht dem EGMR, das Risiko des Missbrauchs einer Lockerung der Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid oder von denkbaren gesetzlichen Ausnahmen einzuschätzen.528 Der Einschätzungsspielraum, den der Gerichtshof anerkennt, bedeutet, dass eine andere Lösung nicht unbedingt gegen Art. 8 EMRG verstößt. d) Das Diskriminierungsverbot, Art. 14 EMRK Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK beschränkt die Gleichbehandlung aller Menschen auf die Gewährleistung der in der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten. Nach dem EGMR verstößt ein gesetzliches Verbot der Beihilfe zum Selbstmord nicht auf Grund einer fehlenden Differenzierung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten gegen das Diskriminierungsverbot. Eine Abgrenzung zwischen Personen, die ohne fremde Hilfe Selbstmord begehen können und solchen, die dies nicht können, sei schwierig, und es bestehe die Gefahr, dass der Zweck des Gesetzes, Leben zu schützen, ausgehöhlt würde.529 e) Zwischenergebnis Die EMRK gewährleistet trotz zunehmender Beschäftigung mit dem Bereich der Selbstbestimmung des Patienten nichts, was über den vom Grundgesetz gewährten Schutz hinausginge.

524 525 526 527 528 529

EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02 und die Darstellung von Peters, S. 40 ff. EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Z. 74. EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Z. 76. EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Z. 78. EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Z. 74. EGMR, Urt. v. 29.4. 2002, 2346 – 02, Z. 87 ff.

III. Schlussfolgerung über die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts

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III. Schlussfolgerung über die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts des Patienten Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten findet im Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes keine ausdrückliche Erwähnung,530 sondern ist vielmehr von Rechtsprechung und Lehre entwickelt worden.

1. Die Differenzierung zwischen Selbstbestimmung im engeren Sinne und Selbstbestimmung im weiteren Sinne Bei der Selbstbestimmung des Patienten wird zwischen Selbstbestimmung im engeren Sinne und Selbstbestimmung im weiteren Sinne differenziert. a) Die Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne Ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne, das heißt im Bereich seines Lebens und seiner Gesundheit, ist im Grundgesetz in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert. In diesem Sinne hat der Patient das Recht, sein Leben zu beenden oder seine Gesundheit zu verschlechtern. Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten hat seine Wurzeln in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, weil aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht eine Verpflichtung zum Leben, zum gesunden Leben, und damit ein Verbot der Selbstschädigung zu folgern ist.531 Eine Verfügung des Patienten über seine körperliche Integrität beinhaltet zugleich auch eine Entscheidung über den weiteren Lebensverlauf und die Lebensumstände.532 Der Heileingriff erfüllt den Tatbestand des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und bedarf der Rechtfertigung.533 „Im Grundsatz sind Heileingriffe ohne Einwilligung des Betroffenen unzulässig. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wäre in seinem Wesensgehalt getroffen, wenn der Staat nicht prinzipiell gehalten wäre, lediglich die Einwilligung des Betroffenen als Rechtfertigungsgrund des Heileingriffs anzuerkennen.“534

530 Nur die Verfassung Thüringens v. 25. 10. 1993 gewährleistet die Selbstbestimmung des Menschen am Ende des Lebens. Art. 1 Abs. 1 der thüringischen Verfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. 531 Ostendorf, S. 100. 532 Voll, S. 49. 533 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 36 (Erstbearb. 1958). 534 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 37 (Erstbearb. 1958).

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

b) Die Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne aa) Persönliche Lebenssphäre des Patienten Nur wenn die freie Selbstbestimmung des Patienten nicht direkt mit dem Leben und der Gesundheit des Patienten, sondern mit seiner allgemeinen Freiheit in seiner persönlichen Lebenssphäre als Patient zu tun hat, ist das Recht auf Selbstbestimmung Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Patienten, das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Art. 1 Abs. 1 GG verankert ist. Ein charakteristisches Beispiel der Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne ist der Schwangerschaftsabbruch. bb) Allgemeine Handlungsfreiheit im Bereich der Krankenversicherung Im Bereich der Krankenversicherung genießt der Patient ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht, das in Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist. Dieses Recht beschränkt sich auf den Bereich der Arzt- und Versicherungswahl. Es geht um die Privatautonomie des Patienten im Rahmen des Krankenversicherungsverhältnisses

c) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten ist nicht absolut gewährleistet und kann deshalb nicht schrankenlos gelten. Legitime Zwecke für eine Beschränkungen des Selbstbestimmungsrechts sind einerseits der Schutz von Grundrechten Dritter (z. B. der Religions- und Gewissensfreiheit gemäß Art. 4 GG und des Rechts auf Schutz der Familie gemäß Art. 6 GG), der Volksgesundheit (Regelungen der Arzneimittelsicherheit und der Betäubungsmittelkontrolle) und der öffentlichen Ordnung (z. B. die Unterbindung öffentlicher Selbsttötung). Andererseits kommt auch ein Schutz des Patienten vor sich selbst (z. B. die Unterbindung der Spende von lebenswichtigen Organen) als legitimer Zweck in Betracht.535 Bei der Beschränkung des Rechts auf Selbstbestimmung steht dem Gesetzgeber ein Prognose-, Bewertungs-, und Abwägungsspielraum zu. Prognosen sind „Aussagen über die Wirklichkeit in der Zukunft“.536 Solche Prognosen betreffen im Fall des Selbstbestimmungsrechts des Patienten z. B. die zu erwartende Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, die Zahl der Organspenden und die Zahl der Hungerstreikenden etc. Bewertungen sind „Entscheidungen, mit denen von zwei Größen die eine der anderen vorgezogen wird“,537 wie z. B. eine Entscheidung über die Beschränkung der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen oder des Hungerstreiks, über die Unterbindung der Spende von lebenswichtigen Organen etc. Die Prognosen sind also objektive Wahrheit, während Bewertungen subjektive Entscheidungen sind.538 Der Spielraum des 535 536 537 538

Ausführlich dazu Kämpfer, S. 328 ff. Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 445 (455). Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 445 (455). Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 445 (455).

III. Schlussfolgerung über die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts

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Gesetzgebers ist durch das Verhältnismäßigkeitprinzip, das die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Zweck-Mittel-Relation) der getroffenen Maßnahme voraussetzt, begrenzt. Geeignet ist ein gesetzgeberischer Eingriff, wenn er das verfolgte Ziel erreicht oder dessen Erreichen zumindest fördert.539 Ungeeignet ist nur ein Handeln, das sein Ziel offensichtlich verfehlt oder sich gar als kontraproduktiv erweist.540 Erforderlich ist ein Eingriff, wenn er das mildeste Mittel ist, das den angestrebten Zweck erreichen kann.541 Die Erforderlichkeit ist nicht mit politischer Erforderlichkeit zu verwechseln, sondern eine reine, faktische, idealtypisch gesehene Größe.542 Bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wird überprüft, ob das eingesetzte Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck steht.543 Das Handeln muss Ausdruck eines gerechten Interessenausgleichs sein.544 aa) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im engeren Sinne unterliegt, da es in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert ist, den gleichen Beschränkungen wie das Recht auf Leben. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG sind Eingriffe in die durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgten Rechte nur auf Grund eines Gesetzes zulässig. Wegen der großen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG muss jeder Eingriff in das Leben und in die körperliche Unversehrtheit durch ein Parlamentsgesetz geregelt sein.545 Ein solches Gesetz hat die Grenzen des Art. 19 Abs. 2 GG und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Ein Gesetz, das ärztliche Heileingriffe generell ohne Einwilligung des Patienten gestattete, würde die Grenzen von Art. 19 Abs. 2 GG verkennen und den Patienten zum bloßen Gegenstand von Gesundheitspolitik machen.546 Auch das ebenfalls durch Art 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Recht auf Sterben und auf freiwillige Verschlechterung der Gesundheit unterliegt den Beschränkungen des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Es ist somit nicht absolut gewährleistet, sondern unterliegt Eingriffen des Gesetzgebers.

539

BVerfGE 100, 313 (373). Kunig, in: Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, S. 169 (171). 541 BVerfGE 30, 292 (316). 542 Kunig, in: Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, S. 169 (171). 543 BVerfGE 30, 292 (316). 544 Kunig, in: Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, S. 169 (171). Zur Wichtigkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips insbesondere in Deutschland s. IliopoulosStrangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), La protection des droits fondamentaux dans les Etats membres de l Union europenne, S. 793 (932). 545 Pieroth/Schlink, Rn. 397. 546 BVerfGE 52, 131 (175). 540

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

bb) Beschränkungen der Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne, das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (persönliche Lebenssphäre des Patienten) oder in Art. 2 Abs. 1 GG (Privatautonomie des Patienten im Rahmen des Krankenversicherungsverhältnisses) verankert worden ist, unterliegt den Beschränkungen von Art. 2 Abs. 1 GG, die sowohl für Art. 2 Abs. 1 GG als auch für Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gelten.547 Diese besagen, dass die Rechte anderer nicht verletzt werden dürfen und dass die freie Ausübung der genannten Rechte nicht der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz widersprechen darf. Die verfassungsmäßige Ordnung ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen,548 das heißt der einfache Gesetzesvorbehalt, der am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen ist.549 „Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, umso sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.“550 Rechte anderer sind alle subjektiven Rechte, die aber schon von der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung umfasst sind.551 Ohne besondere Bedeutung ist auch das Sittengesetz552, das im Sinne des „altbewährten und praktikablen Rechtsbegriffs“553 als gute Sitten, Treu und Glauben zu verstehen ist. Unsittliche Gesetze können nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören.554

2. Die Verneinung einer Selbstbestimmungspflicht des Patienten Die Anerkennung eines Selbstbestimmungsrechts des Patienten kann auf keinen Fall mit einer Selbstbestimmungspflicht des Patienten verbunden sein.555 Jeder Patient darf alles vertrauensvoll in die Hand des Arztes legen. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verpflichtet den Arzt und den Staat, nicht aber den Patienten selbst. Ein Recht stellt für den Inhaber keine Pflicht dar. Der Patient ist einerseits nicht gezwungen, die Ratschläge des Arztes zu befolgen. Andererseits kann der Patient aber nach dem Motto „Tun Sie das, was sie für das Beste halten“ die Verantwortung auf den Arzt übertragen. 547 548 549 550 551 552 553 554 555

BVerfGE 65, 1 (43). BVerfGE 6, 32 (38); 80, 137 (153). Pieroth/Schlink, Rn. 383, 384. BVerfGE 17, 306 (314). Pieroth/Schlink, Rn. 385. Pieroth/Schlink, Rn. 388. BVerfGE 6, 389 (435). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 16 (Erstbearb. 1958). Tröndle, MDR 1983, S. 881 (885).

IV. Der Konflikt zwischen Patient und Arzt

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3. Folge aus dem Gleichheitsgebot Art. 3 Abs. 1 GG verleiht dem Patienten keine eigenständigen Selbstbestimmungsrechte, erweitert aber dessen Rechte.556 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kommt gemäß dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG jedem Patienten unabhängig von seinem tatsächlichen Zustand in demselben Maße zu,557 in dem Sinne dass der Gesetzgeber bei der Zulassung bestimmter Lebensverfügungen im Rahmen seines Ermessens- und Gestaltungsspielraums nicht willkürlich vorgehen und bestimmte Gruppen von Patienten gleichheitswidrig benachteiligen darf.558 Ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten wird durch das Gleichheitsgebot von Behinderten und Nichtbehinderten (Art. 3 Abs. 3 GG) in dem Sinne beeinflusst, dass es eine Ungleichbehandlung wäre, wenn die behinderten Patienten im Gegensatz zu nicht körperlich behinderten Patienten, die faktisch eine Selbsttötung vornehmen können, keine Hilfe zum Sterben (Sterbehilfe) erhalten dürfen. Aus dem Gleichheitsgebot ergibt sich jedoch kein allgemeines Selbstbestimmungsrecht des Patienten, sondern die Erstreckung dieses Rechts auch auf Behinderte, das heißt auf Menschen, die nicht die Möglichkeit besitzen, ihre Entscheidung allein zu realisieren. Mit anderen Worten ist das Selbstbestimmungsrecht bei einem Kranken oder Sterbenden in keiner Weise gemindert.559 Folge einer solchen Erstreckung des Selbstbestimmungsrechts auf Behinderte muss deshalb ein Recht auf Hilfe bzw. Sterbehilfe für die Patienten sein, die nicht in der Lage sind, ihre Entscheidung allein zu realisieren.

IV. Der Konflikt zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten und der Berufsausübungsfreiheit des Arztes 1. Der Konflikt Auf den ersten Blick scheint es mit dem ärztlichen Beruf bzw. der Berufsausübungsfreiheit des Arztes unvereinbar zu sein, wenn der Arzt tatenlos zusehen muss, wie ein Mensch stirbt, obwohl Rettung möglich ist. Die Garantenstellung des Arztes in Bezug auf einen Patienten kann sich grundsätzlich aus dem Behandlungsvertrag und vor allem aus der faktischen In-Obhutnahme des Patienten ergeben.560 Angesichts dieser Garantenstellung hat der Mediziner die Pflicht, die Gefahr

556

Kämpfer, S. 376. Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75. 558 Kämpfer, S. 376. 559 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I, Rn. 29, 33 (Erstbearb. 1958). 560 Hein, S. 72. 557

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1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

von Krankheit und Tod von demjenigen abzuwenden, der sich ihm anvertraut. Fraglich ist also, wo die Berufsausübungsfreiheit des Arztes seine Grenzen findet.

2. Der Inhalt der Berufsausübungsfreiheit des Arztes Unter dem Begriff Therapiefreiheit des Arztes ist die Freiheit des Arztes zu verstehen, die Wahl der Behandlungsmethoden in Diagnostik und Therapie nach eigenem Ermessen vorzunehmen.561 Die Therapiefreiheit des Arztes wird von der allgemeinen Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG geschützt.562 Sie besteht aus drei Elementen: a) die Entscheidung darüber, ob eine Behandlung stattfindet; b) kein Arzt kann zu einer Behandlungsmethode oder zu einer bestimmten Arzneimitteltherapie gezwungen werden; c) es ist Sache des Arztes, die ihm geeignete Behandlungsmethode auszuwählen.563 In dieser Hinsicht verfügt der Arzt über einen Ermessensbzw. Entscheidungsspielraum. Alle Regelungen der Therapiefreiheit des Arztes sind an den allgemeinen Maßstäben der Stufentheorie und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Beachtung der verfassungsrechtlich relevanten Besonderheiten des ärztlichen Berufs zu messen.564 Die Berufsausübungsfreiheit des Arztes muss hierbei im Zusammenhang mit dem hippokratischen Eid gesehen werden. Dieser gibt einerseits dem Arzt auf, Leben nicht zu töten, andererseits verpflichtet er aber auch zur Linderung von Schmerzen oder Leidenszuständen beim sterbenden Patienten.565 Diese zwei Ausprägungen des hippokratischen Eids sind nicht als kollidierende, sondern als zusammenhängende Ausprägungen zu betrachten.

3. Der Vorschlag a) Vorrang der Respektierung des Willens des Patienten Die Therapiefreiheit des Arztes geht mit der Therapiefreiheit des Patienten einher: Der Patient ist frei, „darüber zu entscheiden, welchen Gefahren [er] sich […] aussetzen will“ und hat die Freiheit, „die Risiken eigenen Handelns selbst einzuschätzen und Eigengefährdungen hinzunehmen“.566 Der Arzt muss seinen Willen respektieren. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Therapiefreiheit des Arztes finden ihre Zuordnung durch Kommunikation in der Form von Aufklärung und Einwil-

561 562 563 564 565 566

Francke, S. 62. Francke, S. 70. Zuck, NJW 1991, S. 2933. Francke, S. 70. Siefert, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 116 f. BVerwGE 82, 45 (48 – 49).

IV. Der Konflikt zwischen Patient und Arzt

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ligung des Patienten.567 Wenn eine Aufklärung nicht möglich ist, z. B. in Notfällen, entstehen Sonderlagen, die zu einer Pflicht des Arztes führen können, nach einer bestimmten, das heißt der allgemein anerkannten Methode, zu behandeln. Die ärztliche Behandlungspflicht findet also ihre Grenzen in dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Da der Arzt den Willen des Patienten respektieren muss, kommt ihm im Vergleich zu anderen Obhutsgaranten eine Sonderrolle zu. Ein entgegenstehender Wille lässt die Garantenstellung entfallen.568 Dem Arzt steht prinzipiell kein Heilrecht zu, dem Kranken aber ein Recht, nach seinem Willen zu sterben.569 Wenn der Arzt die Nicht-Behandlung des Patienten mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, kann er, um diesen Konflikt zu lösen, die ärztliche Behandlung an einen Kollegen abgeben.570 Die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals rechtfertigt nicht die Fortsetzung einer Therapie.571 Weder die Gewissensfreiheit noch die Grundrechtspositionen von Pflegekräften verleihen diesen die Befugnis, sich ihrerseits über das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen hinwegzusetzen und damit dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit zu beeinträchtigen.572 Es gibt kein eigenständiges ärztliches Behandlungsrecht auf Grund einer Lebenserhaltungspflicht.573 b) Keine Verpflichtung des Arztes, den Willen des Patienten zu erfüllen Die Therapiefreiheit des Arztes schließt ein, dass dieser nicht verpflichtet ist, in jedem Fall den Willen des Patienten zu erfüllen. Gemäß Art. 12 Abs. 2 GG darf der Arzt nicht zu einer bestimmten Arbeit bzw. Behandlung gezwungen werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist nicht nur das Vertrauen des Patienten in den Arzt, sondern auch das Vertrauen des Arztes in den Patienten. Wenn der Arzt der Überzeugung ist, dass das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Patienten nicht besteht, kann er die ärztliche Behandlung ablehnen. Die freie Wahl des Arztes durch den Patienten ist ein hohes Rechtsgut, das im Interesse nicht nur des Patienten, sondern auch des Arztes liegt. Für den Patienten ist die freie Wahl des Arztes Voraussetzung seines Vertrauens und für den Arzt Voraussetzung des möglichen Erfolges seiner Behandlung.574

567

Francke, S. 151. Beckert, S. 290. 569 Ehrhardt, in: Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Patienten, S. 41. 570 Gaßner, in: Die Patientenverfügung, S. 24 (37). 571 BGH, JZ 2006, S. 144 (145). In diesem Fall weigerten sich die Pflegekräfte, die Anordnung des behandelnden Arztes in Übereinstimmung mit dem Betreuer auszuführen und die künstliche Ernährung einzustellen. 572 Höfling, JZ 2006, S. 145 (146) m. w. Nachw. 573 Verrel, in: 66 DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (71). 574 Fiebig, S. 102. 568

96

1. Teil: Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts

Wenn der Arzt aus bestimmten Gründen den Willen des Patienten nicht erfüllen möchte (z. B. weil er aus religiösen Gründen einen Schwangerschaftsabbruch ablehnt), ist er hierzu nicht verpflichtet. Der Patient kann die Überweisung an einen anderen Arzt oder eine andere Einrichtung verlangen. Auch wenn der Patient nur einem bestimmten Arzt für die Durchführung einer Operation vertraut, ist der Arzt nicht verpflichtet, diese Operation vorzunehmen. Der Patient kann nur die Beendigung der medizinischen Behandlung oder die Überweisung an eine andere Einrichtung verlangen.575 Problematisch ist der Fall, in dem die Durchführung einer Operation für die Gesundheit des Patienten dringend erforderlich ist und kein anderer Arzt zur Verfügung steht, der diese Operation erfolgreich durchführen kann. In diesem Fall muss bei der Abwägung das Interesse des Patienten Vorrang genießen. Bei schwerwiegenden Eingriffen mit erheblichen Gefahren „muss der Arzt dann über seinen konkreten Erfahrungsstand mit Operationen dieser Art aufklären, wenn für den Patienten die konkrete Möglichkeit besteht, den Eingriff deutlich risikoloser durch einen anderen Arzt in einer anderen Klinik vornehmen zu lassen“.576

c) Strittige Situationen Fraglich ist, ob in Notfallsituationen Mitarbeiter des Rettungswesens am Unfallort gegen den Willen des Patienten entscheiden können, in welches Krankhaus der Patient eingeliefert und von welchem Arzt er behandelt werden soll. In Notsituationen, in denen aus ärztlicher Sicht keine Zeit zu verlieren ist, werden ärztliche Eingriffe durch den mutmaßlichen Patientenwillen gerechtfertigt.577 Auch dem Notfallpatienten steht als Ausfluss seines verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts grundsätzlich ein Recht auf freie Arztwahl und Entscheidung über medizinische Maßnahmen, wie z. B. Operation, Bluttransfusion oder Auswahl des Krankenhauses, das seine Behandlung übernehmen soll, zu.578 Der Notfallpatient ist aber oft nicht in der Lage, die angebotene Hilfe ausdrücklich zu akzeptieren oder eine gegenteilige Erklärung abzugeben. Die Einwilligung des Patienten setzt ein Erkennen der Tragweite seiner Entscheidung und volles Bewusstsein, also volle Entscheidungsfähigkeit, voraus, die in einer Notfallsituation nicht immer gegeben sind. So wird oft eine Heilbehandlung ohne die Einwilligung des Patienten geleistet. Dem Notfallarzt steht ein Behandlungsrecht ohne den Willen des Patienten zu, wenn der Notfallpatient nicht in der Lage ist, seinen Willen zu äußern. Dies muss aber als Einmischung in fremde Angelegenheiten und als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts auf absolute Ausnahmesituationen beschränkt sein.579 Wenn die Entscheidung über die medizinische Behandlung von dem gesetzlichen Vertreter ge575 576 577 578 579

Kämpfer, S. 365. OLG Düsseldorf, VersR 1987, S. 161 (163). Corell, in: AK-GG, Art. 2 II, Rn. 121. Fiebig, S. 174. Fiebig, S. 172.

IV. Der Konflikt zwischen Patient und Arzt

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troffen wird, ist festzustellen, dass der Vertreter zwar das Recht hat, aus religiösen, weltanschaulichen oder anderen persönlichen Gründen sein eigenes Leben zu opfern, dass er aber nicht berechtigt ist, dieses Opfer auch einem anderen aufzuzwingen.580 Wenn die Verweigerung der Einwilligung des Sorgeberechtigten eine schwere Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Notfallpatienten nach sich zieht, so können die erforderlichen Rettungsmaßnahmen ohne den Willen des Sorgeberechtigten unter dem Gesichtspunkt der Notstandshilfe durchgeführt werden.581 Was die Aufklärungspflicht des Arztes betrifft, ist das Maß der Genauigkeit der Aufklärung umgekehrt proportional zur Dringlichkeit des Eingriffes: Je dringender der geplante Eingriff, desto geringer ist der Umfang der Aufklärungspflicht und je geringer der Dringlichkeitsgrad, desto größere Anforderungen sind an die Aufklärungspflicht zu stellen.582 Die gleiche Problematik stellt sich auch bei aufklärungsunfähigen Patienten. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass im Fall eines aufklärungsunfähigen Patienten im Regelfall ein Betreuer über die Behandlung des Patienten entscheiden wird. Im Gegensatz zum Notfall ist hier eine Entscheidung nicht dringend geboten und der Arzt somit nicht verpflichtet, sofort eine Entscheidung zu treffen.

580

OLG Hamm, NJW 1968, S. 212. Fiebig, S. 175. Das gilt nicht nur bei Notfällen, sondern grundsätzlich. Vgl. die Rechtsprechung zu den Kindern von Zeugen Jehovas, OLG Hamm, FamRZ 1968, S. 221 (222 – 3); OLG Celle, NJW 1995, S. 792 (793). 582 BVerfGE 52, 131 (137). 581

Zweiter Teil

Die Selbstbestimmung des Patienten in verschiedenen strittigen Fällen I. Selbsttötung Eines der Dinge, an die ein Mensch möglicherweise denkt, wenn er verzweifelt, hoffnungslos oder krank ist, ist der Selbstmord. Unabhängig von der ethischen Beurteilung des Selbstmordes und unabhängig davon, ob ein Mensch – im Rahmen dieser Arbeit ein Patient – andere Wege finden sollte, mit seiner Lage umzugehen, ist zu prüfen, ob er über ein verfassungsrechtliches Recht auf Selbsttötung verfügt. In dem folgenden Kapitel dieses Teils (s. unten unter II) wird geprüft, ob der Patient die Hilfe des Arztes bei einer Tötung verlangen und ob er Hilfe zum Weiterleben ablehnen darf, nämlich ob er über „das Recht getötet zu werden“1 verfügt (Sterbehilfe).

1. Der Begriff Unter dem Begriff Selbsttötung ist die bewusste und willentlich angestrebte vorsätzliche Auslöschung des eigenen Lebens durch eine bestimmte zielgerichtete Handlung zu verstehen.2 Suizident ist nicht der Patient, der einer voraussichtlich rettenden ärztlichen Behandlung seine Zustimmung versagt und damit dem tödlichen Schicksal seinen Lauf lässt. Die Selbsttötung ist das Ergebnis einer psychischen Erkrankung oder einer freiverantwortlicher Entscheidung.3 Entscheidende Elemente des Begriffs der Selbsttötung sind das Wissenselement und das Willenselement. Dies bedeutet, dass jemand, der sich tötet, nur dann Suizident ist, wenn er einerseits um die Konsequenzen seiner Handlungen positiv wusste und wenn andererseits der Tod gewählt wurde, weil das Weiterleben nachteilig erschien.4 Es kann nicht von Selbstmord gesprochen werden, wenn die Entscheidung auf Zwang oder Täuschung beruhte.5

1 2 3 4 5

Möllering, S. 92. Vgl. Kaiser, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 1139. Kaiser, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 1139 – 1140. Beckert, S. 9 – 10. Beckert, S. 13.

I. Selbsttötung

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2. Die Verankerung und der Inhalt eines Rechts auf Selbsttötung Ein Recht auf Selbsttötung ist als Ausfluss der negativen Seite des Rechts auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert [s. oben unter I a) bb)]. In dieser Hinsicht wird das Grundrecht auch in der Nichtausübung garantiert. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährt das positive Verfügungsrecht über Leben und körperliche Unversehrtheit und verbietet deshalb nicht die Ausübung des Suizids. Diese negative Seite ergibt sich aus dem Abwehrcharakter des Rechts auf Leben. Dieser Abwehrcharakter rechtfertigt die Abwehr einer objektiven Lebenspflicht durch Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist keine Pflicht des Patienten zum Leben abzuleiten. Das Grundgesetz errichtet also kein verfassungsrechtliches Verbot der Selbsttötung.6 Die negative Gestaltung eines Rechts auf Leben spricht nicht gegen eine staatliche Pflicht, das Leben zu schützen, wenn diese staatliche Schutzpflicht im Einklang mit der Freiheit des Patienten steht. Das Recht auf Sterben ist im Grundgesetz nicht absolut garantiert. Es steht unter dem Gesetzesvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Dies bedeutet, dass dem einfachen Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum eröffnet worden ist. In diesem Sinne ist der Gesetzgeber frei, zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Recht auf Sterben zu beschränken ist, mit anderen Worten inwieweit ein staatlicher Zwang zum Leben zulässig ist. Ausfluss des Rechts auf Sterben ist das Recht auf Selbsttötung. Wenn man ein Recht auf Sterben hat, darf man dieses Recht selbst ausüben. Fraglich ist zunächst, ob der Staat oder ein Dritter einen Suizidversuch abwenden darf oder muss. a) Unterbindung durch die Polizei Die Unterbindung eines Selbstmordes gehört zu den polizeilichen Aufgaben.7 Früher wurde dies damit begründet, dass die Unterbindung eines Selbstmordes nicht dem Schutz des Selbstmordkandidaten, sondern der öffentlichen Ordnung diene.8 Nach heutiger Begründung besteht eine Pflicht des Staates, das menschliche Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zu schützen.9 Die Polizei darf dem Selbstmord nicht tatenlos zusehen. Sie darf, ohne die Grundrechte des Selbstmordkandidaten einzuschränken, Selbsttötungsversuche mit angemessenen Mitteln verhindern,10 denn sehr oft ist ein Selbstmordversuch ein Hilferuf. Ein Recht auf Selbstmord ist grundrechtlich geschützt, wenn er in freier Selbstbestimmung und ohne Gefährdung Dritter begangen 6

Hollenbach, S. 288. Vgl. BayObLG, NJW 1989, S. 1815 = DÖV 1989, S. 273; BayVerfGH, NJW 1989, S. 1970. 8 Drews, S. 17. Die öffentliche Ordnung „umfasst alle mit der Verfassung kompatiblen Sozialnormen, von denen in einem bestimmten Gebiet die herrschende, d. h. in der Demokratie die Mehrheitsanschauung der Auffassung ist, dass sie für ein geordnetes Zusammenleben unentbehrlich sind“. S. Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 46 ff. 9 Götz, Rn. 109. 10 Götz, Rn. 109. 7

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wird,11 was aber nicht immer der Fall ist und was im Moment der Unterbindung durch die Polizei oft nicht überprüft werden kann.12 Die Polizei muss daher davon ausgehen, dass ein Selbstmordkandidat nicht zurechnungsfähig ist,13 dass sein „Handeln […] nicht vom freien Willen, sondern vom verzweifelten Bedürfnis nach Hilfe gelenkt“ ist.14 Wenn aber klar ist, dass jemand aus ernsthaften Überlegungen und freien Stücken Selbstmord begehen will, darf die Polizei nicht eingreifen.15 Die Polizei ist folglich nicht berechtigt, sich unmittelbar oder mittelbar hindernd dem vom aktuellen Willen des Rechtsträgers getragenen, natürlichen Geschehensablauf entgegenzustellen.16 Der Staat hat nicht die Aufgabe, seine Bürger zu bessern, sondern muss ihre Lebensentscheidungen respektieren.17 Wenn der unheilbare Patient bei völlig klarem Bewusstsein, also freiverantwortlich den Entschluss gefasst hat, im Kreis seiner Familie und in Begleitung eines Arztes sein Leben zu beenden, darf polizeilich nicht eingeschritten werden.18 Es besteht kein legitimer Grund, den Patienten gegen seinen Willen am Leben zu halten.19 Es muss folglich zwischen einer Selbsttötung mit Appellfunktion, bei der der Betroffene seine Umgebung lediglich auf seine verzweifelte Lage aufmerksam machen will, und einem rationalem Bilanzselbstmord differenziert werden.20 Diese Unterscheidung ist von besonderer Bedeutung, weil „derjenige, der eine Selbsttötung mit Appellfunktion vornimmt, zwar den Tod als Folge seines bewusst lebensgefährdenden Verhaltens voraussieht und in Kauf nimmt, aber ihn nicht als Handlungsziel anstrebt, d. h. nicht unbedingt zum Freitod entschlossen ist, vielmehr in Wahrheit gerettet werden will“.21 Nicht der Suizid ist das polizeirechtliche Problem, sondern die Feststellung der mutmaßlich eingeschränkten Einsichtsund Willensfähigkeit (Problem der ambivalenten Selbsttötung).22 Wenn diese Feststellung nicht klar zu treffen ist, muss das Prinzip „in dubio pro vita“ gelten. Ein Dritter kennt meistens entweder den psychischen Hintergrund des Selbstmordes nicht oder kann die Willensfreiheit des Selbstmordkandidaten nicht einschätzen.23 Auch für Familienangehörige und Freunde ist es schwierig zu beurteilen, ob der Selbstmord Ausfluss freier Selbstbestimmung ist oder nicht.24 Ein polizeilicher Zwang zum Leben ist also nur dann unzulässig, wenn die Selbsttötung Ausfluss einer freiverant11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 29. Götz, Rn. 109. Götz, Rn. 109. Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 31. Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 32. Uhlenbruck, ZRP 1986, S. 207 (214 f.). BVerfGE 30, 47 (53). Pieroth/Schlink/Kniesel, § 8, Rn. 33. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212. Hillgruber, S. 87. Hillgruber, S. 87 f. Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 55. Wagner, S. 124. Wagner, S. 124.

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wortlichen Entscheidung ist. Wie sich die Polizei in diesem Dilemma, entweder untätig zu bleiben und damit möglicherweise ihre Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu verletzen oder einzuschreiten und dadurch die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleiste Freiheit zur Selbsttötung zu verletzen, verhalten soll, kann nur durch eine Abwägung dahingehend ermittelt werden, ob der grundrechtliche Anspruch des Selbstmordkandidaten oder die Pflicht des Staates, das Leben zu schützen, vorrangig Erfüllung beansprucht.25 b) Unterbindung durch den Arzt oder Dritte aa) Einfache Tolerierung In den Fällen, in denen Patienten versuchen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie die Hoffnung auf Heilung aufgegeben haben oder sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können, stellt sich die Frage, inwieweit der Arzt oder ein Dritter berechtigt oder verpflichtet ist, das Leben des Suizidenten zu retten. Die Rechtsprechung hatte eine spezielle Selbstmordverhinderungspflicht für alle Garanten für das Leben des Selbstmörders angenommen. Gemäß dieser Rechtsprechung war der die Hinderung Unterlassende als Täter anzusehen.26 Dahinter stand der Gedanke, dass der Selbsttötungswille des Suizidenten den Garanten nicht von seiner Rettungspflicht befreien könne. In einer späteren Entscheidung bejahte der Bundesgerichtshof eine Rettungspflicht für jedermann und erklärte dabei einen Selbsttötungswillen pauschal für unbeachtlich und zwar unabhängig davon, ob der Selbstmörder „gesund oder krank, entschuldbar oder unentschuldbar war, ob der Selbstmörder die durch den Selbstmordversuch entstandene Gefahrenlage noch beherrscht oder ob er sie, etwa weil er inzwischen bewusstlos geworden ist, nicht mehr beherrscht“ oder ob irgendein Sinneswandel sichtbar geworden ist.27 Der Suizidwille wurde aus zwei Gründen für unbeachtlich gehalten: einerseits wegen der Sittenwidrigkeit des Suizids und andererseits wegen der Schwierigkeiten einer rechtzeitigen und zuverlässigen Feststellung der Freiverantwortlichkeit.28 Später entschied der Bundesgerichtshof, dass sich der die Hinderung Unterlassende als Gehilfe strafbar machen könne.29 Gemäß dieser Entscheidung wird der Bereich der straflosen Suizidteilnahme erst dann überschritten, wenn der Garant das zum Tode führende von dem Lebensmüden selbstständig herbeigeführte Geschehen beherrschen wolle. In dieser Hinsicht wird das täterschaftliche Unterlassen im Sinne von § 216 StGB von bloßer Suizidteilnahme abgegrenzt.30 Abgrenzungskriterien sind, „ob der Handelnde die Tat als eigene 25 26 27 28 29 30

Vgl. Hillgruber, S. 89. BGHSt 2, 150 (Leitsatz). BGHSt 6, 147 (153). BGHSt 6, 147 (153). BGHSt 13, 162 (167). BGHSt 19, 135 (138).

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wollte, ob er den Täterwillen, den Willen zur Tatherrschaft oder ein eigenes Interesse an der Tat hat“.31 Der Bundesgerichtshof entschied, dass, wer die Selbsttötung fahrlässig veranlasst, ermöglicht oder fördert, straflos bleibe, wenn er sich im Falle vorsätzlicher Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung auch nicht strafbar machen würde.32 Später entschied der Bundesgerichtshof, dass der Garant dafür einzustehen habe, dass der Tod eines anderen nicht eintritt; er hafte auch bei freiverantwortlicher Selbsttötung grundsätzlich wegen Tötung durch Unterlassen, wenn er nach Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Suizidenten dessen Leben nicht rette, obwohl dies möglich sei.33 Personen ohne Garantenstellung, die bei Selbsttötungsversuchen untätig blieben, machten sich in der Regel wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323 c StGB strafbar.34 Ausnahmsweise entfalle die Strafbarkeit von Garanten und Nichtgaranten, wenn in besonderen Konfliktlagen die Suizidverhinderung auf Grund einer rechtlich vertretbaren Gewissensentscheidung unterbleibe.35 Die weitere Tendenz in der Rechtsprechung war eine zunehmende Respektierung des Selbsttötungswillens. Die Garantenhaftung wurde allmählich verneint, wenn der Selbsttötungswille zum Ausdruck kommt.36 In diesem Sinne sei der untätig bleibende Garant nicht des Totschlags schuldig, wenn er „den freiwillig-ernsthaften Selbsttötungswillen des Schutzbefohlenen achten wolle und sich diesem Willen unterordne[…]“37. Der Garant sei also nicht verpflichtet, den Schutzbefohlenen „bei freiwilligem Handeln vor sich selbst zu schützen“.38 Das gelte auch für den Arzt. Die Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung sei weder als Körperverletzungs- noch als Tötungsdelikt strafbar.39 Aus einer Garantenstellung selbst ergebe sich keine Rechtspflicht, „den anderen am selbstgewollten Ableben zu hindern, sofern sich dieser in freier Willensbestimmung dazu entschlossen hat, dem für ihn erkennbar herannahenden Tod keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen, sondern dem dazu führenden Geschehen seinen Lauf zu lassen“.40 In eine ganz andere Richtung ging dann aber später wieder die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes,41 die den Sterbewillen des Betroffenen für weithin unbeachtlich erklärt und stattdessen auf die ärztliche Eigenverantwortung abstellt. Das Selbst31

BGHSt 19, 135 (138). BGHSt 24, 342 (344). 33 BGHSt 32, 367 (370 ff.). 34 BGHSt 32, 367 (374 ff.). 35 BGHSt 32, 367 (381). 36 Schwurgericht Berlin, JR 1967, S. 269; BGH, NJW 1960, S. 1821 (1822); LG Bonn, MDR 1968, S. 66. 37 OLG Düsseldorf, NJW 1973, S. 2215 (2216). 38 OLG Düsseldorf, NJW 1973, S. 2215 (2216). 39 BGH, NJW 1984, S. 1469. 40 BGH, NStZ 1983, S. 117. 41 BGH, MDR 1984, S. 858; JZ 1984, S. 893. 32

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bestimmungsrecht des Patienten ist nach dieser Rechtsprechung lediglich ein Abwägungsfaktor innerhalb der eigenverantwortlichen ärztlichen Entscheidung. Dem Arzt wird ein Abwägungsermessen eingeräumt. Der Sterbewille des Patienten wird zum bloßen Abwägungsfaktor innerhalb der ärztlichen Entscheidung degradiert.42 Der Patient wird in die Verantwortung des Arztes und zugleich in dessen Verfügungsmacht überstellt.43 Dem Patienten wird kein Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt und seine Selbstbestimmung wird zu einem Faktor bei der vom Arzt zu treffenden Entscheidung degradiert. Diese Rechtsprechung ist Gegenstand scharfer Kritik, weil sie die Straflosigkeit der Suizidbeihilfe unterläuft.44 Die Degradierung der Selbstbestimmung des Patienten steht im Widerspruch zu dem Grundsatz „voluntas aegroti suprema lex“, wonach für Grund und Grenzen des ärztlichen Behandlungsrechts und der entsprechenden Behandlungspflicht in erster Linie der Wille des Patienten maßgeblich ist.45 Dem Arzt bleibt jede Entscheidung über Leben und Tod vorbehalten, mit anderen Worten ein Verfügungsrecht über fremdes Leben. Nicht der Patient, sondern der Arzt entscheidet, was des Patienten Wohl und Pflicht ist. Eine Rechtspflicht zur Verhinderung fremder Selbsttötung besteht grundsätzlich nicht.46 Der Suizid erfüllt keinen Straftatbestand und die Beteiligung kann somit nicht als Teilnahme an der Selbsttötung strafbar sein. Der Arzt oder der Dritte ist also nicht verpflichtet, den Patienten zu überzeugen, von einer Selbsttötung Abstand zu nehmen. Sie müssen den freien Todesentschluss des Patienten respektieren. Es besteht nicht nur keine Rechtspflicht, sondern auch kein Recht, den Patienten zum Weiterleben zu zwingen. Die Selbsttötung kann auch nicht als ein Unglücksfall im Sinne von § 323 c StGB charakterisiert werden und begründet daher grundsätzlich nicht die Pflicht, die erforderlichen Hilfsmaßnahmen zu ergreifen, um das Leben des Suizidenten zu retten.47 Das Sterbenlassen eines Suizidenten begründet also, sofern dies in Respektierung seines freiverantwortlichen Sterbewillens geschieht und dieser außer Zweifel steht, keine Unterlassungsstrafbarkeit, und zwar weder aus Garantenhaftung nach §§ 212, 216, 13 StGB noch wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323 c StGB. Die Garantenpflicht endet, wenn der Schutzbefohlene die Hilfe nicht will.48 Es kann nicht Sinn und Zweck der Garantenpflicht sein, den Garanten zu einem Schutz zu verpflichten, den der andere nicht will. Es erscheint nicht plausibel, von einem Ga42

Eser, MedR 1985, S. 6 (13). Eser, MedR 1985, S. 6 (13). 44 Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (334 ff.). 45 Eser, MedR 1985, S. 6 (13). 46 Schmitt, JZ 1984, S. 866 (868). 47 A. A. Dölling, NJW 1986, S. 1011 (1017), der aber auch ausnahmsweise einen Entfall der Hilfeleistungspflicht anerkennt, wenn die Selbsttötung auf einem ernsthaften und endgültigen Entschluss zum Freitod beruht. 48 Schultz, JuS 1985, S. 270 (271). 43

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ranten ein Verhalten zu verlangen, auf das der andere gar keinen Wert legt, ja welches ihm sogar zur Störung wird und ihn in seinem Willen behindert.49 Dem Beschützgaranten obliegen im Falle eines ausdrücklichen Sterbewunsches keine Rettungspflichten und die entstandene Garantenpflicht erlischt.50 Hinsichtlich der Beachtlichkeit des Todeswunsches eines Suizidenten kann nicht zwischen einem jungen gesunden und einem alten leidenden Menschen unterschieden werden, sofern beide im juristischen Sinne entscheidungsfähig sind. Die generelle Hilfspflicht bei Selbstmordversuchen kann also nicht davon abhängig gemacht werden, ob das Opfer, dessen Rettung noch möglich ist, ein Mensch „in den besten Jahren“, der aus objektiv nichtigem oder unverhältnismäßigem Anlass – etwa aus Verzweiflung über eine zerbrochene Partnerschaft oder aus verletzter Ehre – den Tod sucht oder ein gebrechlicher, ohnehin am Ende seines Lebens stehender Mensch ist, dessen Pflege der Gesellschaft nur noch Mühe und Kosten verursacht.51 bb) Suizidbeteiligung Mit der Eröffnung einer Niederlassung des schweizerischen Vereins Dignitas im Herbst 2005 in Hannover, der den assistierten Suizid propagiert und in organisierter Form ermöglicht, entbrannte die Diskussion um die Suizidbeteiligung neu. Die Tötungstatbestände des deutschen Strafrechts richten sich gegen die Tötung eines anderen Menschen. Die Selbsttötung ist eine tatbestandslose und damit straflose Handlung. Da das deutsche Strafrecht auch keine Bestimmung kennt, die eine Teilnahme am Suizid eines anderen unter Strafe stellt, sind Anstiftung und Beihilfe zu fremder Selbsttötung als solche nicht strafbar.52 Die Beteiligung ist jedoch nur straflos, solange die Teilnahme sich auf die Förderung einer Selbsttötung beschränkt, nicht in die täterschaftliche Fremdtötung übergeht und die Selbsttötung auf einer freien Willensentscheidung beruht.53 Die Strafbarkeit der Beteiligung beginnt erst dort, wo der sich Beteiligende kraft überlegenden Sachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende.54 Entscheidend für die Abgrenzung zwischen strafloser Beihilfe zum Selbstmord und strafbarer Tötung auf Verlangen ist die Frage, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, also ob der Suizident nach dem Tatbeitrag des anderen noch die freie Entscheidung über Leben und Tod hat.55 Eine Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen kommt also nur in Betracht, wenn der Sterbehelfer täterschaftlich handelt. Wenn es um eine bloße Teilnahme geht (An49

Beckert, S. 292. A. A. Herzberg, JA 1985, S. 177 (178). 51 Kutzer, MDR 1985, S. 710 (713). 52 BGHSt 2, 150 (152); 13, 162 (167); 19, (135) 137; 24, 342 (343); 32, 262 (Leitsatz); Tröndle/Fischer, Vor § 211, Rn. 10; a. A. Schmidhäuser, S. 801 (812). 53 Joecks, § 216, Rn. 11. 54 BGHSt 32, 262 (265). 55 U. Neumann, JA 1987, S. 248 ff. 50

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stiftung oder Beihilfe zur Selbsttötung), fehlt es für deren Strafbarkeit an einer tatbestandsmäßigen Haupttat.56 Wenn die Letztentscheidung über die Herbeiführung des Todes beim Betroffenen selbst liegt, ist die Hilfeleistung als straffreie Beihilfe zur Selbsttötung zu qualifizieren. Wenn aber diese Entscheidung in der Hand eines Dritten liegt, ist die Hilfeleistung als strafbare Tötung auf Verlangen zu qualifizieren.57 Die Straflosigkeit der Suizidbeteiligung hat ihre Wurzeln in dem Gedanken, dass die Vernichtung des eigenen Lebens nicht mit Strafe bedroht sein soll. Bereits 1936 hatte das Reichsgericht festgestellt: „Die Selbsttötung ist nicht mit Strafe bedroht. Bestraft wird die Tötung eines anderen Menschen, die Vernichtung eines fremden Lebens“.58 Die Kritik an einem Verein der organisierten Beihilfe zum Sterben ist die folgende: Es bestehe die Gefahr, dass Menschen, die nicht sterbenskrank sind und sich nicht freiverantwortlich zur Selbsttötung durchgerungen haben, sondern auf Grund einer psychischen Erkrankung oder einer objektiv betrachtet vorübergehenden Krisensituation, die Selbsttötung als einzige Ausflucht sehen. Es wird ebenfalls kritisiert, dass „bei dubiosen Organisationen die Gefahr lauert, dass sie die Ware Tod zum Geschäft machen“.59 Gemäß derselben Kritik bedürften Menschen ohne unheilbare Krankheiten oder psychisch Kranke ohne körperliches Leiden unserer Hilfe und nicht einer schnellen Abwicklung ihres Freitodes.60 Die Möglichkeit der aktiven Tötung in Konfliktsituationen öffne die Tür für die Ausübung missbräuchlichen Drucks auf den Patienten, der vielleicht einmal gar aus Kostengründen dazu gebracht werden könnte, sich gegen sein eigenes Lebensrecht zu entscheiden.61 Gegen diese Kritik lässt sich allerdings vorbringen, dass es nicht einzusehen ist, warum, wenn die Tötung eines anderen im Falle des Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten Voraussetzungen straffrei ist (§ 218 ff. StGB), nicht erst recht die Unterstützung – und sei es in organisierter Form – eines Menschen, der seinen eigenen Todeswillen realisieren möchte, straffrei sein sollte.62 Die abstrakte Gefahr der Relativierung des Lebensschutzes im gesellschaftlichen Bewusstsein kann es nicht rechtfertigen, diejenigen zu bestrafen, die Menschen bei der Realisierung ihres freiverantwortlich getroffenen Willens, sich selbst zu töten, in organisierter Art und Weise unterstützen.63 Eine denkbare Kompromisslösung könnte aber darin liegen, eine organisierte Beihilfe zum Suizid nur unter strengen Voraussetzungen zuzulassen. Als Vorraussetzungen kommen hier etwa eine Beschränkung der Unterstützung auf sterbenskranke Menschen, die zuvor unabhängig beraten wurden und bei denen eine freiverantwortliche Entschei56 57 58 59 60 61 62 63

Eser, MedR 1985, S. 6 (7 – 8). Eser, MedR 1985, S. 6 (8). RGSt 70, 313 (315). Heister/Neumann, in einem Interview, Die Welt v. 22. 10. 2005. Heister/Neumann, in einem Interview, Die Welt v. 22. 10. 2005. Wagner, FAZ, 20. 10. 2005, S. 8. S. die Argumentation in Birkner, ZRP 2006, S. 52 (53). Birkner, ZRP 2006, S. 52 (53).

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dung vorliegt, sowie eine Regelung dahingehend, dass diejenigen, die Beihilfe leisten, keine Gewinninteressen verfolgen dürfen, in Betracht.64 In dieser Hinsicht darf die Beihilfe zum Selbstmord auf bestimmte Bereiche beschränkt, prozedural streng eingekleidet und auf bestimmte Personen, z. B. Ärzte, begrenzt werden, ohne dass solche Beschränkungen unverhältnismäßig wären.65 Eine solche Begrenzung der organisierten Beihilfe wäre geeignet, erforderlich und angemessen, um unfreiwillige Selbsttötungen zu verhindern.

3. Resümee Der Patient verfügt über ein Recht auf Selbsttötung, wenn er sich freiverantwortlich für eine solche entscheidet. Soweit Zweifel hinsichtlich der Freiverantwortlichkeit des Patienten bestehen, darf die Polizei oder der Arzt eingreifen (in dubio pro vita). Eingriffe bei Selbsttötungsversuchen sind also gerechtfertigt, wenn der Suizident sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet, die die Freiverantwortlichkeit eines Sterbewillens ausschließt. Würde jedoch die Selbsttötung ausnahmslos verhindert, wäre dies ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Selbsttötung, das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert ist. Eine Suizidbeteiligung als solche ist zulässig, weil die Vernichtung des eigenen Lebens nicht mit Strafe bedroht ist. Die Beschränkung einer organisierten Beihilfe zum Selbstmord ist jedoch geeignet, erforderlich und angemessen, um unfreiwillige Selbsttötungen zu verhindern. Die Anerkennung eines Rechts auf Selbsttötung für den Patienten stellt eine sehr gewichtige Freiheit im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts des Patienten dar. Wenn der Patient über sein Leben frei verfügen darf, darf er auch weniger gewichtige Entscheidungen treffen, etwa diejenige, seine Gesundheit zu schädigen. Dieses „argumentum a majore ad minus“ gilt aber nicht in allen Fällen. Andere wichtige Aspekte, wie die Mitwirkung oder das Unterlassen anderer Personen, die Beeinträchtigung der Rechte Dritter, der Schutz der Volksgesundheit und der öffentlichen Ordnung, können insoweit das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beschränken.

II. Sterbehilfe Der Fortschritt der modernen Medizin ermöglicht nicht nur die Rettung von Leben, sondern trägt oft auch zu einer unnötigen Verlängerung des Leidens bei. Dadurch ergibt sich die Frage, ob und inwieweit die Errungenschaften der modernen Me-

64 65

Birkner, ZRP 2006, S. 52 (53). Kämpfer, S. 363.

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dizin im konkreten Fall genutzt werden sollen.66 Man muss sich häufig fragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll.67 Mit der Forderung eines „menschenwürdigen Sterbens“ verbindet sich oft zugleich die Forderung der individuellen Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Tod. Wohl kein anderes Rechtsgebiet ist auf Grund der abschreckenden Erfahrung aus dem „Dritten Reich“ emotional so belastet wie das der Sterbehilfe.

1. Der Begriff Sterbehilfe ist die absichtliche Herbeiführung des Todes eines Patienten, auf dessen eigenen Wunsch hin oder auf Grund eines Wunsches naher Angehöriger, wenn der Patient seinen Willen nicht äußern kann.68 Es geht um medizinische Maßnahmen, die Todkranken Hilfe und Erleichterung beim und zum Sterben gewähren.69 Die Sterbehilfe ist von der Vernichtung lebenswerten Lebens zu unterscheiden. Ziel der Sterbehilfe ist, unheilbar Leidenden, deren Tod nahe bevorsteht, Beistand im Sterben zu leisten. Dies ist etwas völlig anderes als eine Beendigung vermeintlich minderwertigen menschlichen Lebens.70 Die Sterbehilfe ist in passive (Verzicht auf Behandlung) und aktive Sterbehilfe (aktive Hilfe zum Sterben) zu unterteilen. Ziel der Sterbehilfe ist das Respektieren des Wunsches eines Patienten nach einem natürlichen Sterben im Endstadium einer tödlichen Krankheit.71 Eine weitere Unterscheidung lässt sich hinsichtlich Sterbehilfe im engeren Sinne und im weiteren Sinne vornehmen. Sterbehilfe im engeren Sinne liegt vor, wenn Hilfe geleistet wird, nachdem der Sterbevorgang schon begonnnen hat, der Tod also mit oder ohne Hilfe nahe bevorsteht. Sterbehilfe im weiteren Sinne liegt hingegen vor, wenn jemand am Tode eines Menschen mitwirkt, der zwar noch längere Zeit leben könnte, der aber – tatsächlich oder mutmaßlich – seinem ihm infolge der Krankheit unerträglich erscheinenden Leben ein Ende setzen möchte.72 In diesem Zusammenhang spricht man auch von „Euthanasie“, was ursprünglich auf Griechisch „gutes Sterben“ bedeutete. Die Verwendung des Wortes Euthanasie für das Tötungsprogramm der Nationalsozialisten brachte diesen Begriff in Deutschland jedoch in Misskredit. Wegen der Bedeutungsschwankungen des Begriffs wird im Folgenden nur von Sterbehilfe und nicht von Euthanasie die Rede sein.

Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75. 67 Grimm, FAZ Nr. 35, 11. 02. 2002, S. 48. 68 Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (319). 69 Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (9). 70 Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (9). 71 Deklaration des Weltärztebundes zur Euthanasie (verabschiedet von der Generalversammlung des Weltärztebundes in Madrid/Spanien, Oktober 1987). 72 Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (319). 66

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

2. Die juristischen Fragen Wenn dem sterbenden Patienten auf seinen Wunsch hin oder mit seiner Zustimmung schmerzlindernde Mittel ohne lebensverkürzende Wirkung verabreicht werden, besteht selbstverständlich keine Problematik.73 Fraglich ist, ob das Recht, über das eigene Leben zu verfügen, auf andere übertragen werden darf. Ebenso ist zu untersuchen, ob der Patient den Abbruch einer ärztlichen Behandlung (passive Sterbehilfe) oder sogar aktive Hilfe zum Sterben (aktive Sterbehilfe) verlangen darf.

3. Die Verankerung eines Rechts, in Ruhe sterben zu können Aus dem Recht des Patienten auf Leben folgt ein Anspruch, in Ruhe sterben zu können. Ein urteilsfähiger Sterbender muss selbst über das „Ob“ und „Wie“ einer lebensverlängernden Behandlung entscheiden können. Ein Arzt oder ein Dritter, der den ernstlichen Wunsch nach Behandlungseinstellung achtet, kann auf Grund des grundrechtlich verbürgten Rechts auf Leben des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht wegen eines Tötungsdelikts belangt werden. Die Pflicht und die Berechtigung zu lebensverlängernden Eingriffen finden in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ihre Grenzen.74 Wenn die Fortsetzung des Lebens für den Patienten unerträglich ist, weil ihm z. B. keine Kommunikation mit der Umwelt möglich ist und er nur mit der Hilfe von Maschinen leben kann, ist die Ablehnung eines würdigen Todes mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Zur Würde des Menschen gehört die Ermöglichung eines würdigen Todes.75 Dieses Recht ist in Art. 8 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg76 und Art. 1 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen77 positiviert.78 Aspekte eines würdigen Todes sind das Verhältnis des Sterbenden zu seinem eigenen Tod, eine kleingruppengetragene Umgebung für den Sterbenden und unter Umständen die freie Entscheidung über den Zeitpunkt des eigenen Todes.79 Rechtsvorschriften und Standesregeln, die Ärzte oder Angehörige zwingen, medizinische Behandlungen oder klinische Aufenthalte auch dann fortzusetzen, wenn nach menschlicher Erfahrung ein Zustand eines nur in Restbeständen selbstverantwortlichen Lebens nicht mehr erwartet werden kann, so dass das Leben zur Funktion eines Mensch-Maschine-Systems wird, sind mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar.80 Der Wille eines Patienten, 73

Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (319). Möllering, S. 86. 75 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 54. 76 „Jeder hat das Recht auf Leben, Unversehrtheit und Achtung seiner Würde im Sterben“. 77 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ 78 Eine solche landesverfassungsrechtliche Bestimmung geht aber nicht über das Grundgesetz hinaus, s. Kämpfer, S. 249 m.w. Nachw. 79 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 54. 80 Häberle, in: HStR II, § 22, Rn. 96 f. 74

II. Sterbehilfe

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dem auch nur noch ein Rest eigener Einsichtsfähigkeit zugetraut wird, entscheidet an erster Stelle über die Fortsetzung oder den Abbruch einer Behandlung.81 Gegen den Willen des Patienten darf kein Eingriff vorgenommen und keine medizinische Maßnahme fortgesetzt werden. Wenn der Patient sich in einem Zustand befindet, der seine freie Willensbildung ausschließt, so sind straf- und ordnungsrechtliche Geschichtspunkte zu beachten.82 Es besteht dann grundsätzlich die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.83 Notwendig ist eine rechtliche Differenzierung zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe. Es ist etwas anderes, jemanden sterben zu lassen, als bei der Tötung eines anderen Menschen zu helfen. Es ist selbstverständlich, dass der Patient das Recht hat, in Ruhe sterben zu dürfen. Dieses Recht gilt jedoch nicht immer für eine aktive Beteiligung des Arztes am Tod des Patienten.

a) Passive Sterbehilfe Die passive Sterbehilfe ist der Verzicht auf oder die Unterbrechung von künstlich lebensverlängernden Maßnahmen zum Zweck der Beendigung von Schmerzen und Leid.84 So fällt etwa der gewünschte Abbruch einer Therapie oder die Einstellung der Nahrungsversorgung in den Bereich der passiven Sterbehilfe.85 Es geht also um die „Herbeiführung des Todes durch Behandlungsverzicht“.86 Das Wort „passiv” sagt aus, dass man sich dem Sterbeprozess und der Grundkrankheit gegenüber passiv verhält. Die Beurteilung des Unterlassens von Behandlungsmaßnahmen im Einverständnis mit dem Patienten ist von dem einseitigen Unterlassen der Behandlung durch den Arzt zu unterscheiden. Grundsätzlich ist ein passives Verhalten gegenüber einer Grundkrankheit erforderlich, die ohne medizinische Maßnahmen schneller zum Tod führt.87 aa) Das Unterlassen der Behandlung mit Einwilligung des Patienten Der Patient hat das Recht, darüber zu entscheiden, ob er behandelt werden will oder nicht. Wenn der Patient bei voller Einsichtsfähigkeit eine ärztliche Behandlung ablehnt, entfällt die Behandlungspflicht des Arztes.88 Jede ärztliche Behandlung bedarf der Zustimmung oder Einwilligung des Patienten. Ohne die Zustimmung des Patienten darf der Arzt nicht eingreifen, gleichgültig, ob die Behandlung langfristig ge81 82 83 84 85 86 87 88

Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 54. Corell, in: AK-GG, Art. 2 II, Rn. 42. Corell, in: AK-GG, Art. 2 II, Rn. 42. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rn. 36. Hufen, NJW 2001, S. 849 (851). Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 11. Beckert, S. 25. Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (18).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

sehen für den Patienten selbst von Nutzen wäre und der Rettung seines Lebens diente.89 Eine Behandlung gegen den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten ist nicht erlaubt.90 Die passive Sterbehilfe wird in dem Fall für zulässig gehalten, in dem der Patient einer möglichen Behandlung seine Zustimmung versagt.91 Ein Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten ist nur mit Einwilligung des Patienten zulässig und aus diesem Grund ist es dem Arzt verboten, eine Behandlung ohne Einwilligung des Patienten durchzuführen. Auch wenn das Unterlassen einer Behandlung mit Sicherheit zum Tod des Patienten führen wird, darf der Arzt gegen den vollverantwortlich gebildeten Willen des Patienten nicht handeln.92 Das staatliche Interesse am individuellen und allgemeinen Lebensschutz kann eine Beschränkung des Verfügungsrechts des Patienten grundsätzlich nicht rechtfertigen.93 Der Arzt muss die Entscheidung des Patienten respektieren, „der es ablehnt, einen lebensrettenden Eingriff zu dulden“.94 Es gibt keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis. „Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich sind. Angesichts des bisherige Grenzen überschreitenden Fortschritts medizinischer Technologie bestimmt nicht die Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung die Grenze ärztlicher Behandlungspflicht“.95 In dieser Hinsicht ist das Recht auf den eigenen Tod „tragendes Fundament des Rechts der Heilbehandlung“.96 Der Wille des Patienten hat Vorrang vor der Lebenserhaltungspflicht.97 Nicht nur der Abbruch der Behandlung, sondern auch die Weiterbehandlung bedarf der Einwilligung des Patienten. Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht unerlässlich, weil sie technisch möglich sind.98 Ein Verbot passiver Sterbehilfe wäre nur in besonderen Ausnahmefällen verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn z. B. der Wille des Patienten nicht klar interpretiert werden kann, wenn Zweifel bestehen, dass der Patient seine Entscheidung autonom getroffen hat oder wenn der Patient sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet, die die Freiverantwortlichkeit eines Sterbewillens ausschließt. Es stellt sich aber die Frage, anhand welcher Maßstäbe der Wille des Patienten zu interpretieren ist. Voraussetzung für die Verbindlichkeit der Entscheidung des Patienten ist die vorherige hinreichende Aufklärung des Patienten über die Reihenfolge der Unterlassung der Behandlung durch den Arzt. 89 90 91

Hoerster, in: Aktive Sterbehilfe?, S. 51 (53). BGHSt 37, 376 (378); Verrel, JZ 1996, S. 224 (228). Hoerster, in: Aktive Sterbehilfe?, Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, S. 51

(53). 92 93 94 95 96 97 98

Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (18). Kämpfer, S. 339. BGHSt 32, 367 (378). BGHSt 32, 367 (379 – 380). Geilen, S. 7. Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (20). BGHSt 32, 367 (379 ff.).

II. Sterbehilfe

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Das Tötungsbegehren muss ernstlich sein und nicht aus einer vorübergehenden Laune oder aus einer depressiven Stimmungslage gestellt werden.99 Wenn die Entscheidung des Patienten auf Grund einer vorübergehenden Stimmungslage erfolgt, stellen vorgenommene ärztlichen Maßnahmen keinen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dar. Nur bei einer wohlüberlegten und endgültigen Ablehnung einer Weiterbehandlung durch den Patienten ist ein striktes Behandlungsverbot anzunehmen. In manchen Fällen ist es so, „dass der sich scheinbar sträubende Patient im Grunde doch am Leben bleiben will, sich nur vordergründig wehrt“.100 In dieser Hinsicht ist einwilligungsfähig derjenige, „der in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme [nach vorheriger Aufklärung] einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen“.101 Nur wenn das Selbstbestimmungsrecht feststellbar ausgeübt worden ist, hat dieses Vorrang vor der Lebensschutzverpflichtung des Arztes, anderenfalls gilt der Grundsatz „in dubio pro vita“.102 bb) Das Unterlassen der Behandlung gegen den Willen des Patienten Wenn der Patient mit dem Abbruch der Behandlung nicht einverstanden ist, ist der Arzt verpflichtet, sich um seine Lebenserhaltung zu bemühen. Das Unterlassen der Behandlung gegen den Willen des Patienten stellt einen Verstoß gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Patienten dar. Ein solcher Verstoß liegt sowohl vor, wenn der behandelnde Arzt lebensverlängernde Maßnahme nicht trifft, als auch, wenn Angehörige den Kranken nicht in ärztliche Behandlung geben.103 Der Patient muss z. B. auf die Intensivstation gebracht werden, wenn er dies wünscht und dadurch keine Besserung seines Gesundheitszustandes, aber doch eine Lebensverlängerung erreicht werden kann.104 Anders ist es, wenn eine bestimmte Therapie nicht von der Versicherung des Patienten finanziert wird, der Patient oder seine Verwandten eine Behandlung nicht tragen können, das Krankenhaus nicht über die geeignete Ausrüstung zur Rettung des Patienten verfügt oder wenn der Arzt der Heilung eines anderen Patienten anhand von Kriterien wie Alter, Gesundheitszustand oder Lebensaussichten den Vorrang geben soll.105 Eine Beendigung der Behandlung durch den Arzt ist zulässig, wenn der Kampf um das Leben des Patienten völlig sinnlos geworden ist. Dies wäre z. B. der Fall, wenn ein alter schmerzgeplagter Mann mit einem inoperablen Karzinom, der an einem Kreislaufversagen stirbt, an ein Reanimationsgerät gehängt würde,

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Zum Merkmal der Ernstlichkeit in § 216 StGB s. Tröndle/Fischer, § 216, Rn. 7. Engisch, in: Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod, S. 87 (92 f.). 101 Taupitz, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 9 (10). 102 Ruhl, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 29 (32). 103 Möllering, S. 54. 104 Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (333). 105 Vgl. Nettesheim, VerwArch 2002, S. 315 (341 ff.). 100

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

um so noch eine Stunde länger zu leben.106 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten führt nicht dazu, dass der Arzt den Gedanken an Effizienz und Kosten einer Behandlung und der entsprechenden Arzneimittel beiseite schieben muss,107 denn die technischen und auch finanziellen Ressourcen unseres Gesundheitswesens sind nicht unerschöpflich.108 Auch wenn der Patient die Fortsetzung der Behandlung will, ist somit nicht in jedem Fall garantiert, dass diese auch fortgesetzt wird. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gibt es „keine Rechtspflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis“.109 Eine hohe Bedeutung hat die folgende Problematik: Ein Patient hat statistisch eine höhere Chance zu überleben, wenn er eine sehr teure Operation durchführen lässt. Er verfügt aber nicht über die finanziellen Mittel für die Durchführung der Operation und das Krankenhaus ist nicht bereit, die Operation umsonst vorzunehmen. Noch eindeutiger sind die häufigen Fälle, in denen der Patient geheilt werden will, die finanzielle Möglichkeit dafür hat, aber die Medizin noch keine Möglichkeit zur Heilung entdeckt hat. Alle diese Aspekte liegen außerhalb des Kreises der Selbstbestimmung des Patienten. Die Selbstbestimmung des Patienten betrifft nur solche Bereiche, die der Patient beherrschen kann, z. B. eine Entscheidung über die Fortsetzung oder Nichtfortsetzung einer Therapie, und nicht die Bereiche, die außerhalb des Einflusses des Patienten liegen, z. B. die Ineffizienz der gegenwärtigen Medizin, eine Therapie durchzuführen oder die beschränkten finanziellen Mittel des Patienten, die es ihm nicht erlauben, eine sehr teure Therapie zu bezahlen. Auch muss es für eine künstliche Lebensverlängerung wegen der Knappheit der technischen und auch finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems Grenzen geben.110 cc) Das Unterlassen der Behandlung ohne den Willen des Patienten Schwieriger zu beurteilen ist der Fall, in dem eine Behandlung nicht gegen den Willen des Patienten, sondern ohne den Willen des Patienten unterbleibt, weil dieser entscheidungsunfähig ist. In diesem Fall ist ein ärztlicher Eingriff nicht automatisch gerechtfertigt. Wenn ein Zuwarten noch möglich ist, muss die Entscheidung des Betroffenen eingeholt werden. Die mutmaßliche Einwilligung des einsichtsunfähigen Patienten kann eine Nichtbehandlung nur in Notfällen und nur für die Zeit des Notfalls rechtfertigen. Welche sind aber die Kriterien zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens des Patienten? Normatives Kriterium ist die Unantastbarkeit der Würde des Patienten 106 107 108 109 110

Fall bei Möllering, S. 55, m. w. Nachw. Fiebig, S. 165. Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (333). BGHSt 32, 367 (379). Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 313 (333).

II. Sterbehilfe

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(Art. 1 Abs. 1 GG), die dem ärztlichen Handeln Grenzen setzt. Behandlungsmaßnahmen verletzen die Menschenwürde, wenn sie nicht mehr der Lebenserhaltung dienen, sondern ein protrahiertes Sterben bewirken111 oder wenn die Lebenserhaltung einem „medizinischen Experimentierinteresse[…]“112 dient. Die Medizin hat die Aufgabe, „die aktuellen Lebensqualitäten eines Menschen zu verbessern, nicht […] menschliches Leben sinnlos in Entwürdigung zu verlängern“.113 Ein charakteristisches Beispiel ist hier ein bewusstlos eingelieferter Patient, bei dem zwar eine Wiederbelebung möglich ist, diese ihn aber in ein von Schmerzen gequältes Leben zurückholen würden.114 Wenn ein Patiententestament vorliegt, muss dieses beachtet werden. Wenn kein Patiententestament vorliegt, muss einerseits geprüft werden, ob eine frühere Äußerung des Patienten zu einer Beurteilung führen kann und andererseits muss eine objektive Interessenabwägung stattfinden.115 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist der ärztliche Eingriff auf der Grundlage der mutmaßlichen Einwilligung des Patienten nicht nur auf Fälle vitaler Indikation beschränkt.116 Ärztliche Eingriffe, die dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen, dürfen also nicht nur zur Beseitigung einer gegenwärtigen Lebensgefahr vorgenommen werden.117 Der mutmaßliche Wille des Patienten ist in erster Linie aus den persönlichen Umständen des Patienten, aus seinen individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln.118 Für das ärztliche Handeln ist also entscheidend, wie der Patient selbst entschieden hätte. Objektive Kriterien, das Ermessen des behandelnden Arztes119, die Ansicht des Arztes120, die Beurteilung einer Maßnahme als gemeinhin vernünftig und normal sowie den Interessen eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechend, haben keine eigenständige Bedeutung, sondern dienen lediglich der Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens.121 Der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung entfällt nicht bereits dann, wenn der Arzt es unterlassen hat, den Patienten über eine vorhersehbare, gebotene Operationserweiterung aufzuklären und dadurch die Möglichkeit, eine ausdrückliche Entscheidung des Patienten herbeizuführen, fahrlässig ungenutzt gelassen hat.122 Soweit der mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht, ist eine medizinisch notwendige und 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

Möllering, S. 56 – 68. Möllering, S. 57. Hiersche, MedR 1987, S. 83 (85). Möllering, S. 54, m. w. Nachw. Taupitz, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 9 (11 – 12). BGHSt 35, 246 (249). BGHSt 35, 246 (249). BGHSt 35, 246 (249). BGHSt 37, 376 (378). BGHSt 12, 379 (384). BGHSt 35, 246 (249 – 250); BGH, NJW 1995, S. 204 (205). BGHSt 35, 246 (249).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

unaufschiebbare Behandlung auch in dem Fall unzulässig, in dem die Nichtbehandlung zum Sterben des Patienten führt.123 Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass medizinische Behandlungen gegen den natürlichen Willen auch des einwilligungsunfähigen betreuten Patienten unzulässig sind, weil es keine Rechtsgrundlage dafür gebe.124 Bei solchen Freiheitsbeschränkungen greife der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG ein, so dass es zur Vornahme von Zwangsbehandlungen gegen den Widerstand des Betreuten eines formellen Gesetzes bedürfe.125 Nur wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der Patient anders entschieden hätte, ist davon auszugehen, dass sein hypothetischer Wille mit dem übereinstimmt, was gemeinhin als normal und vernünftig angesehen wird.126 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes127 und des Oberlandsgerichtshofes Frankfurt a. M.128 sind bei der Entscheidungsfindung allgemeine Wertvorstellungen heranzuziehen, falls sich nach sorgfältiger Prüfung keine konkreten Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Patienten finden lassen. Diese Berücksichtigung allgemeiner Wertvorstellungen hat zum Teil scharfe Kritik erfahren.129 In erster Linie wird insoweit bemängelt, dass fremdbestimmte Urteile als Kriterium für die Lebensqualität und den Lebenswert des Patienten herangezogen würden.130 Es bestehe die Gefahr, dass man die individuelle Situation des Patienten nicht beachte und dessen Interessen und Wünschen nicht gerecht werde.131 Man könne auch nicht ausschließen, dass Entscheidungen von finanziellen Erwägungen geleitet würden.132 Es werde ein Einfallstor geschaffen, durch das es dazu kommen könne, dass man „den schmalen Grad des Übergangs von der Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung überschreite[…]“133. Die vorgebrachte Kritik lässt jedoch außer Acht, dass, wenn keine hinreichenden Anhaltspunkte zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens des Patienten vorliegen, keine Alternative besteht.134 Eine entsprechende Entscheidung stellt daher unter den gegebenen Umständen die für den Patienten „bestmögliche Gewährleistung der Selbstbestimmung“135 dar. Problematisch ist aber die Bestimmung der allgemeinen Wertvorstellungen. Jedenfalls ist der Grundsatz „in dubio pro vita“, dass heißt die Präferenz für den Erhalt des eigenen Lebens, zu 123 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75 (78). 124 BGH, FamRZ 2001, S. 149 (151). 125 BGH, FamRZ 2001, S. 149 (150 ff.). 126 BGHSt 35, 246 (250). 127 BGHSt 40, 257 (263); BGH, NJW 1995, S. 204 (205). 128 OLG Frankfurt a. M., NJW 1998, S. 2747 (2748) 129 S. insbesondere Dörner, ZRP 1996, S. 93 ff. 130 Deichmann, MDR 1995, S. 983 (983). 131 Ruhs, S. 108. 132 Dörner, ZRP 1996, S. 93 (95). 133 Ruhs, S. 108. 134 Kämpfer, S. 343. 135 Kämpfer, S. 343.

II. Sterbehilfe

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beachten. Bei der Orientierung an objektiven Wertvorstellungen ist aber ansonsten Zurückhaltung zu üben, insbesondere hat im Zweifel der Schutz des menschlichen Lebens Vorrang vor Überlegungen des Arztes, der Angehörigen oder einer anderen beteiligten Person.136 Der Grundsatz „in dubio pro vita“ ist das wichtigste objektive Kriterium zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten, nicht aber das einzige. Es gibt Situationen, in denen das Interesse zu sterben das Lebensinteresse überwiegt und deshalb von einer mutmaßlichen Zustimmung zu einem Behandlungsabbruch auszugehen ist.137 Bei der Abwägung können hier objektive Kriterien, wie z. B. die Lebenserwartung, das Vorhandensein von Schmerzen oder die Irreversibilität eines Bewusstseinsverlusts, eine Rolle spielen. Entsprechende rechtliche Regelungen, die den Grundsatz „in dubio pro vita“ ausreichend berücksichtigen und nicht auf die Verhinderung der Selbstbestimmung des Patienten abzielen, sind verfassungsrechtlich gerechtfertigt.138 Im Einzelfall kann die Entscheidung über die Zulässigkeit der Sterbehilfe auch davon abhängig gemacht werden, wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient dem Tode ist; je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Wertvorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.139 Der vom Vormundschaftsgericht bestellte Betreuer hat nach § 1901 Abs. 2 S. 1 BGB die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht, muss dabei aber grundsätzlich auch den Wünschen des Betreuten entsprechen, da zu dessen Wohl auch die Möglichkeit gehört, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten (§ 1901 Abs. 2 S. 2 BGB). Der Betreuer ist grundsätzlich an Wünsche auch des einwilligungsunfähigen Patienten gebunden und muss seine Entscheidungen daran ausrichten. Falls er mit ihm nicht mehr kommunizieren kann, muss er alle sonstigen Möglichkeiten ausschöpfen, Wünsche und Vorstellungen des Patienten in Erfahrung zu bringen, z. B. Angehörige, Freunde oder den Hausarzt befragen.140 Soweit die Betreuung so die Wünsche und Vorstellungen des Betreuten verwirklicht, indem sie diese in rechtserhebliche Erklärungen transformiert, ist sie Hilfe zur Selbstbestimmung; soweit sie diesem zu seinem Schutz die rechtliche Anerkennung versagt, ist sie potenzielle Fremdbestimmung und Zwang.141 Das Gesetz räumt in § 1901 Abs. 3 S. 1 BGB dem Betreuer die Möglichkeit ein, den Wunsch des Patienten zu ignorieren, wenn dieser „dessen Wohl zuwiderläuft“. Die Materialien zum Betreuungsgesetz halten einen Wunsch des Betreuten für unverbindlich, wenn der Betreuer damit bei einer klaren

136 137 138 139 140 141

BGH, NJW 1995, S. 204 (205). Kämpfer, S. 346. Kämpfer, S. 347. BGHSt 35, 246 (250); BGH, NJW 1995, S. 204 (205). BT-Drucks. 11/4528, S. 68. BGH, NJW 1967, S. 2404 (2406).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Selbstschädigung helfen würde.142 Die Zwangsbehandlung soll zulässig sein, wenn der Betreute auf Grund seines geistigen Zustands seine Behandlungsbedürftigkeit nicht erkennen kann und deshalb z. B. seine Zustimmung zu einer lebensnotwendigen Behandlung verweigert.143 Eine verfassungskonforme Auslegung des Betreuungsgesetzes führt dazu, dass das Hinwegsetzen über die Wünsche des Betreuten nur dann zulässig ist, wenn der Wunsch nach Selbstschädigung auf demselben Grund beruht, der die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ausschließt.144 Wenn dies nicht der Fall ist, ist es unzulässig, sich über den Willen des Betreuten hinwegzusetzen, weil der bestellte Betreuer im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Vorstellungen des Betreuten nicht bewerten kann.145 Das Betreuungsrecht hat nicht den Sinn, die Patienten in besonderem Maße zu disziplinieren.146 dd) Die vormundschaftsgerichtliche Entscheidung über den Behandlungsabbruch In dem Fall, in dem bei einer Untersuchung des Gesundheitszustands, einer Heilbehandlung oder einem ärztlichen Eingriff die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren Schaden erleidet, bedarf die Einwilligung des Betreuers oder eines Bevollmächtigten gemäß § 1904 BGB grundsätzlich der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. Diese Regelung ist auf Grund der Gefahr eines unkontrollierten Zusammenwirkens von Betreuer und Arzt entstanden.147 Fraglich ist, ob auch der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung bedarf. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes148 und des Oberlandsgerichtshofes Frankfurt a. M.149 ist der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen in entsprechender Anwendung des § 1904 BGB vormundschaftsgerichtlich zu genehmigen. Die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung ist gemäß dieser Rechtsprechung notwendig, „wenn die ärztliche Maßnahme in der Beendigung einer bisher durchgeführten lebenserhaltenden Behandlung besteht und der Sterbevorgang noch nicht unmittelbar eingesetzt hat. Wenn schon bestimmte Heileingriffe wegen ihrer Gefährlichkeit der alleinigen Entscheidungsbefugnis des Betreuers entzogen sind, dann muss dies um so mehr für Maßnahmen gelten, die eine ärztliche Behandlung beenden sollen und mit Sicherheit binnen kurzem zum Tode des Kranken führen“.150 Dies lässt sich damit be142

BT-Drucks. 11/4528, S. 67, 133 ff. BT-Drucks. 11/4528, S. 141, 72. 144 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75 (83). 145 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75 (83). 146 Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1904, Rn. 14. 147 Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1904, Rn. 1. 148 BGHSt 40, 257 (261 f.). 149 OLG Frankfurt a. M., NJW 1998, S. 2747 ff. 150 BGHSt 40, 257 (261 f.). 143

II. Sterbehilfe

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gründen, dass der Tod eine viel zu ernste Sache ist, um eine entsprechende Entscheidung allein Medizinern, Betreuern oder Bevollmächtigten zu überlassen. Dies gilt vor allem, wenn diese Personen den wahren Willen des Patienten nicht erfragen können und daher auf Mutmaßungen angewiesen sind.151 Die Gefahr eines Missbrauchs seitens der Ärzte, Betreuer oder Bevollmächtigten ist zu groß. Auch mögen letztere sich von der Regelung eine Entlastung in ihrer Verantwortung auf diesem stark emotional aufgeladenen Gebiet erhoffen.152 Es besteht somit eine hohe Erwartung und ein hohes Vertrauen gegenüber dem Richter, dem zugetraut wird, die schwierige Entscheidung zwischen Leben und Tod zu kontrollieren und zu beurteilen.153 So wird der Richter, ohne dass dieser dafür ausgebildet wäre, ein „deus ex machina“, mit dessen Einschaltung sich existenzielle Lebensprobleme im Einzelnen lösen lassen sollen.154 Die Genehmigungsvoraussetzung ist aber mit erheblichen Nachteilen verbunden. Das Vormundschaftsgericht hat in der Regel kaum nähere sachliche und persönliche Kontakte zu dem Betreuten. Diese Distanz kann einerseits die sehr wichtige Objektivität fördern. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass die konkrete Situation des Patienten nicht ausreichend gewürdigt wird. Es ist nämlich umstritten, ob das Vormundschaftsgericht in der Lage ist, als „Vertrauensperson des Staates“ oder als Vertrauensperson des Patienten die Einwilligung des Patienten zu überprüfen.155 Bei der Entscheidung eines Gerichts über den Behandlungsabbruch besteht die Gefahr, dass der Richter zu einem „Richter über Leben und Tod“ wird. Es ist der deutschen Rechtsordnung aber völlig fremd, den Richter zum Herrn über Leben und Tod zu bestimmen.156 Das Gericht kann zudem auch nach Einholung eines Gutachtens und der Gewinnung eines persönlichen Eindrucks nicht sicher feststellen, ob z. B. die beabsichtigte Einstellung der Ernährung dem Wohl des Betroffenen entspricht.157 Würde der Richter entsprechende Entscheidungen treffen, würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen es übernähmen, „über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden, ohne deren Willen auch nur annähernd verlässlich zu kennen bzw. dabei gegebenenfalls sogar deren Willen ignorier[ten]“.158 Die notwendige Beurteilung muss heute meist im organisierten Massenbetrieb eines modernen Krankenhauses vorgenommen werden. Neben den behandelnden Ärzten soll noch ein Spezialist ausfindig gemacht und hinzugezogen werden. Dies scheitert freilich meist, zumal auch die Deckung der nicht unerheblichen Mehrkosten Probleme bereitet.159 Ärzte und Naturwissenschaftler sollten ihre Beobachtungsme151 152 153 154 155 156 157 158 159

Eser, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, S. 21. Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1124). Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1125). Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1125). Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1124). Dodegge, NJW 1997, S. 2425 (2432). Dodegge, NJW 1997, S. 2425 (2432). Bernsmann, ZRP 1996, S. 87 (92). Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1127).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

thoden und Feststellungen der Patientenautonomie stärker auf allgemeine, objektiv nachprüfbare Grundlagen stellen.160 Statt des Vormundschaftsgerichts wäre ein im Krankenhaus zu gründendes Ethik-Konzil, das aus mehreren Ärzten und Naturwissenschaftlern besteht, kompetenter, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Das oben angesprochene Problem würde aber auch so nur teilweise gelöst, da es auch hier dazu kommen würde, dass jemand die Rolle des „Richters über Leben und Tod“ übernehmen würde. Vielleicht ist der Arzt für die Übernahme einer solchen Rolle besser ausgebildet, aber die distanzierte richterliche Überprüfung ist auch mit einigen Vorteilen verbunden. Eine Alternative wäre daher ein Ethik-Konzil im Krankenhaus, das sowohl aus Ärzten und Philosophen als auch aus Richtern besteht. Aber auch in diesem Fall würde jemand anderes für den Patienten entscheiden und die Rolle des Richters über Leben und Tod übernehmen. Dieses Problem wäre nur dadurch zu vermeiden, dass der Patient verpflichtet würde, ein Patiententestament anzufertigen. Eine solche Verpflichtung würde aber auch einen ganz erheblichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten darstellen. Der Patient hat das Recht, sich überhaupt nicht mit schwierigen Fragen und Konfliktlagen den Zeitpunkt betreffend, in dem er einwilligungsunfähig sein wird, zu befassen. Wenn der Patient sich aber überhaupt nicht mit solchen Fragen beschäftigt, wie können dann der Arzt oder der Richter entscheiden, ohne den Willen des Patienten zu kennen? Die Nichtbeschäftigung mit solchen Themen ist gewiss ein Recht des Patienten, aber auch ein Argument dafür, dass der Patient überhaupt nicht sicher ist, ob er in einer bestimmten Situation sein Leben beenden will oder nicht. Und wenn der Patient nicht sicher ist, wie kann dann ein Dritter sicher sein? In diesem Fall muss der Grundsatz: „in dubio pro vita“ gelten. Eine mögliche Verringerung des Dilemmas des Betreuers hinsichtlich der passiven Sterbehilfe könnte durch die Förderung (ohne Verpflichtung) eines Patiententestaments erreicht werden.161 Im Lichte des Selbstbestimmungsrechts des Patienten darf der Richter nur die Entscheidung des Betreuers daraufhin kontrollieren, ob diese mit dem zumindest mutmaßlichen Willen des Betreuten übereinstimmt und somit keine eigene Entscheidung über Leben und Tod des Betreuten treffen.162 Er übt nur ein „Wächteramt“163 aus. 160

Müller-Freienfels, JZ 1998, S. 1123 (1127). Vgl. auch Kusch, NJW 2006, S. 261 (262 ff.), der eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe vorschlägt, wenn bei unaufhaltsamem tödlichen Krankheitsverlauf ein notariell beglaubigter Sterbewille vorläge. Zur Begründung trägt Kusch vor, dass „der Rechtsstaat (…) eine eigenverantwortliche Entscheidung seiner Bürger und Dispositionen über seine höchstpersönlichen Güter nicht einfach ignorieren (darf)“ und dass „der Staat […] den Wunsch eines Todkranken nach Hilfe beim Sterben zu respektieren hat“ (FAZ, 12. 10. 2005, S. 4). Kusch schlägt vor, einen neuen § 217 StGB einzufügen, mit dem bestimmt werden soll, dass die durch einen Arzt vorgenommene aktive Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen nicht den Tatbestand des § 216 StGB verwirkliche [NJW 2006, S. 261 (262 ff.)]. Inzwischen gibt es einen gemeinsamen Gesetzesvorschlag der Länder Saarland, Thüringen und Hessen zur Einführung eines neuen § 217 ins StGB, der die geschäftsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung verbieten soll (BR- Drucks. 230/06). 162 AG Hanau, BtPrax 1997, S. 82 f. 161

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§ 1904 darf ebenfalls nicht angewendet werden, wenn der Abbruch von lebensverlängernden Maßnahmen vom aktuellen Willen des selbstbestimmungsfähigen Patienten geprägt wird.164 Das Vormundschaftsgericht sollte nur in Dissensfällen eingeschaltet werden. Nur so kann das Selbstbestimmungsrecht des Patienten befriedigt werden und auch eine Bürokratisierung des Sterbens in Krankenhäusern vermieden werden.165 b) Aktive Sterbehilfe Aktive Sterbehilfe ist Tötung auf Verlangen oder die absichtliche Beschleunigung des Sterbevorgangs.166 Es geht um eine „bewusste Einwirkung mit lebensverkürzenden Maßnahmen zur Beendigung von Schmerzen und Leid“.167 Bei der aktiven Sterbehilfe wird durch Einflussnahme auf den Krankheitsprozess eine Lebensverkürzung bewirkt.168 aa) Abgrenzung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe Wenn strafrechtlich ein Tun gegeben ist, so liegt eine aktive Sterbehilfe vor, bei einem strafrechtlichen Unterlassen dagegen eine passive Sterbehilfe. Wenn z. B. ein Patient mit einer Injektion getötet wird, handelt es sich um aktives Tun (aktive Sterbehilfe), wenn der Arzt eine Behandlung nicht aufnimmt, geht es um Unterlassen (passive Sterbehilfe).169 Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen als Trennlinie zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ist jedoch umstritten. Gemäß dem so genannten kausalen oder naturalistischen Handlungsbegriff ist die Handlung ein willensgetragenes Verhalten, wobei Verhalten der Oberbegriff für eine Körperbewegung und die Unterlassung einer Körperbewegung sein soll.170 Der kausale oder Handlungsbegriff erfüllt die Zurechnungs- oder Initialfunktion, weil er ein Element angibt, das geeignet ist, als Ursache in den Kausalzusammenhang eingesetzt zu werden, den man einer Person zurechnen will.171 Beim Begehungsdelikt wählt man zweckmäßigerweise eine Körperbewegung, von der feststeht, dass der Täter sie beherrscht.172 In dieser Hinsicht ist der Druck auf den Knopf eines lebensrettenden Beatmungsgerätes ein kausales Tun

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Spickhoff, NJW 2000, S. 2297 (2301). Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1904, Rn. 38. 165 Heßler, in: Die Patientenverfügung, S. 40 (49). 166 v. Lutterotti, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 1086 f. 167 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rn. 36. 168 Antoine, S. 30. 169 Antoine, S. 32. 170 S. Darstellung von Puppe, in: Nomos Kommentar – StGB, Vor. § 13, Rn. 41 m. w. Nachw. 171 Puppe, in: Nomos Kommentar – StGB, Vor. § 13, Rn. 41. 172 Puppe, in: Nomos Kommentar – StGB, Vor. § 13, Rn. 41. 164

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

für den Tod des Patienten und als solcher wird er als aktive Sterbehilfe betrachtet.173 Gemäß diesem Kausalitätskriterium begeht der Arzt, wenn er etwa ein Beatmungsgerät ausschaltet, Totschlag durch aktives Tun, wenn der Patient ohne den Knopfdruck mindestens eine Sekunde länger gelebt hätte.174 Diese Abgrenzung erscheint formalistisch, da die moderne Technik die Möglichkeit bietet, Handeln und Unterlassen willkürlich zu vertauschen.175 Vor Einführung des Beatmungsgeräts hätte der Arzt nicht durch das Drücken eines Knopfes dasselbe abgestellt, sondern er hätte manuelle Rettungsversuche abgebrochen.176 Gemäß dem Kausalitätskriterium wird folglich auf Grund der Möglichkeiten der modernen Technik das gleiche Ergebnis (Abbruch der Behandlung) inkonsequenterweise anders bewertet, wenn es die Form eines Abbruchs per Knopfdruck (aktive Sterbehilfe) oder einer bloßen Einstellung der Weiterbehandlung (passive Sterbehilfe) hat. Anders als bei naturalistischen Theorien wird gemäß den normativen Theorien die Abgrenzung von Tun und Unterlassen als „Wertungsfrage“177 verstanden. Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen soll danach entschieden werden, wo bei normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinnes der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt.178 Wichtig ist die soziale Relevanz menschlichen Tuns oder Unterlassens.179 Das wird besonders deutlich, wenn der behandelnde Arzt oder ein Dritter (z. B. Ehepartner) das Beatmungsgerät eines Patienten ausschaltet. Wenn das Abschalten des Beatmungsgerätes durch den mit der Behandlung befassten Arzt oder auf seine Anordnung durch das ärztliche Hilfspersonal erfolgt, liegt gemäß dem sozialen Handlungssinn ein Unterlassen. Der Bundesgerichtshof hat folglich die Anordnung eines Arztes und eines Pflegers, dass einer komatösen Patientin über eine Sonde keine Nahrung, sondern nur noch Tee verabreicht werden sollte, was zum baldigen Tod geführt hätte, als Unterlassung bewertet.180 Wenn aber ein unbefugter Dritter das Beatmungsgerät abschaltet, wird das Abschalten als eine vorsätzliche Tötung in Form des Begehungsdelikts betrachtet, weil das Verhalten des Dritten sich im aktiven Tun erschöpft und vom sozialen Sinngehalt her in keiner Weise das Unterlassen einer Leistung für das Opfer impliziert.181 Hinter der Unterscheidung gemäß 173

Bockelmann, S. 119. Baumann/Weber/Mitsch, § 15, Rn. 33. 175 Seelmann, in: AK-StGB, § 13, Rn. 23. 176 Seelmann, in: AK-StGB, § 13, Rn. 23. 177 Wessels/Beulke, Rn. 700. 178 BGHSt 6, 46 (59); BGH, NStZ 99, S. 607. 179 Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, Vor. § 13, Rn. 33/ 34. 180 BGH, NJW 1995, S. 204 (205). 181 BGHSt 40, 257; 42, 301; 46, 279. Die Rechtsprechung ist aber in diesem Bereich nicht konsequent. In dem Fall, wo ein Ehemann bei seiner Ehefrau das Beatmungsgerät auf deren ausdrücklichen Wunsch hin abgestellt, lässt das LG Ravensburg die Frage offen, ob hier ein Fall von aktiver Sterbehilfe gegeben war, da es die Tat jedenfalls als gerechtfertigt ansah [LGRavensburg, MedR 1987, S. 196 (199)]. Gemäß den normativen Theorien sollte das Abschalten seitens eines Dritten als aktive Sterbehilfe betrachtet werden. Roxin beurteilt auch diesen Fall 174

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dem sozialen Handlungssinn versteckt sich eine „prämoralische und präjuristische Intuition“,182 die zu einer Ergebnisoffenheit führt. Eine solche Intuition kann nicht zu einem klaren Abgrenzungskriterium führen. Konsequenteres Abgrenzungskriterium im Falle der Sterbehilfe ist die Einwilligung des Patienten per se. Wenn es um eine fortlaufende Leistung des Arztes geht, muss der Arzt bei einem Veto die Behandlung einstellen. In diesem Fall scheidet die Tötung des Patienten durch den Arzt oder eine dritte Person aus, weil eine strafrechtlich gebotene Lebenserhaltung gegen den Willen des Patienten nicht besteht.183 Hier geht es um einen Fall passiver Sterbehilfe. Wenn der Arzt den Zustand des Organisationskreises des Patienten nicht verbessert, weil der Patient dies nicht will, dann liegt also ein Fall passiver Sterbehilfe vor. Wenn aber der Arzt den Bestand des Organisationskreises auf Verlangen des Patienten verkleinert, wenn er z. B. dem schwerleidenden Patienten auf dessen dringenden Wunsch hin eine tödliche Injektion verabreicht oder einen vergleichbaren Eingriff vornimmt,184 dann handelt es sich um aktive Sterbehilfe.185 Entscheidend ist also nicht, „ob der Arzt mit tödlicher Folge ,etwas tut, sondern ob er […] unmittelbar [auf] ,de[n] Patienten, also physisch direkt [auf] diesen selbst und nicht bloß auf eine Maschine einwirkt“.186 Wenn der Arzt untätig zusieht, wie aus dem ihm zugeordneten Organisationskreis schädliche Wirkungen, die er nicht selbst veranlasst hat, nach außen dringen, dann geht es um Unterlassung, wenn aber der Arzt diese Wirkungen aktiv veranlasst, geht es um Tun.187 Dieses Abgrenzungskriterium orientiert sich an den normativen Theorien, weil entscheidend nicht das phänotypische Handeln oder Unterlassen, sondern das Geschehenlassen oder die aktive Einwirkung auf den Patienten ist. Es unterscheidet sich jedoch von diesen, weil nicht fallweise nach dem Schwerpunkt der Handlung, dem sozialen Handlungssinn, entschieden wird, sondern ein einheitliches Kriterium für alle Fälle der Sterbehilfe vorgeschlagen wird.

als passive Sterbehilfe, mit der Argumentation, dass der Behandlungsabbruch auf Wunsch des Sterbenden jedem gestattet sein muss, der Adressat dieser Patientenerklärung ist [Roxin, NStZ 1987, S. 345 (350)]. Es ist jedoch strafrechtlich dogmatisch nicht klar, warum bei dem Ehemann, der im Gegensatz zum Arzt oder Pflegepersonal nicht die umfängliche Behandlungspflicht übernommen hat, in deren Kontext das Abschalten die Beendigung eigener Rettungsbemühungen darstellt, ebenfalls ein Unterlassen gegeben ist (Antoine, S. 39). 182 Antoine, S. 184. 183 Jakobs, in: FS Schewe, S. 72 (76). 184 Tröndle, in: FS Göppinger, S. 595 (603). 185 Jakobs, in: FS Schewe, S. 72 (77). 186 Merkel, S. 245. 187 Merkel, S. 246.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

bb) Die gesetzliche Wahl: Das Verbot der Tötung auf Verlangen Gemäß § 216 StGB ist die Tötung auf Verlangen strafbar. Ziel dieser Vorschrift ist es, Missbrauch, Manipulation oder subtiler Beeinflussung nicht sterbewilliger Patienten und ganz allgemein einer Lockerung des Fremdtötungstabus vorzubeugen. Bedenken gegen die aktive Sterbehilfe, die ihr Verbot rechtfertigen könnten, sind die Folgenden: (1) Fehleinschätzung Die Möglichkeit der unerwarteten Heilung ist in die Überlegungen um eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe mit einzubeziehen. Die Prognose über die Irreversibilität einer Krankheit kann nicht sicher getroffen werden, sondern beruht nur auf Wahrscheinlichkeiten. Zwar nimmt die Wahrscheinlichkeit der Reversibilität mit den Jahren ab, jedoch gibt es keinen Zeitpunkt, von dem ab sie als unmöglich zu bezeichnen wäre.188 Wenn die Diagnose falsch ist und der Patient über die Unheilbarkeit informiert wird, kann es dazu kommen, dass er seinen Tod verlangt, um sein vermeintlich aussichtsloses Leiden abzukürzen. Die immer bestehende Möglichkeit einer Fehldiagnose spricht gegen die Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen, weil damit zu rechnen ist, dass sie auch „unnötige Opfer“ fordern wird.189 Eine Diagnose ist statistisch betrachtet niemals 100 % richtig. Es gibt immer erstaunliche Ausnahmen, in denen ein eigentlich längst aufgegebener Kranker wieder gesund wird.190 Zudem muss berücksichtigt werden, dass neue Heilungsmöglichkeiten entwickelt werden können.191 Die Geschichte der Medizin kennt viele Beispiele von unerwarteten Durchbrüchen, die todgeweihte Patienten in ein langes und erfülltes Leben zurückholten. Soweit allerdings argumentiert wird, dass bei der aktiven Sterbehilfe die Entscheidung, die auf einer Fehleinschätzung beruht, unumkehrbar sei, während bei der passiven Sterbehilfe die Möglichkeit bestehe, dass sich der Zustand des Patienten ohne die Durchführung von medizinischen Maßnahmen zum Positiven wende,192 muss Folgendes festgestellt werden: Auch bei der passiven Sterbehilfe verringern sich bei einer Fehldiagnose die Überlebenschancen eines Patienten, da dieser ja früher stirbt. Es besteht also insoweit kein prinzipieller Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, sondern nur ein gradueller193, der allein ein Verbot der aktiven Sterbehilfe nicht zu rechtfertigen vermag.

188 189 190 191 192 193

Dörner, ZRP 1996, S. 93. Vgl. Singer, S. 197 f. Möllering, S. 97 m. w. Nachw. Schadewaldt, in: Euthanasie, Probleme der Sterbehilfe, S. 11 (30 f.). Vgl. Höfling, JuS 2000, S. 111 (113). Antoine, S. 190.

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(2) Verstoß gegen das ärztliche Ethos und Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patienten und Arzt Das „nil nocere“ des Hippokratischen Eides, das Verbot, ohne Heilungs-, sondern mit Schädigungsabsicht tätig zu werden, steht der aktiven Tötungshandlung entgegen. Der Hippokratische Eid wurde jedoch durch den so genannten Ärzte-Eid abgelöst; er erfuhr durch das „Genfer Gelöbnis“ des Weltärztebundes von 1947 eine Modernisierung. So heißt es nunmehr: „Ich werde die äußerste Achtung vor dem menschlichen Leben, von der Empfängnis an, bewahren und selbst unter Bedrohung meine ärztlichen Kenntnisse nicht in Widerspruch zu den Gesetzen der Menschlichkeit verwenden.“194 Diese Formel lässt einen viel weiteren Spielraum als der Hippokratische Eid. Eine Auslegung der Genfer Formel zugunsten einer Erlaubnis der aktiven Sterbehilfe ist nicht von vornherein durch einen entgegenstehenden Wortlaut verwehrt. Das rigorose Schädigungsverbot hat also eine Aufweichung erfahren, die auf allgemeine Akzeptanz stößt. Schließlich wäre es sonst auch nicht möglich, Sterilisationen oder Eingriffe im Rahmen der kosmetischen Chirurgie vorzunehmen. Auch hier werden Schädigungen im Sinne eines nicht heilenden Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit vorgenommen.195 Es erscheint daher nicht richtig, im Falle der aktiven Sterbehilfe isoliert auf das dadurch vollzogene schädigende Ereignis zu verweisen und daraus einen Verstoß gegen das Berufsethos abzuleiten. Die Ärzteschaft könnte jedoch einen Vertrauensverlust erleiden, wenn sie sowohl als Lebensretterin als auch als Tötende auftreten würde. Für viele Patienten, insbesondere für alte, hilflose und einsame Menschen, ist der Arzt häufig die einzige Vertrauensperson. Sie erfahren den Arzt als Menschen, dem sie ihre Sorgen anvertrauen können und der stets zu ihrem Besten handelt.196 Allein das Wissen darum, dass Ärzte auch mit der Todesspritze an einem Krankenbett stehen dürfen, könnte verheerende Konsequenzen haben. Der Patient könnte befürchten, dass jede Injektion, jedes Medikament auf seinen Tod abzielt. Insbesondere den Patienten, der sich auf Grund einer schweren Behinderung nutzlos vorkommen mag, könnte diese Angst befallen. Auch Behinderungen, die zu bleibender Arbeitsunfähigkeit führen, könnten Anlass für den Leidtragenden sein, sich die Frage nach seiner Existenzberechtigung zu stellen. Ziel einer freiheitlichen Gesellschaft kann aber nicht eine auftauchende Frage nach der eigenen Existenzberechtigung sein. Der Sinn der Grundrechte ist nicht, dass der Einzelne sich stets fragen muss, ob er sie tatsächlich in Anspruch nehmen darf, sondern es handelt sich um Rechte, die bedingungslos zugestanden werden.197 Diesbezüglich muss jedoch betont werden, dass die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Arzt durch die aktive Sterbehilfe nicht zwingend ist. Gemäß der Präambel der Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbe194 195 196 197

Schadewaldt, in: Euthanasie, Probleme der Sterbehilfe, S. 11 (19). Beckert, S. 250. Beckert, S. 251. Beckert, S. 254.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

begleitung198 hat der Arzt unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten neben der Erhaltung von Gesundheit und Leben auch Leiden zu lindern, Sterbenden bis zum Tod beizustehen und Sorge für ein dem Selbstverständnis des Patienten gerecht werdendes Sterben zu tragen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht nicht unter allen Umständen. Der Patient hat zu einem Arzt, von dem er weiß, dass dieser ihm auch bei seinem Wunsch zu sterben helfen würde, vielleicht sogar größeres Vertrauen. Wenn also die aktive Sterbehilfe strikt am Patientenwillen orientiert erfolgt, wird das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Arzt nicht untergraben.199 Das Verbot aktiver Sterbehilfe kann sogar zu einem Vertrauensverlust beitragen, wenn der Patient dieses Verbot als mangelnde Akzeptanz seiner eigenen Wünsche hinsichtlich der Gestaltung seines Lebensendes interpretiert.200 (3) Ausübung von Druck auf lebenswillige Patienten Die Gefahr, dass Lebenswillige unter Druck gesetzt werden könnten, ist ernst zu nehmen. Patienten könnten sich schuldig fühlen, wenn sie von der Möglichkeit, einen Todeswunsch zu äußern, keinen Gebrauch machen und somit ihre Umwelt von der durch sie entstehenden Bürde bewusst nicht erlösen würden. Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe könnte ein Klima schaffen, in dem für pflegebedürftige Patienten die Entscheidung zum Sterben zur moralischen Pflicht würde. Es muss allerdings festgestellt werden, dass die Gefahr, dass Angehörige, Ärzte oder Krankenkassen aus ökonomischen oder anderen Gründen Verfügungsrechte über das eigene Leben dazu missbrauchen, um mit Hilfe eines durch Manipulation erschlichenen Einverständnisses das Leben eines Patienten zu beenden, auch bei der passiven oder indirekten Sterbehilfe existiert.201 Dass die aktive Sterbehilfe tatsächlich nur mit Einverständnis des Patienten geleistet würde, könnte durch Kontrollorgane bzw. Ethik-Kommissionen sichergestellt werden. Die Ethik-Kommissionen könnten vor und nicht nach der Leistung der Sterbehilfe, z. B. durch psychologische Tests, kontrollieren, ob der Sterbewille Ergebnis der Ausübung von Druck auf den Patienten ist. (4) Dammbruchargument Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe birgt eine weitere Gefahr. Es erscheint möglich, dass es nicht bei der aktiven Sterbehilfe auf Wunsch des Kranken bleiben würde, sobald die aktive Sterbehilfe erst einmal rechtlich erlaubt wäre. Es könnten bald Forderungen nach der Freigabe von Tötungen in anderen Situationen laut werden. Zu befürchten ist, dass als nächster Schritt die unfreiwillige Sterbehilfe oder Tö198 199 200 201

NJW 1998, S. 3406. Antoine, S. 297. Wiesing, in: Das medizinisch assistierte Sterben, S. 229 (239). Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 149.

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tung von unheilbar Kranken oder Behinderten gefordert würde.202 In diesem Zusammenhang wird häufig aufgezeigt, wie sich die Ausweitung der Tötungsgenehmigung bei den Nationalsozialisten vollzog oder welche Auswirkungen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden203 hat.204

202

Giesen, JZ 1990, S. 929 (935). Am 28. 11. 2000 stimmte die zweite Kammer und am 10. 04. 2001 die erste Kammer des niederländischen Parlaments für das „Gesetz zur Überprüfung bei Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung“ (GÜL). Als erster Staat nahmen die Niederlande damit eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe vor. Mit Art. 20 GÜL wurden den Straftatbeständen hinsichtlich der Tötung auf Verlangen bzw. der Hilfe zum Selbsttötung (Art. 293, 294 des nlStGB) jeweils ein identischer spezieller Strafausschließungsgrund hinzugefügt. Danach ist ein Arzt nicht zu bestrafen, sofern er den in dem GÜL definierten Sorgfaltsanforderungen Genüge tut und er sein Handeln dem Leichenbeschauer der Gemeinde gemäß den Bestimmungen des Gesetzes über die Leichenbestattung meldet. Gemäß der Sorgfaltsanforderungen (Art. 2 I a-f GÜL) muss der Arzt: - „zur Überzeugung gelangt sein, dass ein freiverantwortliches und wohlüberlegtes Verlangen des Patienten vorliegt, - zur Überzeugung gelangt sein, dass ein aussichtloses und unerträgliches Leiden vorliegt, - den Patienten über seine Situation und seine Aussichten informiert haben, - mit dem Patienten zur Überzeugung gekommen sein, dass es für diesen in seiner Situation keinen anderen Ausweg gibt, - mindestens einen weiteren unabhängigen Arzt hinzugezogen haben, der den Patienten untersucht und sich ein Urteil gemäß der vorgenannten Sorgfaltsanforderungen gebildet hat, - die Lebensbeendigung oder Hilfe bei der Selbsttötung medizinisch sorgfältig durchgeführt haben.“ [S. Systematisierung des Gesetzes von Janssen, ZRP 2001, S. 179 (181).] Gemäß Art. 7 II des Gesetzes über die Leichenbestattung gibt der behandelnde Arzt keine Totenerklärung ab, sondern macht unverzüglich durch ein ausgefülltes Formular hinsichtlich der Todesursache dem oder einem der Leichenbeschauer der Gemeinde Mitteilung. Dieser Mitteilung fügt der Arzt einen begründeten Bericht hinsichtlich der Einhaltung der Sorgfaltsanforderungen des Art. 2 GÜL hinzu. S. Janssen, ZRP 2001, S. 179 ff. 204 Am 19. Februar 2008 hat die Abgeordnetenkammer des Großherzogtums Luxemburg die Gesetzentwürfe zu Palliativpflege, Patientenverfügung und Sterbebegleitung (s. http:// www.chd.lu/archives/ArchivesPortlet?action=list unter Dossier parlementaire 5584) und dem Gesetzentwurf zur Sterbehilfe (s. http://www.chd.lu/archives/ArchivesPortlet?action=list unter Dossier parlementaire 4909, zuletzt abgerufen am 9. 12. 2008) in erster Lesung angenommen. Als dritter Staat weltweit nach den Niederlanden und Belgien hat Luxemburg sich damit mit knapper Mehrheit für die Zulassung der aktiven Sterbehilfe entschieden. Das im Parlament verabschiedete Gesetz sichert Ärzten Straffreiheit zu, wenn sie aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Selbstmord leisten. Voraussetzung ist, dass ein unheilbar kranker und unerträglich leidender Patient freiwillig, überlegt und wiederholt schriftlich den Willen zur Beendigung seines Lebens bekundet. Auch 16- bis 18-jährige Patienten sollen um Sterbehilfe bitten können, wenn die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter ihre Zustimmung erteilen. Bei willensunfähigen Patienten soll eine Patientenverfügung ausreichend sein. Ärzte sind nach dem Gesetz verpflichtet, mehrere ausführliche Gespräche mit ihren Patienten über ihre Entscheidung zu führen und einen anderen Arzt zur Beratung hinzuzuziehen. Sämtliche SterbehilfeFälle werden laut dem Gesetz von einer Kontrollkommission überprüft. Sollte sie Gesetzesverstöße feststellen, werden die Fälle dem Staatsanwalt übermittelt (s. http://www.welt.de/ politik/article1700073/Luxemburg_erlaubt_Aerzten_aktive_Sterbehilfe.html, zuletzt abgerufen am 9. 12. 2008). 203

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Hinsichtlich dieser Bedenken ist zwar festzustellen, dass die positive Mitwirkung am Tod des erkrankten Patienten mehr Gefahren birgt als bloße Passivität angesichts des Todes. Gewiss besteht etwa die Möglichkeit der Abstumpfung der Ärzte, welche regelmäßig Sterbende töten und nicht nur sterben lassen. Die bestehende Missbrauchsgefahr muss aber zu einer strengen Kontrolle der medizinischen Praxis und nicht zu der bloßen Verweigerung der Selbstbestimmung des Patienten führen. Eine offene, transparente und in prozedurale Bahnen gelenkte Praxis der Sterbehilfe gewährleistet gegenüber im Verborgenen praktizierter Sterbehilfen sogar mehr Kontrolle und damit eine effektivere Verhinderung von Missbrauch. Auch muss darauf hingewiesen werden, dass die Euthanasie aktionen während des Nationalsozialismus nicht der Selbstbestimmung des Patienten dienten. Sie waren in erster Linie durch die nationalsozialistische Rassenideologie motiviert und beabsichtigten die nicht- und unfreiwillige Tötung von (nicht sterbenden) Menschen allein auf Grund ihrer Behinderung.205 Opfer der Euthanasie während des Nationalsozialismus waren vor allem Behinderte und psychisch Kranke und nicht hoffnungslose fremdbestimmte Patienten.206 Hinsichtlich der niederländischen Praxis geben die empirischen Daten keine eindeutige Antwort, ob die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe zu ihrem Missbrauch geführt hat, da keine Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Zulassung der freiwilligen aktiven Sterbehilfe zur Verfügung stehen. Das niederländische Schutzkonzept weist jedenfalls deshalb eklatante Lücken auf, da eine Kontrolle nur ex post durch ein faktisch freiwilliges Meldeverfahren stattfindet, dass den Prüfungskommissionen oder der Staatsanwaltschaft kaum eine tatsächliche Kontrolle ermöglicht.207 Dammbruch-Argumente sind empirisch fundierte Abschätzungen über zukünftige Wirkungsverläufe und als solche gehören sie in den weiten gesetzgeberischen Prognose- und Einschätzungsspielraum bei der Erfüllung der Schutzpflichten.208 Der Gesetzgeber muss bei der Entscheidung über das Schutzkonzept das relevante empirische Material heranziehen, es sorgfältig auswerten und zu verlässlichen Prognosen über zukünftige Wirkungen verarbeiten.209 Im Falle der aktiven Sterbehilfe stehen dem Gesetzgeber als relevantes empirisches Material derzeit nur die nationalsozialistische und niederländische Praxis der aktiven Sterbehilfe zur Verfügung. Aufgabe des Gesetzgebers wäre es also im Fall der Zulassung der aktiven Sterbehilfe, sich mit diesem empirischen Material auseinanderzusetzen und zu zeigen, warum seine Schutzmaßnahmen geeignet sind, den Dammbruchgefahren zu wehren.210 Das Argument, dass die Zulassung einer Handlung zu der de facto Zulässigkeit einer anderen ungewünschten Handlung führen wird, ist schwach. Freiheitsgewährleistungen eröffnen immer auch Risiken. Fast alle Regelungen sind nicht vor jedem 205 206 207 208 209 210

Antoine, S. 298. Kämpfer, S. 279 – 280. Antoine, S. 313 und Fn. 138. Antoine, S. 299. BVerfGE 88, 203 (262 f.). Antoine, S. 299.

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denkbaren Missbrauch sicher. Die Frage ist daher in erster Linie, wie eine Regelung hinreichend missbrauchssicher gestaltet werden kann.211 Eine Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe unter sehr strikten Voraussetzungen gewährleistet gegenüber im Verborgenen praktizierten Handlungen mehr Kontrolle und eine effektivere Verhinderung von Missbrauch. In den Ausnahmefällen, in denen etwa der Patient nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat, unter sehr schweren Schmerzen leidet und sein Leben nicht eigenständig beenden kann, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu töten, obwohl er dies freiverantwortlich will, überzeugt daher das Dammbruchargument nicht. cc) Verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von § 216 StGB zeigt, dass die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ein geeignetes Mittel zum Schutz vor ungewollten Tötungen ist.212 Schwieriger zu beantworten ist, ob die Norm auch erforderlich ist, ob sie das mildeste Mittel darstellt. In dieser Hinsicht könnten strenge Verfahrensregeln, die einerseits die materiellen Voraussetzungen der Ausnahmesituationen und andererseits die Freiverantwortlichkeit der Sterbehilfe prozedural absichern, ein milderes und gleich wirksames Mittel sein.213 Eine sorgfältige Auswahl der Kriterien der Zulässigkeit der Sterbehilfe könnte den Lebensschutz berücksichtigen und Missbrauchsfälle reduzieren.214 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass auch eine Zulässigkeit unter strengen Verfahrensregeln zu einem Misstrauen zwischen Arzt und Patient, aber auch zwischen Patient und Angehörigen führen würde, dass es zu subtiler Manipulation und zur Vernachlässigung der Ursachenbekämpfung von Sterbewünschen kommen würde.215 Insoweit sind auch die empirischen Erfahrungen mit der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden umstritten216 und gestatten keine generellen Aussagen über die Folgen der Zulassung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland. Die Mitwirkung von Dritten kann zwar ohne Zweifel zu Missbrauchsfällen führen. Dies bedeutet aber nicht, dass sehr eng definierte Regeln, die die Sterbehilfe in Ausnahmesituationen zulassen, von Anfang an als milderes und gleich wirksames Mittel nicht in Betracht kommen. Das Argument, dass die Zulassung der Sterbehilfe in Ausnahmefällen zu einer generellen unkontrollierten Zulassung der Sterbehilfe führen wird, ist nicht überzeugend. Die bestehende Missbrauchsgefahr muss zu einer strengen Kontrolle der medizinischen Praxis und nicht zu der bloßen Verweigerung der Selbstbestimmung des Patienten führen. Zudem muss betont werden, dass eine offene, transparente und in prozedurale Bahnen gelenkte Praxis der Sterbehilfe gegenüber im Verborgenen praktizierter Sterbehilfen mehr Kontrolle und eine bessere Verhinderung 211 212 213 214 215 216

Vgl. Hegselmann, in: Zur Debatte über Euthanasie, S. 197 (212 f.). Arzt, ZStW 1971, S. 1 (36). Kämpfer, S. 353. Kämpfer, S. 353. Kämpfer, S. 352. Leist, S. 33 ff.

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von Missbrauch gewährleistet. Folglich ist § 216 StGB nicht erforderlich und somit unverhältnismäßig. § 216 StGB ist also verfassungswidrig. Zu dem gleichen Ergebnis führt auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Regelung im engeren Sinne. Bei der diesbezüglichen Prüfung müssen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Verpflichtung des Staates zum Schutz des Lebens abgewogen werden. Es ist also zu untersuchen, ob das eingesetzte Mittel des Verbots der aktiven Sterbehilfe und der damit verbundene Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in einem angemessenen Verhältnis zu dem staatlichen Ziel der Verhinderung des Missbrauchs erlaubter Tötungen steht. Wenn der Gesetzgeber die aktive Sterbehilfe nur für diejenigen Patienten verbietet, die faktisch selbst in der Lage sind, eine Selbsttötung vorzunehmen, erscheint dies unproblematisch. Warum sollte eine dritte Person Sterbehilfe leisten, wenn der Patient zu einer Selbsttötung in der Lage ist? Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass es Fälle gibt, in denen der Patient nicht in der Lage ist, sich selbst zu töten. Entweder, weil er nicht entscheidungsfähig ist oder weil er körperlich nicht in der Lage ist, eine eigenhändige Selbsttötung zu begehen.217 Wer nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat, unter sehr schweren Schmerzen leidet und sein Leben nicht eigenständig beenden kann, dem wird ein unzumutbares Opfer abverlangt, wenn er sein Leben nicht mit Hilfe Dritter beenden darf, obwohl er dies freiverantwortlich will, weil der zur Sterbehilfe Bereite strafrechtlich von der Sterbehilfeleistung abgehalten wird.218 In diesem Hinblick ist ein absolutes Verbot der aktiven Sterbehilfe unverhältnismäßig.

c) Indirekte Sterbehilfe Indirekte Sterbehilfe ist die Verabreichung schmerzstillender Mittel an Todkranke, die vorgenommen wird, obwohl der Todeseintritt dadurch geringfügig beschleunigt wird.219 Es geht um die nicht beabsichtigte Beschleunigung des Todeseintritts, so dass man diese nur als medikamentöse Nebenwirkung betrachten kann.220 Die indirekte Sterbehilfe als Mittel der Schmerzlinderung kann mit und ohne Wunsch des Sterbenden ausgeführt werden.221 Der Unterschied zur aktiven Sterbehilfe ist, dass der Tod nicht primär angestrebtes Ziel ist, er wird vielmehr als Nebenwirkung, als mögliches Risiko angesehen.222 Die Strafbarkeit des Handelnden im Falle indirekter Sterbehilfe kann entfallen, wenn sich die Verabreichung der schmerzstillenden Medikamente als gerechtfertigt erweist. Eine erlaubte indirekte Sterbehilfe ist also gegeben, wenn eine ärztlich ge217 218 219 220 221 222

(121).

Kämpfer, S. 357 f. Kämpfer, S. 358. Detering, JuS 1983, S. 418. Beckert, S. 26. Beckert, S. 26. Schreiber, in: Aktive Sterbehilfe? Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, S. 119

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botene schmerzlindernde Medikation bei einem sterbenden Patienten als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann.223 Die Unterscheidung zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe hat eine besondere strafrechtliche Relevanz. Im Unterschied zur aktiven Sterbehilfe wird die indirekte Sterbehilfe als straflos angesehen.224 Gemäß den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung aus dem Jahre 2004 kann „[b]ei Sterbenden […] die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf.“225 Zusammenfassend muss die Verabreichung schmerzlindernder Mittel an unheilbar Leidende mit der Folge der Lebensverkürzung unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig gelten.226 Die Voraussetzungen sind, dass es eine ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gibt, dass der Tod unvermeidbar nahe bevorsteht, dass der Patient an sehr starken Schmerzen leidet, dass es an nicht lebensgefährlichen Mitteln zur Schmerzlinderung mangelt und dass die mit der Verabreichung der Medikamente verbundenen Risiken einer Lebensverkürzung oder Gesundheitsschädigung in einem angemessenen Verhältnis zu Todesnähe und Stärke der Schmerzen stehen.227 Diese Voraussetzungen weisen darauf hin, dass allein die Einwilligung des Patienten für die Straflosigkeit der aktiven Sterbehilfe nicht ausreicht. Das Leben wiegt in diesem Fall weniger als die Erlösung des Patienten von seinen Qualen.228 Das Argument, dass die Möglichkeiten der modernen Medizin die Extremfälle eines hilflosen, schwer leidenden Patienten ausschließen würden, gilt leider nicht in allen Fällen.229 Die Schmerztherapie ist nicht grenzenlos.

223

BGHSt 42, 301 (305). BGHSt 42, 301 (305). 225 Für die Zulässigkeit dieser Art der Sterbehilfe aus moraltheologischer Sicht hat sich Papst Pius XII am 24. 02. 1957 in seiner Ansprache auf dem 9. Italienischen Kongress für Anästhesiologie geäußert: „Wenn die Verabreichung narkotischer Mittel von selbst zwei verschiedene Wirkungen hervorruft, einerseits die Linderung der Schmerzen und andererseits die Verkürzung der Lebensdauer, so ist sie erlaubt. […] Kurz zusammengefasst fragen Sie uns: Ist die Ausschaltung des Schmerzes und des Bewusstseins durch Narkotika, wenn die medizinische Indikation sie verlangt, von Seiten der Religion und Moral dem Arzt und dem Patienten erlaubt, auch wenn der Tod herannaht und wenn sie vorhersehen lässt, dass die Anwendung von Narkotika das Leben verkürzen wird? Man muss hierauf antworten: Wenn es keine anderen Mittel gibt und unter bestimmten Umständen nicht die Erfüllung anderer religiöser oder moralischer Pflichten gehindert wird: Ja.“, Acta Apostolicae Sedis 1957, S. 143, zitiert in: Simson, FS Schwinge, S. 89 (96). 226 Laufs, NJW 1986, S. 1515 (1517). 227 Dölling, in: Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod?, S. 7 (13). 228 Herzberg, NJW 1986, S. 1635 (1639). 229 Antoine, S. 68. 224

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

4. Resümee Der Kern der Problematik bei der Sterbehilfe ist nicht der Tod an sich, sondern die Beteiligung Dritter an der Lebensbeendigung. Der Patient hat das Recht darüber zu entscheiden, ob er behandelt wird oder nicht. Ein solches Recht ist in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert. Ein menschenwürdiger Tod ist zudem Ausfluss von Art. 1 Abs. 1 GG, wenn die Fortsetzung des Lebens unerträglich für den Patienten ist und zu einer eklatanten Leidensverlängerung führt. Wenn der Patient bei voller Einsichtsfähigkeit eine ärztliche Behandlung ablehnt, entfällt die Behandlungspflicht des Arztes. Wenn der Patient entscheidungsunfähig ist, dann muss sein mutmaßlicher Wille ermittelt werden und gemäß diesem muss der Arzt oder der Betreuer handeln. Wenn keine Anhaltspunkte zur Bestimmung seines mutmaßlichen Willens vorliegen, dann dürfen allgemeine Wertvorstellungen und medizinische Kriterien in die Entscheidungsfindung einfließen, wenn sie patientenorientiert sind. Diesbezüglich darf sich der Arzt, Betreuer oder der Richter an dem Grundsatz „in dubio pro vita“ orientieren.230 Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht, wenn das Interesse zu sterben das Lebensinteresse überwiegt und deshalb von einer mutmaßlichen Zustimmung zu einem Behandlungsabbruch auszugehen ist. Ein Behandlungsabbruch gegen den Willen des Patienten ist in keinem Fall zulässig. Dies bedeutet aber nicht, dass der Patient z. B. immer einen Anspruch auf die teuerste Therapie oder auf eine Organtransplantation hat. Die Selbstbestimmung des Patienten betrifft nur solche Bereiche, die er beherrschen kann, z. B. eine Entscheidung über die Fortsetzung oder Nichtfortsetzung einer Therapie, und nicht die Bereiche, die außerhalb des Einflusses des Patienten liegen, z. B. die Ineffizienz der gegenwärtigen Medizin, eine Therapie durchzuführen oder die beschränkten finanziellen Mittel des Patienten, die es ihm nicht erlauben, eine sehr anspruchsvolle und gleichfalls teure Therapie zu bezahlen. Praktische Folge der verfassungsrechtlichen Verankerung der passiven Sterbehilfe ist, dass der Patient sie verlangen darf. Falls der behandelnde Arzt oder das Pflegepersonal nicht zustimmen, hat der Patient ein Recht auf Überweisung an einen anderen zur Sterbehilfe bereiten Arzt.231 Ein absolutes Verbot der aktiven Sterbehilfe ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, denn es dürfen diejenigen Patienten nicht außer Acht gelassen werden, die nicht eigenhändig ihr Leben beenden können. Deswegen soll der Gesetzgeber sich an sehr eng definierten Regeln, die die Sterbehilfe in Ausnahmesituationen zulassen, orientieren. Die Verabreichung schmerzlindernder Mittel an unheilbar Leidende mit der Folge der Lebensverkürzung (indirekte Sterbehilfe) ist unter strengen Voraussetzungen zulässig. Voraussetzungen sind, dass es eine ausdrückliche oder mutmaßliche Zustimmung des Patienten gibt, dass der Tod unvermeidbar nahe bevorsteht, dass der Patient an sehr starken Schmerzen leidet, dass es an nicht lebensgefährlichen Mitteln zur Schmerzlinderung mangelt und dass die mit der Verabreichung der Medikamente verbundenen Ri-

230 231

Kämpfer, S. 378. Kämpfer, S. 341, 342 und Fn. 76.

III. Patientenverfügung

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siken einer Lebensverkürzung oder Gesundheitsschädigung in einem angemessenen Verhältnis zu Todesnähe und Stärke der Schmerzen stehen.

III. Patientenverfügung Immer mehr Menschen werden sich ihres Selbstbestimmungsrechts als potenzielle Patienten bewusst und wollen durch eine entsprechende Verfügung für den Fall vorsorgen, dass sie wegen ihres Zustandes bzw. der Art ihrer Erkrankung nicht mehr dazu imstande sein sollten, ihren Willen rechtsverbindlich zu erklären.232 Sie wollen verhindern, dass der behandelnde Arzt bei Eintritt der krankheitsbedingten Entscheidungsunfähigkeit auf die Erforschung ihres mutmaßlichen Willens angewiesen ist und diesen unter Umständen falsch bestimmt.233 Es ist auch möglich, dass ein Patient bestimmte Behandlungsmethoden ablehnt, wie dies z. B. vielfach Zeugen Jehovas hinsichtlich der Verabreichung einer Bluttransfusion tun.234 Hinter dem Wunsch nach einem Patiententestament stecken oft die Angst vor einer nicht mehr überschaubaren Apparatemedizin und die Angst davor, allein in der Anonymität eines Krankenhauses sterben zu müssen.235

1. Der Begriff Patientenverfügung236 ist „die in gesunden Zeiten oder jedenfalls vor dem Terminalstadium einer Erkrankung […] niedergelegte Erklärung eines einsichts- und urteilsfähigen Menschen, dass er für den Fall einer definitiv gesetzten Todesursache und eines in absehbarer Zeit schmerzvoll verlaufenden oder von großer Not begleiteten Sterbeprozesses verbunden mit Bewusstseinsausschaltung oder Bewusstseinstrübung weder diagnostische noch therapeutische ärztliche Maßnahmen wünscht, die letztlich nur dazu dienen, sein ohnehin zu Ende gehendes Leben künstlich und schmerzvoll zu verlängern oder die zu einem menschenunwürdigen Siechtum führen würden“.237 In dem Patiententestament können auch Kriterien genannt werden, die andere (z. B. Ärzte, Pflegekräfte, Angehörige, gesetzliche Vertreter, Bevollmächtige) bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens berücksichtigen sollen.238 232

Uhlenbruck, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 783. Eisenbart, S. 15. 234 Eisenbart, S. 15; s. auch das Muster eines Patiententestaments von Uhlenbruck, NJW 1978, S. 566 (569). 235 Rudolf/Bittler/Roth, S. 102. 236 Andere Bezeichnungen sind auch: Patiententestament, Patientenbrief, Euthanasietestament, Verfügung an Ärzte, Verfügung zu Lebzeiten, persönliche Bestimmung mit testamentarischem Wert, Anweisung an meinen Arzt, s. Rickmann, S. 11. 237 Rapse, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 773. 238 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 16 – 17. 233

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Es handelt sich um eine schriftliche oder mündliche Willensäußerung eines einwilligungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung für den Fall der Äußerungsunfähigkeit.239 Vielfach wird jedoch gefordert, dass der Gesetzgeber die Schriftform oder eine vergleichbar verlässliche Dokumentation (z. B. eine Videoaufnahme) zur Voraussetzung der Gültigkeit einer Patientenverfügung macht.240 Das Patiententestament kann jederzeit widerrufen werden.241

2. Die juristischen Fragen Hinsichtlich der Patientenverfügung stellen sich eine Reihe von Fragen: Wie lässt sich der tatsächliche Wille des Patienten vorab so fixieren, dass er auch zu einem späteren Zeitpunkt rechtlich beachtlich ist? Inwiefern hat der Patient das Recht, schriftlich oder mündlich seinen Wunsch über Leben und Tod zu äußern? Welche Bedeutung bzw. Bindungswirkung hat eine solche Verfügung für den Arzt? Ist sie als Anhaltspunkt zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens des Patienten zu betrachten oder ist sie, auch wenn der Arzt den Eindruck gewonnen hat, dass der Patient, anders als er dies in gesunden Tagen geäußert hat, weiterleben will, obwohl er schwer krank und pflegebedürftig ist, in jedem Fall verbindlich?

3. Die Verankerung des Rechts auf Patientenverfügung In Deutschland gibt es im Gegensatz zu Österreich242 bis heute keine gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung.243 Aus einem „argumentum a majore ad minus“ 239 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, Deutsches Ärzteblatt, Heft vom 7. Mai 2004. 240 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 33. 241 Taupitz, in: 63. DJT (2000), Bd. I, S. A 1 (115 ff.). 242 Im März 2006 hat der österreichische Nationalrat das Bundesgesetz über Patientenverfügungen (PatVG) verabschiedet, das am 1. Juni 2006 in Kraft getreten ist. Das in Österreich geltende Verbot der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) und der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB) bleiben hiervon unberührt. Die Einrichtung einer verbindlichen Patientenverfügung hat vor einem Rechtsanwalt, einem Notar oder einem rechtskundigen Mitarbeiter der Patientenvertretungen (Patientenanwaltschaften) zu erfolgen (§ 6 PatVG). Dabei ist der Patient über die Folgen der Patientenverfügung sowie über die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs zu belehren. Die Verfügung muss alle fünf Jahre erneut werden (§ 7 PatVG). Die medizinischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung sind, müssen in der Patientenverfügung konkret beschrieben sein oder eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen. Es muss zudem aus der Patientenverfügung hervorgehen, dass der Patient die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt (§ 4 PatVG). Wenn die oben genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, gilt die Patientenverfügung als beachtlich, nicht aber als verbindlich (§§ 8 und 9 PatVG). 243 Derzeit werden mehrere Gesetzesvorschläge im Bundestag diskutiert und es wird damit gerechnet, dass ein Gesetz zustande kommt, durch das die Patientenverfügung einer detail-

III. Patientenverfügung

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ergibt sich, dass der Patient, wenn er das Recht besitzt, über sein Leben zu verfügen, auch das Recht besitzt, einen solchen Wunsch (schriftlich) zu äußern. Er genießt die Freiheit, vor der eigenen „Verfallssituation vorsorglich über die zulässigen oder unzulässigen Eingriffe in die körperliche Integrität zu disponieren und so durch konditioniertes oder unbedingtes Behandlungsveto eigenes Sterben sicherzustellen“.244 Der Patient hat ein „Definitionsprimat“,245 a priori zu entscheiden, welche therapeutische Behandlung er will, falls er seinen Wunsch nicht mehr äußern kann. Ein solches Recht ist Ausfluss des Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten. Ein Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet auch die Möglichkeit, vorab bestimmen zu dürfen, wie bei eintretender Bewusstlosigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit mit einem selbst verfahren werden darf.246 Zur Selbstbestimmung gehört also auch das Recht, Entscheidungen für die Zeit zu treffen, in der der Patient nicht mehr entscheidungsfähig ist.247 In dieser Hinsicht ist das Recht auf ein Patiententestament eine praktische Anwendung, ein „Instrument“248 des Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten. Was die Form der Patientenverfügung angeht, sollte die Schriftlichkeit als formales Erfordernis vorgesehen werden, um ein Mindestmaß an Ernsthaftigkeits- und Missbrauchskontrolle zu gewährleisten.249 Mündliche Äußerungen, die der Patient zu früheren Zeiten gemacht hat, sollten als Indizien für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten eine Bedeutung haben und verbindlich sein, wenn sie lierten Regelung unterzogen wird. Ein Entwurf der Abgeordneten Bosbach (CDU), Röspel (SPD), Winkler (Bündnis 90/Grüne) und Fricke (FDP) vom 28. 03. 2007 sieht keine Verbindlichkeit der Patientenverfügung für den Fall vor, dass die Befolgung der Patientenverfügung zum Tod führen würde, obwohl die Erkrankung noch keinen unumkehrbaren tödlichen Verlauf genommen hat. Ein Entwurf der Abgeordneten Zöller und Faust vom 05. 06. 2007 sieht für Ärzte, rechtliche Stellvertreter und Vormundschaftsrichter keine gesetzliche Verpflichtung vor, den in einer Patientenverfügung festgelegten Willen des Patienten zu erfüllen. Da dieser Gesetzentwurf keine Regelungen zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung trifft, ist wie bisher der Maßstab für die Entscheidung über eine ärztliche Maßnahme nicht der Wille des Patienten und das subjektiv durch ihn selbst bestimmte Wohl, sondern ein Wohl, wie es von Ärzten, Betreuern, Angehörigen, Pflegepersonal und anderen Personen definiert wird. Ein Entwurf der Abgeordneten Stünker (SPD), Kauch (FDP), Jochimsen (Linke) und Montag (Grüne) vom 14. 06. 2007 lässt keinen Zweifel daran, dass eine Patientenverfügung eine verbindliche Willenserklärung ist, die Ärzte, rechtliche Stellvertreter und Vormundschaftsgerichte umsetzen müssen, auch wenn sie der Ansicht sind, dass das Wohl des Patienten durch dessen verfügte Entscheidungen gefährdet sei. Nicht nur medizinische Eingriffe, sondern auch Untersuchungen des Gesundheitszustandes sind hiernach untersagt, wenn hierzu in der Patientenverfügung die Einwilligung verweigert wird. Die Patientenverfügung soll nur dann ihre Verbindlichkeit verlieren, wenn die Anweisungen nicht auf die gegebene Situation anwendbar sind, verbotene Handlungen gefordert werden oder der Betroffene seine Verfügung widerrufen hat. 244 Bottke, in: Lebensverlängerung aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht, 1995, S. 35 (99 f.). 245 Höfling, JuS 2000, S. 111 (115). 246 Höfling, JuS 2000, S. 111 (115). 247 Will, Vorgänge 2006, S. 43 (45). 248 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 16 ff. 249 Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (82).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

eindeutig sind und verlässlich nachgewiesen werden können.250 Der Widerruf der Patientenverfügungen muss jederzeit, auf jede Art und Weise möglich sein.251 Die Formalerfordernisse der Patientenverfügung dürfen nicht so hoch und so bürokratisch angesetzt werden, dass die Verwirklichung des Patientenwillens unnötig erschwert wird.252 Das Erfordernis einer notariellen Beurkundung erscheint daher nicht sinnvoll.253

4. Die Bindungswirkung eines Patiententestaments Die Diskussion um die juristische Verbindlichkeit eines Patiententestaments ist inhaltlich mit der Diskussion um die Sterbehilfe verbunden.254 Entsprechend kann das Recht auf ein Patiententestament nicht zur Anerkennung verbotener Formen der Selbstbestimmung des Patienten führen.255 Die Patientenverfügung ist für den Arzt und das Pflegepersonal in der Regel verbindlich, wenn die später eingetretene Situation in der Patientenverfügung konkret beschrieben worden ist. Sie ist nicht nur bei irreversibel tödlichem Krankheitsverlauf verbindlich, sondern auch bei anderen vom Patienten geregelten Fällen, wie etwa Wachkoma oder Demenz,256 wobei dann allerdings sichergestellt werden muss, dass es nicht zu unzulässigen Formen der aktiven Sterbehilfe kommt. In diesem Sinne ist bei einwilligungsunfähigen Patienten die in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung einer Behandlung für den Arzt bindend, sofern die konkrete Situation der in der Patientenverfügung beschriebenen entspricht und keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Willensänderung erkennbar sind.257 Ein Patiententestament hat nicht nur die Bedeutung eines wesentlichen Anhaltpunktes für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten.258 Eine solche Bedeutung würde zu einem fremdbestimmenden Paternalismus führen.259 Die Patientenverfügung ist ausnahmsweise keine verbindliche Festlegung, die vom Arzt in jedem Fall beachtet werden muss, wenn die Situation in der Patientenverfügung nicht konkret 250

Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (82) m.w. Nachw. Heßler, in: Die Patientenverfügung, S. 40 (47). 252 Gaßner, in: Die Patientenverfügung, S. 24 (38). 253 A. A. Albrecht, in: Die Patientenverfügung, S. 51 (57). 254 Will, Vorgänge 2006, S. 43. 255 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 30. 256 Gegenpositionen vertritt die EnquÞte-Kommission des Deutschen Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ in ihrem Zwischenbericht (BT-Drucks. 15/3700), gemäß dem die Patientenverfügungen nur bei irreversibel tödlichem Verlauf der Krankheit gelten sollen und Wachkoma und Demenz ausdrücklich ausgeschlossen werden sollen. Außerdem soll das Vormundschaftsgericht immer eingeschaltet werden und ein Konzil aus Arzt, Pflegenden und Angehörigen gesetzlich vorgeschrieben sein. 257 Deutsches Ärzteblatt Heft 19 vom 7. Mai 2004; BtPrax 2004, S. 146 f. 258 A. A. Laufs, NJW 1998, S. 3399 (3400). 259 Spichhoff, NJW 2000, S. 2297 (2301) m.w. Nachw. 251

III. Patientenverfügung

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beschrieben worden ist oder wenn sie der realen Situation nicht entspricht. Das Argument aber, dass der Patient in der Patientenverfügung eine Entscheidung treffe, obwohl er die konkrete zukünftige Situation nicht kenne und er deswegen nicht im Voraus verständig einschätzen könne, was seinem Willen zu dem Zeitpunkt entspreche, in dem die ärztliche Maßnahme notwendig werde,260 ist nicht überzeugend belegt. Weder der Arzt noch Verwandte oder Freunde können geltend machen, bereits selbst eine Sterbephase durchlebt zu haben, weil sie sich genauso wenig wie der betroffene Patient zum Zeitpunkt seiner Erklärung in der Situation als Betroffene befinden. Die Frage, ob der Patient angesichts des Todes anders entscheiden würde, ist somit nicht relevant, weil es nicht sinnvoll ist, von einem Alternativwillen des Patienten zu sprechen, sondern es fair ist, seine bereits geäußerte Meinung zu respektieren.261 Das Argument, dass die generelle Zulässigkeit der Patientenverfügung Druck erzeugen könne262, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen, wenn die Patientenverfügung nicht zur Voraussetzung für den Zugang zu Versorgungseinrichtungen gemacht wird.263 Falls in dem Patiententestament keine gegenteiligen Willensäußerungen des Patienten enthalten sind, kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung über die Fortsetzung der Behandlung, die sich aus einer Interessenabwägung zwischen den Aussichten auf eine Lebenserhaltung und den Nebenfolgen und Risiken ergibt, dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht.264 Wenn Aussicht besteht, das Leben des Patienten zu retten, sind entsprechende Behandlungsmaßnahmen geboten.265 Fraglich ist aber, ob Kriterien für eine solche Abwägung auch die Dauer und die Qualität des Lebens sein dürfen. Es ist sehr schwierig zu entscheiden, ob das Leben eines anderen Menschen erhaltenswert ist. Die Frage nach dem Sinne des Lebens lässt sich nicht objektiv beantworten. Aus diesem Grund sind bestehende Rettungschancen auch bei alten Menschen, mit deren baldigem Ableben gerechnet werden muss, zu nutzen.266 Mit zunehmendem Lebensalter nehmen die Würde und der Wert menschlichen Lebens nicht fortlaufend ab.267 Eine vermeintliche Sozialnützigkeit des Menschen darf ebenfalls nicht berücksichtigt werden und auch eine Abwägung mit anderen individuellen oder sozialen Werten ist nicht geboten.268 Wenn Anhaltspunkte für die missbräuchliche Verwendung der Patientenverfügung durch den Bevollmächtigten oder Betreuer bestehen, sollte eine Zuständigkeit 260

Ruhs, S. 81. Schroth, in: Die Patientenverfügung, S. 60 (72). 262 Zwischenbericht der EnquÞte-Kommission, Ethik und Recht der modernen Medizin, S. 38 f. 263 Schroth, in: Die Patientenverfügung, S. 60 (72). 264 Engisch, in: Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod, S. 87 (95). 265 Engisch, in: Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod, S. 87 (95). 266 Roxin, in: Schutz des Lebens-Recht auf Tod, S. 90. 267 Dörner, ZRP 1996, S. 93 (94). 268 Eser, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, S. 21 (27). 261

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

des Vormundschaftsgerichts vorgesehen werden.269 Das Vormundschaftsgericht sollte aber nur dann zuständig sein, wenn tatsächlich Anhaltspunkte für die Überschreitung des Entscheidungsspielraumes des Bevollmächtigten bestehen.270 Wenn bei der Anerkennung und Auslegung der Patientenverfügung Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Betreuer, dem Arzt, der Pflegekraft oder einem Angehörigen bestehen, sollen die Entscheidungen des Betreuers der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedürfen.271 Ein Ethikkonzil wäre für die Auslegung der Patientenverfügung hilfreich. Zu dem Punkt der Gefahr der Fehleinschätzung der Patientenverfügung ist zu bemerken, dass die Gewährung von voraussorgender Entscheidungsfreiheit die Möglichkeit ihres Fehlgebrauchs einschließt.272 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes273 ist eine Prüfungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts für die Entscheidung des Betreuers nur dann notwendig, wenn der Betreuer seine Einwilligung in eine ärztlicherseits angebotene lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlung verweigern will. Wenn der Wunsch des Patienten nach einem Behandlungsabbruch in aller Deutlichkeit festgehalten wurde, ist das Vormundschaftsgericht gebunden. Im Falle der Einwilligungsunfähigkeit eines Patienten müssen lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn dies dem zuvor in der Form der Patientenverfügung geäußerten Willen entspricht. Wenn also eine Willensäußerung des Patienten in Form einer Patientenverfügung vorliegt, „bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer; denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 GG) verlangt, dass eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlich getroffenen Entscheidungen inzwischen verloren hat.“274 Nur wenn ein solcher erklärter Wille des Patienten nicht klar festgestellt werden kann, beurteilt sich die Zulässigkeit der Einstellung lebenserhaltender oder -verlängernder Maßnahmen nach dem mutmaßlichen Patientenwillen. Auf Grund dieser Rechtsprechung könnte man davon ausgehen, dass der Behandlungsabbruch außerhalb der unmittelbaren Sterbephase trotz des Vorliegens einer Patientenverfügung bei Einwilligungsunfähigkeit strafrechtlich verboten sei.275 Dies würde jedoch die Gül-

269

Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 32. Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 32. 271 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Patientenverfügung, S. 32. So auch der Abschlussbericht der Bundesministerin der Justiz „Patientenautonomie am Lebensende“, gemäß dem das Vormundschaftsgericht nur in Konfliktfällen eingeschaltet werden soll (S. 11). Der Bericht lehnte zwar ein eigenes Gesetz über Patientenverfügungen ab, schlug aber vor, Regelungen zur Patientenverfügungen im Betreuungsrecht durch Einführung eines neuen § 1901 b BGB und Ergänzungen des § 1904 BGB zu treffen (S. 42 f.). 272 Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. 1, S. C 1 (82). 273 BGHZ 154, 205. 274 BGHZ 154, 205 (217). 275 Will, Vorgänge 2006, S. 43 (54). 270

III. Patientenverfügung

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tigkeit von Patientenverfügungen erheblich einschränken.276 Eine Beschränkung auf irreversibel tödliche Krankheitsverläufe würde das Selbstbestimmungsrecht als solches in Frage stellen.277 Zum Finalstadium gehören aber vor allem das Wachkoma und die Demenz, und wenn eine Patientenverfügung sich auf irreversibel tödliche Krankheitsverläufe beschränken müsste, würden andere Fälle, wie z. B. alte Menschen, die ihr Leben in Frieden abschließen wollen, ausgeschlossen werden.278 Eine solche Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts wäre aber unverhältnismäßig,279 weil in diesem Fall solche Krankheits- und Behandlungssituationen ausgenommen werden würden, vor denen sich heute viele Menschen fürchten und die der Grund für sie sind, Patientenverfügungen zur Abwehr unerwünschter medizinischer Lebenserhaltung zu errichten.280

5. Resümee Ausfluss des Rechts, über das eigene Leben selbst zu verfügen, ist das Recht, diesen Wunsch vorab bestimmen zu dürfen und für die Zeit zu treffen, in der man nicht mehr entscheidungsfähig ist. Ein Patiententestament ist für den Betreuer und das Pflegepersonal bindend und grundsätzlich nicht lediglich ein Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Willen des urteilsunfähigen Patienten. Es gilt nur dann lediglich als entsprechender Anhaltpunkt, wenn die Situation in der Patientenverfügung nicht konkret beschrieben worden ist oder wenn sie der realen Situation nicht entspricht. Das Patiententestament sollte eine schriftliche Form haben, kann aber jederzeit auch mündlich widerrufen werden. Eine starke Formalisierung des Patiententestaments würde zu einer Bürokratisierung des Sterbens führen und wäre deshalb eine unverhältnismäßige Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Die Gewährleistung einer Patientenverfügung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten am Lebensende. Das Patiententestament ist die Verwirklichung, der Ausdruck281 dieses Rechts. Die Anerkennung eines Rechts auf eine Patientenverfügung darf aber nicht zur Umgehung des Verbots bestimmter Formen der Selbstbestimmung des Patienten führen.

276 Neuman, in: Forum Bioethik des Nationalen Ethikrates am 11. Juni 2003, Wortprotokoll, S. 13 f. 277 Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (85). 278 Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (86). 279 Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (85 – 86). 280 Vgl. Kreß, ZRP 2005, S. 139 (140). 281 Rudolf/Bittler/Roth, S. 101.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

IV. Hungerstreik/Zwangsernährung 1. Der Begriff a) Der Hungerstreik Unter dem Begriff Hungerstreik wird die Verweigerung der Nahrungsaufnahme als Mittel zur Durchsetzung bestimmter politischer, sozialer oder anderer Forderungen verstanden. Der Hungerstreik beinhaltet eine politische, das heißt gesellschaftsbezogene Aussage, die als Forderung an Machtausübende gerichtet ist.282 Ein Hungerstreik liegt nur vor, wenn konkrete Forderungen an Dritte gestellt werden. Wenn ein schwer erkrankter Patient die Hoffnung auf Gesundung verliert und jede Nahrungsaufnahme verweigert, ist dessen Hungern nicht als Hungerstreik zu werten.283 In diesem Fall ist das Hungern nur Mittel zur Selbsttötung.284 Beim Hungerstreik ist zwischen befristetem und unbefristetem Hungerstreik zu differenzieren. Wenn keine zeitliche Begrenzung angekündigt wird, bedeutet dies nicht sogleich, dass bis zum Tod gehungert werden soll.285 Für die Einordnung als Hungerstreik, dem eine Aufnahme von Flüssigkeiten schon begrifflich nicht widerspricht, ist es nicht erforderlich, dass die Nahrungsaufnahme gänzlich verweigert wird. Um die gesundheitlichen Schäden gering zu halten, werden teilweise Hungerstreiks mit begrenzter Nahrungsaufnahme durchgeführt, wobei das lebensnotwendige Limit unterschritten und die Streikmodalität von vornherein bekannt gemacht wird. Im Bereich des Hungerstreiks liegt auch das Verweigern einer natürlichen Nahrungsaufnahme mit der Duldung einer künstlichen Ernährung, die es von der Zwangsernährung zu unterscheiden gilt.286 b) Die Zwangsernährung Die Zwangsernährung ist die durch unmittelbaren Zwang durchgesetzte Ernährung gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen. Als Zwangsmittel kommen z. B. die Anwendung körperlicher Gewalt gegen einen sich gegen eine künstliche Ernährung zur Wehr setzenden Untersuchungsgefangenen oder sogar eine längerfristige Fesselung in Betracht.287

282 283 284 285 286 287

Ostendorf, S. 24. Ostendorf, S. 25. Ostendorf, S. 25. Ostendorf, S. 21. Ostendorf, S. 21. Linck, NJW 1975, S. 18 (20).

IV. Hungerstreik/Zwangsernährung

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2. Der Unterschied zwischen Hungerstreik und Suizid Der Hungerstreik steht in einem engen Verhältnis zur Selbsttötung und stellt eine besondere Art des Suizids, ein Durchgangsstadium zu diesem, dar.288 Hungerstreik und Suizid unterscheiden sich aber hinsichtlich des Ausmaßes des Selbstschädigungswillens. Die Selbstschädigung erscheint beim Hungerstreik als ein notwendiges Übel und ist kein Selbstzweck für die Hungerstreikenden, während bei einem Suizid der Tod ein Selbstzweck für den Suizidenten ist.289 Eine charakteristische Komponente des Suizids, die der Flucht, fehlt beim Hungerstreik. Beim Hungerstreik ist das Angriffsverhalten charakterisierend.290 Störungen im privaten Bereich, wie unfallbedingte Gesundheitsschäden, unheilbare Krankheit, unglückliche Liebesbeziehungen oder Ehrverlust, die sich als unmittelbare Kausalfaktoren beim Suizid auswirken, scheiden als Motivation für einen Hungerstreik aus.291 Der Hungerstreik ist einseitig durch eine äußere Zwangssituation geprägt. Allgemeine Suizidursachen wie Enttäuschungen, Ängste, Hoffnungslosigkeit, Resignation, Minderwertigkeitsgefühle oder Vereinsamung scheiden daher ebenfalls aus.292

3. Die Problematik Die Hungerstreikdiskussion bekam besondere Aktualität und internationale Publizität, als im Jahre 1974 ein Häftling der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) infolge eines Hungerstreiks den Tod fand. Diese Häftlingsgruppe erprobte zum ersten Mal Mitte der 70er Jahre den Hungerstreik als Mittel des politischen Protests und der Agitation sowie der Durchsetzung besserer Haftbedingungen.293 Seit jener Zeit traten wiederholt zahlreiche Gefangene der RAF in gemeinsame, zeitgleiche und lang andauernde Hungerstreiks. Gefordert wurden insbesondere die Änderung der Haftbedingungen und die Zusammenlegung in große Gruppen.294 Die Anstaltsleitungen begegneten dieser Protesthaltung seinerzeit zunächst mit der Anordnung einer Zwangsernährung, wobei dem auf einer Liege festgeschnallten Häftling ein Plastikschlauch durch den Rachen und weiter in die Speiseröhre geschoben und auf diesem Wege Nährlösung in den Magen gepumpt wurde.295 An die Stelle der Zwangsernährung gegen den heftigen Widerstand der Gefangenen trat später – soweit möglich – die ärztliche Beobachtung, um im Notfall intensiv-medizinisch eingreifen zu können.296 Fraglich ist, ob 288 289 290 291 292 293 294 295 296

Wagner, S. 138 ff. Ostendorf, S. 43. Ostendorf, S. 43. Ostendorf, S. 53. Ostendorf, S. 51. Littwin, S. 55. Müller, in: Schwind/Böhn/Jehle, StVollzG Kommentar, § 101 StVollzG, Rn. 1. Littwin, S. 55. Müller, in: Schwind/Böhn/Jehle, StVollzG Kommentar, § 101 StVollzG, Rn. 28.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

zum Schutz der Gesundheit des Streikenden ein Hungerstreik verboten werden darf bzw. ob im Extremfall die Zwangsernährung zulässig ist. Mit anderen Worten: Kann der Gefangene über seine Gesundheit und sein Leben selbst verfügen oder muss der Arzt den Gefangenen unter bestimmten Voraussetzungen zwangsweise behandeln?

4. Die Gesetzeslage: Der strafrechtliche Kompromiss Die Frage, ob der Staat berechtigt oder verpflichtet ist, dem Hungerstreik eines Straf- oder Untersuchungsgefangenen durch Zwangsernährung zu begegnen, ist in § 101 Abs. 1 StVollzG geregelt. Im Konflikt zwischen dem Schutz menschlichen Lebens, dem Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungsrecht des einzelnen Gefangenen bzw. Patienten und den Ansprüchen ärztlicher Berufsethik hat sich der Gesetzgeber für eine an der Zuspitzung der Gefahrenlage ausgerichtete stufenweise Lösung entschieden.297 Gemäß § 101 Abs. 1 StVollzG, der in der Praxis für den Hungerstreik die größte normative Bedeutung hat, sind medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Zwangsernährung nur bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen (z. B. eines ungeborenen Kindes) zulässig; die Maßnahmen müssen für die Beteiligten zumutbar sein und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Zur Durchführung der Maßnahmen ist die Vollzugsbehörde nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen ausgegangen werden kann. Der Arzt ist zur Durchführung der Zwangsernährung nicht verpflichtet und nicht berechtigt, wenn die Anordnung „die Menschenwürde verletzt“ (§ 97 Abs. 1 StVollzG). § 101 StVollzG ist eine der umstrittensten Vorschriften des StVollzG.298 In der Regel wird ein Gefangener, der eine ärztliche Behandlung in der Anstalt beharrlich und ernsthaft verweigert und dadurch in schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr gerät, nach § 65 Abs. 2 StVollzG in ein öffentliches Krankenhaus zu verlegen sein.299 Fraglich ist, wann die Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen bedrohlich wird. Entscheidend ist hier der Zeitpunkt der Unrettbarkeit und damit der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem noch Aussicht auf erfolgreiche ärztliche Maßnahmen besteht. Gefährlich ist in diesem Sinne die lang andauernde Nahrungsverweigerung.300 Aber trotz akuter Lebensgefahr ist die Vollzugsbehörde zur Anordnung ärztlicher Zwangsbehandlung weder berechtigt noch verpflichtet, wenn der ärztliche Eingriff seinerseits „mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden“ ist. Wenn der Arzt nicht eingreifen will, weil er dies fachlich nicht verantworten kann,

297 298 299 300

Geppert, Jura 1982, S. 177 (179). Geppert, Jura 1982, S. 177 (178). Müller, in: Schwind/Böhn/Jehle, StVollzG Kommentar, § 101 StVollzG, Rn. 8. Geppert, Jura 1982, S. 177 (180).

IV. Hungerstreik/Zwangsernährung

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läuft § 101 Abs. 1 StVollzG in einem Großteil der Fälle schlicht leer.301 Es bleiben also der ärztlichen Zwangsernährung im Wesentlichen nur jene Fälle, in denen der Gefangene der Ernährung zwar verbal widerspricht, doch auf körperlichen Widerstand verzichtet oder keinen Widerstand leisten kann.302

5. Die verfassungsrechtliche Diskussion Auch der Hungerstreikende hat das Recht, seine Gesundheit zu schädigen bzw. zu sterben. Der Hungerstreik spiegelt die freie selbstverantwortliche Bestimmung über Leben und Gesundheit wider. Betroffen ist hauptsächlich das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Aus dem Recht auf Leben ist nicht eine Verpflichtung zum Leben, zum gesunden Leben zu folgern.303 Im Hintergrund der verfassungsrechtlichen Analyse steht die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Unzumutbar ist die Zwangsernährung, wenn sie den Gefangenen bzw. Patienten in seiner Menschenwürde verletzt. Eine zwangsweise Ernährung seitens des Staates verletzt die Menschenwürde des Gefangenen, wenn die eingesetzten Mittel so unmenschlich sind, dass sie den Patienten zum bloßen Objekt der Förderung staatlicher Zwecke machen. In einem solchen Fall ist der Arzt zur Durchführung der Zwangsernährung nicht berechtigt (§ 97 Abs. 1 StVollzG). Eine Anordnung der Zwangsernährung verletzt die Menschenwürde des Gefangenen, beispielsweise, wenn Folter zur Durchführung der Zwangsernährung ausgeübt wird. Der Anwendungsbereich der Zwangsernährung ist daher gering und das Gesetz läuft zum größten Teil leer. Der Mensch darf niemals als Mittel benutzt werden, um fremde Ziele zu erreichen. Der Gefangene, der bewusst die Nahrungsaufnahme verweigert und bewusst das Risiko eingeht, seinem Leben ein Ende zu setzen, darf nicht aus politischen Gründen zwangsernährt werden, um ihn so zu einem Mittel zu machen, mit dem andere Ziele erreicht werden sollen.304 Der Hungerstreik betrifft, neben dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie der Menschenwürde, auch die Meinungsfreiheit. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn er eine Äußerung symbolischer Art oder eine besondere Form des Protests darstellt. Diese Forderungsseite des Hungerstreiks ist von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Die Aufzählung der Meinungsäußerungsmittel in Art. 5 Abs. 1 GG „in Wort, Schrift und Bild“ ist beispielhaft.305 Auch das tätige Verhalten kann Meinung ausdrücken.306 Der Hungerstreik genießt den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht nur, wenn er „auf überschaubare Zeit geplant ist und keine ernsten Gesund301 302 303 304 305 306

Geppert, Jura 1982, S. 177 (181). Geppert, Jura 1982, S. 177 (181). Ostendorf, S. 100. Fiebig, S. 75. Hesse, Rn. 392. Ostendorf, S. 71.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

heitsschäden befürchten lässt“,307 sondern auch wenn er zum Tod des Hungerstreikenden führen wird. Das Abgrenzungskriterium der ernsten Gesundheitsschäden ist schon deshalb fragwürdig, da Gesundheitsschäden bei einem Hungerstreik prinzipiell zu erwarten sind und die Beurteilung der Ernsthaftigkeit der Lebensgefahr relativ ist.308 Wenn der Hungerstreik als Äußerung der Meinungsfreiheit nicht mit körperlicher Gewalt verbunden ist,309 dann muss er respektiert werden. Die Zwangsernährung kann nicht als Abwehr einer Nötigung und als Vorbeugungsmittel gegen Misshelligkeiten gerechtfertigt werden.310 Die Tatsache, dass der selbstzerstörerische Willensakt des Hungerstreiks in erster Linie als Waffe gegen den Staat zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt wird, muss nicht zu einer Beschränkung der Selbstbestimmung des Hungerstreikenden führen.311 Der Hungerstreikende, der Druck gegen den Staat ausübt, ist wie der Patient, der in Würde sterben will, zu behandeln. Gewiss bestehen Unterschiede zwischen dem Sterbewillen auf Grund einer unheilbaren Krankheit und dem Sterbewillen als Ausdruck politischen Drucks gegen den Staat. Diese Differenzierung berechtigt jedoch die Vollzugsbehörde nicht, den Hungerstreikenden gegen seinen Willen zu ernähren. Zu untersuchen ist, inwieweit eine Beschränkung des Hungerstreiks bzw. die Zwangsernährung nach § 101 Abs. 1 StVollzG verfassungsgemäß sind. Der Eingriff des § 101 Abs. 1 StVollzG ist zunächst geeignet, weil er das verfolgte Ziel des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit fördert. Der Eingriff ist erforderlich, wenn kein milderes Mittel dem Zweck des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit mit gleicher Effektivität dienen kann. In dieser Hinsicht müssen die Vollzugsbehörden zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Gefangenen zum Abbruch seines Hungerstreiks zu bewegen (§ 94 Abs. 1 StVollzG). Dabei soll z. B. durch Gespräche mit einem Sozialarbeiter, Pfarrer, Psychologen oder Arzt versucht werden, den Häftling zum Abbruch der Nahrungsverweigerung zu veranlassen.312 Da der Häftling oft aus Verzweiflung oder Enttäuschung die Nahrung verweigert, reichen in vielen Fällen bereits kleine Interventionen aus, um den Gefangenen zu überzeugen, den Hungerstreik zu beenden.313 Der Ausweg des Trinkwasserentzugs bei ersatzweise angebotener Nährlösung kann nicht als gleich geeignetes und milderes Mittel betrachtet werden. Er verursacht einen unerträglichen Durst, den man viel schwerer als Hunger ertragen kann314 und durch den der Wille des Gefangenen gebrochen werden soll. Da folglich kein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Verfügung steht, ist der gesetzliche Eingriff erforderlich. Zu untersuchen ist die Verhältnis307 308 309 310 311 312 313 314

So Arndt/v. Olshausen, JuS 1975, S. 143 (146) und auch Böhm, JuS 1975, S. 287 (288). Husen, ZRP 1977, S. 289 (291). Vgl. Bethge, in: Sachs, GG, Art. 5, Rn. 34. A. A. Herzberg, ZStW 1979, S. 557 (583). A. A. Geppert, Jura 1982, S. 177 (184) und Herzberg, ZStW 1979, S. 557 (582). Michale, S. 58. Michale, S. 58 ff. Michale, S. 60.

IV. Hungerstreik/Zwangsernährung

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mäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu prüfen ist, ob das Mittel der zwangsweisen Ernährung in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit steht. Der Gesetzgeber hat sich bei der Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen andererseits für eine stufenweise Kompromisslösung entschieden. Wenn der Gefangene bei freier, psychisch nicht kranker Willensentscheidung in den Hungerstreik tritt und für ihn weder eine Gesundheitsgefährdung noch eine Lebensbedrohung eintritt, besteht keine Verpflichtung, eine Zwangsernährung hinzunehmen. Eine Zwangernährung des Gefangenen, der sich in freier Willensentscheidung im Hungerstreik befindet, ist also, wenn keine Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen besteht, unzulässig,315 die Vollzugsbehörde muss tatenlos bleiben. Der Gesetzgeber erlaubt gemäß § 101 Abs. 1 StVollzG die zwangsweise Ernährung nur, wenn eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Gefangen besteht oder wenn von einer freien Willensbildung des Gefangenen nicht ausgegangen werden kann. Die zu treffenden Maßnahmen müssen zudem für die Beteiligten zumutbar sein und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Trotz akuter Lebensgefahr sind die Vollzugsbehörden zur Anordnung ärztlicher Zwangsbehandlung weder berechtigt noch verpflichtet, wenn der ärztliche Eingriff seinerseits mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden ist (§ 101 Abs. 1 StVollzG). Diese Einschränkung dient der Verdeutlichung des in § 96 StVollzG enthaltenen Übermaßverbots.316 Fraglich ist allerdings, wie solche Maßnahmen überhaupt zumutbar sein können. Bei körperlichem Widerstand des Patienten ist eine zwangsweise durchgeführte Ernährung nicht ohne erhebliche medizinische Risiken realisierbar.317 So muss man z. B., um dem Gefangen zwangsweise Nahrung zuzuführen, diesem mit Gewalt die Zähne auseinander reißen. Deshalb hat die angesprochene Regelung de facto keinen Anwendungsbereich. Es sind nur die Fälle erfasst, in denen der Gefangene einerseits verbal widerspricht, andererseits aber auf körperlichen Widerstand verzichtet oder keinen Widerstand mehr leisten kann.318 Auch kann der Arzt nicht gegen sein medizinisches Gewissen zur Durchführung der Zwangsernährung verpflichtet werden.319 Wenn der Arzt mit der Anordnung der Zwangsernährung nicht einverstanden ist, ist er auf Grund seiner durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Gewissensfreiheit und durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit nicht verpflichtet, den Patienten zwangsweise zu ernähren. Eine verfassungs315

Geppert, Jura 1982, S. 177 (186). Geppert, Jura 1982, S. 177 (181). 317 Z. B. Verletzungen der Schleimhäute, Gefahr des Eindringens von Nährflüssigkeiten in die Luftwege, Aspiration von Erbrochenem mit anschließender Pneumonie, akuter Herztod des vom Hungerstreik geschwächten Organismus bei äußerster Gegenwehr, Husen, ZRP 1977, S. 289 (290). 318 Geppert, Jura 1982, S. 177 (181). 319 Geppert, Jura 1982, S. 177 (190). 316

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gemäße Auslegung von § 101 Abs. 1 StVollzG führt also dazu, dass die Eingriffssphäre des Staates gering und der Hungerstreik im Allgemeinen zulässig ist. Deshalb ist § 101 Abs. 1 StVollzG auch verhältnismäßig im engeren Sinne. § 101 Abs. 1 StVollzG ist folglich verfassungsgemäß.

6. Resümee Die Selbstbestimmung des Hungerstreikenden darf nicht deshalb beschränkt werden, weil der selbstzerstörerische Willensakt des Hungerstreiks in erster Linie als Waffe gegen den Staat zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt wird. Der Hungerstreik ist als Akt der Selbstgefährdung verfassungsrechtlich geschützt. Wenn der Hungerstreik Ausfluss der freien Willensbildung des Betroffenen ist, ist die Vollzugsbehörde nicht berechtigt, einzugreifen. Sie darf nur dann eingreifen, wenn eine akute Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen oder Dritter (z. B. eines ungeborenen Kindes) besteht oder der Betroffene seinen freien Willen nicht oder nicht mehr frei bestimmen kann. Der Eingriff muss dann aber zumutbar sein und darf nicht mit einer erheblichen Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Betroffenen verbunden sein.

V. Sterilisation/Kastration 1. Der Begriff Sterilisation ist ein medizinischer Eingriff, der die Zeugungsfähigkeit von Männern (durch Samenstrangunterbrechung) und die Empfängnisfähigkeit von Frauen (durch Eileiterunterbrechung) auf Dauer aufhebt.320 Es ist zwischen freiwilliger und zwangsweiser Sterilisation zu unterscheiden. Kastration ist das Entfernen oder die dauernde Beseitigung der Funktionsfähigkeit der männlichen Keimdrüsen.321

2. Die Problematik Über Jahre war eine Vielzahl von geistig behinderten Menschen ohne deren Einwilligung in Kliniken einer Zwangssterilisation unterzogen worden. Während des Dritten Reichs wurden etwa 350.000 geistig und körperlich behinderte Menschen aus „rassehygienischen“ Gründen zwangssterilisiert.322 Gemäß dem „Gesetz zur Ver-

320 321 322

Brenner, S. 119. Paeffgen, in: Nomos Kommentar – StGB, § 228, Rn. 98. Ganssmüller, NJW 1988, S. 2867 (2868).

V. Sterilisation/Kastration

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hütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. 07. 1933323 konnten Personen mit einer erbbedingten körperlichen oder geistigen Behinderung (§ 1) auch gegen ihren Willen (§ 12 Abs. 1) sterilisiert werden. Ziel des Gesetzes war die Verbesserung der „Beschaffung der Erbfassung unseres Volkes. Während die erbgesunden Familien größtenteils zum Ein- und Keinkindersystem übergegangen sind, pflanzen sich unzählige Minderwertige und erblich Belastete hemmungslos fort, deren kranker und asozialer Nachwuchs der Gesamtheit zur Last fällt. […] So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.“324 Erst 1974 wurde ausdrücklich normiert, dass dieses Gesetz „soweit es als Bundesrecht fortgilt“, außer Kraft getreten ist.325 Der Bundestag fasste in seiner 77. Sitzung in der 11. Wahlperiode die Entschließung, dass die Durchführung der Zwangssterilisation nationalsozialistisches Unrecht darstellt.326 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde hingegen nicht zu NS-Unrecht erklärt. Unter diesen Gesichtspunkten stellt sich die Frage, ob der Mensch sich freiwillig sterilisieren lassen darf und ob er eine so wesentliche personale Funktion wie die seiner Fortpflanzungsfähigkeit ohne jeden Vorbehalt zerstören darf.

3. Die Beurteilung a) Einfachrechtliche Beurteilung aa) Freiwillige Sterilisation/ Gefälligkeitssterilisation Der einfache Gesetzgeber erkennt ein allgemeines Recht auf Sterilisation an, wenn diese nicht sittenwidrig (§ 228 StGB) ist. Eine freiwillige Sterilisation verstößt nach heutigen anerkannten Werten nicht gegen die guten Sitten, wenn sie medizinisch, genetisch oder sozial indiziert ist.327 Problematisch ist daher allein der Fall, in dem eine entsprechende Indikation nicht vorliegt (Gefälligkeitssterilisation). Nach einer strafrechtlichen Grundsatzentscheidung ist die freiwillige Sterilisation mangels besonderer Strafandrohung schlechthin straffrei.328 In einer zivilrechtlichen Entscheidung hat der Bundesgerichtshof, auch beim Nichtvorliegen einer entsprechenden Indikation, eine Sterilisation je nach Lage des Einzelfalles für sittlich zulässig erklärt.329 Gemäß dieser Rechtsprechung kann „[J]edenfalls bei einer Frau, die […] im Zeitpunkt des Eingriffs mit 34 Jahren die Mitte des Lebens erreicht hat, seit ihrem 27. Lebensjahr Mutter ist und vor der Geburt ihres 3. Kindes steht, unbedenklich angenommen wer323 324 325 326 327 328 329

ErbGesG, RGBl. I, S. 529. Abgedruckt bei Hoche, S. 637 ff. Art. 8, Nr. 1 des 5. Strafrechtsreformgesetzes, BGBl. I, S. 1297. BT-Drucks. 11/1714 vom 26.01.1988. Hirsch/Hiersche, MedR 1987, S. 135 (136). BGHSt 20, 81 (Leitsatz). BGH, NJW 1976, 1790.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

den, dass sie so viel Lebenseinsicht in die Bedeutung der Mutterschaft für das eigene Lebensschicksal und das ihrer Ehe und Familie hat, um diese Entscheidung selbstverantwortlich treffen zu können“.330 Die Entscheidung, keine Kinder (mehr) zu wollen, wird als eine familienplanerische Entscheidung anerkannt. Zu beachten ist auch § 2 KastrG, wonach die Kastration durch einen Arzt nur dann nicht als Körperverletzung strafbar ist, wenn neben der wirksamen Einwilligung vier weitere Voraussetzungen vorliegen, insbesondere die, dass der Betroffene das 25. Lebensjahr vollendet hat (§ 2 Abs. 1 S. 3 KastrG) und gute Gründe für die Kastration bestehen. Das Erfordernis der Vollendung des 25. Lebensjahres lässt sich dadurch erklären, dass bei pubertierenden jungen Männern die körperliche Entwicklung noch nicht zum vollen Abschluss gekommen ist.331 Gute Gründe für die Kastration sind im Sinne des Gesetzes der Schutz des Betroffenen vor Krankheiten oder der Schutz der Bevölkerung vor rechtswidrigen Taten. Der Betroffene muss außerdem in den Eingriff einwilligen (§ 2 Abs. 1 S. 3 KastrG), die zu erwartenden Nachteile dürfen nicht unverhältnismäßig erscheinen und der Eingriff muss von einem Arzt vorgenommen werden (§ 2 Abs. 1 S. 1, 2, 4, 5 KastrG). Zudem muss gegebenenfalls ein Vormund oder Pfleger zustimmen (§ 3 Abs. 3 KastrG) – entweder ist eine landesrechtlich geregelte Gutachtenstelle einzuschalten (§ 5 KastrG) oder es ist, bei Einwilligungsunfähigkeit (§ 3 Abs. 3, 4 KastrG), eine vormundschaftsrechtliche Zustimmung erforderlich (§ 6 KastrG). Eine wirksame Einwilligung setzt voraus, dass sie zum Zeitpunkt des Eingriffs vorliegt, vom einwilligungsfähigen Betroffenen selbst erklärt wurde, frei von Willensmängeln ist und nach entsprechender ärztlicher Aufklärung erteilt wurde.332 Nur wenn der Betroffene auf Grund seiner geistigen Reife in der Lage ist, Inhalt und Tragweite seiner Entscheidung zu überblicken und dies zur Grundlage einer verantwortlichen Willensbildung zu machen, kann seine Einwilligung den Eingriff legitimieren. Der zu Behandelnde kann umso eher als einwilligungsfähig angesehen werden, je älter er ist.333 Der Arzt ist nicht verpflichtet, sich der Einwilligung des betroffenen Ehepartners zu versichern. Er hat nur die Einwilligung des behandelten Patienten zu berücksichtigen.334 Der Ehepartner ist nicht die zu behandelnde Person, sondern nur betroffene. Seine entgegenstehenden Wünsche und Interessen dürfen nicht die Selbstbestimmung der zu behandelnden Person beschränken. Das Gleiche gilt auch für die Entscheidung der Erziehungsberechtigten über eine Sterilisation ihres Kindes, um von vornherein mit Sicherheit die Geburt schwerkranker Nachkommenschaft auszuschließen. Gemäß § 1631 c Abs. 2 BGB können die El330 331 332 333 334

BGH, NJW 1976, 1790 (1791). RegE, BT-Drucks. 5/3702, S. 13. Eser/Koch, MedR 1984, S. 6 (7 – 8). Eser/Koch, MedR 1984, S. 6 (8). BGH, NJW 1976, S. 1790 (1791).

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tern nicht in die Sterilisation einwilligen. Die Erforderlichkeit und die Auswirkungen der Sterilisation bei Minderjährigen lassen sich besonders schwer beurteilen.335 Dieses Verbot will also die vorsorgliche Sterilisation der Minderjährigen ausschließen. Die Eltern dürfen die Zukunft ihres Kindes nicht so stark beeinflussen. Eine Verbesserung des Gesundheitszustands kann nicht ausgeschlossen werden und aus diesem Grund ist die Entscheidung der Eltern für die Sterilisation ihres Kindes ein unzulässiger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Kindes. Probleme verursacht auch die Sterilisation jüngerer, aber nicht minderjähriger Personen. Hierbei ist von großer Bedeutung, ob die Entscheidung für die Sterilisation auf sozialen oder psychologischen Druck zurückzuführen ist. Wenn z. B. jemand aus Gründen des beruflichen Fortkommens in eine Sterilisation einwilligt, ist seine Zeugungsfähigkeit trotz seiner Einwilligung von der Rechtsordnung geschützt.336 Wenn aber die Sterilisation keine Folge solchen Zwangs ist, ist sie als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Patienten geschützt. In dem Fall einer Sterilisation eines Menschen, der keine Kinder hat, muss jedoch betont werden, dass die Folge der Entscheidung für die Sterilisation in den meisten Fällen die Gefahr birgt, dass diese Entscheidung sich nicht ändern lässt, wenn man in der Zukunft wieder Kinder bekommen möchte.337 Bei jüngeren Menschen kann man annehmen, dass sie die mit der Unabänderlichkeit der Unfruchtbarmachung verbundenen Konsequenzen für die künftige Lebensgestaltung unterschätzen und womöglich in fortgeschrittenem Alter, bei verbesserten Einkünften oder in neu eingegangenen Partnerschaftsbeziehungen den vorgenommenen Eingriff bedauern.338 Eine wohlmeinende staatliche Bevormundung des Einzelnen im eigenen Interesse ist berechtigt, wo alters- und reifebedingte Unvernunft den Einzelnen zu irreparablen, sein ganzes Menschsein berührenden Fehlentscheidungen hinzureißen droht.339 Allein die dauerhafte Folge der Sterilisation kann aber, wenn die Sterilisation wirklich freiwillig erfolgt, keine Rechtfertigung für die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten sein, sondern nur zu spezifischen Beschränkungen der Selbstbestimmung führen. Die dauerhafte Folge der Sterilisation verstärkt jedoch die Aufklärungspflicht des Arztes. Die Tatsache, dass der Mensch das Recht hat, eine Sterilisation vornehmen zu lassen, bedeutet nicht, dass der Arzt auch verpflichtet ist, diese vorzunehmen. Der Arzt ist weder berechtigt, eine freiwillige Sterilisation zu verhindern oder zu verbieten noch verpflichtet, diese vorzunehmen. Der Patient hat aber Anspruch auf Überweisung an einen anderen Arzt, der zur Vornahme einer Sterilisation bereit ist.

335

RegE, BT-Drucks. 11/4528, S. 76, 107. Brenner, S. 124. 337 Heutzutage ist ein derartiger Eingriff infolge der Fortschritte in der Mikrochirurgie wieder aufhebbar. 338 Kunz, JZ 1982, S. 788 (791). 339 Eser, in: Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, S. 55 (63). 336

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

bb) Freiwillige Sterilisation auf Grund einer medizinischen Indikation Eine freiwillige Sterilisation auf Grund einer medizinischen Indikation ist bei Minderjährigen nicht zulässig (§ 1631 c BGB). Auch wenn eine mögliche Verbesserung des Gesundheitszustands des Patienten von vornherein ausgeschlossen ist, wie dies z. B. beim Vorliegen eines „Down-Syndroms“ der Fall ist, darf der Arzt mit der Zustimmung der Erziehungsberechtigten die Sterilisation des Minderjährigen nicht vornehmen.340 Bei einwilligungsfähigen Volljährigen ist die Sterilisation mangels eines Verbots zulässig.341 Die Sterilisation einwilligungsunfähiger Volljähriger auf Grund der Einwilligung ihres Betreuers ist nur unter engen sachlichen Voraussetzungen und nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig (§ 1905 BGB). cc) Freiwillige Sterilisation auf Grund einer sozialen oder eugenischen Indikation Eine freiwillige Unfruchtbarmachung auf Grund einer sozialen oder eugenischen Indikation ist in der Regel zulässig.342 Die eugenische Sterilisation einer einwilligungsfähigen Person ist zulässig, wenn die Gefahr besteht, dass unter der Nachkommenschaft des Patienten infolge einer Erbanlage eine nicht behebbare schwere Schädigung des Gesundheitszustandes auftreten würde. Problematischer ist eine Sterilisation auf Grund sozialer Indikation. Der Unterschied zwischen einer Gefälligkeitssterilisation und einer Sterilisation auf Grund sozialer Indikation besteht darin, dass bei der Gefälligkeitssterilisation der Wunsch nach einer Sterilisation verschiedene Ursachen haben kann, während bei der Sterilisation auf Grund sozialer Indikation nur soziale Kriterien zu berücksichtigen sind. Man spricht nicht von Gefälligkeitssterilisation, wenn der Wunsch nach Sterilisation auf sozialethischem Denken beruht. Charakteristisch für eine soziale Indikation ist der Fall, in dem der Kindersegen zu echter sozialer Not führen wird.343 Eine schwierige finanzielle Situation ist zwar oft eine vorläufige Situation, die nicht ein ganzes Leben beeinflusst. Soziale Parameter dürfen aber nicht immer außer Acht gelassen werden, insbesondere, wenn eine präventive Sterilisation dem Schwangerschaftsabbruch vorbeugt.344 dd) Die Zwangssterilisation und die Sterilisation von geistig Behinderten Eine Zwangssterilisation stellt als Schädigung durch den dauerhaften Entzug der Fortpflanzungsfähigkeit einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit 340

A. A. Brenner, S. 123. BGHSt, 20, 81 ff. 342 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 72; a. A. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 33 (Erstbearb. 1958). 343 Fall bei Hanack, JZ 1964, S. 393 (397). 344 Eser, in: Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, S. 55 (59). 341

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dar und ist deshalb nur zulässig, wenn Rechtfertigungsgründe vorliegen. Dies ist insbesondere bei der Sterilisation von geistig Behinderten der Fall, wenn der geistig Behinderte sich in einem nicht nur zeitweisen Zustand geistiger Anomalie befindet und infolgedessen nicht in der Lage ist, Bedeutung, Folgen, Tragweite und Risiken eines sterilisierenden Eingriffs wenigstens in groben Zügen zu verstehen und seinen Willen danach zu bestimmen.345 Ursache der die Einwilligungsunfähigkeit beeinträchtigenden geistigen Behinderung können Intelligenzdefizite oder Geisteskrankheiten in allen Erscheinungsformen sein.346 Für geistig Behinderte ist die Sterilisation von besonderer Bedeutung, da sie häufig normal entwickelte sexuelle Bedürfnisse zeigen und fortpflanzungsfähig sind.347 Sie können sich jedoch häufig nicht vorstellen, welche Folgen der Geschlechtsakt mit sich bringen kann.348 Eltern geistig behinderter Töchter und Söhne haben daher oft ein eigenes Interesse daran, dass diese keine Kinder bekommen, da die Sorge und Mühe der Erziehung der Enkel ihnen als Großeltern zufiele. Die Praxis der Sterilisation von geistig Behinderten wird zum Teil in der Rechtsprechung349 als verfassungskonform gebilligt. Der Bundesgerichtshof erklärte die freiwillige Sterilisation für nicht tatbestandsmäßig.350 Der Generalbundesanwalt hatte in dem Verfahren ein freies Verfügungsrecht über den eigenen Körper aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bestritten,351 der Bundesgerichtshof ging hierauf jedoch in seiner Entscheidung nicht ein. Gemäß § 1905 BGB ist eine nicht therapeutische Sterilisation Einwilligungsunfähiger in engen Grenzen erlaubt. Diese Vorschrift kommt nur für Volljährige in Betracht, die nicht selbst wirksam in die Vornahme einer Sterilisation einwilligen können. Die Sterilisation Minderjähriger ist gänzlich untersagt (§ 1631 c). Der Gesetzgeber hat für diesen Personenkreis entschieden, die Sterilisation auf Grund der stellvertretenden Einwilligung eines Betreuers unter ganz engen Voraussetzungen (§ 1905 Abs. 1, § 1899 Abs. 2 BGB), unter vormundschaftsgerichtlicher Kontrolle (§ 1905 Abs. 2 S. 1 BGB) und mit Anforderungen an die Durchführung der Maßnahme (§ 1905 Abs. 2 S. 2, 3 BGB) zuzulassen. Der Betreute muss dabei auf Dauer einwilligungsunfähig sein (§ 1905 Abs. 1 S. 2 BGB). Eine Sterilisation auf Grund der Einwilligung des Betreuers ist nicht zulässig, wenn sie dem Willen des Betreuten widerspricht, es besteht also ein Verbot der Zwangssterilisation (§ 1905 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Wirksamkeit der Einwilligung des Betreuers setzt voraus, dass sie ausschließlich dem Interesse des Betreuten dient und nicht den Interessen der Allgemeinheit, der Verwandten oder der Kinder, die ohne die Maßnahmen gezeugt würden.352 345 346 347 348 349 350 351 352

Hirsch/Hiersche, MedR 1987, S. 135 (137). Hirsch/Hiersche, MedR 1987, S. 135 (137). Springorum, S. 70. Hoffmann, S. 29 f. LG Berlin, FamRZ 1971, S. 668. BGHSt 20, 81 (85). BGH, DRiZ 1965, S. 22 (25). BT-Drucks. 11/4528, S. 75 f.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

b) Die verfassungsrechtliche Diskussion Die Sterilisation ist unter den Begriff der Schädigung zu subsumieren. Der Eingriff in die körperliche Integrität und mehr noch der dauerhafte Entzug der Fortpflanzungsfähigkeit stellen einen Schaden dar.353 Eine Sterilisation stellt eine schwere Körperverletzung des Patienten dar, da der Verlust der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit das körperliche Leistungsvermögen herabsetzt und damit zu einer Gesundheitsschädigung führt. Eine zwangsweise Sterilisation ist mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar, weil sie eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit darstellt. Eine Zwangssterilisation verletzt zudem die Menschenwürde des Patienten (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG), weil sie den Menschen zum Objekt des staatlichen Geschehens degradiert.354 Das Verbot einer freiwilligen Sterilisation stellt umgekehrt einen Eingriff in das Verfügungsrecht über die körperliche Unversehrtheit des Patienten dar (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Der einfache Gesetzgeber erkennt ein allgemeines Recht auf Sterilisation an, wenn diese nicht sittenwidrig ist. Prüfungsrelevant für die Zulässigkeit der freiwilligen Sterilisation ist daher § 228 StGB. Diese Norm besagt, dass die freie Verfügbarkeit der eigenen körperlichen Integrität unter dem Vorbehalt der „guten Sitten“ steht. Diese Beschränkung ist nicht unproblematisch. Sie wirft verfassungsrechtliche Fragen im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot auf, verführt zu einem Zirkelschluss zwischen Strafwürdigkeit und Sittenwidrigkeit und birgt die Gefahr einer Verwirrung zwischen rechtlicher und moralischer Bewertung.355 Die Entscheidung zwischen „individueller Willkür“, die gegen „die guten Sitten“ verstößt356, und ernst zu nehmendem verantwortlichen Entschluss, der moralische Akzeptanz fordert357, hängt davon ab, wie hoch das Prinzip der freien Selbstbestimmung über den eigenen Körper eingestuft wird. Bevölkerungspolitische Kriterien müssen bei der Sittenwidrigkeitsbeurteilung in jedem Fall ausscheiden.358 Die Erhaltung der Fortpflanzungsfähigkeit im Interesse des Fortbestands des Gemeinwesens ist eine Pflicht des Staates, aus dieser Pflicht lässt sich aber keine Pflicht des Einzelnen ableiten, sich fruchtbar zu halten.359 Der Staat hat also kein Recht „die Entstehung von Personen, die sich schrankenlos und „ungefährdet“ dem Geschlechtsverkehr hingeben wollen, zur Vermeidung der Unzucht und eines moralischen Tiefstandes zu vermeiden“.360 Die Forderung nach einer Strafbarkeit der freiwilligen Sterilisierung als einzige von mehreren grundsätzlich gleichwertigen Verhütungsmethoden wäre also kriminalpolitisch und

353 354 355 356 357 358 359 360

Hoerster, JZ 1971, S. 123 (124). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 32 (Erstbearb. 1958). Hirsch/Hiersche, MedR 1987, S. 135 (136). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 33 (Erstbearb. 1958). Engisch, in: FS Mayer, S. 399 (400). Kunz, JZ 1982, S. 788 (790). Roxin, JuS 1964, 373 (380). A. A. Hanack, S. 192.

V. Sterilisation/Kastration

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auch verfassungsrechtlich bedenklich.361 Der Staat muss daher statt des übermäßig belastenden Mittels der Strafandrohung eine sozialstaatliche Maßnahme der wirtschaftlichen Familienförderung im Rahmen von Art. 20 Abs. 1 GG wählen.362 Ein Recht auf Sterilisation ist auch Ausfluss der freien Selbstbestimmung des Patienten über seine Fortpflanzungsfähigkeit. Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, verleiht dem einzelnen Bürger „ein Abwehrrecht gegen störende und schädigende Eingriffe des Staates in seine Ehe und seine Familie“.363 Staatliche Vorschriften, die die Fortpflanzungsfähigkeit der im Wesentlichen gesund erscheinenden Bürger regeln, also namentlich Bestimmungen über die Anzahl der zu zeugenden oder zu empfangenden Kinder, ein Verbot der Empfängnisverhütung und beschränkende Regelungen betreffend einzelne empfängnisverhütend wirkende Mittel würden den Kernbereich von Art. 6 Abs. 1 GG verletzen. Die Strafbarkeit einer freiwilligen Sterilisation stellt also eine Verletzung des freien Verfügungsrechts über die Fortpflanzung nach Art. 6 Abs. 1 GG dar.364 Die Familienplanung darf nicht durch ein Verbot der Sterilisation reglementiert werden. Der Mensch hat das Recht, durch empfängnisverhütende Maßnahmen oder durch Sterilisation die Zeugung eines Kindes zu verhindern. Der Staat darf seinen Bürgern nicht vorschreiben, ob, wann und wie oft sie sich fortpflanzen dürfen.365 Eine Sterilisation mag zwar dem Einzelnen aus persönlichen, ethischen oder religiösen Gründen verwehrt sein, der Staat darf aber niemanden zwingen, von diesem Recht keinen Gebrauch zu machen oder dem Arzt vorschreiben, einen entsprechenden Vertrag im Widerspruch zu seinen persönlichen Wertvorstellungen zu schließen.366 Fraglich ist, ob es bei einer persönlichen Entscheidung wie der Sterilisation eine stellvertretende Einwilligung geben kann. Von dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten kann „nur Gebrauch machen, wer in der Lage ist, die Konsequenzen seiner Entscheidung selbst voll zu verantworten. Fehlt diese ,Grundrechtsmündigkeit, tritt an die Stelle der Selbstbestimmung eine am mutmaßlichen Willen des Betroffenen auszurichtende Drittbestimmung, die strikt begrenzt wird durch das Wohl dessen, für – nicht über – den entschieden wird“.367 Der Einwand, Grundrechte, die „Selbstbestimmung“ sicherten, könnten von einem Vertreter nicht ausgeübt werden,368 würde zu dem Ergebnis führen, dass bestimmte Grundrechte überhaupt nicht ausgeübt werden könnten.369

361 362 363 364 365 366 367 368 369

Wulfhorst, NJW 1967, S. 649 (651). Wulfhorst, NJW 1967, S. 649 (651). BVerfGE 6, 386 (388). Wulfhorst, NJW 1967, S. 649 (650). Wulfhorst, NJW 1967, S. 649 (650). BGH, NJW 1995, S. 2407 (2409). Hirsch/Hiersche, MedR 1987, S. 135 (137). Reuter, FamRZ 1969, S. 622 (623). Stern, III/1, § 70, V 4 a.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Fraglich ist also, ob § 1905 BGB, der die Sterilisation auf Grund der stellvertretenden Einwilligung eines Betreuers unter den ganz engen Voraussetzungen von § 1905 Abs. 1 und 1899 Abs. 2 BGB unter vormundschaftsgerichtlicher Kontrolle (§ 1905 Abs. 2 S. 1) und mit Anforderungen an die Durchführung der Maßnahme (§ 1905 Abs. 2 S. 2, 3) zulässt, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Zunächst soll geprüft werden, ob § 1905 BGB das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in seinem Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) verletzt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist in seinem Wesen verletzt, wenn durch einen Eingriff die Würde des Menschen verletzt wird.370 Zur Erfassung von Verletzungen der Menschenwürde bedient sich das Bundesverfassungsgericht der so genannten Objektformel. Diese verbietet es, die sittliche Persönlichkeit und den sozialen Wert- und Achtungsanspruch des Menschen zu verletzen und ihn so zum bloßen Objekt des Staates zu machen.371 Danach hält das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde für verletzt, wenn das staatliche Verhalten „willkürliche Verachtung“ und „verächtliche Behandlung“ ausdrückt.372 In diesem Sinne verstößt die Zwangssterilisation gegen die Menschenwürde.373 § 1905 BGB hält diesem Prüfungsmaßstab hingegen stand. Zum einen ist die Zwangssterilisation ausgeschlossen, weil der natürliche Wille des Betreuten beachtlich ist, und zum anderen sind die Rechte des betroffenen Betreuten durch das vormundschaftsgerichtliche Genehmigungsverfahren gewahrt.374 Eine Verletzung der Menschenwürde liegt folglich nicht vor. Zu prüfen ist, ob die Zulässigkeit der Sterilisation Einwilligungsunfähiger unter den Voraussetzungen von § 1905 BGB verhältnismäßig ist. Der Eingriff des §1905 BGB ist zunächst geeignet, weil er das verfolgte Ziel des Schutzes des Betreuten durch die Sterilisation erreicht. Fraglich ist, ob der Eingriff auch erforderlich ist, ob ein milderes Mittel diesem Zweck mit gleicher Effektivität dienen kann. Soweit Schwangerschaften, die zu einer Notlage führen, zumutbar durch andere Verhüttungsmittel vermieden werden könnten, ist die Einwilligung des Betreuers in die Sterilisation nicht zulässig (§ 1905 Abs. 1 S. 5). In Betracht kommen die üblichen chemischen und mechanischen Mittel der Empfängnisverhütung, sofern diese im konkreten Fall zuverlässig angewendet werden können und nicht mit unverhältnismäßigen Nebenwirkungen oder Unzuträglichkeiten verbunden sind.375 Zu prüfen ist zunächst, ob der Schwangerschaftsabbruch ein milderes Mittel darstellt. Dieses muss 370 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 32 (Erstbearb. 1958); Pieroth/Schlink, Rn. 403. 371 BVerfGE 9, 89 (95); 57, 250 (275). 372 BVerfGE 30, 1 (26). S. aber auch die abw. Meinung, nach der der Mensch gemäß Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings nicht wie ein Gegenstand behandelt werden darf, „auch wenn es nicht aus Missachtung des Personenwertes, sondern in ,guter Absicht geschieht“, BVerfGE 30, 1 (39 f.). 373 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 32 (Erstbearb. 1958); Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (121). 374 Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (121). 375 Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1905, Rn. 26.

V. Sterilisation/Kastration

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verneint werden, weil der Schwangerschaftsabbruch bereit existentes Leben vernichtet und mehr als die Sterilisation mit Gesundheitsrisiken verbunden ist.376 Die Fortschritte der Medizin auf dem Gebiet der Empfängnisverhütung sind in den letzten Jahren so rasant, dass man in der Zukunft erwartet, dass weitere medizinische Entwicklungen die Sterilisation ersetzen können.377 Soweit aber solche Methoden der Empfängnisverhütung jetzt noch nicht zur Verfügung stehen, kann man nicht von einem milderen Mittel gegenüber der Sterilisation sprechen. Ebenso ist die mit einer zwangsweisen Unterbringung verbundene Unterbindung jeglicher Sexualkontakte kein milderes Mittel gegenüber der Sterilisation, weil der Freiheitsentzug negativere Folgen als der einmalige sterilisierende Eingriff hat.378 Da folglich kein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Verfügung steht, ist der gesetzliche Eingriff erforderlich. Zu untersuchen ist die Verhältnismäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu betonen ist, dass der Gesetzgeber die Sterilisation nur als ultimum refugium legitimiert. Wenn die Schwangerschaft durch andere Verhüttungsmittel vermieden werden kann, ist gemäß § 1905 Abs. 1 S. 5 BGB die Einwilligung des Betreuers in die Sterilisation nicht zulässig. Hinsichtlich der Ausnahmefälle, in denen die Sterilisation Einwilligungsunfähiger einfachgesetzlich zulässig ist, ist zu prüfen, ob der hiermit verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck des Schutzes des Betreuten steht. Hierbei wurden eugenische Gesichtspunkte, etwa dass die Nachkommenschaft ebenfalls geistig behindert sein könnte, oder sozial-familiäre Gesichtpunkte, etwa dass die Gefahr besteht, dass mögliche Kinder nicht von den (geistig behinderten) Eltern erzogen werden können, vom Gesetzgeber nicht berücksichtigt. Denn ein Verweis auf eine „eugenische Indikation“ beschwor das Missverständnis herauf, die Sterilisation solle als Mittel zur Vermeidung „erbkranken Nachwuchses“ eingesetzt werden. Der Verweis auf die soziale Indikation hätte dahingehend missverstanden werden können, dass finanzielle Parameter eine wichtige Rolle für die Zulässigkeit der Sterilisation spielen könnten.379 Wenn demgegenüber das Wohl des Betreuten maßgeblicher Zweck des Gesetzes und entscheidender Grund für die Entscheidung des Betreuers und des Vormundschaftsgerichts ist, können jedoch verfassungsrechtlich zulässigerweise auch eugenische und sozial-familiäre Gesichtspunkte berücksichtigt werden.380 So kann die Geburt eines geistig behinderten Kindes für die Mutter eine unzumutbare Belastung darstellen.381 Dies nicht nur unter Berücksichtigung ihrer körperlichen Belastung, sondern auch unter Berücksichtigung einer seelischen Notlage, wenn etwa für die Mutter die Gefahr eines „schweren und nachhaltigen Leides“ durch die drohende Trennung von dem Kind besteht, weil ihr auf Grund vormundschaftsrechtlicher Maßnahmen das Sorgerecht entzogen wird (§§ 1905 Abs. 1 S. 2, 1666, 376 377 378 379 380 381

Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (122). Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (122). BT-Drucks. 11/4528, S. 144. BT-Drucks. 11/4528, S. 77, 78; Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1905, Rn. 25. Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (123). Pieroth, FamRZ 1990, S. 117 (123).

154

2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

1666 a BGB).382 Das Aufziehen eines Kindes würde die psycho-physische Gesamtverfassung der Mutter übersteigen.383 Eine gesetzgeberische Entscheidung, die die Mutter vor einer solchen Gefahr schützt, ist also nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne. Folglich ist § 1905 BGB verfassungsgemäß. Zu prüfen ist weiter, ob § 1905 BGB gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) zugunsten Behinderter verstößt. § 1905 BGB dient dem Schutz des Betroffenen, soweit die Zulässigkeit der stellvertretenden Einwilligung durch besondere materielle und formelle Voraussetzungen eingeschränkt wird.384 Sofern nur das Wohl des Betroffenen beachtet wird und fremde Interessen ausgeschlossen werden, stellt die Sterilisation daher keine Benachteiligung des Behinderten dar.385 Ebenfalls besteht keine Benachteiligung von geistig Behinderten in dem Sinne, dass ihnen die Möglichkeit zur Sterilisation nicht in gleichem Maße wie anderen Erwachsenen gewährt wird, weil der Differenzierungsgrund nicht die Behinderung per se sondern die fehlende Einwilligungsfähigkeit ist. Diese Differenzierung ist nicht willkürlich, denn bei Menschen, die ihren eigenen Willen nicht angemessen bilden, ist es sachlich gerechtfertigt, Eingriffe unter besonderen strikten Gewährleistungen, die ausschließlich dem Wohl des Betroffenen dienen, durchzuführen.386 § 1905 BGB diskriminiert geistig Behinderte folglich nicht.

4. Resümee Die Fortpflanzungsfähigkeit, das heißt die Fähigkeit, Leben zu zeugen oder zu empfangen, gehört zum Kernbereich der menschlichen Identität. Eine Zwangssterilisation, die dem Menschen diese Fähigkeit nimmt, missachtet die Selbstbestimmung des Patienten und stellt einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und in die Menschenwürde dar. Eine Sterilisation eines einwilligungsunfähigen Patienten bedarf der Einwilligung des Betreuers und ist nur dann zulässig, wenn sie dem Willen des Betreuten nicht widerspricht und ausschließlich seinem Wohl dient. Eine Sterilisation, die dem Interesse der Allgemeinheit dient, würde zu einer Degradierung des Patienten führen, also zu einer Verletzung seiner Menschenwürde. Die freiwillige Sterilisation ist grundsätzlich zulässig. Der Patient ist frei, sich für oder gegen eine Fortpflanzung zu entscheiden. Es muss jedoch geprüft werden, ob die Einwilligung zu einer Sterilisation frei oder Folge psychologischen Drucks ist. Beschränkungen der Sterilisation von einwilligungsunfähigen Patienten im Rahmen der strikten Voraussetzungen von § 1905 BGB sind zulässig, weil sie dem Interesse des Betreuten dienen.

382 383 384 385 386

Springorum, S. 80. Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1905, Rn. 22. Springorum, S. 88. Springorum, S. 88. Springorum, S. 89.

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch 1. Der Begriff Schwangerschaft ist der Zustand einer Frau von der Empfängnis bis zur Geburt des Kindes.387 Schwangerschaftsabbruch – früher zumeist als Abtreibung bezeichnet – ist die Abtötung und Entfernung der Leibesfrucht während einer Schwangerschaft.388

2. Die Kollision Der Schwangerschaftsabbruch ist der einzige Fall, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Patientin mit dem Recht auf Leben des werdenden Lebens in Kollision gerät. Fraglich ist also im Rahmen dieser Untersuchung, ob das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren einen höheren Rang als das Recht auf Leben eines werdenden Menschen hat, dessen Persönlichkeitsentwicklung im Sozialisationsprozess noch gar nicht begonnen hat.389 a) Das Recht auf Leben und die Menschenwürde des Embryos Die menschliche Identität des Embryos ergibt sich erstens aus seiner biologischen Abstammung vom Menschen durch Zeugung und Empfängnis und zweitens aus der Entelechie des Embryos, das heißt aus der kontinuierlichen Entwicklungstendenz auf ein Ziel hin, das erreicht wird, wenn nicht von außen Einwirkungen dazwischentreten.390 Dass es sich beim Embryo um menschliches Leben handelt,391 steht außer Frage. Auch dass dem Embryo menschliche Würde zukommt,392 kann nicht bezweifelt werden. „Die Grundrechtsordnung erkennt den Nasciturus nicht nur als Angehörigen der menschlichen Gattung, sondern als Individuum, als werdende Person, die dem Recht des Staates und dem Recht der Mitmenschen unverfügbar vorgegeben ist.“393 Das werdende Leben im Mutterleib ist daher Grundrechtsträger.394 Die Schutzpflicht des Staates, die sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG ergibt, „verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von 387 388 389 390 391 392 393 394

Duden – Deutsches Universalwörterbuch (unter Schwangerschaft). Vgl. Rieger, Rn. 1591. So Rüpke, ZRP 1974, S. 73 (75 ff.). Kriele, S. 101 ff. Schlink, S. 10. Schlink, S. 10 – 11. Isensee, NJW 1986, S. 1645 (1646). Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 85.

156

2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Seiten anderer zu bewahren“.395 Dies gilt auch gegenüber Eingriffen seitens der Mutter. Der Lebensschutz ist nicht immer mit dem Würdeschütz deckungsgleich.396 Das Recht auf Leben wird unter dem Grundgesetz nicht absolut gewährt. Ein Eingriff in das Recht auf Leben ist gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 3 GG auf Grund eines Gesetzes möglich. Es ist nicht einfach, den verschiedenen Lebensphasen und -situationen des Ungeborenen gerecht zu werden. Es wäre nicht konsequent, alle Lebensphasen verfassungsrechtlich gleich zu behandeln. Der Gesetzgeber besitzt deshalb einen Gestaltungsspielraum (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG). Die Verletzung des werdenden Mensches kann nicht mit der Verletzung eines geborenen Menschen gleichgesetzt werden. Diese zeitliche Differenzierung gilt vor allem für die frühe Zeit der Schwangerschaft.397 Das vorgeburtliche Leben ist dabei „um so intensiver zu schützen, je näher es der qualitativen Zäsur der Geburt kommt“398. Ein Eingriff des Gesetzgebers muss zwischen den verschiedenen Lebensphasen, bzw. den verschiedenen Stufen im Prozess des wachsenden Lebens differenzieren.399 Diese Unterschiede spielen bei der Güterabwägung zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung der Frau eine große Rolle.400 Im Falle einer Schwangerschaft besteht kein totipotentes Leben, das autonomen Schutz genießen könnte, sondern es geht um das Recht des Embryos im anderen Körper. Die Verbindung des Embryos mit dem Körper der Frau rechtfertigt eine Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs. In dieser Abwägung geht es nicht um eine abstrakte Gewichtung von Rechtsgütern, der Schwangerschaftsabbruch ist kein verallgemeinerbares, exemplarisches Beispiel für den Umgang mit ungeborenem Leben. Niemand hat ein Recht auf den Körper eines anderen, sondern jeder besitzt nur ein eigenes Lebensrecht. Deshalb muss der Gesetzgeber die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich der Frau überlassen und darf den Schwangerschaftsabbruch zunächst nicht sanktionieren, um sodann zu einem gestuften Lebensschutz zu finden.401 Die Anerkennung eines solchen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers stellt nicht die Subjektivität des Embryos, seine Würde und sein Recht auf Leben in Frage. Die Tatsache, dass das ungeborene Kind kein Recht darauf besitzt, sich in einem anderen Menschen zu entwickeln, bedeutet nicht, dass es kein Rechtsträger ist.402

395

BVerfGE 39, 1 (42). Schlink, S. 10. 397 BVerfGE 88, 203 (342 ff.) – abw. Meinung; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 61. 398 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 70. 399 Dreier, ZRP 2002, S. 377 (378). 400 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 61 m. w. Nachw. 401 Vgl. BVerfGE 88, 203 (340) – abw. Meinung. 402 Kersten, S. 569. 396

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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b) Das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch Ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist zunächst Ausfluss des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Frau (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), wenn die Schwangerschaft eine erhebliche Gefahr für ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit darstellt, die nicht mit zumutbaren Maßnahmen abgewendet werden kann. Die Frau hat das Recht, die Schwangerschaft abzubrechen, um ihr Leben oder ihre Gesundheit zu schützen. Man kann nicht von einer Schwangeren verlangen, ihr Leben zu gefährden, um das Kind auszutragen. Die Begründung eines Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in Art 2 Abs. 2 S. 1 GG lässt sich dadurch erklären, dass die Schwangere in menschlich unzumutbarer Weise überfordert würde, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes von ihr verlangt würde.403 Ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist ebenfalls Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Frau. Aus dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung kann ein Recht auf „selbstbestimmte Schwangerschaft“ und damit auch auf selbstbestimmten Abbruch der Schwangerschaft abgeleitet werden. Aus dem Selbstbestimmungsrecht der Frau im Hinblick auf eine Schwangerschaft, das Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ist, kann also ein Recht auf selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch abgeleitet werden. Dieses Selbstbestimmungsrecht unterliegt der Schrankentrias von Art. 2 Abs. 1 GG, es darf nicht die Rechte anderer verletzen oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen. Ein Schwangerschaftsabbruch verletzt ohne Zweifel das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes. Zu untersuchen ist aber, inwieweit das ungeborene Kind ein Recht auf den Körper der Mutter hat bzw. ob eine Pflicht der Frau, das Kind auszutragen, besteht (s. unten unter 4). In dem Fall einer Schwangerschaft haben wir es nicht nur mit der Menschenwürde, der körperlichen Unversehrtheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit zu tun, sondern auch mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Frau gegenüber dem Lebensschutz des ungeborenen Menschen.404 In der Debatte des Deutschen Bundestages zur Neufassung des § 218 StGB am 25. 06. 1992405 wurde von der „Gewissensentscheidung“ der Schwangeren gesprochen. Gemäß dem Bundesverfassungsgericht kann die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben.406 Diese Argumentation ist jedoch schwach, denn auch die schrankenlosen Grundrechte können im Fall einer Kollision mit anderen Verfassungsgütern zurücktreten, insbesondere, wenn es sich dabei um das Leben handelt.407 Art. 4 Abs. 1 GG 403 404 405 406 407

BVerfGE 88, 203 (256). Koppernock, S. 107. BT-Drucks. 12/ 8223. BVerfGE 88, 203 (308). Koppernock, S. 102.

158

2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

enthält keine „Garantie, Fragen, die die persönliche Lebensgestaltung betreffen, ohne staatliche Regulierung selbst zu entscheiden“.408 Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG enthält dagegen eine entsprechende Garantie für Frauen für die Fragen, die die „engere persönliche Lebenssphäre berühren“. Die Entscheidung der Frau für oder gegen die Mutterschaft betrifft den „Kern ihrer Rechtssubjektivität“; sie berührt „ihr künftiges Leben so zentral, dass es schon sehr gewichtige Gründe geben müsste, um ihr eine eigenverantwortliche Entscheidung zu versagen.“409 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Freiheit der ärztlichen Gewissensentscheidung dem durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz der Persönlichkeit zugeordnet. Art. 2 GG garantiert nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit, sondern fordert auch die Achtung vor der sittlichen Persönlichkeit.410 Das Bundesverwaltungsgericht vertritt „die Auffassung, dass auch im Rahmen des Schutzes der Persönlichkeit und ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, wie ihn Art. 2 GG verfügt, die Gewissensentscheidung rechtlich bedeutsam ist.“411 Dass Entscheidungen, die Schwangerschaft durch Abtreibung zu beenden, „häufig in einer subjektiv empfundenen Notund Konfliktlage nach schwierigen Abwägungen getroffen“ werden, wird nicht bestritten.412 Das bedeutet aber nicht, dass es sich nicht um eine Gewissensentscheidung handelt, denn praktisch trifft man die Gewissentscheidung in Konfliktlagen.413

3. Der gesetzliche Kompromiss § 218 StGB normiert das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Ausnahmsweise erlaubt der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch in den §§ 218 ff. StGB in vier Stufen.414 Das pränatale Leben in vivo genießt nicht den gleichen Schutz wie das geborene Leben, sondern wird strafrechtlich gestuft geschützt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht als ein Rechtssubjekt mit einem eigenständigen Würdeanspruch und Lebensrecht zu verstehen ist. Der Strafrechtsschutz setzt nicht bereits mit der Befruchtung, sondern erst mit dem Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter ein. In erster Stufe (pränidative Phase) erlaubt also der Gesetzgeber die Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt (§ 218 Abs. 1 StGB). Diese Stufe reicht von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zur Einnistung des befruchteten Eies. Im Sinne des § 218 Abs. 1 StGB gelten 408

A. A. Frommel, ZRP 1990, S. 351. A. A. Frommel, ZRP 1990, S. 351. 410 BVerwGE 27, 303 (305). 411 BVerwGE 27, 303 (305). 412 Starck, JZ 1993, S. 31. 413 A. A. Starck, JZ 1993, S. 31. 414 Schlink, S. 13 ff.; Dreier, ZRP 2002, S. 377 (379 ff.); Kersten, S. 564 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, Vor. § 218 ff. StGB, Rn. 33 ff. 409

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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Handlungen, deren Wirkungen in diesem Zeitraum eintreten, folglich nicht als Schwangerschaftsabbruch. Die Verwendung von Nidationshemmern ist straflos. In zweiter Stufe (Phase von der Nidation bis zur 12. Schwangerschaftswoche) erlaubt der Gesetzgeber nach ärztlicher Beratung den Schwangerschaftsabbruch, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 218 a Abs. 2 StGB). Auf Grund dieser Indikation ist ein Abbruch grundsätzlich bis zum Ende der Schwangerschaft möglich, die kriminologische Indikation des § 218 a Abs. 3 StGB fingiert die Erfüllung der Voraussetzungen des § 218 a Abs. 2 StGB bis zum Ende der zwölften Woche.415 In dritter Stufe (Phase von der 13. bis zur 22. Schwangerschaftswochen) kann ein Schwangerschaftsabbruch auf Grund der Indikation des § 218 a Abs. 2 StGB zulässig sein. Die Schwangere kann auf Grund bloßer Beratung, das heißt auch ohne Vorliegen eines Indikationsgrundes, gemäß § 218 a Abs. 4 S. 1 StGB einen persönlichen Strafausschließungsgrund für einen ärztlich durchgeführten Schwangerschaftsabbruch erlangen. In vierter Stufe (Phase von der 23. Woche bis zur Geburt) ist ein Schwangerschaftsabbruch nur auf Grund einer medizinischen Indikation gemäß § 218 a Abs. 2 StGB erlaubt, wobei die Nichtabwendbarkeit bzw. Unzumutbarkeit der Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die Schwangere einer besonders sorgfältigen Prüfung bedarf. Die Rechtslage beim Schwangerschaftsabbruch zeigt also, dass einerseits von der Befruchtung bis zur Geburt nicht durchgehend der gleiche strenge rechtliche Schutz besteht und andererseits, dass in keiner Phase gleich hohe Anforderungen an die Tötung wie beim geborenen Menschen gestellt werden, sondern die Anforderungen kontinuierlich steigen.416

4. Die verfassungsrechtliche Diskussion Die werdende Mutter und das in ihr wachsende Kind bilden eine Gemeinschaft von einzigartiger Intensität und Asymmetrie.417 Ebenso einzigartig sind daher die Rechtfertigungsüberlegungen eines Schwangerschaftsabbruchs.418 Die Frau befindet sich in einer Konfliktlage zwischen dem Lebensrecht des werdenden Menschen und 415 416 417 418

Kersten, S. 565. Dreier, JZ 2007, S. 261 (267). Schlink, Merkur 2005, S. 1021 (1029). Schlink, Merkur 2005, S. 1021 (1029).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

ihren Rechten, die durch die Fortsetzung der Schwangerschaft beeinträchtigt werden.419 Während der Schwangerschaft gibt es eine physische und auch psychische Beeinträchtigung der Schwangeren und deswegen ist der Schutzbereich der körperlichen Integrität betroffen.420 So werden nicht nur Rechte des Nasciturus, sondern auch der Schwangeren berührt.421 Die Belastung, die die Schwangerschaft für die Mutter, für ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre soziale und psychische Situation bedeutet, darf nicht ignoriert werden. Es wird die Frage der „Verhältnismäßigkeit“ aufgeworfen und es findet, nach dem Maß der Belastung der Frau, eine Differenzierung statt. Es muss zwischen einer normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundenen Belastung und einer Belastung, „die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgeht“422, differenziert werden. Achtung vor dem ungeborenen Leben und das „Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsgutes gezwungen zu werden“, treffen aufeinander. „In einer solchen Konfliktlage, die im Allgemeinen auch keine eindeutige moralische Beurteilung zulässt […] ist der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet“.423 In der Argumentation der Rechtsprechung wird allerdings deutlich, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau Vorrang hat: „Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt ist.“424 Offen bleibt die Entscheidung, ob dem ungeborenen Leben die gleiche Rechtsgutqualität zukommt wie dem geborenen Leben. Ferner ist zu klären, welche Maßnahmen den Schutz des ungeborenen Lebens am besten gewährleisten können. Zu untersuchen ist also, ob ein Schwangerschaftsabbruch unter den Bedingungen des § 218 a StGB verhältnismäßig ist. Der Eingriff des § 218 a StGB ist zunächst geeignet, weil er das verfolgte Ziel des Schutzes des ungeborenen Lebens erreicht. Fraglich ist, ob der Eingriff auch erforderlich ist, nämlich, ob ein milderes Mittel diesem Zweck mit gleicher Effektivität dienen kann. In dieser Hinsicht ist zu prüfen, ob andere Maßnahmen sowohl dem Recht auf Leben des ungeborenen Embryos als auch der Selbstbestimmung der Frau gerecht werden könnten. Eine Adoption des Kindes nach der Geburt, die auch der Schwangeren die Möglichkeit gäbe, längere Zeit bei dem Kind zu bleiben, sich auf das Kind einzustellen, es anzunehmen und, falls das nicht gelingt, es zur Adoption zu geben,425 oder eine Heimunterbringung kommen als mildere Mittel nicht in Betracht, denn diese würden die psychischen Belange der Frau ignorieren. Zwar ist es 419 420 421 422 423 424 425

Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 27. Littwin, S. 67. Littwin, S. 67. BVerfGE 39, 1 (48). BVerfGE 39, 1 (48). BVerfGE 39, 1 (42). Starck, JZ 1993, S. 816 (820).

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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durchaus sinnvoll, diese Alternativen mit der Schwangeren zu erörtern,426 sie dürfen aber nicht obligatorisch sein. Interessant ist die theoretische Diskussion, das Gedankenexperiment, ob für den Schutz der Selbstbestimmung der Frau und des ungeborenen Embryos eine obligatorische Schwangerschaft außerhalb des Körpers der Frau eine zulässige vermittelte Lösung darstellen würde. Hier muss aber darauf hingewiesen werden, dass nicht nur die körperliche, sondern auch sie psychische Selbstbestimmung der Frau, das heißt ihre Entscheidung, ob sie biologische Mutter werden will oder nicht, ihre Entscheidung, ob sie Nachwuchs haben will, egal, ob sie selbst für ihn verantwortlich sein will oder eine andere Familie das Kind adoptieren wird, geschützt ist. Eine Adoption des Kindes oder eine Schwangerschaft außerhalb des Körpers der Frau können daher nur als freiwillige Alternativen zum Schwangerschaftsabbruchs gesehen werden, nicht aber obligatorisch sein. Der gesetzliche Eingriff ist folglich erforderlich. Schwieriger ist die Untersuchung der Verhältnismäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu prüfen ist, ob das Mittel der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs unter den Voraussetzungen von § 218 a StGB in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck des Schutzes des Lebens des Ungeborenen steht. Der Gesetzgeber hat sich bei der Abwägung zwischen dem Recht auf Leben des Ungeborenen und dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter für eine stufenweise Kompromisslösung entschieden. Es ist konsequent, diese stufenweise strafrechtliche Behandlung für jeden geregelten Fall getrennt zu untersuchen. Der Gesetzgeber erlaubt zunächst Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt (erste Stufe). In dieser Phase ist das Vorliegen einer Schwangerschaft weder objektiv beweisbar noch für die Frau subjektiv erfahrbar427 und es fehlt die Verbindung, die zwischen Mutter und Kind zu einem Verhältnis der „Zweiheit in Einheit“ führt.428 Die Abtötung der befruchteten Eizelle etwa durch die Spirale ist kein Schwangerschaftsabbruch, sondern eine Empfängnisverhütung und als solche wird sie nicht sanktioniert. Es geht um eine Phase, in der große statistische Unsicherheit, ob das Ungeborene geboren wird oder nicht, besteht.429 Das Ungeborene hat in dieser Phase kein „Sosein“, sondern nur ein „Dasein“.430 Aus einem „Dasein“ lässt sich ein „Sosein“ nicht ableiten.431 Eine Sanktionierung dieser Empfängnisverhütungmethode würde einen erheblichen Eingriff in die Intimsphäre der Frau darstellen und als solche wäre sie nicht zumutbar. Ein schlichtes Produkt- und Vertriebsverbot, z. B. der „Pille danach“, wäre auch nicht rea-

426 427 428 429 430 431

Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 130. Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, Vor. § 218 ff. StGB, Rn. 35. BVerfGE 88, 203 (252 f.). Schlink, S. 14. Schlink, S. 14. Vgl. V. Neumann, ARSP 1998, S. 153 (158).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

lisierbar.432 Folglich ist die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs in der ersten Stufe verhältnismäßig. Nach der Nidation bis zur 12. Schwangerschaftswoche (zweite Stufe) genießt das werdende Leben einen eingeschränkten Schutz. In dieser Phase, in der die Schwangere erstmals die Bewegungen des Ungeboren spürt und dessen Gestalt auf dem Bildschirm des Ultraschallgeräts sehen kann, wird das Ungeborene Person.433 Da es um eine Person geht, wird ein Abbruch der Schwangerschaft im Allgemeinen als Unrecht bzw. als rechtswidrig bezeichnet. Trotz der grundsätzlichen Rechtswidrigkeit ist jedoch ein von einem Arzt vorgenommener Abbruch bis zur 12. Woche als rechtmäßig zu behandeln, wenn eine ärztliche Beratung vorliegt und eine medizinisch-soziale oder kriminologische Indikation besteht.434 Einerseits besteht eine Fristenregelung mit Beratungspflicht. Ziel der Beratungspflicht ist, der Schwangeren in einer ergebnisoffenen Beratung Hilfsmöglichkeiten für ein künftiges Leben mit dem Kind aufzuzeigen und ihr bei der Bewältigung ihres Konflikts beizustehen.435 Eine solche Beratung kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Schwangere sich ohne Angst vor Strafe öffnen kann, sich in ihrer eigenen Verantwortung ernst genommen sieht und ihr dementsprechend auch die Letztentscheidung überlassen wird.436 Andererseits besteht eine Straflosigkeit auf Grund medizinisch-sozialer oder kriminologischer Indikation. Die medizinisch-soziale Indikation beruht auf der Erwägung, dass die Schwangere in menschlich unzumutbarer Weise überfordert würde, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes von ihr verlangt würde.437 Sowohl die physischen als auch die psychischen Belange der Schwangeren hinsichtlich des Austragens der Schwangerschaft sind nicht zu unterschätzen. Hierbei sind die gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse mit zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht muss der Schwangerschaftsabbruch zur Abwendung einer Gefahr für das Leben oder einer Gefahr einer schwerwiegender Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren notwendig sein (§ 218 a Abs. 2 StGB). Als Lebensgefahr kommen sowohl solche Risiken in Betracht, die sich aus mangelnder körperlicher Stabilität der Schwangeren oder aus bereits vorhandenen Leiden (z. B. Gebärmutterkrebs), die durch die Schwangerschaft verschlimmert werden könnten, ergeben, als auch psychische Depressionen, die eine Suizidneigung hervorrufen oder verstärken könnten.438 Als Gesundheitsgefahr kommen sowohl die Hervorrufung wie auch die Steigerung von Krankheiten in Betracht. Die Lebens- und Gesundheitsgefahr muss schwerwiegend sein, 432 433 434 435 436 437 438

Dreier, JZ 2007, S. 261 (268). Schlink, S. 14. Dreier, JZ 2007, S. 261 (268). Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 3. BT-Drucks. 12/2605, S. 3 ff., 16 ff., 21; BVerfGE 88, 203 (247). BVerfGE 88, 203 (256). Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 28.

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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wobei solche Gefahren nicht zu berücksichtigen sind, die naturgemäß jede Schwangerschaft zur Folge hat oder die mit der Einplanung eines unerwarteten Kindes oder der Beschränkung der Lebensstandards der Schwangeren verbunden sein können.439 Die Lebens- oder Gesundheitsgefahr darf zudem nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abwendbar sein (§ 218 a Abs. 2 StGB). Letzteres bedeutet, dass ein Strafausschließungsgrund nicht in Betracht kommt, wenn eine medizinische Gefahr durch eine medizinische Behandlung zu beheben ist und deswegen der Abbruch medizinisch nicht erforderlich ist.440 Das gleiche gilt bei einer sozialen Indikation, wenn die Möglichkeit der Einweisung der Schwangeren in eine Heilanstalt besteht.441 Hinsichtlich der Rechtfertigung der medizinisch-sozialen Indikation dieser Stufe (und der folgenden dritten Stufe) ist Folgendes zu beachten: Das Wesentliche an dem Konflikt zwischen dem pränatalen Leben und dem Selbstbestimmungs- und Integritätsrecht der Frau ist, dass das pränatale Leben im Körper der Frau entsteht.442 Dies bedeutet, dass das Lebensrecht des ungeborenen Kindes im Körper der Frau geltend gemacht wird. Eine solche Situation gibt es unter Geborenen nicht.443 Wenn z. B. ein Kind auf eine Niere angewiesen ist, damit es weiter leben kann – sind dann die Eltern verpflichtet, eine Niere zu spenden und damit ihre Gesundheit bzw. ihr Leben zu gefährden?444 Trotz engster Garantenstellung der Eltern ist dies nicht der Fall.445 Wenn das Kind auf Grund der Verweigerung der Spende stirbt, machen sich die Eltern nicht wegen einer Tötung durch Unterlassen strafbar. Das Kind hat ein Recht auf Leben, nicht aber ein Recht auf den Körper eines anderen. Man darf natürlich nicht übersehen, dass es sich im genannten Fall um ein Unterlassen handelt, während es im Falle des Schwangerschaftsabbruchs um ein aktives Tun geht.446 Dieser Unterschied darf jedoch nicht zu dem falschen Schluss führen, dass das pränatale Leben besser geschützt werden muss als das postnatale Leben, weil die konkreten prä- und postnatalen Situationen ebenso wenig vergleichbar sind.447 Gemäß den Mehrheitsentscheidungen der beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch muss der Staat „grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen“.448 Eine unmittelbare Schutzpflicht der Frau muss je-

439 440 441 442 443 444 445 446 447 448

Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 30. Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 33. Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 34. BVerfGE 39, 1 (45) – abw. Meinung; 88, 203 (342) – abw. Meinung. BVerfGE 39, 1 (42, 48, 69, 78); 88, 203 (253, 341). Kersten, S. 567. Vgl. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, S. 821 – 822. Kersten, S. 567. Kersten, S. 567. BVerfGE 39, 1 (44).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

doch abgelehnt werden.449 Eine unmittelbare verfassungsrechtliche Pflicht der Frau, das Kind auszutragen und zu gebären, ist grundrechtsdogmatisch nicht begründbar. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet unmittelbar den Gesetzgeber und nicht die Schwangere. Der Gesetzgeber kann auf Grund der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben die Freiheit der Schwangeren einschränken, in dem er ihr die Rechtspflicht auferlegt, ihr Kind auszutragen und zu gebären, wenn das Austragen des Kinds nicht unzumutbar für die Frau ist.450 Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte hat nichts mit einer Grundrechtsbindung der Bürger in ihrem Verhältnis untereinander zu tun.451 Die Grundrechte haben zwar eine Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht, nicht aber in dem Sinne, dass den Bürgern unmittelbar Verhaltenspflichten gegenüber den Mitbürgern auferlegt werden.452 In der hier diskutieren Phase besteht auch ein Strafausschließungsgrund, wenn die Schwangerschaft Folge einer rechtswidrigen Tat im Sinne der §§ 176 bis 179 StGB ist. In Betracht kommen hier hauptsächlich die Vergewaltigung nach § 177 Abs. 2 S. 1 StGB, der sexuelle Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176 a, 176 b StGB), die Erfolgsqualifizierung der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung (§ 178 StGB) und der sexuelle Missbrauch Widerstandsunfähiger (§ 179 StGB). Wenn die Schwangere bei einer medizinisch-sozialen Indikation, bei der sie praktisch für das Entstehen des Konflikts zwischen ihr und dem ungeborenen Leben verantwortlich ist,453 zu einem Schwangerschaftsabbruch berechtigt ist, muss sie erst recht nicht ihren „Körper für die Erhaltung eines anderen zu Verfügung stellen, wenn [sie] für die Situation, in der der andere dieses Körpers zum Überleben unbedingt bedarf, weder kausal gewesen ist noch in irgendeiner sonstigen Weise zuständig gemacht werden kann.“454 Die Pflicht, eine Schwangerschaft aufrecht zu erhalten, die Folge einer rechtswidrigen Tat ist, würde zu einer Verletzung der Menschenwürde der Frau führen. Die Frau hat also keine Pflicht, einen mit Zwang involvierten Embryo zu schützen. Folglich ist die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in der zweiten Stufe verhältnismäßig. Je weiter das menschliche Leben entwickelt ist, desto stärker ist der grundrechtliche Lebensschutz. Zwischen der 13. und 22. Woche (dritte Stufe) besteht lediglich ein Strafausschließungsgrund im Falle der so genannten embryopathischen Indikation.455 Es kann von der Schwangeren nicht verlangt werden, ein behindertes Kind zu

449

Kersten, S. 568. Kersten, S. 569. 451 BVerfGE 52, 131 (173). 452 Hesse, Rn. 355. In dieser Hinsicht ist der Begriff „Drittwirkung von Grundrechten“ irreführend, s. Rupp, AöR 1976, S. 161 (168). 453 Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 144. 454 Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 145. 455 Der Gesetzgeber hat die embryopathische Indikation durch Vermengung mit der medizinischen Indikation vollständig verdunkelt. Die embryopathische Indikation ist auf Druck 450

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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betreuen.456 Das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes tritt hinter der außergewöhnlichen seelischen Überforderung und faktischen Belastung der Frau zurück. Dieser Straffausschließungsgrund ist nicht als eine Diskriminierung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG457 und als Abwertung behinderten Lebens misszuverstehen. Es besteht kein allgemeines Recht auf ein nichtbehindertes Kind.458 Wenn aber eine Diagnose vorliegt, dass das Kind bestimmte Schädigungen infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt hat, dann kann das Austragen des Kindes für die Schwangere eine körperliche oder seelische Gesundheitsgefährdung bedeuten.459 Es besteht ein Differenzierungsgrund dahingehend, ob ein Fötus abgetrieben wird, weil er geschädigt ist, oder ob er abgetrieben wird, weil er wegen seiner Schädigung eine unzumutbare Gesundheitsbedrohung für die Schwangere darstellt.460 Die Art und Schwere der erforderlichen zu befürchtenden Schädigung kann nicht abstrakt festgelegt werden, sondern muss im Hinblick auf den Einzelfall bewertet werden.461 Kriterien können hierbei unter anderem zeitliche, kräftemäßige oder finanzielle Überforderungen bei der Versorgung eines behinderten Kindes sein, soweit sich dies für die Schwangere gesundheitlich niederschlägt.462 Zu bemerken ist, dass beim Konflikt zwischen der schwangeren Frau und dem geschädigten Fötus eine Lösung zuungunsten des Ungeborenen zugelassen wird, die unter lebenden Personen undenkbar wäre.463 Nach der Geburt des behinderten Kindes kommt eine Lösung des Konfliktes nach diesem Schema nicht mehr in Betracht.464 Folglich ist die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs auch in der dritten Stufe verhältnismäßig. Ab der 22. Woche könnte das Ungeborene auch schon außerhalb der Schwangeren leben. Ein Abbruch kommt in die Nähe einer Kindstötung465 und ist moralisch erheblich problematischer als ein früherer Abbruch, weil der Fetus bereits wahrnehmungs-, subjektiv erlebens- und schmerzfähig ist.466 Es geht nicht mehr nur um das „Dasein“, sondern um das „Sosein“ des Ungeborenen, um die Bedingungen seiner Entwicklungen.467 Ausnahmsweise ist in dieser Phase ein Abbruch zulässig, wenn er von einem der Behindertenverbände und wohl auch der Kirchen in der medizinischen Indikation aufgegangen. Vgl. Dreier, ZRP 2002, S. 377 (381). 456 BVerfGE 88, 203 (272). 457 Vgl. Beckmann, MedR 1998, S. 155 (159 ff.). 458 OLG Düsseldorf, VersR 2003, S. 1543 (1543). 459 Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 39. 460 Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 97. 461 Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 39. 462 Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 39. 463 Dreier, JZ 2007, S. 261 (269). 464 Dreier, JZ 2007, S. 261 (269). 465 Schlink, S. 15. 466 Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 107. 467 Schlink, S. 15.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Arzt auf Grund medizinischer Indikation vorgenommen wird (vierte Stufe). Es ist eine enge medizinische Indikation, ein Konflikt zwischen dem Leben der Mutter, das durch den Nasciturus gefährdet wird, und dem Leben des Ungeborenen erforderlich. Auch in den spätesten Gestationswochen können noch gravierende, lebensbedrohliche Gefahren für die Schwangere entstehen.468 Es geht um eine Notlage, in der das Leben der Schwangeren Vorrang hat. Man kann nicht von einer Schwangeren verlangen, ihr Leben zu gefährden, um das Kind auszutragen. Die Rechtsordnung kann keine heroische Hinnahme des Todesschicksals erwarten.469 Folglich ist die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in der vierten Stufe verhältnismäßig. Die aufgezeigten strengen Verfahrensregeln, die einerseits das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen der Ausnahmesituation des Schwangerschaftsabbruchs und andererseits die Autonomie der Frau prozedural absichern, führen zu einer praktischen Konkordanz zwischen der Schutzpflicht des Staates für das Leben des Ungeborenen und dem gewichtigen Interesse der Mutter an einer autonomen Gestaltung ihres Lebens. Eine absolute Autonomie der Frau ist gesetzlich nicht verankert worden. Es besteht kein Rechtfertigungs- oder Strafausschließungsgrund, wenn die Mutter das Kind ”bloß nicht haben will”. Nur bestimmte strenge Voraussetzungen rechtfertigen den Schwangerschaftsabbruch bzw. stellen diesen straflos. Ob diese Voraussetzungen in der gegenwärtigen Praxis immer erfüllt werden und ob hinter einer sozialen Indikation nicht teilweise eine bloße Unlust auf Kinder steckt, ist Sache des Rechtsanwenders. Die Gefahr, dass die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten Voraussetzungen zu einer unkontrollierbaren Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs führt, sollte jedoch zu einer strengen Kontrolle der medizinischen Praxis führen und nicht zu der bloßen Verweigerung der Selbstbestimmung der Frau. Zudem muss betont werden, dass eine offene, transparente und in prozedurale Bahnen gelenkte Praxis des Schwangerschaftsabbruchs gegenüber im Verborgenen praktizierten Schwangerschaftsabbrüchen mehr Kontrolle und eine bessere Verhinderung von Missbrauch gewährleistet. Folglich ist § 218 StGB verfassungsgemäß.

5. Das Recht auf Zugang zu genetischen Informationen des Embryos als Ausfluss der Selbstbestimmung der zukünftigen Eltern? Fraglich ist weiter, ob sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der potenziellen Eltern, das in Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist, ein Recht der zukünftigen Eltern ergibt, vor der endgültigen Entscheidung für oder gegen die Aufrechterhaltung einer Schwangerschaft Zugang zu den genetischen Informationen

468 469

Merkel, in: Nomos Kommentar – StGB, § 218 a StGB, Rn. 112. A. A. Esser, MedR 1983, S. 57 (59).

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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des Embryos zu erhalten.470 Problematisch ist hierbei, dass es sich um den Zugang zu den genetischen Informationen des Embryos, das heißt eines fremden Rechtsträgers, handelt.471 Aus dem Selbstbestimmungsrecht der potenziellen Eltern kann grundsätzlich kein Recht auf Kenntnis wesentlicher Informationen über die Anlagen eines fremden Rechtsträgers folgen.472 Die Verhinderung möglicher Krankheiten und Behinderungen des Embryos prägt jedoch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der potenziellen Eltern hinsichtlich des Eingehens der Schwangerschaft und der Erfüllung der elterlichen Pflichten.473 Die Entscheidung der zukünftigen Eltern, ob sie ein genetisches Risiko eingehen wollen, die Akzeptanz des Risikos schwerwiegender Krankheiten bei künftigen Kindern und die Annahme eines behinderten Kindes gehört zu den ethisch, medizinisch und menschlich schwierigsten Entscheidungen der potenziellen Eltern.474 Das Treffen einer entsprechenden Entscheidung setzt seinerseits zuverlässige Informationen über die genetische Struktur des implantierenden Embryos voraus, denn sie betrifft nicht nur das Leben der gesamten Familie, sondern auch die körperliche und seelische Gesundheit der Mutter.475 Diese Information hat also nicht nur mit der Integrität und Identität des Embryos zu tun, sondern zutiefst auch mit derjenigen der Eltern und insbesondere der Mutter.476 Ein Recht auf Kenntnis wesentlicher Daten und Informationen zur Identität und Gesundheit des Embryos als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der Eltern bewahrt die Eltern davor, zum Objekt der Entscheidung anderer in der Medizin zu werden oder sich einer Entscheidung ausgesetzt zu sehen, deren wichtigste Prämisse, die Gesundheit des Embryos, sie nicht kennen.477 Daher ist der Zugang zu den genetischen Informationen des Embryos Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der potenziellen Eltern.

6. Schwangerschaftsabbruch gegen oder ohne den Willen der Frau Ein Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen der Frau (Zwangsschwangerschaftsabbruch) ist gemäß § 218 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StGB mit einer Strafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bedroht. Ein zwangsweiser Schwangerschaftsabbruch verstößt einerseits gegen das Recht auf Leben des ungeborenen Lebens und andererseits gegen das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren über ihre körperliche Integrität und ihre Entscheidung, Mutter zu werden.478 Das Verbot des zwangsweisen Schwangerschaftsabbruchs ist also in dem Recht auf Leben des ungeborenen Lebens 470 471 472 473 474 475 476 477 478

S. Kriari-Catranis, European Journal of Health Law 1997, S. 43 (50 ff.). Herdegen, JZ 2001, S. 773 (777). Herdegen, JZ 2001, S. 773 (777). Herdegen, JZ 2001, S. 773 (777). Hufen, MedR 2001, S. 440 (443). Hufen, MedR 2001, S. 440 (443). Hufen, MedR 2001, S. 440 (443). Hufen, MedR 2001, S. 440 (443). Ostendorf, S. 89.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

(Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), dem Recht auf körperliche Unversehrtheit der Frau (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), dem Persönlichkeitsrecht der Frau (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Nachkommenschaft der Frau (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG) verankert. Bei der verfassungsrechtlichen Analyse ist zudem die Menschenwürde der Frau (Art. 1 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Der zwangsweise Schwangerschaftsabbruch verletzt als solcher die Menschenwürde, weil er zu einer Manipulierung und Instrumentalisierung der Patientin führt. Dies ist auch der Fall, wenn der Abbruch gegen den Willen der Frau aus medizinischen Gründen vorgenommen wird. Wenn die Frau einwilligungsfähig ist, hat sie das Recht, ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit durch die Schwangerschaft zu gefährden und auch das Risiko einer schwerwiegenden Krankheit bei ihrem künftigen Kind zu akzeptieren. Die Frau darf selbst darüber entscheiden, ob sie das Risiko der Geburt oder des Abbruchs auf sich nehmen will oder etwa aus Gewissengründen dem Kind den Vorrang lässt.479 Die Einwilligungsfähigkeit der Schwangeren hängt dabei nicht von bürgerlich-rechtlicher Geschäftsfähigkeit, sondern von der natürlichen Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Schwangeren ab.480 Wenn die Frau einwilligungsunfähig ist (z. B. auf Grund mangelnder Reife, Geistesgestörtheit oder Bewusstlosigkeit infolge Unfalls), so stellt sich die Frage, ob eine stellvertretende Entscheidung durch den Betreuer denkbar ist. Dieses Problem erscheint bei einem Schwangerschaftsabbruch auf Grundlage des § 218 a Abs. 1 StGB, dessen Tatbestand das „Verlangen der Schwangeren“ voraussetzt, besonders brisant. Es stellt sich also die Frage, ob dieses Verlangen durch einen Stellvertreter erklärt werden kann. Die Einwilligung kann bei Vorliegen der medizinischen Indikation durch den gesetzlichen Vertreter oder den sonst Sorgeberechtigten ersetzt werden,481 wenn der Wille und die Wünsche der betreuten Schwangeren beachtet werden,482 soweit die Schwangere sich der Schwangerschaft bewusst ist und hierzu Stellung bezieht483. Wenn die Einwilligung des Betreuers verweigert wird und der mutmaßliche Wille der Schwangeren nicht bestimmt werden kann, ist ein Abbruch nur bei akuter Lebensgefahr statthaft.484 Fraglich ist, ob bei Einwilligungsunfähigkeit der Schwangeren die Mitwirkung des Vormundschaftsgerichts gemäß § 1904 BGB erforderlich ist. Ein Schwangerschaftsabbruch gehört nicht zu den besonders riskanten Eingriffen, auf Grund derer die Schwangere sterben kann oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleiden kann. Deswegen bedarf die Einwilligung des Betreuers nicht einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 BGB.485

479 480 481 482 483 484 485

Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 61. Henke, NJW 1976, S. 1773 (1776). Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 61. Vgl. Kollmer, S. 199. Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1904, Rn. 33. Eser, in: Schönke/Schröder StGB Kommentar, § 218 a StGB, Rn. 61. Schwab, in: MünchKomm BGB, § 1904, Rn. 33.

VI. Schwangerschaft/Schwangerschaftsabbruch

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7. Die freie Wahl der Entbindungsmethode Das Recht aller Frauen, selbst über die für sich richtige Entbindungsmethode zu entscheiden, muss möglichst umfassend gewährleistet werden. Die Wahl zwischen vaginaler und Schnittentbindung ist für die betroffene Frau eine grundlegende Entscheidung, bei der sie entweder ihrem eigenem Leben oder dem Leben und der Gesundheit ihres Kindes Priorität einräumt.486 Strittig ist der Fall, in dem die Wahl einer Entbindungsmethode die körperliche Unversehrtheit des Kindes gefährdet. Etwa in dem Fall, in dem die Schwangere eine vaginale Entbindung wünscht, diese aber aus medizinischen Gründen im Hinblick auf die Gesundheit oder das Leben des Kindes nicht geeignet ist. Wie muss der Arzt hier entscheiden? Er muss den Willen der Frau respektieren. Das Recht auf Selbstbestimmung der Frau umfasst das Recht der Wahl der Entbindungsmethode auch dann, wenn diese in den Augen des Arztes nicht geeignet erscheint. Eine Schnittentbindung könnte die Gefahr einer schweren Schädigung des Kindes abwehren, während sie gleichzeitig ein Risiko für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Mutter darstellt. Die Rechtsordnung kann aber keine heroische Hinnahme einer Gefahr des Lebens oder der Gesundheit der Frau zugunsten des Kindes erwarten. Die einzige Aufgabe des Arztes ist es, die Frau ausführlich über alle Folgen und möglichen Risiken der Entbindungsmethoden zu informieren. Nach der vollständigen Aufklärung hat die Frau die Wahl zu treffen. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Frau während der Entbindung oft nicht in der Lage ist, alle Aspekte in ihre Entscheidung einzubeziehen. Wenn die Frau einwilligungsunfähig ist, sollte der Partner oder ein Angehöriger der Schwangeren für sie entscheiden. Wenn der Partner oder ein Angehöriger nicht anwesend ist, muss der Arzt in extremen Ausnahmefällen der Einwilligungsunfähigkeit der Frau das Recht haben, eine bestimmte Entbindungsmethode gegen den Willen der entscheidungsunfähigen Frau und zugunsten der Gesundheit und des Lebens des Kindes zu bestimmen, wenn die von dem Arzt ausgewählte Entbindungsmethode nicht eine erhöhte Gefahr für die Gesundheit der Frau darstellt und die Gefahr für das Kind nicht auf andere für die Frau zumutbare Weise abgewendet werden kann.

8. Resümee Die Schwangerschaft bringt einen großen Konflikt im Bereich der Selbstbestimmung des Patienten zum Ausdruck. Auf der einen Seite steht die Selbstbestimmung der Frau, die Ausfluss ihres Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und auch des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ist, und auf der anderen Seite das Lebensrecht des ungeborenen Kindes (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Bei dem Versuch, beide Rechte in eine praktische Konkordanz zu bringen, hat der Gesetzgeber sich in den §§ 218 ff. StGB für eine stufenweise Kompromisslösung entschieden. Die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs lässt sich unter 486

BGH, NJW 1993, S. 2372 (2374).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

bestimmten Voraussetzungen dadurch erklären, dass das ungeborene Kind kein Recht auf den Körper eines anderen, sondern nur ein eigenes Lebensrecht besitzt. Deshalb besteht unter bestimmten Voraussetzungen keine Pflicht der Mutter, ihren Körper zu schädigen, um das Kind auszutragen. Grundlage der verfassungsrechtlichen Diskussion ist, dass der Lebensschutz nicht immer mit dem Würdeschutz identisch ist. Die Schutzpflicht des Staates ist nicht absolut geschützt und deshalb ist eine Abstufung und Abwägung des Rechts auf Leben gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG auf Grund eines Gesetzes möglich. Hierbei ist es nicht einfach, den verschiedenen Lebensphasen und -situationen des Ungeborenen gerecht zu werden. Die §§ 218 ff. StGB versuchen mit verfassungsrechtlicher Konsequenz eine angemessene Abstufung vorzunehmen. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau ist nicht auf das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch unter strengen Voraussetzungen beschränkt, sondern gewährt auch eine Freiheit hinsichtlich weiterer Entscheidungen, die die Schwangerschaft betreffen, wie z. B. die Wahl der Entbindungsmethode.

VII. Die Entnahme von Blut und Organen 1. Die Blutentnahme/Bluttransfusion a) Der Begriff Unter dem Begriff Blutentnahme ist das Entnehmen von Blut für medizinische Untersuchungen zu verstehen.487 Bluttransfusion ist die Übertragung von Blut eines Spenders auf einen Empfänger.488 b) Die Einwilligung als Voraussetzung der Blutentnahme und die Aufklärungspflicht des Arztes Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Patienten umfasst die Freiheit des Patienten zu bestimmen, welche Untersuchungen an seinem Körper und mit Hilfe seiner Körpersubstanzen durchgeführt werden dürfen.489 Die Entnahme von Blut stellt einen Eingriff in die körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar und bedarf deshalb der Rechtfertigung durch eine Zustimmung nach Aufklärung.490 Der Patient hat das Recht, eine medizinisch gebotene Untersuchung zu verweigern.491 Voraussetzung für die Rechtfertigung der Blutentnahme ist die Einwilligung des Patienten, die nur nach ausreichender Aufklärung wirksam ist. Bei der Blutentnahme 487 488 489 490 491

Duden – Deutsches Universalwörterbuch (unter Blutentnahme). Duden – Deutsches Universalwörterbuch (unter Bluttransfusion). Schröder/Taupitz, S. 25. Deutsch/Spickhoff, Rn. 1687. Schröder/Taupitz, S. 25.

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

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hängt der Umfang der Aufklärungspflicht von der Art des Eingriffs ab.492 An die Risiko-Aufklärung bei diagnostischen Eingriffen ohne direkten therapeutischen Eigenwert sind höhere Anforderungen zu stellen.493 Der Umfang der Aufklärung vor einer medizinisch indizierten Blutentnahme ist aber in der Praxis gering, denn die Patienten wissen in der Regel um die allgemeinen Risiken der Blutentnahme und sind deshalb nicht aufklärungsbedürftig.494 Der Patient muss aufgeklärt werden, aus welchem Grund ihm Blut entnommen werden soll. Die Tatsache, dass der Patient oft nicht in der Lage ist Aufzeichnungen medizinischer und technischer Art zu verstehen, ist keine Rechtfertigung für die Verweigerung der Einsicht durch den Arzt.495 aa) Routinemäßige Untersuchung Untersuchungseinzelheiten über die exakte Zielrichtung eines Tests sind notwendig, wenn der Patient darüber informiert werden will. Wenn es um eine routinemäßige Untersuchung geht, ist der Arzt nicht verpflichtet, alle Einzelheiten der Untersuchung zu erwähnen, wenn der Patient nicht danach fragt.496 bb) Spezifische Untersuchung am Beispiel von HIV-Untersuchungen Wenn es allerdings um eine spezifische Untersuchung geht, sind die Aufklärungsanforderungen höher. Charakteristisch ist das Beispiel von HIV-Untersuchungen. Eine HIV-Infektion betrifft den Persönlichkeitsbereich des Patienten, so dass sein Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich die umfassende Aufklärung über die geplante Durchführung des HIV-Tests erfordert. Die Blutentnahme zur Durchführung eines HIV-Tests ist nur bei vorangegangener besonderer Aufklärung und Einwilligung des Patienten gerechtfertigt.497 Das Erfordernis einer Zustimmung des Patienten kann jedoch auch mit Nachteilen verbunden sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes soll es daher Situationen geben, „in denen der Arzt dem Patienten aus therapeutischen Gründen gewisse Erkenntnisse vorenthalten darf und muss“498 und Verdachtsdiagnosen der Einsicht des Patienten entzogen bleiben dürfen, wenn die Kenntnis einer ungünstigen Prognose den Patienten für die verbleibende Lebenszeit resignieren lassen würde und die Gefahr eines körperlichen und seelischen Zusammenbruchs heraufbeschwören würde499 Wenn z. B. ein Arzt den Verdacht hat, dass ein Patient HIV-positiv ist 492 493 494 495 496 497 498 499

Vgl. BGH, NJW 1971, S. 1887 (1887 f.); NJW 1979, S. 1933 (1934 f.). BGH, NJW 1979, S. 1933 (1934); NJW 1971, S. 1887 (1888). Janker, NJW 1987, S. 2897 (2900). BGHZ 85, 327 (332) Schröder/Taupitz, S. 25 – 26. StA Mainz, NJW 1987, S. 2946 (2947). BGHZ 29, 46 (57); 85, 327 (333). BGHZ 85, 327 (333).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

bzw. an AIDS leidet, sich aber nicht sicher ist, bestehe kein Grund, den Patienten mit seinen Verdachtsdiagnosen zu belasten. Der Arzt dürfe folglich in bestimmten Ausnahmefällen eine stillschweigende Einwilligung zur Untersuchung annehmen, insbesondere wenn der Patient eine umfassende medizinische Abklärung seines Gesundheitszustandes verlangt, was die Klärung seines Immunstatus mit einschließt.500 Er könne deshalb im Einzelfall wegen dieses „Schonungsgebotes“ die Untersuchung ohne die ausdrückliche Einwilligung des Patienten durchführen und diesen nur dann informieren, wenn dieser tatsächlich HIV-positiv ist bzw. an AIDS leidet.501 Dies würde entsprechend auch bei anderen sehr schweren Krankheiten, wie z. B. bei Karzinom-Erkrankungen, gelten. Dieser Rechtsprechung kann allerdings nur hinsichtlich derjenigen Fälle zugestimmt werden, in denen der Patient tatsächlich ausdrücklich eine umfassende Abklärung seines Gesundheitszustandes wünscht, und nicht über die weiteren Einzelheiten informiert werden möchte. Der Arzt benötigt in jedem Fall die Einwilligung des Patienten zur Durchführung von Untersuchungen. Wenn der Patient eine solche nicht erteilt hat, darf der Arzt auch dann keine Untersuchungen durchführen, wenn er den Patient mit einer Verdachtsdiagnose belasten würde oder zu befürchten ist, dass der Patient beunruhigt oder in seiner Gemütsverfassung depressiv beeinträchtigt werden könnte. Alles andere würde einen unangemessenen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten darstellen. cc) Die Nutzung der Blutentnahme für andere Zwecke Wenn der Arzt eine diagnostisch indizierte Blutentnahme nutzen will, um bei dieser Gelegenheit auch Blut für einen anderen Zweck entnehmen zu können, muss er die Zustimmung des Patienten zu der konkreten Entnahme einholen.502 Wenn die Blutentnahme einem anderen Zweck als demjenigen, dem der Patient zugestimmt hat, dient, wenn sie z. B. zur Forschung, zum abstrakten Erkenntnisgewinn oder für kommerzielle Zwecke verwendet wird, ist die Einwilligung des Patienten unwirksam.503 dd) Blutentnahme beim Beschuldigten Die Blutentnahme beim Beschuldigten bedarf zu ihrer Rechtmäßigkeit der Anordnung durch den Richter oder die Strafverfolgungsorgane nach § 81 a StPO. Die Anordnung einer Blutentnahme gibt dem Arzt das Recht, den Eingriff auch gegen den

500

Laufs, NJW 1988, S. 1499 (1503). Laufs/Laufs, NJW 1987, S. 2257 (2263); Laufs, NJW 1988, S. 1499 (1503); Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 63, Rn. 15. 502 Schröder/Taupitz, S. 28. 503 Schröder Taupitz, S. 28. 501

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

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Willen des Beschuldigten durchzuführen.504 Die Anordnung begründet jedoch keine Pflicht des Arztes zur Blutentnahme.505

c) Bluttransfusion Eine Bluttransfusion stellt oft einen Konflikt zwischen dem Wohl und dem Willen des Patienten dar. Sie ist in vielen Fällen die einzige Möglichkeit zur Rettung des Patienten. Der Patient muss aber nicht jede Therapiemöglichkeit annehmen. Wenn der Patient nicht einwilligt oder eine Einwilligung ausdrücklich ablehnt, ist die Bluttransfusion nicht gerechtfertigt (§ 6 Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens, TFG). Häufig verweigern Zeugen Jehovas eine Bluttransfusion, da nach ihrer Lehre von der Heiligkeit des Blutes der Tod einer Fremdblutspende vorzuziehen ist. Die Bluttransfusion stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar und als solche darf sie nicht zwangsweise erfolgen. Der Arzt muss das Behandlungsveto des Patienten respektieren und hat nicht das Recht, die Motive des Patienten zu erforschen oder zu bewerten.506 Bei der Behandlung von Minderjährigen, deren Eltern einer Bluttransfusion nicht zustimmen, z. B. weil sie Zeugen Jehovas sind, besteht ein Widerstreit des Integritätsinteresses des Patienten mit dem religiösen Selbstverständnis der Sorgeberechtigten.507 Deshalb ist in solchen Fällen das Vormundschaftsgericht einzuschalten. Dieses wird das elterliche Sorgerecht einschränken und die Bluttransfusion erlauben, da die Verweigerung einer Bluttransfusion eine Art der missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge im Sinne von § 1666 BGB ist.508 Wenn die Eltern eine ärztlich indizierte Bluttransfusion verweigern, so kann bei besonderer Eilbedürftigkeit eine vorläufige Anordnung zur Ersetzung der elterlichen Einwilligung auch ohne Gewährung des rechtlichen Gehörs für die Eltern ergehen.509 Das Recht der elterlichen Sorge im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist den Eltern nicht zur Verfolgung eigener Interessen, sondern zum Schutz des Kindes und zur Förderung seines Wohls gegeben.510 Die Verweigerung einer Bluttransfusion ist kein Ausdruck der gemeinsamen familiären Lebensgestaltung, sondern eine Entscheidung, die das Kind unmittelbar in seinem Integritätsinteresse trifft.511 Es liegt also keine Beschränkung des Rechts der elterlichen Sorge vor, weil die Verweigerung einer lebensrettenden Transfusion bzw. die Verweigerung der Lebensrettung des Kindes nicht in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG fällt. Ebenfalls verleiht das Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 504 505 506 507 508 509 510 511

Rieger, S. 226, Rn. 452. Rieger, S. 226, Rn. 452. Bender, MedR 1999, S. 260 (261). Bender, MedR 1999, S. 260 (264). Olzen, in: MünchKomm BGB, § 1666, Rn. 77. OLG Hamm, FamRZ 1968, S. 221 (222 – 3); OLG Celle, NJW 1995, S. 792 (793). Bender, MedR 1999, S. 260 (265). BayObLG, FamRZ 1993, S. 1350 (1351).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Abs. 1 GG) dem Gläubigen nicht die Befugnis, das Leben eines anderen seiner religiösen Überzeugung zu opfern.512

2. Die Organtransplantation/Organentnahme a) Der Begriff Organtransplantation ist die operative Übertragung von Zellen, Geweben oder Organen auf ein anderes Individuum oder an eine andere Körperstelle zu therapeutischen Zwecken.513 Die Organentnahme kann sowohl bei Lebenden als auch bei Verstorbenen durchgeführt werden. Die Lebend-Transplantation ist eine Organ-Explantation von einem lebenden und gesunden Spender mit anschließender Übertragung auf den Empfänger, während die postmortale Transplantation eine Organ-Explantation von einem (hirn)toten Spender mit anschließender Übertragung auf einen lebenden, aber in der Regel schwer kranken Empfänger ist.514 b) Die Organentnahme bei Lebenden aa) Der Fall der Selbstaufopferung bzw. einer altruistischen Spende (1) Die Gesetzeslage Das Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) nennt als notwendige Voraussetzung der Zulässigkeit der Organentnahme bei Lebenden, dass der Spender „nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer geschädigt wird“ (§ 8 Abs. 1 S. 1 c TPG). In dieser Hinsicht schließt das Gesetz eine Selbstaufopferung auch des selbstbestimmenden Menschen aus. Es erlaubt z. B. nicht, dass Eltern ihre Gesundheit oder ihr Leben zum Wohle ihrer Kinder opfern. Ziel des Gesetzgebers ist es, einerseits das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Spender zu schützen515 und andererseits potenzielle Spender vor einem schwerwiegenden innerlichen Konflikt zu bewahren.516

512

Vgl. BVerfGE 32, 98 (106 ff.). S. auch oben Erster Teil, II, f) bb) (aaa). Vgl. Schoeller, S. 10. 514 Oduncu, in: Schröth/König/Gutmann/Oduncu TPG Kommentar, Einleitung, Rn. 15. 515 Esser, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, § 8, Rn. 37. 516 Feuerstein; in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, Anhang 2 zu § 8, Rn. 2. 513

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

175

(2) Die Problematik Die Spende von Organen bei Lebenden erscheint auf den ersten Blick unproblematisch, weil der Lebende in der Lage ist, seine Zustimmung hierzu zu geben. Unproblematisch erscheint es etwa, wenn Eltern ihrem heranwachsenden Kind eine ihrer Nieren spenden, insbesondere, wenn man bedenkt, dass Kinder bei Dialysebehandlung im Wachstumsalter ein nicht korrigierbares Entwicklungsdefizit erleiden.517 Die bei der Lebendspende berührten Interessen sind jedoch nicht dieselben wie bei der Organentnahme von Hirntoten: Neben dem Interesse der potenziellen Organempfänger an einer ermöglichenden Regelung sind hier auch Rechtsgüter der Spender, nämlich deren Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, zu beachten.518 Die Problematik besteht darin, dass der Lebende, der sein Organ spendet, die negativen Folgen der Transplantation tragen muss, während der Tote wegen seines Todes solche Folgen nicht zu tragen hat. Das Risiko einer Komplikation anlässlich einer Nierenentnahme, z. B., ist zwar nicht hoch, es besteht aber. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die Gesundheit oder sogar das Leben eines Menschen für die Behandlung eines anderen gefährdet werden darf. (3) Die Beurteilung Zunächst stellt sich die Frage, ob das Recht auf Verfügung über das eigene Leben und den eigenen Körper auch zu Gunsten anderer Personen geltend gemacht werden kann. Zudem ist zu prüfen, ob der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Spenders sowie die Bewahrung des potenziellen Spenders vor einer Konfliktlage eine ausreichende Rechtfertigung für die Beschränkung seiner Selbstbestimmung darstellen. Zu untersuchen ist also, ob das Verbot der Selbstaufopferung nach § 8 Abs. 1 S. 1 c TPG verhältnismäßig ist. Der Eingriff des § 8 Abs. 1 S. 1 c TPG ist zunächst geeignet, weil er den verfolgten Zielen des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens des potenziellen Spenders sowie seiner Bewahrung vor einer Konfliktlage dient. Da keine Alternativen zu einem solchen Verbot ersichtlich sind, welche der Erreichung der genannten Ziele ebenso effektiv dienen können, ist dieses auch erforderlich. Zu prüfen ist des Weiteren die Verhältnismäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu untersuchen ist, ob das Mittel des Verbots der Selbstaufopferung des potenziellen Spenders unter den Voraussetzungen von § 8 Abs. 1 S. 1 c TPG, welches das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beschränkt, in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen steht. Der Gesetzgeber hat sich insoweit für eine Kompromisslösung entschieden. Er verbietet die Spende von lebenswichtigen 517

Renner, in: Organtransplantation – Beiträge zu ethischen und juristischen Fragen, S. 53

(59). 518

Vgl. Schoeller, S. 82, die aber für die Handlungsfreiheit des Spenders spricht.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

Organen nicht grundsätzlich, sondern eben nur dann, wenn entweder die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des potenziellen Spenders in Gefahr ist oder eine Konfliktlage des Spenders zu befürchten ist. Eine solche Konfliktlage kann sich insbesondere aus einer engen Beziehung zwischen dem potenziellen Spender und dem Empfänger ergeben und die Freiwilligkeit der Entscheidung für eine Organspende in Frage stellen. Jedes Elternteil etwa, das vor die Wahl gestellt ist, sein Kind durch die Spende eines Lebersegments vor dem sicheren Tode retten zu können oder aber es sterben zu lassen, steht in einer Entscheidungssituation, die durch ein Verpflichtungsgefühl gekennzeichnet ist.519 Bei enger genetischer oder emotionaler Verwandtschaft zwischen potenziellem Spender und Empfänger bestehen immer innere, sehr subtil wirkende Zwänge, die die Freiwilligkeit des Spenders stark beeinflussen.520 Zu beachten sind auch die so genannten „black-sheep donations“, eine beträchtliche Zahl von Organspenden, bei denen Familienmitglieder von der Erwartung geleitet werden, durch die erzeugte Dankesschuld ein höheres Maß an Geborgenheit und Anerkennung zu finden.521 Eine autonome Entscheidung gegen eine Organspende kann hässliche Spuren in den Beziehungsgefügen hinterlassen und schmerzliche Schuld- und Versagensgefühle hervorrufen.522 Um den potenziellen Spender vor solchen Konfliktsituationen zu bewahren, hat der Gesetzgeber die Freiheit des potenziellen Spenders begrenzt. Es muss allerdings angemerkt werden, dass Verpflichtungsund antizipierte Versagens- und Schuldgefühle die Entscheidung eines potenziellen Organspenders stark beeinflussen können. Soweit jedoch der potenzielle Spender seine Entscheidung freiwillig trifft, trägt er allein die Verantwortung. Zugunsten seiner Freiheit müssen Konfliktsituationen und Schäden in den zwischenmenschlichen Beziehungen in Kauf genommen werden. Bei der Abwägung zwischen der Selbstbestimmung des potenziellen Spenders und dem Schutz vor entsprechenden Konfliktsituationen muss die Selbstbestimmung den Vorrang genießen. Die Begrenzung seiner Freiheit zur Vermeidung von Konfliktsituationen steht daher nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Selbstbestimmung des Spenders. Wenn also das Gesetz nur dem Ziel der Vermeidung von Konfliktsituationen diente, wäre es im engeren Sinne unverhältnismäßig. Ziel des Gesetzes ist jedoch nicht nur die Vermeidung von Konfliktsituationen, sondern auch der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens des potenziellen Spenders. Es muss daher untersucht werden, ob die Regelung insoweit verhältnismäßig ist. § 8 Abs. 1 S. 1 c TPG verbietet nicht jede Form der Selbstaufopferung, sondern nur solche Fälle, in denen die Mitwirkung eines Dritten erforderlich ist und der Eingriff zu Gesundheitsschäden oder zum Tod des potenziellen Spenders führen kann. Zu fragen ist daher, unter welchen Voraussetzungen ein Verbot der Mitwirkung 519 Feuerstein, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, Anhang 2 zu § 8, Rn. 2. 520 Feuerstein, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, Anhang 2 zu § 8, Rn. 2. 521 Feuerstein, in: Organspende – eine mitmenschliche Pflicht?, S. 8. 522 Schneider, S. 4.

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

177

eines Dritten bei der Gesundheitsschädigung bzw. der Beendigung des Lebens zulässig ist. Diesbezüglich kann auf die Erörterungen zur aktiven Sterbehilfe zurückgegriffen werden, da insoweit Parallelen bestehen. Wie oben dargestellt wurde (s. oben unter II), ist die Freiheit des Patienten nicht unbeschränkt, wenn die Mitwirkung eines Dritten erforderlich ist. Dessen Teilnahme begründet ein öffentliches Interesse an einer gesetzlichen Restriktion und kann einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Spenders rechtfertigen. Es wurde festgestellt, dass eine aktive Sterbehilfe nur dann ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Sterbewillige voraussichtlich nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat, unter sehr starken Schmerzen leidet und nicht in der Lage ist, sich selbst zu töten. In diesem Fall dient die aktive Sterbehilfe dem Interesse des Sterbewilligen im engeren Sinne (Befreiung von unerträglichen Schmerzen am Ende des Lebens). Die aktive Sterbehilfe ist dagegen unzulässig, wenn die mit dem Tod verfolgten Zwecke nicht im engeren Sinne eigene Interessen des Sterbewilligen sind, wie dies etwa der Fall ist, wenn der Sterbewillige seine Angehörigen von menschlichen oder finanziellen Belastungen befreien möchte. In diesem Fall tritt – wie oben dargestellt – bei der vorzunehmenden Abwägung der kollidieren Interessen das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen zurück. Auch das Verbot einer schweren Gesundheitsschädigung (etwa durch eine Operation) ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie der Mitwirkung eines Dritten bedarf und nicht den Interessen des Patienten im engeren Sinne (etwa der Wiederherstellung der Gesundheit) dient. Eine gesundheitsschädigende oder lebensgefährliche Organspende, die den Schutz der Gesundheit oder des Lebens eines Dritten bezweckt, setzt ebenfalls die Mitwirkung eines Dritten voraus und liegt nicht im engeren Sinne im eigenen Interesse des potenziellen Spenders. Ihr Verbot ist daher, wie das der aktiven Sterbehilfe in entsprechenden Fällen, verhältnismäßig im engeren Sinne. Das Selbstbestimmungsrecht des potenziellen Spenders muss hinter die staatliche Schutzpflicht zurücktreten. Folglich ist das Verbot der Selbstaufopferung unter den Voraussetzungen von § 8 Abs. 1 S. 1 c TPG im Hinblick auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit des potenziellen Spenders aber nicht im Hinblick auf die Vermeidung von Konfliktssituationen verfassungsgemäß.

bb) Die Begrenzung des Kreises der zulässigen Organempfänger (1) Die Gesetzeslage Gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 TPG beschränkt sich der Kreis der zulässigen Empfänger einer Lebendspende bei der Entnahme nicht regenerierungsfähiger Organe, wie z. B. Nieren, Lungenlappen oder Teile der Bauchspeicheldrüse, auf „Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen“. Somit ist das anonyme Lebendspenden, bei dem ein potenzieller Spender für eine ihm unbekannte Person spendet, verboten. Nach § 3 Abs. 3 TPG muss erst eine Kommission, bestehend zumindest aus einem unbeteiligten Arzt, einem Juristen

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

und einer in psychologischen Fragen erfahrenen Person, gutachtlich Stellung genommen haben, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung etwa nicht freiwillig erfolgt oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens ist. Ziel des Gesetzgebers ist es, einerseits die Freiwilligkeit des Entschlusses des Organspenders abzusichern und andererseits die Gefahr des Organhandels abzuwehren.523 (2) Die Problematik Fraglich ist, ob diese paternalistische524 Begrenzung der zulässigen Organempfänger das Recht auf Selbstbestimmung des Spenders verletzt. (3) Die verfassungsrechtliche Diskussion Auf Grund der Beschränkung der zulässigen Empfänger ist der Organspender nicht frei, selbst den Kreis der Empfänger seiner Organe zu bestimmen. Diese Restriktion beschränkt die Freiheit der Organspende und stellt als solche einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Organspenders dar, das in dem Persönlichkeitsrecht des Spenders verankert ist (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht525 hat diese Regelung als geeignet, erforderlich und verhältnismäßig erachtet, wobei zu betonen ist, dass mit diesem Beschluss nicht zugleich die Verfassungsmäßigkeit der Regelung festgestellt wurde, da es sich um einen bloßen Nichtannahmebeschluss handelt, der keine Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG entfaltet.526 Der Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts begründet die Verfassungsmäßigkeit der Norm damit, dass der Gesetzgeber bei der verhältnismäßigen Zuordnung der Rechtsgüter, die bei der Organtransplantation in Frage stehen, einen weiteren Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum hat.527 Diese Entscheidung ist auf folgende Kritik gestoßen: Die Beschränkung des Spenderkreises könne nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass die freiwillige Spende eines Organs den Spender gesundheitlich gefährde und dieser vor sich selbst geschützt werden müsse. Zu dem Recht auf Selbstbestimmung gehöre die Möglichkeit, Risiken einzugehen oder Schäden in Kauf zu nehmen, soweit dabei nicht Dritte oder die Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden.528 Ein Ein-

523 524 525 526 527 528

BT-Drucks. 13/4355, S. 20. Gutmann, NJW 1999, S. 3387 (3388); Schroth, JZ 1997, S. 1149 (1153). BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3400 ff.). Rixen, NJW 1999, S. 3389 (3391). BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3401). Isensee, in: HStR V, § 111, Rn. 113.

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griff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit liegt vor.529 Zu untersuchen ist, ob dieser Eingriff verhältnismäßig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Geeignetheit der Beschränkung damit begründet, dass, soweit die Vorschrift des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG die Entnahme eines Organs bei lebenden Menschen verbietet, es weder unfreiwillige Organspenden noch einen Organhandel, noch eine Gefährdung der Organspender geben kann.530 Zu dieser Begründung ist aber anzumerken, dass die Beschränkung der zulässigen Empfänger in keinem Zusammenhang mit dem verfolgten Zweck des Spenderschutzes steht. Es ist darauf hinzuweisen, dass Druck gerade auch im Rahmen der Familie ausgeübt werden kann, der der erforderlichen Freiwilligkeit der Spendentscheidung womöglich entgegensteht.531 Der Eingriff ist also in Bezug auf den Spenderschutz nicht geeignet. Er ist aber, was das zweite gesetzliche Ziel der Abwehr der Gefahr des Organhandels betrifft, geeignet. Der restriktive Charakter des Gesetzes erschwert das Entstehen des Organhandels532 wegen der besseren Überschaubarkeit eines kleineren Spenderkreises. Fraglich ist, ob der Eingriff auch erforderlich ist, nämlich, ob ein milderes Mittel diesem Zweck mit gleicher Effektivität dienen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat die Erforderlichkeit des Eingriffs damit begründet, dass kein Verfahren in der Lage wäre, die Freiwilligkeit der Spenderentscheidung und die Verhinderung eines Organhandels sicherzustellen.533 Abgesehen von der Begründung des Bundesverfassungsgerichts ist es interessant zu untersuchen, welche anderen Wege sowohl das Selbstbestimmungsrecht des Spenders als auch die Gewährleistung der Freiwilligkeit und die Abwehr der Gefahr eines Organhandels befriedigen könnten. Hinsichtlich der Freiwilligkeit der Spende wäre die Überprüfung der Spendermotivation mit Hilfe umfangreicher Tests, Befragungen und Nachforschungen mit Blick auf den Sachverstand der eingesetzten Gutachterkommission und des transplantierenden Arztes durchzuführen, um festzustellen, ob im Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung unfreiwillig ist.534 Was die Abwehr des Organhandels betrifft wäre die strafrechtliche Sanktionierung des Organhandels ein denkbares, gleich effektives Mittel. Diese Alternative bietet im Vergleich zu einer Beschränkung der zulässigen Organempfänger den Vorteil, dass das Selbstbestimmungsrecht des Spenders ohne Einschränkung gewahrt werden könnte.535 Die strafrechtliche Sanktionierung des Organhandels steht ebenso in unmittelbarem Zusammenhang zu dem verfolgten Zweck der Verhinderung des Organhandels, während die Beschränkung

529

Gutmann, NJW 1999, S. 3387 (3388); Schroth, JZ 1997, S. 1149 (1153) und ders. JZ 1998, S. 506 (507); vgl. auch Gutmann, ZRP 1994, S. 111 (113) und ders. MedR 1997, S. 147 (148). 530 BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3401). 531 Seidenath, MedR 2000, S. 33 (34). 532 Schreiber/Wolfslast, MedR 1992, S. 189 (193 – 194). 533 BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3402). 534 Esser, S. 191. 535 Esser, S. 172.

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der zulässigen Organempfänger dieser Verhinderung als Nebeneffekt dient.536 Das in § 18 TPG strafrechtlich sanktionierte Verbot des Organhandels und das in § 8 Abs. 3 S. 2 – 4 TPG vorgeschriebene Verfahren unter Einsetzung einer Gutachterkommission zum Zwecke der Eruierung, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens ist, sind zur Erreichung der Vermeidung des Organhandels ausreichend.537 Folglich ist der Eingriff nicht erforderlich. Da der Eingriff nicht erforderlich ist, ist das Gesetz nicht verhältnismäßig und deswegen verfassungswidrig. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne würde auch zu dem gleichen Ergebnis der Unverhältnismäßigkeit der Regelung führen. Bei der Verhältnismäßigkeitprüfung im engeren Sinne muss auf der einen Seite die Selbstbestimmung des Organspenders und auf der anderen Seite das Interesse des Staates an der Gewährleistung der Freiwilligkeit des Spenders und an der Vermeidung des Organhandels abgewogen werden. Es ist also zu untersuchen, ob das eingesetzte Mittel der Beschränkung des Kreises der Organspender in einem angemessenen Verhältnis zu dem staatlichen Ziel der Gewährleistung der Freiwilligkeit des Spenders und der Verhinderung des Organhandels steht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verhältnismäßigkeit der Regelung im engeren Sinne damit begründet, dass die Vorschrift dazu beitrage, „in einem sensiblen Bereich wie der Transplantationsmedizin ein Höchstmaß an Seriosität und Rechtssicherheit herzustellen“.538 Ferner sei die Lebendspende für den potenziellen Organempfänger nicht das einzige Mittel der Lebenserhaltung oder Gesundheitsverbesserung und der Gesetzgeber durfte Aspekte des Gesundheitsschutzes auch auf Seiten des potenziellen Organspenders berücksichtigen.539 Zu dieser Argumentation ist Folgendes anzumerken: Die Beschränkung des Empfängerkreises stellt eine „pragmatische Radikallösung dar“540, die weder den Rechten der ausgeschlossenen Spender noch der Gewährleistung der Freiwilligkeit und der Abwehr des Organhandels in angemessener Weise Rechnung zu tragen vermag.541 Eine solche Beschränkung verwehrt Erwachsenen die Möglichkeit, schwerkranken Menschen zu helfen, nur weil sie mit diesen nicht durch Familienbande verbunden sind542, und zieht eine ganze Personengruppe wegen der Knappheit von Organen in Mitleidenschaft.543 Die Regelung geht zu Lasten der Transplantationsmedizin544 und der Zahl der verfügbaren Organe und somit der Verbesserung der Versorgung der Patienten mit Spenderorganen. Wenn die Ge-

536 537 538 539 540 541 542 543 544

Esser, S. 173. Esser, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, § 8, Rn. 90. BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3402). BVerfG (K), NJW 1999, S. 3399 (3402). Feuerstein, S. 291. Esser, S. 174 m. w. Nachw. Gutmann, JZ 1994, S. 111 (113). Esser, S. 174. Esser, S. 174.

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sellschaft zwingend nach Wegen zur Linderung des Organmangels sucht,545 ist das Verbot der Nichtverwandtenspende ein hoher unangemessener Preis für die Abwehr des Organhandels und zur Absicherung der Freiwilligkeit des Spenders, der weder die Autonomie des Spenders noch die Freiwilligkeit des Spenders und die Abwehr des Organhandels in Einklang bringt. Aus diesen Gründen ist das Gesetz unverhältnismäßig. Trotz des vom Gesetzgeber zugestandenen Ermessensspielraums wäre folglich aus verfassungsrechtlicher Sicht eine allgemeine Freigabe des Spenderkreises, insbesondere auch die Anerkennung der anonymen Fremdspende geboten gewesen. cc) Die kommerzielle Nutzung von Organen (Organhandel) (1) Die Gesetzeslage Das Handeltreiben mit Organen ist vom Gesetzgeber durch § 17 TPG ausdrücklich verboten worden. Der Durchsetzung dieses Verbots dient zum einen die in § 18 TPG enthaltene strafrechtliche Sanktionierung und zum anderen das in § 8 Abs. 3 S. 2 und 3 vorgeschriebene Verfahren unter Einsetzung einer Gutachterkommission zum Zwecke der Prüfung, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens ist. Dem gleichen Zweck der Abwehr des Organhandels will auch die Beschränkung der zulässigen Organempfänger (§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG) dienen.546 (2) Die Problematik Umfasst das Selbstbestimmungsrecht des Menschen das Recht, Teile des eigenen Körpers kommerziell zu verwerten? (3) Die verfassungsrechtliche Diskussion Fraglich ist zunächst, ob eine entsprechende Einschränkung des Rechts über den eigenen Körper frei zu verfügen die Menschenwürde des Spenders beeinträchtigt.547 Die gesetzgeberische Begründung des Verbots des Organhandels geht gerade dahin, dass ein Verkauf von Organen und das Organspenden gegen Entgelt nicht mit der Schutzgarantie der Menschenwürdevereinbar seien.548 Die Menschenwürde würde verletzt, wenn der Mensch bzw. seine sterblichen Reste zum Objekt finanzieller Interessen würden.549 Diese auf den ersten Blick überzeugend erscheinende Aussage ist 545 Vgl. Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen- Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland. 546 S. auch oben unter 2 b) bb). 547 Vgl. Engelhardt, in: Organ Replacement Therapy, S. 147 (152). 548 BT-Drucks. 13/4355, S. 29, übernommen von BSG, NJW 1997, S. 823 (824). 549 BT-Drucks. 13/4355, S. 29, übernommen von BSG, NJW 1997, S. 823 (824).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

jedoch aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch, da sie dem Staat die Kompetenz zur Definition der menschlichen Würde zugesteht.550 Zur Menschenwürde gehört aber auch, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden.551 Strikte Freiwilligkeit vorausgesetzt, ist der Grundrechtsträger selbst die maßgebliche Instanz für die Bestimmung seiner eigenen Würde.552 Er hat über seine Menschenwürde in eigener Verantwortung zu entscheiden.553 Der Mensch hat seine Würde primär selbst zu verantworten und diese Verantwortung ist gerade die Würde des Menschen.554 Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, „wie er sich in seiner Individualität selbst begreift“555. Zur Würde des einzelnen Menschen gehört gerade, dass weder die Umwelt noch die Gesellschaft noch sonstige Dritte ihm ihre Vorstellung von Würde aufdrängen dürfen.556 Beim Organhandel ist es aber möglich, dass Menschen die Veräußerung ihrer Körperteile keineswegs als entwürdigend empfinden. Es erscheint etwa möglich, dass ein Spender, der sich aus einer finanziellen Notlage heraus zum Organverkauf gezwungen sieht, sein Verhalten selbst nicht als menschenunwürdig einstuft. In der philosophischen Diskussion wird insoweit das Beispiel eines Türken genannt, dessen Tochter sterben musste, weil ihm der Verkauf einer seiner Nieren untersagt worden war und er keine andere Möglichkeit hatte, das Geld für die für seine Tochter lebensnotwendigen Medikamente zu beschaffen.557 Es ist zudem schwer nachvollziehbar, wie Annahme/ Gewährung von Dankbarkeitsgaben durch den Spender/ Empfänger die Menschenwürde beeinträchtigen können.558 Der Mensch ist in unserer Gesellschaft in vielerlei Hinsicht Objekt finanzieller Interesse, ohne dass der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG berührt wird.559 Wenn ein Spender sich freiwillig nach Aufklärung bereit erklärt, für eine bestimmte Summe ein Organ zu spenden und ihm ein Rücktrittsrecht bis zum Zeitpunkt der Narkotisierung eingeräumt ist, besteht kein Menschenwürdeverstoß.560 Gleichwohl sind aber auch Situationen denkbar, in denen ein Organspender sich ausschließlich aus einer finanziellen Notlage heraus zum Organverkauf gezwungen sieht und sein Verhalten selbst als menschenwürdeverachtend einstuft.561 Die Behandlung von Menschen in existenziellen Notlagen als bloßes Warenreservoir oder

550 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560 561

Esser, S. 171. Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 46. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 152 m. w. Nachw. Höfling, NJW 1983, S. 1582. Luhmann, S. 61, 73 und Fn. 73. BVerfGE 49, 286 (298). Höfling, S. 126. Richards, in: Organ Replacement Therapy, S. 190 (191). König, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 406 (411). Schroth, in: FS Roxin, S. 869 (872). Schroth, in: FS Roxin, S. 869 (873). Esser, S. 205. S. auch Sasse, S. 93.

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

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als Organbank ist in der Tat mit der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar.562 In diesem Zusammenhang wird häufig auf bestehende Missstände in der Dritten Welt hingewiesen, in der die Ausnutzung wirtschaftlicher Notlagen gängige Praxis ist.563 Es ist insoweit zwar richtig, dass Verpflichtungsgefühle, etwa resultierend aus einer finanziellen Notlage, die Freiwilligkeit des Spenders stark beeinflussen können. Soweit jedoch der potenzielle Spender seine Entscheidung freiwillig trifft, trägt er allein die Verantwortung. Zugunsten seiner Freiheit müssen Konfliktsituationen in Kauf genommen werden. Die Ausnutzung gesundheitlicher und wirtschaftlicher Notlagen vermag also als Zweck des Organhandelsverbots nicht zu überzeugen. Folglich ist der Gesetzgeber nicht berechtigt, den Organhandel unter Bezugnahme auf den Menschenwürdesatz zu verbieten.564 Die gesetzgeberische Entscheidung sollte daher differenzierter begründet werden und sich nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die Menschenwürde begnügen.565 Der Einsatz weitläufiger strafrechtlicher Mittel, die sich noch dazu in breitem Umfang gegen den Rechtsinhaber selbst richten, kann mit der Menschenwürdegarantie nicht legitimiert werden.566 Fraglich ist, ob der Organhandel zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Spenders verboten werden kann. Der Eingriff wäre zunächst geeignet, weil er dem verfolgten Ziel des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens des potenziellen Spenders dient. Da keine Alternativen zu einem solchen Verbot ersichtlich sind, welche der Erreichung des genannten Ziels ebenso effektiv dienen können, ist dieses auch erforderlich. Zu prüfen ist des Weiteren die Verhältnismäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu untersuchen ist, ob das Mittel des Verbots des Organhandels, welches das Selbstbestimmungsrecht des Spenders beschränkt, in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel steht. Zu beachten ist hierbei, dass für den Organhandel die Mitwirkung eines Dritten erforderlich ist. Zu fragen ist daher, unter welchen Voraussetzungen ein Verbot der Mitwirkung eines Dritten bei der Gesundheitsschädigung bzw. der Beendigung des Lebens zulässig ist. Diesbezüglich kann auf die Erörterungen zur aktiven Sterbehilfe zurückgegriffen werden, da insoweit Parallelen bestehen. Wie oben dargestellt wurde (s. oben unter II), ist die Freiheit des Patienten nicht unbeschränkt, wenn die Mitwirkung eines Dritten erforderlich ist. Dessen Teilnahme begründet ein öffentliches Interesse an einer gesetzlichen Restriktion und kann einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Spenders rechtfertigen. Es wurde festgestellt, dass eine aktive Sterbehilfe nur dann ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Sterbewillige voraussichtlich nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat, unter sehr starken Schmerzen leidet und nicht in der Lage ist, sich selbst zu töten. In diesem Fall dient die aktive Sterbehilfe dem Interesse des Sterbewilligen im engeren Sinne (Befreiung von unerträglichen Schmer562

Vgl. Gragert, S. 73. Vgl. die Begründung des Gesetzesentwurfes der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zum Verbot des Organhandels, BT-Drucks. 13/4355, S. 15. 564 A. A. Esser, S. 205. 565 Vgl. Esser, S. 205, Fn. 700. 566 König, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, S. 406 (411). 563

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

zen am Ende des Lebens). Die aktive Sterbehilfe ist dagegen unzulässig, wenn die mit dem Tod verfolgten Zwecke nicht im engeren Sinne eigene Interessen des Sterbewilligen sind, wie dies etwa der Fall ist, wenn der Sterbewillige seine Angehörigen von menschlichen oder finanziellen Belastungen befreien möchte. In diesem Fall tritt – wie oben dargestellt – bei der vorzunehmenden Abwägung der kollidieren Interessen das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen zurück. Auch das Verbot einer schweren Gesundheitsschädigung (etwa durch eine Operation) ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie der Mitwirkung eines Dritten bedarf und nicht den Interessen des Patienten im engeren Sinne (etwa der Wiederherstellung der Gesundheit) dient. Eine gesundheitsschädigende oder lebensgefährliche Organentnahme, die den Schutz der Gesundheit oder des Lebens eines Anderen bezweckt, setzt ebenfalls die Mitwirkung eines Dritten voraus und liegt nicht im engeren Sinne im eigenen Interesse des potenziellen Spenders. Das Verbot des Organhandels ist daher, wie das der aktiven Sterbehilfe in entsprechenden Fällen, verhältnismäßig im engeren Sinne. Das Selbstbestimmungsrecht des potenziellen Spenders muss hinter die staatliche Schutzpflicht zurücktreten. Zwar ist auch insoweit ein Verbot des Organhandels paternalistisch. Auf einen solchen – weichen – Paternalismus kann unsere Gesellschaft allerdings nicht verzichten, da es keine andere Möglichkeit zur Verhinderung von Missbrauchsfällen gibt. Aufgabe des Strafrechts ist es, die Rahmenbedingungen, unter denen Autonomie möglich ist, zu gewährleisten.567 Eine solche Rahmenbedingung ist die Kontrolle der Mitwirkung eines Dritten in verschiedenen Fällen der Selbstbestimmung des Patienten. Folglich ist das Verbot des Organhandels im Hinblick auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit des Spenders verfassungsgemäß. c) Die Organentnahme bei Sterbenden aa) Die Gesetzeslage § 3 TPG enthält die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer postmortalen Organentnahme. Die Organentnahme ist, soweit in § 4 nichts Abweichendes bestimmt ist,568 zulässig, wenn der Organspender in die Entnahme eingewilligt hatte (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 TPG) und wenn der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt wurde (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 TPG). Bei dem Organspender muss vor der Entnahme der endgültige nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt worden sein (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG).

567

Schroth, in: FS Roxin, S. 869 (882). § 4 TPG regelt die Einbindung der Angehörigen und anderer Personen, die neben die Angehörigen oder an ihre Stelle treten, in den Prozess der Entscheidungsfindung. 568

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

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Unzulässig ist die Organentnahme, wenn der potenzielle Organspender der Entnahme widersprochen hatte (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG). bb) Die Problematik Die Organentnahme bei Sterbenden ist mit einer Reihe von juristischen und ethischen Fragen verbunden. Hat man das Recht, über seinen Leichnam zum Zwecke der Transplantation zu verfügen? Darf die Organentnahme bei Verstorbenen nach Feststellung des Gesamthirntodes bei gleichzeitiger intensiv-medizinischer Aufrechterhaltung der Herz- und Kreislauffunktion erfolgen? Fraglich ist also unter anderem, ob der Hirntod ein sicheres Zeichen für den eingetretenen Tod ist bzw. ob die Organentnahme zu diesem Zeitpunkt gegen das Recht auf Leben verstoßen kann. Wenn auch die Explantation nach dem Tode vorgenommen wird, so betrifft sie doch ein „noch funktionsfähiges“ Organ, das heißt ein Organ, das noch lebt und das in dem Körper des Empfängers seine Funktion fortsetzen soll. Für den Spender geht es also um die Frage, ob ein Stück seiner selbst, also seiner körperlich-geistigen Einheit, später in einem anderen Körper als dessen Teil weiterleben soll, ob z. B. sein Herz später in einer fremden Brust weiterschlagen soll.569 Fraglich ist auch, ob ein Widerspruchsmodell (gemäß dem eine Entnahme statthaft ist, wenn dem Arzt ein entgegenstehender Wille des Verstorbenen nicht bekannt geworden ist) für die Zulässigkeit der Organentnahme in Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht des Spenders steht. cc) Die Beurteilung (1) Die Feststellung des Hirntodes Voraussetzung für eine Organentnahme ist, dass der Tod des Organspenders „nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“ festgestellt wurde (§ 3 Abs. 2 TPG). Das TPG ordnet an, dass die Organentnahme unzulässig ist, wenn nicht zuvor der Gesamthirntod, das heißt der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, festgestellt wurde (Kriterium des Hirntodes). Das Hirntod-Kriterium ist Gegenstand von Debatten um das richtige Verständnis vom Tod des Menschen und die angemessene anthropologische Bedeutung des Gehirns als des Organs, das die einzelnen Organfunktionen zur Gesamttätigkeit des Organismus integriert. Ausgangspunkt der Überlegungen, ob der Hirntod als maßgebende Grenze zwischen Leben und Tod angesehen werde kann, muss die Feststellung sein, dass durch die modernen medizinischen Techniken der Wiederbelebung und der intensivmedizinischen Aufrechterhaltung der Herz-, Kreislauf- und Lungenfunktionen der Hirntod als neuer klinischer Zustand erst entstanden ist.570 Der Zäsurcharakter des Hirntodes ergibt sich 569 570

Maurer, DÖV 1980, S. 7 (11). Heun, JZ 1996, S. 213 (215).

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

aus dem Folgenden: Erstens bedeutet der vollständige und irreversible Funktionsausfall des Gehirns den irreversiblen Verlust der Bewusstseins- und Empfindungsfähigkeit des Menschen.571 Zweitens bedeutet der vollständige und irreversible Funktionsausfall des Gehirns den Verlust der zentralen Steuerung der Körperfunktionen, die im Hirnstaat lokalisiert ist.572 Gegen die Hirntodzäsur wird vorgetragen, dass Art. 2 Abs. 2 GG ein „normativ offener“ und daher ein den „umfassenden Schutzbereich“ konstituierender Grundrechtsbestand sei und deswegen ein prinzipielles Nichtwissen darüber bestehe, ob der Hirntote den Sterbeprozess abgeschlossen habe. Hirntote seien gemäß den Hirntodkritikern Sterbende, also lebende Menschen.573 Ein Mensch sei in diesem Sinne im Zustand des so genannten Hirntodes nicht tot, also nicht der Leiche gleichzusetzen, sondern lebendig.574 Da wir im Zustand eines prinzipiellen „Nichtwissens“ über den Abschluss des somatischen Sterbeprozesses seien, müsste das verfassungsrechtliche Gebot in dubio pro vita und damit das Lebensschutzgebot des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG greifen.575 Demzufolge sei diese Zäsur mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar.576 Dieser Kritik lässt sich jedoch entgegenhalten, dass Art. 2 Abs. 2 GG nur greift, wenn der Mensch nicht tot ist.577 Ob der Mensch tot ist oder nicht, muss vorher und ohne die Norm entschieden werden.578 Es besteht also kein Anlass, den Schutzbereich des Grundrechts auf Leben in die Phase nach Eintritt des Gesamthirntodes zu verlängern. Folglich findet der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben seine Grenze an der Scheidelinie des Hirntodes in Fällen intensiv-medizinischer Aufrechterhaltung der Herz und Kreislauffunktionen und der Atmungstätigkeit.579 Nach dem Eintritt des Todes genießt jedermann weiterhin Grundrechtsschutz. Der Persönlichkeitsschutz wirkt nach dem Tod weiter.580 Auch der Tote darf nicht zum Ersatzteillager und damit zum bloßen Objekt581 degradiert werden. Eine totale Verfügbarkeit des menschlichen Körpers würde den unantastbaren Grundsatz der Menschenwürde, der über den Tod hinaus wirkt, tangieren.582

571

Heun, JZ 1996, S. 213 (215). Heun, JZ 1996, S. 213 (215). 573 Höfling, MedR 1996, S. 6 (7). 574 Höfling, MedR 1996, S. 6 (7). 575 Höfling, MedR 1996, S. 6 (8). 576 Höfling/Rixen, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, § 3 Rn. 13 ff. 577 Merkel, Jura 1999, S. 113 (118). 578 Merkel, Jura 1999, S. 113 (119). 579 Heun, JZ 1996, S. 213 (217). 580 BVerfGE 30, 173 (194); Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 I, Rn. 32 (Erstbearb. 1958). 581 BVerfGE 87, 209 (228). 582 Heun, JZ 1996, S. 213 (217) m. w. Nachw. 572

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

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(2) Die Einwilligung des Verstorbenen oder seines Angehörigen Die Zulässigkeit der Organentnahme ist grundsätzlich vom Willen des potenziellen Spenders oder seiner Angehörigen abhängig (§§ 3 und 4 TPG). Der Gesetzgeber hat eine fremdbestimmte Organentnahme bei Toten ausgeschlossen. Die Betonung des Selbstbestimmungsrechts möglicher Spender durch die §§ 3 und 4 TPG steht allerdings in Zusammenhang mit der Aufklärungs- und Motivationskampagne des § 2 Abs. 1 und 3 TPG. § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG bestimmt, dass eine Organentnahme gegen den Willen des Organspenders nicht erfolgen darf und trägt damit der Menschenwürde Rechnung583, auf Grund derer der Mensch nicht zum bloßen Objekt gemacht werden darf. Die Entnahme von Organen aus dem Körper verstorbener Patienten bedarf einer Rechtfertigung durch die zu Lebzeiten erteilte Einwilligung des Verstorbenen oder später durch die Einwilligung seiner Angehörigen (§ 4 TPG). Allenfalls geringfügige Entnahmen, wie z. B. die Entnahme von Knochenmaterial in sehr geringem Umfang zum Bau von Hörgeräten, können aus dem Gesichtspunkt der Sozialadäquatheit gerechtfertigt sein.584 Wenn der Verstorbene die Entnahme von Organen verboten hatte, dann vermögen die Angehörigen sie nicht zu gestatten. Im Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und dem den Angehörigen zustehenden Totensorgerecht hat die Selbstbestimmung des Patienten Vorrang. Das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet zudem ein negatives Selbstbestimmungsrecht, das heißt das Recht, sich mit bestimmten Fragen nicht befassen zu müssen.585 Im Bereich des Transplantationsrechts bedeutet dies, dass der Einzelne das Recht hat, nicht über eine postmortale Explantation nachdenken oder gar entscheiden zu müssen.586 Wer zu Lebzeiten keine Erklärung über eine postmortale Explantation abgibt, ist grundrechtlich nicht schutzlos. Die staatliche Auferlegung einer Organspendepflicht würde in diesem Fall das negative Selbstbestimmungsrecht verletzen. Gesetzliche Regelungen, die eine Einwilligung des Verstorbenen fingieren – so etwa die so genannte Widerspruchslösung587 – greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte negative Selbstbestimmungsrecht ein, da der Einzelne gezwungen wird, sich mit Fragen der Organspende und seines eigenen Todes zu beschäftigen.588 Jemandem, der nicht Organspender sein will, sondern nach seinem Tod die Unversehrtheit seines Leichnams gewahrt sehen möchte, wird die Last auf-

583

Heun, JZ 1996, S. 213 (217) m. w. Nachw. Deutsch, ZRP 1982, S. 174 (175). 585 BVerfGE 27, 1, (6); 44, 197 (203). 586 Kloth, S. 132. 587 Der im Jahr 1978 von der Bundesregierung (BR-Drucks. 395/ 78, RegE) vorgelegte Gesetzentwurf scheiterte wegen unüberbrückbarer Meinungsunterschiede hinsichtlich der Voraussetzungen der Organentnahme bzw. Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung. 588 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I, Rn. 206. 584

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

erlegt, sich entsprechend zu erklären.589 Man kann sich nicht passiv verhalten und dem Geschehen seinen Lauf lassen, was für manchen leichter sein mag als eine positive Entscheidung zu treffen.590 Es bestehen zudem Bedenken dahingehend, dass die Aufklärung des Bürgers nicht ausreichend gesichert wird.591 Schweigen könne nicht in eine Zustimmung umgedeutet werden.592 Fraglich ist also, ob eine solche Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des potenziellen Spenders verhältnismäßig wäre. Eine Widerspruchslösung wäre zunächst nur dann zulässig, wenn sie geeignet wäre, die Erreichung des angestrebten Ziels – die Zahl der verfügbaren Organe zu steigern – zu fördern. Ungeachtet der Schwierigkeit einer diesbezüglichen Prognose dürfte diese Bedingung erfüllt sein. Auch wenn mehr Menschen infolge der Widerspruchslösung einen Widerspruch vorsorglich erklären würden,593 ist doch davon auszugehen, dass sich die Gesamtzahl der Spender erhöhen würde. Der Eingriff wäre also geeignet. Fraglich ist, ob der Eingriff auch erforderlich wäre, ob ein milderes Mittel diesem Zweck mit gleicher Effektivität dienen könnte. Es ist zu untersuchen, ob andere Möglichkeiten bestehen, sowohl dem Recht auf Selbstbestimmung des Spenders als auch der Schutzpflicht des Staates, sich schützend vor das Leben eines jeden Mensches zu stellen und deshalb die Zahl der verfügbaren Organe zu steigern, gerecht zu werden. Die radikalste Alternative wäre es, alle Bürger ohne Rücksicht darauf, ob sie dies wollen oder nicht, zur postmortalen Organspende zu verpflichten.594 Diese Alternative wäre jedoch eine unangemessene Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des potenziellen Spenders, weil sie dessen Willen überhaupt nicht berücksichtigen würde. Ein Anreiz zur Organspende durch finanzielle Vergünstigungen würde einerseits die Selbstbestimmung des Spenders respektieren und den Organmangel mildern, andererseits könnte dies aber zu einem unkontrollierbaren Organhandel führen.595 Zur Erreichung des Zieles der Steigerung der Zahl der verfügbaren Organe besteht folglich kein milderes und gleich wirksames Mittel und deshalb wäre die Widerspruchsregelung erforderlich. Schwieriger ist die Untersuchung der Verhältnismäßigkeit des gesetzlichen Eingriffs im engeren Sinne. Zu prüfen ist, ob der mit einer Widerspruchsregelung verbundene Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck des Schutzes des Lebens anderer durch die Steigerung der Zahl der verfügbaren Organen stehen würde. Der Einzelne kann verschiedene Gründe dafür haben, von einer Widerspruchserklärung abzusehen, z. B., dass er über die Widerspruchslösung gar nicht in589 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 31. 590 Schreiber/Wolfslast, MedR 1992, S. 189 (191) m. w. Nachw. 591 Feuerstein, S. 385, Fn. 27 m. w. Nachw. 592 Schreiber/Wolfslast, MedR 1992, S. 189 (190). 593 Zu diesem Argument s. Bock, S. 224. 594 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 22. 595 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 22.

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formiert ist oder dass er nicht bereit ist, eine abschließende Entscheidung zu treffen.596 Es ist sehr wahrscheinlich, dass zahlreiche Menschen aus Unwissenheit, Bequemlichkeit oder Vergesslichkeit von ihrem „Vetorecht“597 keinen Gebrauch machen würden.598 Unter diesen Gesichtspunkten würde die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Spenders nur dann in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Steigerung der verfügbaren Organe stehen, wenn sie verfahrensrechtlich so ausgestaltet wäre, dass die Beschränkung der Selbstbestimmung minimiert würde. Eine solche praktische Konkordanz müsste sicherstellen, dass der potenzielle Spender noch zu Lebzeiten eine entsprechende Willensbestimmung treffen könnte.599 Besonders wichtig wäre hierbei die umfassende Aufklärung der Bevölkerung über das Inkrafttreten und die Bedeutung der Widerspruchsregelung. Es müsste zudem sichergestellt werden, dass eine Entscheidung schnell und unkompliziert dokumentiert und revidiert werden könnte, dass kein Zwang bestünde, eine Entscheidung zu begründen und dass hinreichend Bedenkzeit für die Abgabe einer Erklärung zur Verfügung stünde.600 Eine Widerspruchslösung wäre unter diesen Voraussetzungen mit der Menschenwürde des Einzelnen vereinbar. Sie würde zwar dem Einzelnen eine Erklärungslast auferlegen, aber weder eine Fremdbestimmung noch eine Degradierung des Einzelnen zum Dispositionsobjekt des Staates oder Dritter darstellen.601 In Güterabwägung mit der staatlichen Schutzpflicht für potenzielle Organempfänger, die auf die jeweiligen Organe angewiesen sind, wäre eine Erklärungslast als Ausdruck der mitmenschlichen Solidarität602 zumutbar.603 Eine entsprechende Regelung dürfte daher noch als verhältnismäßig einzustufen und der Grundrechtseingriff gerechtfertigt sein.604 Folglich wäre die Widerspruchsregelung unter den genannten strikten Voraussetzungen verhältnismäßig im engeren Sinne und damit auch insgesamt verhältnismäßig. dd) Das Verfügungsrecht des Patienten Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten spielt auch bei der Organspende eine wichtige Rolle. Der Organspender trifft zu Lebzeiten nicht nur eine Verfügung hinsichtlich der Entnahme der Organe selbst. Die freiwillige Organspende beruht aus rechtlicher Perspektive auf zwei Verfügungen des Spenders, der Weggabe der Organe selbst und der Einwilligung in die Verzögerung des (Ab-)Sterbevorgangs durch den Einsatz technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung der Herz- und Lungenfunkti596

Bock, S. 225. Schroth, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu TPG Kommentar, § 4, Rn. 42. 598 Bock, S. 226. 599 Koppernock, S. 177. 600 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 35. 601 Bock, S. 221. 602 Vgl. BR- Drucks. 395/ 78, RegE, Begründung, S. 7. 603 Feuerstein, S. 387. 604 Kluth/Sander, DVBl. 1996, S. 1285 (1292). 597

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on.605 Wegen der privatautonomen Akte kommt vorrangig eine Legitimation als Grundrechtsausübung in Betracht.606 Wie die Anerkennung der Lebendspende zeigt, kann der Einzelne über die eigenen Organe grundsätzlich verfügen. Wenn dies zu Lebzeiten möglich ist, so gilt dies erst recht für den Zeitraum post mortem.607

3. Die Herrschaftsbefugnisse an entnommenem Blut, Stammzellen und Organen Um die Reichweite des Verfügungsrechts des Patienten an entnommenem Blut, Stammzellen und Organen zu untersuchen ist es notwendig, sich über die Rechtsverhältnisse an Teilen des menschlichen Körpers Klarheit zu verschaffen. Diesbezüglich werden in der Literatur im Wesentlichen drei Ansichten vertreten. a) Rein sachenrechtliche Einordnung Getrennte Teile und Substanzen des menschlichen Körpers unterliegen gemäß der herrschenden Auffassung einer sachenrechtlichen Einordnung. Nach dieser Ansicht wandelt sich das Persönlichkeitsrecht des Patienten an seinem Körper mit der Körpertrennung in Eigentum an dem getrennten Körperteil.608 Diese Abschwächung des Persönlichkeitsrechts zum Eigentumsrecht ergebe sich aus einer Analogie zu § 953 BGB, dem zufolge Bestandteile einer Sache auch nach der Trennung dem Eigentümer der Sache gehören. Diese Analogie wird vorgenommen, weil das BGB keine Regelung über die rechtliche Einordnung abgetrennter Körperteile enthält und sich Eigentumsrecht und Persönlichkeitsrecht am Körper in ihrer Funktion, als absolute Rechte Schutz vor Beeinträchtigung Dritter zu gewährleisten, gleichen. Nach anderer sachenrechtlicher Einordnung sind die getrennten Teile des Körpers als Sache zu charakterisieren, der Inhaber des Körpers werde aber nicht Eigentümer der Körperteile. Der abgetrennte Körperteil sei als herrenlose Sache zu betrachten.609 Abgetrennte Körperteile könnten aber im Besitz des Körperinhabers sein, wenn der Patient auf diesen ausdrücklich nicht verzichtet.

605 606 607 608 609

Kluth/Sander, DVBl. 1996, S. 1285. Kluth/Sander, DVBl. 1996, S. 1285. Kluth/Sander, DVBl. 1996, S. 1285 (1295 – 1296). Brandenburg, JuS 1984, S. 47; Deutsch/Spickhoff, Rn. 859 ff. Kallman, FamRZ 1969, S. 572 (577 f.).

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b) Primär persönlichkeitsrechtliche Einordnung Gemäß einer anderen Auffassung wird eine persönlichkeitsrechtliche Einordnung getrennter Teile des menschlichen Körpers für geboten erachtet.610 Ausgangspunkt dieser Ansicht ist es, die rechtliche Einordnung getrennter Körperteile in einer Weise vorzunehmen, die den schutzwürdigen Interessen des Körperinhabers möglichst effektiv gerecht wird.611 Der Spender könne ein sehr persönliches Interesse daran haben, seine Körperteile zurückzuerhalten, wenn sich mit der Spende verfolgte Zwecke nicht mehr erreichen lassen oder wenn der Spender des bereits weggegebenen Materials selbst dringend bedürfe.612 Das Persönlichkeitsrecht garantiere einen hohen Schutz, dessen Bedeutung durch die Entwicklung der modernen Medizin sehr hoch sei. c) Kombiniert sachen- und persönlichkeitsrechtliche Einordnung Gemäß der Überlagerungsthese lockert sich mit der Trennung der Körperteile von dem Körper die persönlichkeitsrechtliche Bindung, so dass ein Erlöschen des Persönlichkeitsrechts und damit eine im Ergebnis sachenrechtliche Betrachtung möglich wird.613 Entscheidendes Kriterium für das Erlöschen des Persönlichkeitsrechts sei der freiwillige, ausdrückliche oder konkludente Verzicht des Rechtsinhabers.614 Gemäß der Auffassung der möglichen Fortentwicklung des sachenrechtlichen Ansatzes lässt die Trennung eines Körperteiles „originär“ eine Sache und Eigentumsrechte daran entstehen. Die Körperteile seien zwar Eigentum des Arztes bzw. des Krankenhausträgers, unterfielen aber gleichwohl weiterhin dem Persönlichkeitsrecht des Patienten.615 Es wird davon ausgegangen, dass das Persönlichkeitsrecht nicht mehr bestehe, wenn ein Körperteil in den Verkehr gelangt ist.616 Es geht um eine parallele Existenz von Eigentum und Persönlichkeitsrecht am selben Gegenstand und um eine gleichzeitig gegebene personal getrennte Rechtsinhaberschaft.617 Zu getrennten Körperteilen könne eine intensive persönliche Beziehung bestehen, die nicht dadurch beseitigt werde, dass die Körperteile in das Eigentum eines Dritten gelangen.618

610 611 612 613 614 615 616 617 618

Forkel, JZ 1974, S. 593 (595 f.); Jansen, S. 82. Forkel, JZ 1974, S. 593 (595). Jansen, S. 81. Schünemann, S. 100 – 103. Schünemann, S. 110 – 111. Deutsch/Spickhoff, Rn. 859. Schröder/Taupitz, S. 43. Schröder/Taupitz, S. 43. Schröder/Taupitz, S. 43.

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2. Teil: Selbstbestimmung in strittigen Fällen

d) Zusammenfassung und weitere Gedanken Nach allen Auffassungen können persönlichkeitsrechtliche Bezüge zumindest neben der sachenrechtlichen Herrschaftsbefugnis „Eigentum“ fortbestehen.619 Alle genannten Auffassungen sind sich ebenfalls darin einig, dass an getrennten Körperteilen Eigentum entsteht. Ob eine andere Person Rechtsinhaber wird, ist vom Willen des Körperinhabers abhängig. Der Wille des Körperinhabers spielt deswegen eine entscheidende Rolle. Es hängt vom Patienten ab, ob er die persönlichkeitsrechtlichen Bezüge zu seinen getrennten Körperteilen lockern oder aufgeben will.620 Dies bedeutet, dass der Patient frei ist, zu entscheiden, für welche Zwecke seine getrennten Körperteile genutzt werden. Der Körperinhaber darf bestimmen, ob seine Körperteile zur laborinternen Qualitätskontrolle, zu Forschungszwecken oder zur Heilbehandlung anderer Personen verwendet werden. Sein Wille ist für die weitere Verwendung seiner Körperteile entscheidend. Der wissenschaftliche Fortschritt und damit die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Wissenschaftsfreiheit sind gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht a priori höherrangig.621 Dies gilt für die Gesamtheit der medizinischen und biologischen Forschung.622

4. Resümee Der Wille des Patienten ist für die weitere Verwendung seiner Körperteile entscheidend. Dies gilt sowohl bei der Spende zu Lebzeiten als auch bei der postmortalen Spende, die nach dem Hirntod des Spenders zulässig ist. Der wissenschaftliche Fortschritt und damit die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Wissenschaftsfreiheit sind gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht a priori höherrangig. Der Patient darf grundsätzlich selbst bestimmen, ob und wem seine Körperteile zugute kommen und auch in wessen Körper seine Körperteile weiter existieren werden. Der Patient besitzt zudem das Recht, negativ zu bestimmen, zu welchen Zwecken seine entfernten Körperteile nicht verwendet werden dürfen. Er kann z. B. die Verwendung seines Blutes für Forschungszwecke oder für die Heilbehandlung anderer Patienten ausdrücklich ablehnen. Er besitzt aber kein absolutes positives Recht, zu bestimmen, was mit seinen Körperteilen geschieht, da eine Verwendung der entfernten Körperteile für gesetzwidrige oder sittenwidrige Zwecke nicht zulässig ist. Die Tatsache, dass der Patient grundsätzlich über sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit verfügen kann,623 bedeutet nicht, dass er auch frei ist, gesellschaftsbezogene Entscheidungen allein zu treffen. Eine Widerspruchslösung ist für die postmortale Organentnahme zulässig, wenn prozedural durch staatliche oder staatlich initi619 620 621 622 623

Schröder/Taupitz, S. 45. Schröder/Taupitz, S. 45 – 46. BVerfGE 47, 327 (369); Starck, in: 56. DJT (1986), Bd. I, S. A 1 (19). Starck, in: 56. DJT (1986), Bd. I, S. A 1 (19). Hollenbach, S. 49.

VII. Die Entnahme von Blut und Organen

193

ierte Information sichergestellt ist, dass der potenzielle Spender noch zu Lebzeiten eine entsprechende Willensbestimmung treffen kann. Das Verbot der Selbstaufopferung des Lebendspenders ist im Hinblick auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit des potenziellen Spenders, nicht aber im Hinblick auf die Vermeidung von Konfliktsituationen verfassungsgemäß. Schließlich ist festzustellen, dass der Verkauf von Organen und das Organspenden gegen Entgelt nicht in erster Linie Ausfluss der Menschenwürde sind. Aus der Gefahr, dass der Einzelne keinen anderen Ausweg sieht, als seine Organe entgegen seinem Würdeverständnis zu verkaufen, und dass durch den Organhandel Fremdinteressen bedient werden, folgt aber, dass der Gesetzgeber den Organhandel unter Bezugnahme auf den Menschenwürdesatz zu verbieten berechtigt ist. Diese gesetzgeberische Entscheidung sollte allerdings differenzierter begründet werden und sich nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die Menschenwürde begnügen.

Dritter Teil

Wesentliche Ergebnisse Wesentliche Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind die folgenden:

I. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten Bei der Selbstbestimmung des Patienten ist zwischen Selbstbestimmung im engeren Sinne und Selbstbestimmung im weiteren Sinne zu differenzieren. Ein Recht auf Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne, das heißt im Bereich seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit, ist im Grundgesetz in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankert. Es hat seine Wurzeln in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (negative Seite), weil aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht eine Verpflichtung zum Leben, zum gesunden Leben, und damit ein Verbot der Selbstschädigung zu folgern ist.1 Der Patient hat ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und zugleich das Recht, sein Leben zu beenden oder seine Gesundheit zu verschlechtern. Ausfluss des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist das Verbot der Zwangssterilisation und des Zwangsschwangerschaftsabbruchs sowie auch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, wenn die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Frau erheblich bedroht. Ausfluss der negativen Seiten des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. des Verfügungsrechts über das Leben und die körperliche Unversehrtheit ist das Recht auf Selbsttötung und passive Sterbehilfe, das Verbot einer medizinischen Behandlung gegen den Willen des Patienten, das Recht auf Hungerstreik, das Verbot der Zwangsernährung sowie das Recht auf Sterilisation und Organentnahme. Zudem ist ein absolutes Verbot aktiver Sterbehilfe mit dem Recht auf Leben bzw. Sterben nicht vereinbar und die aktive Sterbehilfe muss unter strengen Verfahrensregeln, die einerseits die materiellen Voraussetzungen der Ausnahmesituationen und andererseits die Freiverantwortlichkeit der aktiven Sterbehilfe prozedural absichern, erlaubt sein. Ausfluss des Rechts des Patienten, über das eigene Leben selbst zu verfügen, ist das Recht, diesen Wunsch, etwa durch ein Patiententestament, vorab zu bestimmen und Entscheidungen für die Zeit zu treffen, in der er nicht mehr entscheidungsfähig ist. Die Verankerung des Selbstbestimmungsrechts im engeren Sinne im Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat zur Folge, dass es denselben Beschränkungen wie das Recht auf 1

Ostendorf, S. 100.

I. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten

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Leben und körperliche Unversehrtheit unterliegt. Bei der verfassungsrechtlichen Analyse ist immer die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Unzumutbar sind deshalb die Zwangsbehandlung, die Zwangsernährung, die Zwangssterilisation und der Zwangsschwangerschaftsabbruch wenn sie – von medizinischen Risiken ganz abgesehen – zu einer Manipulierung und Instrumentalisierung des Patienten führen und ihn daher in seiner Menschenwürde verletzen. Die Menschenwürde schützt also einen engen Aspekt der Selbstbestimmung des Patienten im engeren Sinne. Nur wenn die Selbstbestimmung des Patienten nicht direkt mit seinem Lebensrecht und seiner Gesundheit, sondern mit seiner allgemeinen Freiheit in seiner persönlichen Lebenssphäre als Patient zu tun hat, ist das Recht auf Selbstbestimmung Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Patienten, das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Art. 1 Abs. 1 GG seine Grundlage hat. Beispiele sind hier das Recht auf eine selbstbestimmte Schwangerschaft oder einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch. Es wird insoweit von der Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne gesprochen. Ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht im weiteren Sinne, das in Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist und sich auf die Arzt- und Versicherungswahl beschränkt, genießt der Patient auch im Bereich der Krankenversicherung. Es geht hier um die Privatautonomie des Patienten im Rahmen der Krankenversicherung und im Allgemeinen um seine allgemeine Freiheit in seiner persönlichen Lebenssphäre als Patient.2 Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten im weiteren Sinne unterliegt den Beschränkungen von Art. 2 Abs. 1 GG, was dazu führt, dass die freie Ausübung der Selbstbestimmung die Rechte anderer nicht verletzen und nicht verfassungs- oder sittenwidrigen Zwecken dienen darf. In den Bereich des Selbstbestimmungsrechts im weiteren Sinne fällt auch die Entscheidung des Menschen, ob er Kinder bekommen möchte (Selbstbestimmung über die eigene Fortpflanzung). Ein Zeugungs- und Empfängniszwang ist mit Art. 6 Abs. 1 GG ebenso wenig vereinbar wie eine Zwangssterilisation oder ein Zwangsschwangerschaftsabbruch. Art. 6 Abs. 1 GG kann in Verbindung mit dem Persönlichkeitsrecht der Frau ein Recht auf selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch begründen. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau unterliegt hierbei der Schrankentrias von Art. 2 Abs. 1 GG, es darf nicht die Rechte anderer verletzten oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen. Ein Schwangerschaftsabbruch verletzt ohne Zweifel das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes. Bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Lebensrecht des Kindes stellt sich die Frage, inwieweit das ungeborene Kind ein Recht auf den Körper der Mutter hat, bzw. ob eine Pflicht der Frau, das Kind auszutragen, besteht. Entscheidendes Kriterium ist hier die gesundheitliche und psychische Belastung, die die Schwangerschaft für die Frau darstellen kann. Wenn die Schwangerschaft mit erheblichen Risiken für das Leben oder die Gesundheit der Frau verbunden ist oder wenn sie eine enorme psychische Belastung darstellt, wenn z. B. die Schwangerschaft 2

Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 23.

196

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

Folge einer Vergewaltigung, eines sexuellen Missbrauchs eines Kindes oder Widerstandsunfähiger ist, kann ein Schwangerschaftsabbruch zulässig sein. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kann auf keinen Fall mit einer Selbstbestimmungspflicht des Patienten verbunden sein.3 Jeder Patient darf alles vertrauensvoll in die Hand des Arztes legen. Aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten folgen Pflichten für den Arzt oder für den Staat, nicht aber für den Patienten. Das Recht auf individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG können in bestimmten Fällen neben oder in Ergänzung zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen sein, wenn religiös oder meinungsbildend begründete Zurückweisungen lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen in Rede stehen.4 In dieser Hinsicht hat etwa ein Zeuge Jehovas das Recht, eine Bluttransfusion abzulehnen. Das Recht auf Hungerstreik, vor allem wenn der Hungerstreik eine Äußerung symbolischer Art oder eine besondere Form des Protests darstellt, kann Ausfluss der Meinungsfreiheit sein. Andererseits schützt die Glaubens- und Gewissensfreiheit auch den Arzt, da dieser nicht verpflichtet ist, eine medizinische Handlung, z. B. einen Schwangerschaftsabbruch oder das Abstellen eines lebensrettenden Geräts, das zum Tod des Patienten führt, gegen sein Gewissen vorzunehmen. Der Patient hat aber in diesem Fall das Recht auf Überweisung an einen anderen Arzt oder eine andere Einrichtung, die die gewünschte Handlung erbringt. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kommt gemäß Art. 3 Abs. 1 GG jedem Patienten unabhängig von seinem tatsächlichen Zustand in demselben Maße zu.5 Eine soziale Gleichberechtigung der Patienten in dem Sinne, dass alle Patienten gleichberechtigt behandelt werden, gibt es de facto leider nicht, da ein wohlhabender Patient mehr Vorteile der modernen Medizin nutzen kann. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten umfasst nur solche Bereiche, die er beherrschen kann, z. B. eine Entscheidung über die Fortsetzung oder Nichtfortsetzung einer Therapie, und nicht die Bereiche, die außerhalb der Kraft des Patienten liegen, z. B. die Ineffizienz der gegenwärtigen Medizin, eine Therapie durchzuführen oder die beschränkten finanziellen Mittel des Patienten, die es ihm nicht erlauben, eine sehr anspruchsvolle und gleichfalls teure Therapie zu bezahlen Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten wird durch das Gleichheitsgebot zwischen Behinderten und Nichtbehinderten (Art. 3 Abs. 3 GG) beeinflusst, da es eine unzulässige Ungleichbehandlung wäre, wenn der körperlich behinderte Patient im Gegensatz zum nicht körperlich behinderten Patienten, der ein Recht auf Selbstmord hat, keine Hilfe zum Sterben (Sterbehilfe) erhielte. Aus dem Gleichheitsgebot ergibt sich jedoch kein allgemeines Selbstbestimmungsrecht des Patienten, sondern 3

Tröndle, MDR 1983, S. 881 (885). Vgl. Kämpfer, S. 251. 5 Lipp, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 75. 4

II. Selbstbestimmung und Paternalismus

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die Erweiterung dieses Rechts auch auf Behinderte, das heißt auf Menschen, die nicht die Möglichkeit besitzen, ihre Entscheidung allein zu realisieren. Mit anderen Worten ist das Selbstbestimmungsrecht bei einem Kranken oder Sterbenden in keiner Weise gemindert.6 Als Folge einer solchen Erweiterung des Selbstbestimmungsrechts auf Behinderte muss es ein Recht auf Sterbehilfe für die Patienten geben, die nicht in der Lage sind, ihre Entscheidung zu sterben allein zu realisieren.

II. Selbstbestimmung und Paternalismus 1. Paternalismus Unter Paternalismus versteht man ein Verhalten, das den Zweck hat, einem anderen Schutz aufzuzwingen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Schutz erwünscht ist oder nicht.7 Paternalismus liegt etwas vor, wenn der Staat Fahrern vorschreibt, Sitzgurte und Schutzhelm zu verwenden, um bei einem Unfall nicht oder weniger stark verletzt zu werden8 oder das Rauchen verbietet, um die Raucher daran zu hindern, sich selbst Schaden zuzufügen.9 Paternalismus ist letztlich das soziale Phänomen, „das durch eine spezifisch asymmetrische Konstellation zwischen zwei Akteuren gekennzeichnet ist, innerhalb derer der Überlegene dem Unterlegenen ohne Rücksicht auf dessen Wünsche, Interessen und Präferenzen Vorteile zukommen lässt“.10 Ein charakteristisches Beispiel paternalistischen Handelns ist die Eltern-Kind-Konstellation, in der die Eltern, ohne Rücksicht auf die Wünsche und Präferenzen ihrer noch unmündigen Kinder, die Sorge für das Wohl und die Entwicklung derselben tragen.11 Paternalistisches Handeln muss nicht immer mit Zwang oder einer Beschränkung der Freiheit des anderen verbunden sein. Ein Beispiel ist hier eine im Sterben liegende Frau, der nicht mitgeteilt wird, dass ihr Kind tödlich verunglückt ist.12 Paternalismus zeigt manchmal eine gewisse Geringschätzung des Staates für seine Bürger oder des Arztes für seine Patienten, da diesen zum Teil unterstellt wird, dass sie nicht fähig seien, ihre Freiheit zu nutzen und für sich selbst zu sorgen.13 Der Paternalismus in der medizinischen Praxis beruht in dem Sinne auf der hippokratischen Tradition,

6

Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I, Rn. 29, 33 (Erstbearb. 1958). Möller, S. 11. 8 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Schutzhelmpflicht [BVerfGE 59, 275 (278)] und die Sitzgurtpflicht (BVerfGE, NJW 1987, S. 180) zulässig, um Kopfverletzungen zu vermeiden oder deren Schwere zu vermindern. 9 Möller, S. 11. 10 Grunert, in: Paternalismus und Recht, S. 9. 11 Grunert, in: Paternalismus und Recht, S. 9. 12 von der Pfordten, in: Paternalismus und Recht, S. 93 (94) m. w. Nachw. 13 Möller, S. 98. 7

198

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

dass der Eid des Hippokrates14 keinen Hinweis darauf enthält, dass der Wille des Patienten Bedeutung haben soll. Im Gegenteil soll im Licht des hippokratischen Eides der Arzt allein alle Entscheidungen treffen und die Verantwortung für das Wohl des Patienten tragen.

2. Kritik am Paternalismus Paternalistisches Verhalten des Arztes oder des Staates gegenüber dem Patienten ist aus zwei Gründen zu kritisieren. a) Die Hochrangigkeit des Willens des Patienten Erstens: Auch wenn die Motive des Überlegenen objektiv dem Wohl des Unterlegenen dienen, kann der Überlegene nicht immer wissen, wie der Unterlegene sein Wohl interpretiert. Die geänderten Rahmenbedingungen für das Leben in einem demokratischen Verfassungsstaat kennen keinen Fürsten, der genau weiß, was gut für seine Untertanen ist und dessen Entscheidung kaum zu hinterfragen ist.15 Die Zeiten haben sich geändert, weil die Menschen sich geändert haben.16 Es ist möglich, dass der Arzt genau weiß, was gut für die Gesundheit des Patienten ist, er darf aber seine Einschätzung nicht gegen den Willen des Patienten durchsetzen, weil die Gesundheit nicht immer ein Selbstzweck ist. Es müssen immer auch andere Parameter, wie etwa die Lebensqualität des Patienten berücksichtigt werden. Ein Gewinn an Quantität bzw. Lebensverlängerung geht nicht immer parallel mit einem Gewinn an Qualität bzw. Lebensqualität.17 Das typische Argument zur Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe, dass Personen vor sich selbst geschützt werden müssten, ist nicht plausibel, weil zu dem Begriff der Verantwortung für sich selbst gehört, dass der Einzelne für sich selbst auch existenzielle Entscheidungen treffen kann, die in die Zukunft reichen.18 Das Wohl des Patienten ist ein mehrdeutiger Begriff, den der Arzt nicht bestimmen kann: Erstens ist die beste Behandlung ein subjektiver Begriff, der sich nicht mit medizinischen Kriterien qualifizieren lässt. Zweitens variiert für verschiedene Menschen der relative Wert von Gesundheit im Verhältnis zu anderen Werten. Drittens

14 „Die Gesundheit meines Patienten wird meine erste Sorge sein. […] Ich werde das menschliche Leben bedingungslos achten, von der Empfängnis an. […]“. Heute ist dieses Gelübde des Arztes Teil der Genfer Deklaration des Welt-Ärztebundes von 1948, das als Präambel der „Berufsordnung für die deutschen Ärzte“ auch als Approbationseid dient, Siefert, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Sp. 116 f. 15 Zuck, S. 34. 16 Zuck, S. 34. 17 Kautzky, in: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 285. 18 Schroth, in: Die Patientenverfügung, S. 60 (72).

II. Selbstbestimmung und Paternalismus

199

ist die Gesundheit kein vollständig objektiver Begriff.19 Sobald mehr als eine vertretbare alternative Behandlungsmöglichkeit existieren, kann das Expertenwissen des Arztes die für einen bestimmten Patienten beste Behandlungsweise nicht mehr sicher bestimmen.20 Ein medizinischer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist nicht immer geeignet, weil er objektiv indiziert erscheint und keine Behandlungsalternativen zur Verfügung stehen.21 „Selbst bei vitaler Indikation eines Eingriffs verlangt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, dass der Arzt ihm die Möglichkeit belässt, über den Eingriff selbst zu entscheiden und ihn gegebenenfalls abzulehnen, auch wenn ein solcher Entschluss medizinisch unvernünftig ist“.22 Der Verzicht auf eine Behandlung stellt immer eine Behandlungsalternative dar, die der Arzt respektieren muss.23 Die zu treffende Wahl über die Therapie ist nicht immer eine Frage der Maximalisierung des Gesundheitsstandards des Patienten, sondern häufig eine Frage der Maximalisierung des Wohlbefindens des Patienten.24 In dieser Hinsicht kann nicht immer eine medizinische Behandlung das Wohl des Patienten maximieren. Von entscheidender Bedeutung für die Maximalisierung des Wohlbefindens ist der Wille des Patienten. Das Wohl des Patienten muss im Zusammenhang mit seinem Willen, mit seinem Wunsch und mit seinen eigenen Zielen und Werten und Wertvorstellungen gesehen werden.25 Es ist durch subjektive Präferenzen und Werte geprägt, und der beste Richter in seinen Angelegenheiten ist der Patient selbst.26 Die Bedeutung des Willens und der allgemeinen Wertvorstellungen des Patienten für die Entscheidung einer medizinischen Behandlung weist darauf hin, dass die paternalistische Konzeption des Patienten-Arzt-Verhältnisses auch dann inakzeptabel ist, wenn sie allein dem Wohl des Patienten dienen soll.27 Der Wille des einsichtsfähigen und in adäquater Weise aufgeklärten Patienten muss vorrangig beachtet werden, wobei allerdings anzuerkennen ist, dass der Patient unter Umständen das Verlangen einer unsittlichen Handlungsweise durch den Arzt zum Inhalt haben kann.28 Die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologie gegen den Patientenwillen ist also rechtswidrig und verstößt gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.29 Charakteristisch ist der Fall des verstorbenen Papstes Johannes Paul II, der schriftlich verfügt hatte, nicht mehr ins Krankenhaus eingeliefert werden zu wollen. Diese Verfügung sollte 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Brock, S. 25. Koppernock, S. 51. Koppernock, S. 52. BGH, NJW 1994, S. 799 (800); BGHZ 90, 103 (105). Koppernock, S. 52. Brock, S. 26. Brock, S. 28. Koppernock, S. 53. Schreiber, in: FS Starck, S. 111 (113). Fritsche, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod? S. 1 (7). Gaßner, in: Die Patientenverfügung, S. 24.

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3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

auch dann weiterhin beachtet werden, wenn er in einen Zustand kommen sollte, in dem er sich nicht mehr mündlich oder schriftlich äußern könne – und sie wurde beachtet.30 Nicht das Leben, sondern die Autonomie des Patienten ist das höchste von der Verfassung geschützte Gut.31 Der Staat darf nicht besser wissen, was dem Patienten gut tut und seiner Würde gemäß ist.32 Auch wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist zu entscheiden, ist nur sein mutmaßlicher Wille und nicht das Ermessen der behandelnden Ärzte rechtlicher Maßstab dafür, welche lebensverlängernden Eingriffe zulässig sind und wie lange sie fortgesetzt werden dürfen.33 Zur Würde des Patienten „gehört auch, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu sein“.34 Deshalb ist die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologien rechtswidrig, wenn sie dem wirklichen oder anzunehmenden Patientenwillen widerspricht.35 Von besonderer Bedeutung ist nicht das Wohl, sondern der Wille des Patienten. Die Selbstbestimmung des Patienten entfaltet sich auch in sozialen Kontexten und hierzu gehört der Wunsch des Patienten, nahe stehende Personen nicht mit finanziellen und emotionalen Folgen einer langjährigen Therapie zu belasten.36 Dieser Wunsch ist Ausfluss des Rechts auf Selbstbestimmung und muss als solcher respektiert werden.

b) Symmetrie der Patienten-Arzt-Beziehung Zweitens: Es besteht keine Höherrangigkeit des Arztes dem Patienten gegenüber (oder des Staates dem Bürger gegenüber), keine Beziehung zwischen Überlegenem und Unterlegenem. Die Unwilligkeit vieler Ärzte, den Patienten als Partner eines Vertrauensverhältnisses anzuerkennen, ist auf den fehlenden Vorrang des salus aegroti, des Wohls des Patienten, vor der voluntas aegroti, dem Willen des Patienten zurückzuführen.37 Auf den ersten Blick erscheint das Patienten-Arzt-Verhältnis nicht als gleichberechtigtes Verhältnis. Diese latente Nachrangigkeit des Patienten lässt sich soziologisch erklären: Zum einen weist der Ursprung des Wortes Patient darauf hin, dass der Patient leidend und geduldig seinem Schicksal gegenübersteht. Seine Krankheit kann ihm körperliche, geistige und seelische Kräfte rauben, so dass die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, auf den ersten Blick eingeschränkt erscheint. Dies legt es vermeintlich nahe, dass der Patient nicht immer in der Lage ist, wichtige Entscheidungen seine Gesundheit und die Bewahrung seines Lebens betreffend selbst zu treffen. Zum anderen weist der Ursprung des Wortes „Doktor“ (Arzt) darauf hin, 30 31 32 33 34 35 36 37

Gaßner, in: Die Patientenverfügung, S. 24 (35). Ruhl, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 29 (39). Schlink, S. 11. BGHSt 37, 376 (378). Podlech, in: AK-GG, Art. 1 I, Rn. 46. BGHSt 32, 367 (379 – 380). Verrel, in: 66. DJT (2006), Bd. I, S. C 1 (87). Zuck, S. 33.

II. Selbstbestimmung und Paternalismus

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dass der Arzt als Inhaber eines höchsten akademischen Grades in der Patienten-ArztBeziehung höherrangig ist. Diese schwächere Position des Patienten bedeutet aber nicht, dass andere, in erster Linie der Arzt, Entscheidungen für den Patienten treffen müssten. Der Patient benötigt vielmehr lediglich Aufklärung und Unterstützung bei seiner Entscheidung. Wenn der Patient aus bestimmten Gründen nicht allein entscheiden kann oder will, kann er aber auf sein Selbstbestimmungsrecht verzichten. Das Patienten-Arzt-Verhältnis ist folglich kein Subjekt-Objekt-Verhältnis, sondern ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis.38 Es muss in besonderer Weise sichergestellt werden, dass Patienten ebenso in den Genuss der Grundrechte kommen wie gesunde Menschen. Das Subjektsein des Patienten setzt aber auch eine Veränderung seines Bewusstseins voraus, da in erster Linie er die Verantwortung für seine Gesundheit trägt und im Krankheitsfall er entscheidet, ob er sich behandeln lassen möchte oder nicht.39 Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist keine Subjekt-Objekt-Beziehung, kein Eltern-Kind-Verhältnis, sondern ein partnerschaftliches Miteinander zweier gleichberechtigter und gleichwertiger Menschen.40

3. Paternalismus in der gegenwärtigen Praxis Wie aber sieht es in der gegenwärtigen Praxis aus? Der Stellenwert des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist im Bewusstsein der meisten Ärzte noch nicht ausreichend verankert. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen paternalistischen Tendenzen beim Arzt und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten.41 Von besonderer Bedeutung ist für den Arzt nicht der Wille, sondern das Wohl des Patienten.42 Es darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass das paternalistische Verhalten seitens des Arztes und im Allgemeinen seine Skepsis gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten einen praktischen Grund hat. Der Arzt hat oftmals Angst vor juristischen Konsequenzen wegen eines Behandlungsunterlassens.43 Er wünscht daher Sicherheit für sein Handeln im juristischen Sinne. Es ist eine klare gesetzliche Regelung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten notwendig, damit die Patientenautonomie eine gesicherte Grundlage erhält und dem Arzt klare Handlungsanweisungen zur Verfügung stehen.44

38 39 40 41 42 43 44

Fiebig, S. 24. Fiebig, S. 8. Voll, S. 54. Mattheis, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 17 (18). Mattheis, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 17 (19). Mattheis, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 17 (18). Mattheis, in: 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. K 17 (20 f.).

202

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

4. Ein Recht gegen Paternalismus und die Rolle des Staates Ein allgemeines Recht gegen Paternalismus ist Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Patienten; paternalistisches Verhalten des Staates stellt einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Staat immer tatenlos bleiben muss. Es besteht nämlich eine Schutzpflicht des Staates, das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Der Staat muss zum einen – was schon nicht paternalistisch ist – diejenigen Bürger schützen, die einen solchen Schutz wünschen. Wenn allerdings z. B. ein urteilsfähiger Patient eine lebensrettende Therapie ablehnt, ist der Staat nicht berechtigt, zu intervenieren. Die staatliche Schutzpflicht besteht unter dem Grundgesetz zum anderen in den Fällen, in denen die Betroffenen zu einem selbstbestimmten Leben nicht in der Lage sind, wenn also der Wille des Betroffenen nicht wirklich frei ist. Der Fall ist dies etwa bei Minderjährigen und Geisteskranken. Hierbei handelt es sich nicht um „hartes paternalistisches“ staatliches Handeln, das durch einen Schutz des Betroffenen unabhängig von seinen individuellen Wünschen, Interessen und Präferenzen gekennzeichnet ist. Es handelt sich vielmehr um eine zulässige Form eines „weichen Paternalismus“, nämlich um einen Schutz des Betroffenen, wenn er entscheidungs- und einwilligungsunfähig ist.45 Der Staat hat eine Verantwortung für die Menschen, die sich selbst nicht helfen können, weil sie entweder – wie etwa Minderjährige – noch nicht die nötige Reife besitzen, vollständig für sich zu entscheiden oder – wie etwa Geisteskranke – die geistigen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben nicht mitbringen.46 Wenn der Betroffene in der Lage ist, freiverantwortlich zu entscheiden, ist es dem Staat lediglich erlaubt, ihn zu warnen, nicht aber, ihn gegen seinen erklärten Willen zu schützen. Es ist zulässig, jemanden zu warnen, der über eine baufällige Brücke geht, es ist aber unzulässig, jemanden trotz Warnung von dem Überschreiten der Brücke abzuhalten.47 Allerdings kann es geboten sein, die Freiwilligkeit der Entscheidung zu überprüfen. Der Fall ist dies etwa beim Suizidenten, weil sich dieser sehr oft in einer psychischen Ausnahmesituation befindet. In der medizinischen Praxis bedeutet dies, dass der Patient vor seiner Entscheidungsfindung ausführlich aufgeklärt werden muss. Wenn er dann eine freiverantwortliche Entscheidung trifft, ist es aber unzulässig, einzugreifen. Eine Anstaltsunterbringung, die dem Schutz eines Geisteskranken oder Minderjährigen dient, ist zulässig, wenn der Patient gehindert werden soll, sich selbst größeren persönlichen oder wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, nicht aber, wenn es nur um die „Besserung“ des Patienten geht.48 Allerdings stellt sich auch bei Urteilsunfähigkeit in einigen Fällen am Endes des Lebens, wo eine Entscheidung über das Abschalten oder den weiteren Betrieb eines lebensrettenden Gerätes getroffen werden muss, die Frage, ob der Urteilsunfähige zu seinem 45 Zur Differenzierung zwischen hartem und weichem Paternalismus s. Möller, S. 16; Schulz, in: Paternalismus und Recht, S. 69 (71). 46 Möller, S. 216. 47 Mill, S. 132. 48 BVerfGE 22, 180 (219).

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung

203

Wohl gezwungen werden darf. Diese Frage lässt sich zu Gunsten eines „weichen paternalistischen“ Verhaltens beantworten, wenn keine Möglichkeit zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens des Patienten besteht. In diesem Fall muss der Grundsatz in dubio pro vita gelten. Festzustellen ist zudem Folgendes: Auch wenn der freie Wille des Patienten zu respektieren ist, ist seine Freiheit nicht grenzenlos. Die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe könnte z. B. nur unter sehr strengen Voraussetzungen erlaubt werden, die die Freiwilligkeit des Sterbehilfebereiten prozedural absichern. Eine absolute Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe ist nicht denkbar. Das gleiche gilt auch bei der Organspende. In dieser Arbeit wird die Ansicht vertreten, dass die Mitwirkung eines Dritten bei verschiedenen Formen der Selbstbestimmung des Patienten unter strenge Kontrollen gestellt werden muss. Grund dafür ist dass die Mitwirkung des Dritten dem eigenen Interesse des betroffenen Patienten und nicht fremdbestimmten Interessen dienen muss. Das mag zwar als paternalistisch betrachtet werden, es gibt jedoch kein anderer Weg zur Verhinderung von Missbrauch.

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung als Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des Patienten 1. Die Selbstverantwortung als Korrelat der Freiheit Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten bedeutet für den Patienten Freiheit und Autonomie, setzt aber zugleich auch Verantwortung des Patienten voraus. Selbstbestimmung ist ohne Selbstverantwortung nicht denkbar.49 Verantwortung ist der Grundstein jeder Freiheit,50 das Korrelat der Freiheit51 und zugleich der Preis des Zuwachses an individueller Freiheit, mit anderen Worten die Kehrseite der Freiheit.52 Inhaltlich betrachtet ist die Ambivalenz der Eigenverantwortung diejenige von Pflicht und Freiheit.53 Das heißt, sie eröffnet ihrem Adressaten auf der einen Seite Handlungsspielräume, auf der anderen Seite bindet sie „eine vorhandene faktische Gestaltungsmöglichkeit“.54 Der Einzelne muss die Verantwortung für die Freiheit und deren Risiken tragen, wie auch nach Art. 2 Abs. 2 EMRK die Ausübung von Freiheiten „Pflichten und Verantwortung mit sich bringt“.55 Charakteristisch ist der Fall der freien Berufswahl, die die Verantwortung für die autonome und staatlich 49 50 51 52 53 54 55

Hillgruber, S. 153 ff. Kämpfer, S. 275 m. w. Nachw. Kaufmann, in: Verantwortung, S. 72 (80). Di Fabio, FAZ, 02. 05. 2002, S. 10. Klement, S. 262. Klement, S. 262. Merten, in: VVDStRL 55 (1996), S. 7 (19 f.).

204

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

nicht beeinflussbare Entscheidung der Berufswahl umschließt.56 Man hat die Freiheit, seine Meinung zu äußern, man trägt aber die Verantwortung für das, was man gesagt hat – man hat die Wahlfreiheit und trägt zugleich die Verantwortung für seine Wahl.

2. Die rechtlichen Grundlagen der Verantwortung Die Verantwortung ist Folge des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG).57 Man kann seine Persönlichkeit nicht frei entfalten, wenn man einerseits nicht frei handeln kann und andererseits die Verantwortung für seine Handlungen nicht übernimmt. Die Wurzeln der Verantwortung sind ebenfalls eng mit der Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verbunden.58 Schon Leisner leitete die „Überwindung des Freiheitsformalismus durch Werthaftigkeit“ aus der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde auf die übrigen Grundrechte her.59 In diesem Sinne ist „,Würde Freiheit – aber sie ist mehr als das, sie beinhaltet eine ,Freiheit zu etwas, das Wert allein ist. Alle grundrechtlichen Freiheiten werden so ,verhafte, ,Verantwortungs-Freiheiten.“60 Gemäß Lerche darf der Würdebegriff nicht auf Freiheit reduziert, vielmehr müsse ihm auch Verantwortung zugeordnet werden.61 In der gleichen Denktradition wird auch bis heute der Menschenwürdebegriff durch Freiheit und Verantwortung operationalisiert.62 Die Menschenwürde verlangt also die Anerkennung des Menschen als selbstverantwortliche Persönlichkeit.63 Aus dieser selbstverantwortlichen Persönlichkeit erwuchs der Gedanke, dass die menschliche Würde aus Freiheit und Verantwortung besteht.64 Das verfassungsrechtliche Menschenbild ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Würde und „freier Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen geprägt.65 In dieser Formel stehen „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ nebeneinander und können als Synonyme verstanden werden.66 Die Interpretation der Menschenwürde als Garantie von Freiheit und Verantwortung darf aber nicht zu einer Pflicht und Obliegenheit zu Freiheit in Verantwortung führen. Man hat also die Freiheit, kein „verantwortliches“ Leben zu führen, auch wenn man weiß, dass man die „Eigenverantwortung seiner Unverantwortlichkeit“ trägt. 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Merten, in: VVDStRL 55 (1996), S. 7 (20). Vgl. Peters, SGB V, § 1, Rn. 15. Klement, S. 473. Leisner, S. 141 ff. Leisner, S. 143 ff.; kritisch Poscher, S. 114. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 244, Fn. 340. Klement, S. 473. BVerfGE 45, 187 (228). Vgl. Saladin, S. 199 ff. BVerfGE 108, 282 (300). Vgl. Alexy, S. 323.

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung

205

3. Die Bedeutung der Selbstverantwortung in der medizinischen Praxis Was bedeutet aber diese Verantwortung in der medizinischen Praxis? Der Patient hat die Freiheit, eine Entscheidung zu treffen, er trägt aber zugleich „die Last der Entscheidung“.67 Die Verantwortung ist Folge seiner Entscheidungsfreiheit.68 Der Patient trägt Verantwortung vor sich selbst und auch für sich selbst.69 Diese Verantwortung wird als „Selbstverantwortung“ verstanden.70 Diese Selbstverantwortung des Patienten will der Gesetzgeber im Sinne einer Mitverantwortung für sein Leben, die Ausfluss des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des Patienten (Art. 2 Abs. 1 GG) ist, stärken.71 Gemäß § 1 Abs. 2 SGB V sind „[d]ie Versicherten […] für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folge zu überwinden.“ Gemäß § 6 SGB XI sollen die Versicherten „durch gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an Vorsorgemaßnahmen und durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dazu beitragen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden“. In dieser Hinsicht stellen die „Krankenkassen den Versicherten die im dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden“ (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB V). Ziel des Gesetzgebers ist hierbei die Stärkung der Eigenverantwortung und nicht die Einschränkung des Leistungsumfangs der Krankenkassen.72 Eine behördliche Durchsetzung einer Pflicht zu einem gesunden und insoweit verantwortlichen Leben wäre jedoch verfassungsrechtlich unzulässig und in den meisten Fällen auch praktisch unmöglich, weshalb in diesem Kontext der Ausdruck des Mitverantwortlich-Seins in der Rechtspraxis auf eine symbolische Funktion reduziert ist.73 Man kann Verantwortung nur für etwas tragen, was in der eigenen Macht steht, das heißt, Verantwortung setzt Handlungsspielräume,74 nämlich Handlungsalternati-

67

Bayertz, Aus Politik und Zeitgeschichte 1999, B/6, S. 39 (44 f.). Das Grundgesetz verwendet die Begriffe Verantwortung und Entscheidungsfreiheit synonym, die „eigene Verantwortung“ etwa des Bundesministers für seinen Geschäftsbereich steht zunächst für die eigene Handlungsbefugnis, wobei dann auch in eigener Person oder der der Körperschaft Konsequenzen zu tragen sind, zu haften ist, s. Di Fabio, FAZ, 02. 05. 2002, S. 10. 69 Picht, S. 321. 70 Picht, S. 320. 71 Vgl. Peters, SGB V, § 1, Rn. 15. 72 BR- Drucks. 200/88, S. 157. 73 Vgl. Klement, S. 227. 74 Dreier, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 9 (21). 68

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3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

ven,75 voraus. Gegenstand der Eigenverantwortung sind also die Möglichkeiten.76 In der modernen Medizin sind die Möglichkeiten ins Gigantische gewachsen und deshalb fällt es oftmals schwer, eine Entscheidung zu treffen. In vielen Fällen gilt auch auf dem Gebiet des medizinischen Handelns die triviale Lebensweisheit „Wer die Wahl hat, hat die Qual!“.77 Der Patient ist verantwortlich für seine Handlung, weil er die Handlung gewollt hat und daher gleichzeitig „Ursprung und Herr“ dieser Handlung selbst ist.78 Es fällt vielen Patienten schwer, eine angemessene und kompetente Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu treffen. Die Existenz vieler Möglichkeiten wird daher vom Patienten oft nicht als Segen, sondern als Belastung empfunden. Nicht alle Patienten sind darauf vorbereitet, die Kosten der Freiheit der Wahl – weder im Hinblick auf die dafür notwendigerweise zu beschaffenden Informationen noch im Hinblick auf die emotionale Kraft, die dies erfordert – zu tragen.79 In den Fällen, in denen ein Patient machtlos dem Ende seines Lebens gegenübersteht, weil keine lebensrettende Therapie zur Verfügung steht, hat er theoretisch die Möglichkeit, sein Sterben zu beschleunigen. Er hat also immer eine Wahl. Hierbei trägt der Patient nicht nur die Verantwortung für sein Tun, sondern auch für seine Untätigkeit. Eine solche Untätigkeit kann verschiedene Formen, wie die Nichtdurchführung einer medizinischen Untersuchung, die Verweigerung einer vorgeschlagenen Therapie, die Führung eines ungesunden Lebens etc., haben. Die Selbstverantwortung des Patienten zu akzeptieren, dazu sind oft weder der Staat noch der Patient selbst bereit. Häufig fürchten sich Patienten, eine wichtige Entscheidung selbst zu treffen. Ein Patient, der sich in der Folge von der eigenen Verantwortung dispensieren will und eine Entscheidung allein dem Arzt überlässt, verzichtet auf sein Selbstbestimmungsrecht.80 Dies ist zulässig, da der Patient selbst bestimmen darf, inwieweit er von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen will.81 Er darf dem Arzt einen Teil seiner Verantwortung abnehmen und/ oder ihm alles vertrauensvoll überlassen.82 Die Entscheidungsfreiheit darf nicht als Zwang verstanden werden. Es geht um „Freiheit von Zwang“ und nicht um „Zwang zur Freiheit“.83 Es besteht also kein Zwang zur Entscheidung, keine Selbstbestimmungspflicht. Der Patient ist z. B. nicht gezwungen, eine Patientenverfügung aufzusetzen. Gesetzliche Regelungen, die eine Einwilligung des Patienten fingieren, z. B. die so genannte Widerspruchslösung bei der Organentnahme, greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte negative Selbstbestimmungsrecht des Pa75 76 77 78 79 80 81 82 83

Brieskorn, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 193 (198). Hubig, in: Verantwortung, S. 98 (100). Bayertz, Aus Politik und Zeitgeschichte 1999, B/6, S. 39 (44 f.). Bayertz, in: Verantwortung, S. 3 (10). Bayertz, Aus Politik und Zeitgeschichte 1999, B/6, S. 39 (45). Fiebig, S. 48; Picher, S. 508. Voll, S. 55. BGH, NJW 1959, S. 811 (813). Merten, in: VVDStRL 55 (1996), S. 7 (21).

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung

207

tienten ein. Grund hierfür ist, dass der Einzelne durch solche Regelungen gezwungen wird, sich mit Fragen seiner Gesundheit bzw. des eigenen Todes, im Falle der Widerspruchslösung mit der Organspende, zu beschäftigen. In Güterabwägung mit den Gesundheitsbedürfnissen potenzieller Organempfänger, die auf die jeweiligen Organe angewiesen sind, wäre jedoch der Bevölkerung eine Erklärungslast als Ausdruck der mitmenschlichen Solidarität zumutbar. Eine praktische Konkordanz zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des potenziellen Spenders und dem Interesse an der Steigerung der Zahl der verfügbaren Organe setzt jedoch ein bestimmtes Verfahren voraus. Es müsste etwa sichergestellt werden, dass eine Entscheidung schnell und unkompliziert dokumentiert und revidiert werden kann, dass kein Zwang besteht, seine Entscheidung zu begründen und dass hinreichend Bedenkzeit für die Abgabe einer Erklärung zur Verfügung steht.

4. Voraussetzungen der Selbstverantwortung Die Verantwortung als Grundlage der Freiheit setzt voraus, dass der Patient einwilligungsfähig, ausreichend aufgeklärt und frei von Zwängen ist. Sie setzt, wenn nicht objektives Freisein von unüberwindlichen Zwängen, so doch zumindest subjektives Freiheitsbewusstsein voraus.84 Verantwortung bedeutet die Fähigkeit zu räsonieren und zu entscheiden85 und als solche setzt sie kausales Verhalten und kausale Macht86 voraus. Fehlt es hieran, entfällt die Verantwortung für ein Verhalten.87 Eigenverantwortung setzt Eigenständigkeit, eine selbstständige Einscheidungsbefugnis voraus.88 Das Bundesverfassungsgericht hat von „der Fähigkeit der zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabten ,Persönlichkeit“89 gesprochen und von deren Existenz geht das Grundgesetz aus.90 Wenn man den Menschen in seiner Eigenverantwortlichkeit wirklich ernst nimmt, kann es nicht mehr wesentlich auf das objektive Freisein von Zwängen ankommen: entscheidend wird das Handeln aus subjektivem Freiheitsbewusstsein.91 Die Entscheidung für den Tod, soweit sie nicht von erkennbaren Zwängen beeinflusst wird und daher zumindest subjektiv frei erscheint, muss von der Rechtsordnung

84

Eser, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, S. 21 (29). Papageorgiou, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 85 (93); Der Ursprung des Wortes Verantwortung ist „Antwort geben“, Dreier, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 9 (19). 86 Jonas, S. 172. 87 Sachs, DVBl 1995, S. 873 (883); Zur Kausalität der Entscheidung s. Bayertz, in: Verantwortung, S. 3 (5 ff.). 88 Dreier, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 9 (20). 89 BVerfGE 5, 85 (204); 63, 343 (357). 90 Dreier, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 9 (27). 91 Flew, in: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, S. 95 (97 ff.). 85

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3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

respektiert werden.92 Wenn man das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ernst nimmt, muss man den Patienten für fähig halten, seine ureigensten Belange selbst zu gestalten.93 Bestandteil des Prinzips der Verantwortung ist das Vertrauen, dass der Patient von seiner Freiheit vernünftig Gebrauch macht.94 Es wird jedoch oft unterstellt, dass der Patient nicht frei von äußeren Zwängen sei. Dieses Misstrauen führt häufig zu einem Mangel an Vertrauen (s. unten unter IV) in das Recht auf Selbstbestimmung. Dieses Misstrauen kann aber auf keinen Fall Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts des Patienten rechtfertigen, sondern muss vielmehr zu intensiven Kontrollen hinsichtlich der Freiwilligkeit der zur Rede stehenden Entscheidung führen. Eine Handlung ist freiwillig, wenn sie einerseits in Kenntnis der jeweiligen Rahmenbedingungen vollzogen wird und andererseits auf eine bewusste Entscheidung zurückgeht.95 Voraussetzung der Freiwilligkeit der Entscheidung eines Patienten ist somit die Einwilligungsfähigkeit und die ausführliche Aufklärung des Patienten.

a) Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten Voraussetzung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist, dass der Patient zur Zeit seiner Ausübung die Fähigkeit dazu hat. Der Patient muss als Verantwortungssubjekt in der Lage sein, die objektiven Hinweise auf zukünftige Chancen und Gefahren zu erkennen und richtig einzuschätzen.96 Man kann nicht von einer Selbstbestimmung des Patienten sprechen, wenn der Patient nicht einwilligungsfähig ist. Einwilligungsfähig ist der Patient, der die Fähigkeit besitzt, die geplante ärztliche Maßnahme, ihre Folgen und das insoweit bestehende Risiko zu ermessen, also das Wesen, die Bedeutung, die Dringlichkeit und die Tragweite des Eingriffs zu erkennen, um das Für und Wider abwägen zu können.97 Die Einwilligungsfähigkeit ist vom Gesetzgeber bislang nicht geregelt worden. Sie ist wohl jedenfalls zeitgleich mit der uneingeschränkten Fähigkeit zum Abschluss von Rechtsgeschäften anzunehmen.98 Referenzmaß der Urteilsfähigkeit sollte im Falle des medizinischen Eingriffs aber der durchschnittliche Reifegrad von 14jährigen sein, weil die Fähigkeiten eines Minderjährigen ab Vollendung des 14. Lebensjahres in der Regel so weit entwickelt sind, dass ihm die Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Einwilligung in eine medizinische Maßnahme zugesprochen werden kann.99 Wenn die Urteilsfähigkeit eines Patienten, der zwischen 14 und 18 Jahre alt ist, festgestellt wird, ist entweder die Zustimmung seiner Sorgeberechtigten nicht notwen92 93 94 95 96 97 98 99

Eser, in: Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, S. 21 (32). Zöller, ZRP 1999, S. 317 (318). Di Fabio, FAZ 02. 05. 2002, S. 10. Bayertz, in: Verantwortung, S. 3 (9). Birnbacher, in: Verantwortung, S. 143 (153). BGH, MDR 1981, S. 810. Deutsch/Spickhoff, Rn. 685. Taupitz, in: 63. DJT (2000), Bd. I, S. A 1 (60) m. w. Nachw.

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung

209

dig100 oder, je nach Fall, verfügt das Kind über ein Vetorecht.101 Im Falle einer Verweigerung des Eingriffs geht die Entscheidung des Minderjährigen vor.102 Der Wille des Kindes hat mit zunehmendem Alter zunehmend mehr Gewicht.103 Bei Patienten unter 14 Jahren ist der gesetzliche Vertreter (Eltern, Vormund, Pfleger) im Rahmen seines Sorgerechts bzw. seiner Sorgepflicht zur Entscheidung berufen (§ 1626 BGB). Bei gravierenden, aber nicht eilbedürftigen Eingriffen bedarf es der ausdrücklichen Einwilligung beider sorgeberechtigter Elternteile. Der Arzt muss sich Gewissheit darüber verschaffen, dass beide Elternteile einverstanden sind.104 Wenn diese sich nicht einigen, muss eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeigeführt werden (§ 1671 ff. BGB). Bei volljährigen Patienten, die sich nicht in vollem Besitz ihrer intellektuellen oder voluntativen Fähigkeiten befinden, ist die Bildung eines freien Willens ausgeschlossen und ihr Verhalten muss staatlicherseits nicht unbedingt als Ausdruck von Selbstbestimmung anerkannt werden.105 Wenn der Arzt auf Grund der gesamten Umstände, des Alters des Patienten, der psychischen und physischen Konstitution, des Einflusses von Medikamenten, des Grades der Verständnisfähigkeit usw. Zweifel hat, ob der Patient einsichtsfähig ist, muss er die Einwilligung des für ihn gemäß § 1896 BGB von Amts wegen oder auf Antrag zu bestellenden Betreuers einholen.106 Für einen solchen Patienten gilt grundsätzlich nichts anderes als beim Minderjährigen.107 Wenn die Gefahr besteht, dass der Patient durch den Heileingriff stirbt, dann ist gemäß § 1904 BGB außer der Einwilligung des Betreuers auch die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts erforderlich,108 wenn für dieses Verfahren Zeit bleibt und die medizinische Maßnahme aufschiebbar ist.109 Wenn keine Zeit für die Bestellung des Betreuers und gegebenenfalls die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts bleibt, muss der Arzt sein Verhalten nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten ausrichten.110 b) Die Aufklärung des Patienten – Wahrheitspflicht des Arztes? Wegen der begrenzten Einsichtsfähigkeit des Patienten in medizinische, pharmakologische und psychosomatische Zusammenhänge kann er sein Recht auf Selbstbe100

Vgl. Deutsch/Spickhoff, Rn. 686. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 31. 102 Vgl. zu dieser Problematik BGHZ 29, 33 (36 ff.); BGH, VersR 1972, S. 153 (155); OLG Düsseldorf, VersR 1980, S. 949. 103 Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 31. 104 BGH, NJW 1988, S. 2946 (2946 ff.). 105 Hillgruber, S. 121. 106 Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 28. 107 Röver, S. 103. 108 BGHSt 40, 257 (262). 109 Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 28. 110 Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 139, Rn. 28. 101

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3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

stimmung nur auf Grund gründlicher Aufklärung und umfassender Information wahrnehmen. Nur bei hinreichender Aufklärung kann er einer Behandlung zustimmen oder sie ablehnen. Die Aufklärungspflicht erfordert es, dass der Patient Informationen über seine Krankheit, die Prognose, die Heilungschancen, den geplanten ärztlichen Eingriff, die Folgen und die möglichen Risiken des ärztlichen Eingriffs sowie die Behandlungsalternativen erhält.111 Alle diese Informationen müssen sehr konkret sein, das Maß der Genauigkeit kann aber variieren. Das Stellen einer Prognose z. B. ist mit Unsicherheiten verbunden. So kann etwa nicht sicher vorausgesagt werden, wie lange ein Patient noch zu leben hat. Das Maß der Ausführlichkeit, mit der aufgeklärt werden muss, ist umgekehrt proportional zur Dringlichkeit des Eingriffes: je dringender der geplante Eingriff, desto geringer ist der Umfang der Aufklärungspflicht und je geringer der Dringlichkeitsgrad, desto größere Anforderungen sind an die Aufklärungspflicht zu stellen.112 Bei diagnostischen Eingriffen ohne therapeutischen Eigenwert sind hohe Anforderungen an die Aufklärungspflicht zu stellen.113 Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, dass auch einem diagnostischen Eingriff im Hinblick auf die dadurch erschlossene Heilungsmöglichkeit große Dringlichkeit zukommen und er mitunter sogar vital indiziert sein kann.114 Das Aufklärungsgespräch muss schon zu einem Zeitpunkt geführt werden, zu dem noch ausreichend Zeit verbleibt, Vorbereitungen und Entscheidungen zu treffen. In einigen Fällen sind jedoch der Aufklärungspflicht sehr enge Grenzen gesetzt. Am Kranken- und Sterbebett kann der Arzt in eine sehr schwierige Situation kommen, wenn er von einem schwerkranken Patienten nach dem weiteren Verlauf der Krankheit befragt wird. Eine wahrheitsgemäße Antwort kann einen Menschen in bestimmten Fällen in die Hoffnungslosigkeit stürzen. Dies führt jedoch nicht dazu, dass der Arzt in solchen Fällen lügen darf, allerdings muss er auch nicht den Patienten, der dies nicht will, aufklären. Die Aufklärungspflicht des Arztes ist ebenfalls begrenzt, wenn z. B. der Patient die Wichtigkeit seiner Krankheit nicht verstehen kann oder wenn etwa eine Verständigung mit dem Patienten nicht möglich ist, weil dieser psychisch krank ist oder bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Wenn der Arzt den Verdacht hat, dass ein Patient an einer schweren Krankheit leidet, sich aber nicht sicher ist, besteht – wenn der Patient nicht aufgeklärt werden will – kein Grund, den Patienten zu beunruhigen. Der Arzt sollte den Patienten nicht mit unsicheren, nicht erwiesenen oder unbestätigten Verdachtsdiagnosen quälen.115 Der Arzt muss im Gespräch mit dem Patienten herausfinden, in welchem Maße dieser Aufklärung wünscht. Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist auch das Recht auf Nichtwissen. Der Patient ist nicht verpflichtet, sich mit dem Wissen um eine un111

Vgl. Rieger, S. 117, Rn. 255. BVerfGE 52, 131 (137). 113 LG Bremen, MedR 1983, 737; OLG Bremen, MedR 1983, 111. 114 BGH, NJW 1971, S. 1887 (1888); BGH, NJW 1979, S. 1933 (1934). 115 Vgl. Laufs/Laufs, NJW 1987, S. 2257 (2263); Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 63, Rn. 15. 112

III. Die Symbiose von Freiheit und Selbstverantwortung

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heilbare Krankheit zu konfrontieren.116 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten umfasst keine Selbstbestimmungspflicht.117 Wenn aber der Patient nach allen Einzelheiten seiner Krankheit fragt, muss der Arzt ihn entsprechend informieren. Fraglich ist auch, ob eine Aufklärung auch unterbleiben darf, wenn der Arzt davon überzeugt ist, dass eine solche zu Gesundheitsschädigungen führen wird, vor allem, wenn es um die Bekanntgabe der Diagnose bei unheilbaren Krankheiten geht. Wenn das Risiko eines negativen Verlaufs der Krankheit durch Mitteilung der möglichen schädlichen Nebenwirkungen des geplanten Eingriffs erhöht wird, also „ausreichende Anhaltspunkte dafür vorhanden [sind], dass die […] Aufklärung zu einer ernsten und nicht behebbaren Gesundheitsschädigung des Patienten führen würde“, besteht gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes keine Aufklärungspflicht des Arztes.118 Der Arzt muss „Rücksicht […] auf die psychosomatische Ausnahmesituation, in der sich der schwer erkrankte Patient […] befindet [nehmen], und darf diesen Patienten nicht über sein Krankheitsleid hinaus seelisch unnötig belasten“.119 Die Aufklärungspflicht des Arztes findet also gemäß dieser Rechtsprechung ihre Grenze dort, wo sie zu einer Gesundheitsschädigung des Patienten führen kann. Vom Arzt kann dementsprechend nicht verlangt werden, um der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten willen eine vorsätzliche psychosomatische Verletzung zu begehen.120 Hierbei ist aber zu beachten, dass die Aufklärungspflicht des Arztes, wie oben bereits erläutert, nicht entfällt, wenn der Patient über alle Einzelheiten seiner Krankheit informiert werden will. Auch dann nicht, wenn eine solche Aufklärung voraussichtlich zu einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen wird. Eine Befreiung von der Aufklärungspflicht kommt auch im Übrigen nur in engen Grenzen in Betracht. Die Aufklärungspflicht des Arztes entfällt etwa nicht schon deshalb, weil der Patient beunruhigt ist oder seine Gemütsverfassung depressiv beeinträchtigt wird.121 Der Arzt darf auch nicht ignorieren, dass der Patient das Recht hat, sich gegebenenfalls auf seinen Tod vorzubereiten und – z. B. durch die Anfertigung eines Testaments – Vorkehrungen für sein Ableben zu treffen. Die Aufklärungspflicht des Arztes entfällt nur, wenn dieser weiß, dass der Patient nicht informiert werden will, welcher der nächste Schritt seiner Krankheit sein wird.122

116 117 118 119 120 121 122

Koppernock, S. 89 m. w. Nachw. Tröndle, MDR 1983, S. 881 (885). BGHZ 29, 176, 185. OLG Celle, VersR 1981, S. 1184 (1185). Vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts, S. 124, Rn. 265. BGH, NJW 1956, S. 1106 (1107); BGHSt 11, 111 (115). Vgl. Eisner, S. 96.

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3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

IV. Der Mangel an Vertrauen als Grundlage sowohl eines Skeptizismus gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten als auch als Grundlage seines Selbstbestimmungsrechts 1. Der Mangel an Vertrauen als Grundlage eines Skeptizismus gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten Der Mangel an Vertrauen gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten hat seine Wurzel in dem Argument der schiefen Ebene (slippery slope argument). Dies meint, dass die Zulassung einer bestimmten Praxis A, die für sich genommen gerechtfertigt oder gewollt ist, gleichzeitig zu einer Zulassung einer Praxis B führt, die ungerechtfertigt und sozial unerwünscht ist. Wenn z. B. ein Schwangerschaftsabbruch auf Grund medizinischer Indikation zugelassen wird, könnte diese Zulassung zu ungewollten, nicht medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbrüchen führen. Wenn das Tabu und Verbot der Fremdtötung aufgehoben würde, dann könnte der Lebensschutz langfristig erodieren und am Ende würden immer mehr Menschen ohne oder sogar gegen ihren Willen getötet werden. Mit anderen Worten kann die Zulassung oder Billigung einer bestimmten Handlungsweise mit Nachwirkungen verbunden sein, die „jeden vernünftig Denkenden mit Schrecken erfüllen“123 müssen. Dieses Argument weist darauf hin, dass ein Mangel an Vertrauen besteht, und zwar, dass eine bestimmte Handlung nicht zugelassen wird, weil kein Vertrauen besteht, dass diese Zulassung nicht zu einer allgemeinen Zulassung anderer unerwünschter Handlungen führen wird.

a) Der Mangel an Vertrauen auf Grund der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus Vielleicht wäre der Skeptizismus gegenüber dem absoluten Selbstbestimmungsrecht des Patienten geringer, wenn sicher wäre, dass dieses Recht nur in bestimmten schwersten Fällen in Anspruch genommen würde, wenn z. B. das Leben unerträglich erscheint, und nicht zu einer allgemeinen Degradierung des Lebens im Falle einer Krankheit führen würde. Der Mangel an Vertrauen in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist in Deutschland insbesondere durch die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. Die Ermordung von rund 100.000 unheilbar Kranken, missgebildeten Kindern und behinderten Erwachsenen als Teil eines Vernichtungsprogramms hat zu der Angst geführt, dass die Selbstbestimmungsdiskussion von ähnlichen Gemeinwohlerwägungen sowie gesellschaftsutilitaristischen, paternalistischen und eugenischen Motiven geprägt ist124 und zu einer Kategorisierung von „minderwertigem“ und „höherwertigem“ Leben führen könnte. Die Furcht, dass die freie und unbegrenzte Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten zu 123 124

Guckes, S. VII (Vorwort Patzig). Antoine, S. 255.

IV. Der Mangel an Vertrauen

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einem nächsten Nationalsozialismus führen wird, hat diesen Mangel an Vertrauen vergrößert. Wegen der Erfahrungen aus der NS-Euthanasie reduziert sich z. B. für viele die Komplexität von Themen wie Sterbehilfe und Transplantationsmedizin auf die „Horrorperspektiven“ einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.125 b) Die Genesis der Menschenrechte als Ergebnis des Mangels an Vertrauen Dieser Mangel an Vertrauen hat zu der Genesis der Menschenrechte geführt. Wenn das Vertrauen bestünde, dass die Menschenrechte im Rahmen der Selbstbestimmung des Patienten gewahrt würden und dass die ideale Politeia (der ideale Staat) von Platon durch die Ausbildung und ohne die Einführung von Gesetzen bestehen könne, wären die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit andere. Es wäre anerkannt, dass der Patient über die notwendige Einsichtsfähigkeit verfügt, um wichtige Entscheidungen für sein Leben allein und ohne Einflüsse Dritter treffen zu können. Es wäre zudem anerkannt, dass der Patient nur in extremsten Ausnahmefällen sein Leben beenden würde, wenn hinreichende Gründe dafür bestünden. Die Furcht, dass die Selbstbestimmung des Patienten missbraucht wird und allmählich zu einer unkontrollierbaren Fremdebestimmung führt, hat zu dem Mangel an Vertrauen gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das heißt gegen die Selbsttötung, die Sterbehilfe, die Sterilisation, den Schwangerschaftsabbruch, die freiwillige Verschlechterung des Gesundheitszustands, den Hungerstreik usw., geführt. Wenn kein Mangel an Vertrauen bestünde, wäre auch die Adoption von Menschenrechten ohne praktische Bedeutung. Es wäre selbstverständlich, dass der Mensch respektiert werden muss und es würden keine Gesetze benötigt, die diesen Schutz verankern. c) Mangel an Vertrauen in die Abstufung von Grundrechten Auf den beschriebenen Mangel an Vertrauen ist auch der Mangel an Flexibilität, an Abstufungen und Abwägungen zurückzuführen. Die Gesellschaft ist misstrauisch gegenüber einer Abstufung und Abwägung im Bereich der Menschenwürde, die zu verschiedenen Behandlungen von sehr ungleichen Situationen führen würde. Es wird befürchtet, dass eine Abstufung bzw. Abwägung zu einer graduellen Abschaffung der Menschenwürde führen könnte. Ähnlich ist es auch bei dem Recht auf Leben. Die Gesellschaft fürchtet sich, dass eine Abstufung hier zu einer Kategorisierung von „minderwertigem“ und „höherwertigem“ Leben führen könnte.

125

Saliger, KritV 2001, S. 382 (385).

214

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

d) Beispiele im Fall der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs und der Organentnahme Der beschriebene Mangel an Vertrauen spielt zunächst insbesondere in der Sterbehilfe-Diskussion eine große Rolle. Neben der negativen Erfahrung aus der Zeit des Nationalsozialismus spielt hier die Befürchtung eine Rolle, dass die Diskussion um die Sterbehilfe mit der ökonomischen Misere des Gesundheitssystems verbunden ist, so dass wirtschaftlich brauchbare von wirtschaftlich unbrauchbaren Menschen unterschieden würden. Ebenfalls besteht die Angst, dass keine rationale Abgrenzung von legitimen und eindeutig illegitimen Praktiken der Sterbehilfe möglich ist und dass die Anwendung von Sterbehilfepraktiken unvermeidlich zu einer unkontrollierbaren Tötung von Menschen ohne oder gegen ihren Willen führen könnte und so der Schutz des menschlichen Lebens insgesamt in Frage gestellt würde. Nach dieser Argumentation würde die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe eine wichtige Barriere gegen die Tötung anderer Menschen zunichte machen.126 Beim Schwangerschaftsabbruch wird befürchtet, dass die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten strikten Voraussetzungen zu unkontrollierten Schwangerschaftsabbrüchen führen würde. Ein Abbruch wegen medizinisch sozialer Indikation könnte zu einer allgemeinen Zulässigkeit des Abbruchs führen, auch wenn keine Indikation besteht, weil die Frau das Kind einfach nicht will. Der genannte Mangel an Vertrauen hat letztlich auch zu einer Missbilligung der Transplantationspolitik geführt. Bestandteil der Transplantationspolitik ist, dass sie Organe von Toten auf Lebende überträgt und so das Schicksal einander meist unbekannter Menschen verknüpft. Wenn ein Mangel an Vertrauen hinsichtlich der Bestimmung des Todeszeitpunktes besteht, erwachsen Sorgen, dass die Selbstbestimmung des Patienten und sein Wille, dass eine Organentnahme nach seinem Tod durchgeführt wird, missachtet werden, dass heißt, dass die Organentnahme vor dem Tod des Patienten stattfindet und dass die Krankheit des Patienten zum Anlass genommen wird, einen anderen Kranken zu behandeln. Es besteht ein Misstrauen, dass für Patienten nicht das medizinisch Mögliche getan werden könnte, wenn sie als Organspender in Betracht kommen.127 Aus diesem Grund muss die Garantie gegeben werden, dass potenzielle Spender, z. B. Unfallopfer, bis zu ihrem nicht mehr zu verhindernden Tod jede erforderliche medizinische Hilfe zu ihrer Rettung bekommen und dass vor jedem Eingriff ihr Tod unabhängig und zweifelsfrei festgestellt wird.128 Die Wurzeln der Zurückhaltung vieler Menschen, durch eine eigenständige Erklärung ihre Organe nach dem Tod zur Hilfe und Rettung anderer zur Verfügung zu stellen, liegen in diesem Mangel an Vertrauen begründet. Auch im Bereich der Transplantation ist das Ver126 Robbers, in: Aktive Sterbehilfe? Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, S. 71 (81 ff.). 127 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 14. 128 Böckle, in: Organtransplantation – Beiträge zu ethischen und juristischen Fragen. S. 89 (95).

IV. Der Mangel an Vertrauen

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bot der Nichtverwandtenspende mit einem Mangel an Vertrauen verbunden, da die Befürchtung besteht, dass eine Erweiterung des Empfängerkreises zu einem Organhandel führen würde. Diesbezüglich muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass eine Verhinderung des Organhandels auch durch andere Maßnahmen, wie etwa eine strafrechtliche Sanktionierung und ein strenges Kontrollverfahren unter Einsetzung einer Gutachterkommission, sichergestellt werden könnte.

2. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Folge eines Mangels an Vertrauen Der Mangel an Vertrauen des Patienten gegenüber dem Arzt hat aber zum Teil auch zur Begründung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten beigetragen. Wenn der Patient dem Arzt nicht vertraut, fürchtet er, dass der Arzt seinen Willen bzw. sein Verständnis von seinem Wohl nicht respektiert oder finanzielle Gesichtspunkte bei der Behandlung zu sehr in den Vordergrund stellt. Zudem besteht die Befürchtung, dass, wenn der Arzt auf Grund des mutmaßlichen Willens eines Patienten handeln muss, an die Stelle des mutmaßlichen Willens sukzessiv auch subjektive Einschätzungen und Präferenzen Dritter oder gesellschaftliche Wertmaßstäbe treten. Es besteht ein Mangel an Vertrauen, dass bei der Suche nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten der Wert des Lebens gesellschaftlich objektiviert wird.129 Es wird befürchtet, dass unsere Rechtsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Normalität würde und folglich der Außergewöhnliche keine Chance mehr hätte zu leben.130 Durch diese Fremdbestimmung würden bei der Entscheidungsfindung des Patienten Betreuer, Ärzte und Richter sich zu Herren über Leben und Tod aufschwingen. Im Licht dieser Angst vor einer Berücksichtigung fremdorientierter Kriterien ist die Notwendigkeit begründet worden, die Selbstbestimmung des Patienten bzw. seinen eigenen Willen und nicht den gesellschaftlichen Willen zu respektieren. Wenn ein Vertrauen des Patienten in den Arzt selbstverständlich wäre, würde auch die Selbstbestimmung des Patienten in den meisten Fällen selbstverständlich sein und die vorliegenden Fragestellungen wären weit weniger relevant. Ein charakteristisches Beispiel für die Begründung des Selbstbestimmungsrechts aus einem Mangel an Vertrauen heraus ist die Patientenverfügung. Ihre Anfertigung spiegelt oft einen Mangel an Vertrauen in den Arzt oder die näheren Angehörigen wider. Der Patient vertraut nicht darauf, dass diese seinen Willen richtig auslegen. Hinter seinem Wunsch nach einem Patiententestament steckt entweder die Angst vor einer nicht mehr überschaubaren Apparatemedizin oder die Angst davor, dass er Gegenstand finanzieller Überlegungen wird, dass heißt, dass eine bestimmte lebensrettende Therapie aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt wird, obwohl diese dem Willen des Patienten entspricht. Der Patient hat auch Angst davor, dass 129 130

Robbers, in : Aktive Sterbehilfe ? Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, S. 71 (82). Robbers, in: Aktive Sterbehilfe? Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten, S. 71 (82).

216

3. Teil: Wesentliche Ergebnisse

eine bestimmte lebensrettende Therapie nur aus finanziellen Gründen und gegen oder ohne seinen Willen durchgeführt wird, im Sinne der Aufrechterhaltung des Lebens als mittelbarer Zweck zur Erhaltung des Rentenanspruchs, zur Ermöglichung medizinischer Forschung oder zur Auslastung kostenträchtiger medizinischer Geräte. Genau diesen Mangel an Vertrauen in die richtige Grundlage zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens des Patienten versucht der Gesetzgeber mit dem Treffen einer vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung über den Behandlungsabbruch (§ 1904 BGB) zu bekämpfen. Für den Fall, dass das Risiko des Todes oder eines schwerwiegenden Schadens, der sich aus einer bestimmten Behandlung ergeben kann, besteht, ist deshalb gemäß § 1904 BGB die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts einzuholen. Diese Regelung beruht auf einem Misstrauen gegenüber einem unkontrollierten Zusammenwirken von Betreuer und Arzt. Die Gefahr eines Missbrauchs seitens der Ärzte, Betreuer oder Bevollmächtigten ist zu groß und letztere mögen sich von der gerichtlichen Entscheidung auch eine geringere Angreifbarkeit ihrer Entscheidungen in der Öffentlichkeit und eine Entlastung in ihrer Verantwortung auf diesem stark emotional aufgeladenen Gebiet erhoffen.

3. Die Rolle des Mangels an Vertrauen Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Begründung eines Rechts auf Selbstbestimmung Folge eines Mangels des Patienten an Vertrauen gegenüber dem Arzt oder seinen näheren Angehörigen ist. Gleichzeitig liegt auch in dem Mangel an Vertrauen gegenüber dem Gesetzgeber, dem Gesetzanwender und gegenüber der richterlichen Kontrolle ein Hindernis für die Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung des Patienten. Es wird nämlich befürchtet, dass die Zulassung einer Handlung, die Ausdruck der Selbstbestimmung des Patienten ist, zu der de facto Zulässigkeit einer anderen ungewünschten Handlung führen wird. Zur Überwindung dieses Mangels an Vertrauen muss Folgendes beachtet werden: Der Staat darf niemals äußerungsunfähige Menschen töten, weil Kosten gespart werden sollen. Der Staat hat nicht das Recht, zu entscheiden, ob das Leben eines Menschen lebenswert ist, er muss aber die Tatsache akzeptieren, dass das Leben für einen bestimmten Patienten nicht mehr lebenswert ist, weil es allzu große Leiden mit sich bringt, die nicht beseitigt werden können.131 Die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus müssen zu einer Sensibilisierung und Vorsicht gegenüber jeglichen Tendenzen der Instrumentalisierung von Leid und Krankheit für die Fremdbestimmung des Patienten führen, dürfen jedoch nicht eine allgemeine Verneinung jeder Selbstbestimmung des Patienten zur Folge haben. Opfer der Euthanasie während des Nationalsozialismus waren vor allem Behinderte und psychisch Kranke und nicht hoffnungslose fremdbestimmte Patienten.132 Die gesellschaftlichen und politischen Umstände damals und heute unterscheiden sich ganz wesentlich. Hitler ist nicht „als Opfer 131 132

Guckes, S. 229. Kämpfer, S. 279 – 280.

IV. Der Mangel an Vertrauen

217

guter Intentionen zu betrachten“.133 Auch ist das Argument, dass die Zulassung einer Handlung zu der de facto Zulässigkeit einer anderen ungewünschten Handlung führen wird, schwach. Eine offene, transparente und in prozedurale Bahnen gelenkte Praxis von Formen der Selbstbestimmung des Patienten, wie der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs und der Organtransplantation, gewährleistet gegenüber im Verborgenen praktizierten Handlungen mehr Kontrolle und eine bessere Verhinderung von Missbrauch.

133

Guckes, S. 231.

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Sachwortverzeichnis Abgabenzahlungsverweigerung 80 Abtreibung Siehe Schwangerschaftsabbruch Abwägungsspielraum Siehe Gesetzgeber Abwehrfunktion/-recht 35, 42, 47, 70, 80, 99, 137, 151 aktive Sterbehilfe 32, 43, 53, 78, 82 ff., 107, 119 ff., 177, 183, 194, 203, 214 – Abgrenzung zur indirekten 128 – Abgrenzung zur passiven 87, 119 ff. – Bedenken gegen die aktive Sterbehilfe 122 ff. – Begriff 119 – einfachgesetzliche Ausgestaltung 122 – EMRK 86 – Entscheidungsfähigkeit 128 – Patientenverfügung 134 – verfassungsrechtliche Beurteilung 127 f. allgemeine Handlungsfreiheit 40, 69 ff., 158 – Arztwahl 71 f. – Ende des Lebens 72 – Krankenversicherung 72, 90 f., 195 – Schutzbereich 70 ff. – Zwangsversicherung 72 allgemeines Persönlichkeitsrecht Siehe Persönlichkeitsrecht Angehörige 100, 107, 108, 111, 115, 124, 127, 136, 169, 177, 184, 187, 215 Argument der schiefen Ebene Siehe Schiefe Ebene-Argument Arzt 25 f., 29, 44 ff., 66, 68, 76, 92 ff., 101 ff., 134 ff., 140 ff., 146, 162, 170, 173, 177, 197, 206, 215 – ärztliches Ethos 123 ff., 140 f. – Berufsfreiheit 94 f., 130, 147 – Gewissensfreiheit 77 ff., 81, 96 f., 196 – Integrität der Ärzteschaft 123 ff. – Patienten-Arzt-Beziehung 25 f., 45, 123 f., 199 ff. – Therapiefreiheit des Arztes 95 f., Siehe auch Berufsfreiheit des Arztes Arztwahl 71 f., 87, 96, 195

Aufklärung 48, 94, 97, 110, 146, 147, 169 ff., 182, 188, 201, 208 ff. Autonomie 53, 58, 68, 90, 92, 118, 166, 181, 184, 195, 200, 201, 203, Siehe auch Menschenwürde Behandlungsabbruch 109 ff., 130, 136, 216 Beihilfe zur Selbsttötung 82, 88, 103 ff. Bekenntnisfreiheit 73, 77 ff. Betreuer 29, 58, 68, 78, 97, 115 ff., 130, 135 ff., 148 ff., 168, 209, 215 f. Beurteilungsspielraum Siehe Gesetzgeber Bioethisches Selbstverfügungsrecht 49 Blutentnahme 27, 30, 87, 170 ff. – Aufklärung 170 ff. – Begriff 170 – beim Beschuldigten 172 f. – Einwilligung 170 ff. – HIV-Untersuchung 171 f. – routinemäßige Untersuchung 171 – spezifische Untersuchung 171 f. Bluttransfusion 78 ff., 96, 131, 170, 173 f., 196 Christentum/christliche Ethik 50, 74, 77 Dammbruchargument 124 ff., Diskriminierungsverbot 88, 154, 165 Einwilligung 24, 27, 29, 32, 45 ff., 82, 84, 89, 91, 95, 96, 109, 111, 121, 129, 136, 144 ff., 170 ff., 187 ff., 209 f. Einwilligungsfähigkeit 111, 146, 168, 207, 208 f., EnquÞte-Kommission 134 Entscheidungsfähigkeit 38, 96, 194 Entscheidungsmaßstab – allgemeine Wertvorstellungen 114, 130 – in dubio pro vita-Regel 78, 100, 106, 111, 114, 118, 130, 186, 203 Ermessensspielraum Siehe Gesetzgeber

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Sachwortverzeichnis

Ethik-Kommission 118, 124 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 85 ff. – Diskriminierungsverbot 88 – Folterverbot 86 f. – Lebensrecht 85 f. – Privatsphäre 87 f. – Sterbehilfe 88 – Verhältnis zum Grundgesetz 85 f. Euthanasie 54, 107, 213, 216, Euthanasie-Morde im Nationalsozialismus 34, 54, 107, 126 Fehleinschätzung 122 Folter 56, 57, 67, 86 f., 141 Fortpflanzungsfähigkeit 145 ff., 151, 154 Freiheit 170, 176 ff., 183, 195 ff., 203 Garantenstellung 93 ff., 102, 163 Geisteskranke 43, 50, 202 Gesetzgeber 42, 56, 71, 83, 128, 132, 140, 145, 156, 205 – Abwägungsspielarum 90 – Ermessens-, Einschätzungs- und Prognosespielraum 83, 90, 93, 126, 181 – Gestaltungsspielraum 83, 93, 99, 156, 178 Gestaltungsspielraum Siehe Gesetzgeber Gesundheit 30 f. – öffentliche Gesundheit 81 Gewissensfreiheit 73 ff., 78, 80, 90, 95, 143 f., 157 f., 196 Glaubensfreiheit 73 ff., 196 – Bluttransfusion 78, 131, 173 f., 196 – Elternrecht 79 f. – Impfzwang 80 f. – Kindeswohl 79 f. – Sterbehilfe 78 – Verweigerung/Beendigung der medizinischen Behandlung 77 ff. Gleichheitsgebot 82 ff., 93 f., 196 f. – aktive Sterbehilfe 83 – Sterilisation 83 f. – Verhütung 84 Grundrechte – Bindung 44 f., 164 – Eingriff 28, 47, 54, 82, 91, 92, 97, 110, 142, 144, 170, 175, 198 – Handlungsrechte 34, 37

– Kollision 64, 77, 155 ff. – Mündigkeit 43 f., 151 – negative Seite 32 ff., 65, 68, 80, 99, 187, 194, 206 – praktische Konkordanz 55, 77, 166, 169, 189, 207 – Verzicht 31 ff. 40, 68, 107, 191, 199, 201, 206 Grundrechtsverzicht 31 ff. Handeln und Unterlassen 119 ff. Heiligkeit des Lebens 64, 73, 77 Hippokratischer Eid 94, 123 f., 198 f. Hirntod 185 Hungerstreik 138 ff., 194 ff., 196, 213 – Begriff 138 – Beschränkung 142 – Meinungsfreiheit 141 f. – Menschenwürde 141 – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit 141 – Suizid (Differenzierung) 139 Impfzwang 28, 80 f. in dubio pro libertate 34 in dubio pro vita 78, 100, 106, 111, 114, 118, 130, 186, 203 indirekte Sterbehilfe 128 f. Intimsphäre/Intimität/Intimbereich 49, 161 Irreversibilität 31, 38, 41, 115, 122 Kastration 144 Kindeswohl 79 körperliche Unversehrtheit 26 ff., 141, 150, 157, 170, 176, 183, 194 – Doppelcharakter 42 ff. – Gewährleistungsdimensionen 33 ff. – negative Seite 33 ff. – physische Integrität 27 f. – psychische Integrität 28 f. – Relativierung 30 – Verfügung 33 f. – Verzicht 31 f. Kranke 25, 41, 93 ff., 197, Siehe auch Patient Lärmbelastung 29 Lebensqualität 39, 113, 114, 135, 198, Siehe auch Qualität des Lebens

Sachwortverzeichnis Lebensrecht 26 ff., 89, 99, 108, 141, 155 f., 176, 183, 186, 194 – Beginn 27 – Doppelcharakter 42 ff. – Ende 27 – Ethik der Qualität des Lebens 64 f. – Gewährleistungsdimensionen 33 ff. – Heiligkeit des Lebens 64 – Menschenwürde (Differenzierung) 26, 30, 62 f., 156 – Menschenwürde (Verhältnis) 59 ff. – negative Seite 34 ff., 99 – positive Seite 26 ff. – Relativierung 30 – Verfügung 33 ff., 175 – Verzicht 31 f. Luxemburg 125 Mangel an Vertrauen 56, 208, 212 ff. – Abstufung von Grundrechten 213 – Menschenrechte 213 – Nationalsozialismus 212 – Organentnahme 214 f. – Selbstbestimmungsrecht 215 f. – Sterbehilfe 214 Manipulation 38, 122, 124, 127 Manipulierung Siehe Manipulation Meinungsfreiheit 141 f., 196 Menschenwürde 50 ff., 113 f., 140, 150, 155 f., 181 ff., 193, 204 – Abstufung 55 ff., 213 – Abwägung 55 ff., 213 – Autonomie 53 – Instrumentalisierung 65 f., 195 – Lebensrecht (Differenzierung) 26, 62 f., 156 – Lebensrecht (Verhältnis) 59 ff. – Leistungstheorie 51 f. – Manipulation 54, 65, 195 – Mitgiftstheorien 50 f. – Objektformel 52 f. – Präzisierungsversuche 50 ff. – Relativierung 55 ff. – Unantastbarkeit 54 ff. – Verantwortung 204 – Werttheorien 50 f. Minderjährige 43 f., 147 ff., 173, 202, 208, 209

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Missbrauchsgefahr 31, 83, 88, 117, 122, 126, 127, 216 Mutmaßliche Einwilligung 82, 96, 110 ff., 129, 151, 168, 200, 203, 209, 215 Nationalsozialismus 34, 54, 57, 107, 126, 212 negative Seite der Grundrechte 42 ff. Niederlande 125, 127 Objektformel 52 f. öffentliche Ordnung 99 Organentnahme 174 ff., 194, 214 f. – Begriff 174 – bei Lebenden 174 ff. – bei Sterbenden 184 ff. – Kreis der zulässigen Organempfänger 177 ff. – Verfügungsrecht 189 f. – Widerspruchslösung 187 ff. Organhandel 178, 181 Organtransplantation 130, 174, 217 passive Sterbehilfe 27, 65, 77, 82, 107 ff., 195 – Abgrenzung zur aktiven 87, 119 ff. – Begriff 109 – Betreuer 115 ff. – Ethik-Konzil 118 – gegen den Willen 111 f. – mit Einwilligung 109 ff. – ohne den Willen 112 ff. – Patientenverfügung 113 – Vormundschaftsgericht 115 ff. Paternalismus 134, 184, 197 ff. Patient 24 f. – Patient im engeren Sinne 25 – Patient im weiteren Sinne 25 – Patienten-Arzt-Beziehung 25 f., 45, 123 ff., 199, 200 ff. Patiententestament Siehe Patientenverfügung Patientenverfügung 113, 131 ff., 194, 206, 215 – Begriff 131 f. – Bindungswirkung 134 ff. – Entscheidungsfähigkeit 133 – Form 133 f. – Recht auf Patientenverfügung 132 f. – Vormundschaftsgericht 136

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Sachwortverzeichnis

Persönlichkeitsrecht 46 ff., 90, 157, 178, 190, 195 – allgemeine Handlungsfreiheit (Verhältnis) 46 f. – Menschenwürde (Verhältnis) 46 f. – Schutzbereich 46 ff. Polizei 99 ff. praktische Konkordanz 55, 77, 166, 169, 189, 207 Pretty v. Vereinigtes Königreich 85 Prognose/Prognosenspielraum Siehe Gesetzgeber religiöse Freiheit 73 ff. Richter über Leben und Tod 117, 118, 215 Schiefe Ebene-Argument 56, 212 Schmerzen/Schmerzlinderung 28, 67, 94, 101, 109, 113, 115, 119, 127 ff., 177, 183 Schutz vor sich selbst 42 ff., 72, 90, 102, 178, 198 Schutzpflicht 37, 39, 42 ff., 62, 99, 101, 126, 155, 163 ff., 170, 177, 184, 188 f., 202 Schwangerschaft 155 – Begriff 155 – Entbindungsmethode 169 – Fortpflanzungsfähigkeit 195 – genetische Informationen des Embryos 166 f. – Schwangere 25 Schwangerschaftsabbruch 27, 49, 59, 155 f., 194 ff., 212 ff. – Begriff 155 – Beratungslösung 159, 162 – einfachsgesetzliche Ausgestaltung 158 f. – Gewissensfreiheit 77 f., 96, 157, 196 – Indikationslösung 159, 162 – Lebensrecht des Embryos 155 f. – Mangel an Vertrauen 214 – medizinische Indikation 166 – medizinisch-soziale Indikation 162 – Menschenwürde des Embryos 155 f. – Nidation 159, 162 – ohne den Willen der Frau 168 – Persönlichkeitsrecht 157 – pränidative Phase 158 f., 161 f. – Selbstbestimmungsrecht der Frau 157 f. – Spätabtreibung 159, 165 f.

– Vormundschaftsgericht 168 – Zwangsschwangerschaftsabbruch 167 f., 194, 195 Selbstaufopferung 174 ff. Selbstbestimmung/Selbstbestimmungsrecht 24, 26 ff., 35, 40, 47, 54, 58, 67 ff., 76 ff., 88 ff., 98 ff., 103, 107, 131, 140, 146, 155, 171, 194 ff. – Berufausübungsfreiheit des Arztes 93 ff. – Beschränkungen 90 ff., 194 ff. – Fortpflanzungsfähigkeit 195 – Freiheit 203 ff. – im engeren Sinne 89, 194 – im weiteren Sinne 90, 195 – informationelle Selbstbestimmung 48 – Mangel an Vertrauen 212 ff. – Notfallsituationen 96 – Paternalismus 197 ff. – Verantwortung 38, 136, 176, 183, 198, 201, 203 ff. Selbstbestimmungspflicht 92, 196, 206, 211 Selbstmord Siehe Selbsttötung Selbsttötung 32 ff., 76, 82 f., 88, 90, 93, 98 ff., 139, 194, 213 – Arzt 101 – Begriff 98 – Beihilfe 82, 88 f., 103 – Dritte 101 ff. – Freiverantwortlichkeit 100 f., 106 – Polizei 99 ff. – Recht auf Selbsttötung 32 ff., 99, 106 – Suizidbeteiligung 104 ff. – Tolerierung 101 ff. – Unterbindung 99 ff. – Unterlassen 101 ff. – Verhinderungspflicht 101 ff. Selbstverantwortung 203 ff. Slippery-slope-Argument Siehe Schiefe Ebene-Argument Sterbebegleitung 124, 129 Sterbehilfe 88, 106 ff., 214 – aktive Siehe aktive Sterbehilfe – Begriff 107 – Euthanasie 107 – im engeren Sinne 107 – im weiteren Sinne 107 – Lebensrecht 108 – Menschenwürde 108

Sachwortverzeichnis – passive Siehe passive Sterbehilfe – Recht auf Sterbehilfe 108 f. Sterilisation 76, 83 f., 123, 144 ff., 194 – Aufklärung 147 – bei Jüngeren 147 – bei Minderjährigen 147, 149 – bei Volljährigen 149 – Einwilligung 149, 151 ff. – eugenische Indikation 148, 153 – Fortpflanzungsfähigkeit 145, 151, 154 – freiwillige 145 ff. – geistig Behinderte 148 f. – körperliche Unversehrtheit 150 – medizinische Indikation 148 – Menschenwürde 150 – Schwangerschaftsabbruch 152 – soziale Indikation 148, 153 – Vormundschaftsgericht 149, 152 – Zwangssterilisation 148 f., 194 f. Suizid Siehe Selbsttötung Tabu 122, 212 Tötung auf Verlangen 104 f., 119 ff., Siehe auch aktive Sterbehilfe

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Transplantationsgesetz 174 Tun und Unterlassen (Abgrenzung) 119 ff. Unterlassen 42, 70, 83, 101, 109 ff., 119 ff., 163, 201 Verantwortung 38, 68, 79, 92, 102, 117, 136, 162, 176, 182, 198, 203 ff. Verfügungsrecht über das eigene Leben 31 ff. Siehe auch Lebensrecht Verhältnismäßigkeit 42, 47, 68, 78, 82, 91, 94, 127, 143, 153, 160 f., 161, 175, 180, 183, 188 Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient 95, 123 ff., 200 Vormundschaftsgericht 115 ff., 136 f., 148 f., 168, 173, 209, 216 Weltanschauungsfreiheit 73 ff. Widerspruchslösung 187 ff., 192 f., 207 f. Wissenschaftsfreiheit 192 Zwangsernährung 28, 36, 54, 138 ff., 194 Zwangsversicherung 72